Die besten Tricks der Spitzenköche
Thomas A. Vilgis
Spitzenküche, das steckt bereits im Wort, ist der Gipfel der Kochkunst einer jeden Zeit. Sie sticht heraus, weil sie seltene oder überraschende Zutaten verwendet oder einen außergewöhnlichen Aufwand bei der Zubereitung betreibt. Dadurch bedingt sich ein zweites Merkmal der Spitzenküche: Sie ist fast immer mit hohen Kosten verbunden. Wer als Restaurantgast das geforderte Geld auf den Tisch legen kann, sonnt sich im Gefühl der Exklusivität seines guten Geschmacks.
Spitzenküche existierte selbstverständlich schon lange bevor das Wort erdacht wurde. Wie alle Moden und Geschmäcker richtete sie sich stets nach dem Geist der jeweiligen Zeit - oder versucht heute, ihm etwas voraus zu sein. War es im Mittelalter und der Frühen Neuzeit ein Privileg der Herrschenden, von allen Speisen - besonders Fleisch - möglichst viel essen zu können, wird dies heute eher mit Fast Food und mangelnder Selbstkontrolle assoziiert. Reiche protzen auch heute noch mit Überfluss, mit Preis und Seltenheit ihres Essens. Aber echte Avantgarde bricht diesen Hang zur Aufschneiderei - zumindest an der Oberfläche. Die Abgrenzung zum „normalen“ Essen wird subtiler. Ehemaliges „Arme-Leute-Essen“ wie Karotten werden heute als kunstvoll arrangierter Teller präsentiert. Der mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichnete Koch Nils Henkel serviert sie in außergewöhnlicher Zubereitung: als Gel, Püree, Air, roh, mit Karottengrün, als Sprossen und sogenannte Microvegetables - alles auf einem Teller. In einer Welt, in der exklusive Zutaten nie lange exklusiv sind, weil (zu) viele sie sich leisten können, ist der in die Zubereitung gesteckte Aufwand und Grips das Einzige, was für Exklusivität sorgen kann. Immer schneller scheint sich dieses Rad zu drehen. Wurde gestern die Mini-Erdbeere nur optisch und aromatisch in Szene gesetzt, weil sie noch selten genug war, wird sie heute püriert, in Alginat verkapselt und als Sphäre serviert. Welche Art von Aufwand bei der Zubereitung das Publikum goutiert, ist ebenfalls Moden unterworfen. Wurde in den letzten Jahren in der Avantgardeküche mit den neuesten Methoden der Lebensmittelforschung experimentiert, strebt in jüngster Zeit ein anderer Teil der modernen Küche zurück zur ausschließlichen Verwendung saisonaler, heimischer Produkte. Selbstverständlich sind auch diese Speisen unter Einsatz modernster Technologien zubereitet, die Abkehr von der Technik ist nur vordergründig. Es ist ein wenig Neo-Romantik auf dem Teller. Ein neues Konzept, das scheinbar die radikale Abwendung von der letzten Mode ist. Spitzenküche folgt also den Gesetzen jeder anderen Kunstgattung auch. Natürlich mit eigenem Vokabular: Zu finden ab Seite 225.
Das Streben nach Exklusivität treibt die Entwicklung voran, denn die bürgerliche Küche ist der Avantgarde stets auf den Fersen. Kochen kann heute auch zu Hause auf die Spitze getrieben werden. Küchentricks, zu Zeiten der Nouvelle Cuisine wie der Heilige Gral gehütet, sind heute leicht zugänglich. Besonders seit der Ära Ferran Adriàs - einem der bekanntesten Vertreter der Avantgardeküche - legen Spitzenköche ihre Rezepturen oft in allen Details in Büchern, Blogs und Internetforen offen. Hier werden alle Quellen und Ideengeber genannt, soweit sie bekannt sind - für Fehlnennungen oder eventuelle Missachtungen wird sich in weiser Voraussicht entschuldigt. Aber nicht nur die Theorie, auch Geräte, von denen man vor zehn Jahren nur träumen konnte, werden heute zu erschwinglichen Preisen angeboten. Spezielle Zutaten wie Gelier- und Verdickungsmittel, selbst Flüssigstickstoff gibt es heute im Spezialversand. Kann jetzt jeder zaubern und angeben? Im Prinzip schon. Die 52 in diesem Buch versammelten Effekte sind aber nur ein Teil dessen, was die Avantgardeküche derzeit im Repertoire hat - und ständig werden neue Tricks kreiert. Die Idee ist also, nicht einfach nur ein Rezept nachzukochen, sondern auch zu verstehen, was man tut, um die vorgestellten Effekte für die eigenen Rezeptideen nutzbar zu machen. Das ist der Schritt vom bloßen Angeben zum echten Beeindrucken, vom Epigonentum zum echten Künstler in der Küche. Wenn das klappt, ist etwas Großes gelungen.
Rezepte haben immer mit dem kulinarischen, handwerklichen und persönlichen Hintergrund ihres „Autors“ zu tun: Das Bild einer Emotion oder eine Kindheitserinnerung können der Auslöser gewesen sein, genau dieses Rezept zu erdenken. Dies kann nie exakt mit der Vorstellungeines anderen übereinstimmen. Auch daher gilt die Aufforderung, seiner Kreativität freien Lauf zu lassen. Wer in der Küche improvisieren kann, dem misslingt kaum ein Gericht.
Aber bevor es losgeht, muss klar sein: Wer als Küchenchef in einem Restaurant arbeitet, hat eine mehrjährige, harte Ausbildung hinter sich. Oft dauert es viele weitere Jahre, bis die eigene Kochkunst mit einem Stern im Guide Michelin oder einer Mütze im Gault-Millau gewürdigt wird - wenn es überhaupt gelingt. Ohne Ausbildung und professionelle Ausstattung, ohne intensive Beschäftigung mit Lebensmitteln, Sensorik, ohne häufiges Abschmecken, eingeübte Routine und Gespür - kurz gesagt, ohne tägliche Praxis auf höchstem Niveau - kann niemand erwarten, zu Hause perfekte Drei-Sterne-Menüs zaubern zu können.
Ambitionierte Hobbyköche sollten sich davon aber nicht entmutigen lassen. Nach der Arbeit kommt bekanntlich das Vergnügen: Viele fleißige Übungsstunden hinter den Kulissen sind die Voraussetzung, um schließlich stolz vor seine Gäste zu treten und sie mit einem professionellen und wirklich überraschenden Gericht zu beeindrucken.
Am besten beginnt man seine autodidaktische Ausbildung zum Hobby-Spitzenkoch damit, das Potenzial scheinbar unspektakulärer Lebensmittel zu erkunden. Erst danach wagt man sich auf unbekanntes und mitunter teures Terrain vor. Ein guter Anfang wäre, sich eine Grundausstattung von Zutaten anzulegen, mit denen man Gerichten spontan einen neuen Dreh geben kann. Eine Zitrone, Mandarine, Bergamotte, Meyer-Zitrone oder Orange kann einfach auf der Fensterbank getrocknet werden, bis sie steinhart ist. So hält sie sich über Jahre und liefert beste Dienste: Mit einer guten, feinen Reibe lassen sich Nuancen der jeweiligen Zitrusfrucht über Gemüse, Fisch oder Fleisch geben, lassen sich Vorspeisen gezielt bestäuben oder roher Fisch im Zitrusstaub „panieren“. Schon schmeckt es ein bisschen ungewöhnlicher.
Bleiben wir bei den Zitrusfrüchten: In Salz oder Zucker haltbar gemacht, stehen sie zum Aromatisieren von Gemüseragouts, dicken Bohnen oder Fischgerichten bereit und geben eigentlich unspektakulären Lebensmitteln ihre gleichzeitig feine und milde Säure mit (Effekte No. 19, 31).
Ein in seiner kulinarischen Bedeutung oft unterschätzter Schritt zu einer eigenständigen Ausdruckskraft in der Küche steht in jedem Schulkochbuch: Sobald Knochen, Gräten, Flossen oder Gemüseabschnitte anfallen, entstehen daraus quasi nebenher Fleisch-, Fisch- oder Gemüsefonds (Effekte No. 31, 32, 34, 44, 48). In Schraubgläser eingemacht, hat man sie jederzeit zur Verfügung. Gemüseoder Pilzstückchen lassen sich ohne Probleme in jedem Ofen trocknen und mit einem Mixer zu Pulver verarbeiten. Man selbst hat alles in der Hand und muss sich nicht der Gewürzabteilung eines Supermarkts ausliefern.
Mit der Zeit wird man die hier gewonnenen Erfahrungen rekapitulieren, sie mit neuen Erkenntnissen in Beziehung setzen, seine Schlüsse ziehen, alte Schlüsse verwerfen und neue Variationen und Improvisationen ausprobieren. Tägliche Praxis, am besten ohne Rezeptvorlage, ist die beste Grundlage für Kreativität und vor allem Individualität. Gerade die schnelle Küche für den Alltag bringt ein routiniertes Verständnis für Lebensmittel und Kombinationsmöglichkeiten. Es geht viel mehr als man glaubt - und viel schneller als man denkt. Lernen findet täglich statt - und endet nie. Die Geschmackserlebnisse danken es.
Wissen und probieren ist nicht alles. Geht es um Spitzenküche, ist auch immer von High-End-Gerätschaften wie Kombidämpfern, Kammervakuumierern oder dem ominösen Pacojet die Rede. Das hat seinen Grund, denn damit geht in einer Profiküche die Arbeit einfacher, besser und schneller von der Hand. Zu Hause verdient man kein Geld durch rationeller arbeitende Maschinen. Aber wer in die obersten Regionen vorstoßen will, wird feststellen, dass es beim Einsatz einiger dieser Gerätschaften eben nicht nur um schnelleres und bequemeres Arbeiten geht. Tatsächlich ist Technik manchmal in der Lage, den Geschmack oder das Geschmackserlebnis zu verbessern, wenn man weiß, was man damit tut.
Ein einfaches Beispiel ist ein schlichtes Eis als Nachtisch. Das kann jeder selbst zubereiten: Eigelb, Milch, Sahne, Zucker, Vanille. Ohne Eismaschine, aber mit viel Aufwand: Milch mit der Vanille aufkochen, Eigelb mit Zucker schaumig schlagen, Milch zufügen, Cremigkeit mit dem Trick des „zur Rose Abziehens“ prüfen, Sahne unterschlagen. Im Eisfach erkalten lassen, dabei immer wieder herausnehmen, umrühren und neu gefrieren. Das Ergebnis ist ganz gut für den Hausgebrauch, aber nicht mal halb so gut wie das Eis in der italienische Eisdiele. Mit kleinen, haushaltsgerechten Eismaschinen lassen sich die Ergebnisse schon verbessern. Die Eiskristalle bleiben kleiner, das Eis wirkt schaumiger und viel cremiger. Im Pacojet wird die identische Mischung noch deutlich cremiger und luftiger.
Zugegeben, für ein schlichtes Vanilleeis benötigt kein Mensch einen Pacojet. Möchte man aber Eis aus ganz anderen Zutaten wie Steinpilzen, Kräutern oder gar Fisch ausprobieren - oder möchte man es salzig servieren -, so wirkt Eigelb als Emulgator störend, süßer Zucker erst recht. Lässt man beides weg, ist man mit der klassischen Methode im Kühlschrank fast verloren. Mit einer normalen Eismaschine wird es immerhin akzeptabel, aber richtig funktionieren kann es nur im Pacojet - aus vielerlei physikalischen Gründen, wie sie in Effekt No. 23 sowie auf Seite 235 besprochen werden.
Praktisch alle Zubereitungen in diesem Buch lassen sich ohne einen Profi-Gerätepark ausprobieren und man wird damit wundervolle Effekte zaubern. Zwar muss klar sein, dass in praktisch jeder Küche eines Michelin-be -sternten Spitzenrestaurants ein Pacojet steht. Will man bei bestimmten Gerichten echte Restaurantqualität erreichen, ist er unerlässlich. Ob er sich für den eigenen Haushalt „lohnt“, das bleibt jedem selbst überlassen. Wobei dieses Gerät zugegebenermaßen ein extremes Beispiel ist: Viele andere Geräte sind wesentlich einfacher und mit fast gleichem Endergebnis zu ersetzen - sie kosten auch oft weniger. Ab Seite 233 erklären wir die günstigeren Geräte, mit denen man bereits sehr viel anstellen kann. Mit so manchem Work around kann man sogar „die Großen“ imitieren.
Ein Homogenisierer oder der hippe Antigrill machen aus einem Laien keinen Profi. Wer aber mit Geschmack, Aroma und Zutaten bereits souverän spielt, steigt mit den Spezialgeräten auf Seite 235 vielleicht zu neuen Höhen auf.
Wie schon gesagt, sind teure Geräte keinesfalls die Basis von Spitzenküche und schon gar nicht der in diesem Buch gezeigten Techniken. Es geht auch nicht nur um „Geschmack“. Essen muss schmecken, das bleibt die Maxime in allen Küchenstilen. Ein Löffel tiefgründige Sauce tut das mit ziemlicher Sicherheit. Dennoch würde niemand seinen Gästen nur einen Teller Sauce zum Auslöffeln servieren. Nach dem ersten Löffel wird bekanntlich der zweite und der zehnte ebenso schmecken - schlimmer noch: Mit jedem weiteren Löffel nimmt der Geschmack scheinbar ab: die Geschmackspapillen und Aromarezeptoren in Zunge und Nasenschleimhaut sind daran gewöhnt und nehmen die Reize nun schwächer wahr.
Zugegeben, das Beispiel mit dem Teller Sauce ist etwas überspitzt. Der beschriebene Effekt kann allerdings ebenso bei einem Gericht mit nur drei oder vier Komponenten geschehen. In der Spitzenküche wird daher auf einer erweiterten Klaviatur gespielt. Weitere Komponenten müssen auf den Teller. Gute Köche versuchen, alle fünf Sinne des Menschen anzusprechen: Riechen und Schmecken, Sehen (das Anrichten, die Telleroptik), Hören (knusprige, krachende Chips, knackig brechende Rohkost), Fühlen (Größe, Textur) sowie die Reize für das trigeminale System, das uns Hitze, Schärfe, Kühle, Prickeln erfahren lässt. All diese Räume menschlicher Aufmerksamkeit müssen von einer richtig guten Küche (mehr oder weniger stark) bespielt werden. Vereinfacht kann man sich diese Räume wie dreidimensionale Formen vorstellen. Die Geschmacksrichtungen wie eine Pyramide, die an ihren fünf Ecken mit salzig, sauer, bitter, süß und umami bezeichnet ist. Das Aroma wie einen Würfel, dessen acht Ecken grüne, blumige, würzige, röstige und weitere Düfte zugeordnet sind. Auch Trigeminusreize und die fühlbare Textur sind als Würfel darstellbar. Im Zentrum all dieser Körper wären die in den Ecken angezeichneten Sinneswahrnehmungen zu gleichen Teilen spürbar. Die Empfindungen, die ein Gericht auslöst, lassen sich in diesen vorgestellten Körpern genau verorten und beschreiben. Es ist genau diese Komplexität, die die Spitzenküche anstrebt.
Einer der zu bespielenden Räume steht allerdings in schlechtem Ruf: die Optik, das „bloß“ gesehene. Tiefschürfende Denker und Köche können damit manchmal wenig anfangen, aber auch dieser Sinneseindruck ist für ein vollständiges Erlebnis wichtig. Das Arrangement der Komponenten und der Dekoration auf einem Teller ist dabei immer gewissen Moden unterworfen. So wurden etwa bis vor nicht allzu langer Zeit kunstvolle, mehrfarbige Saucenspiegel gezeichnet, die heute eher altbacken wirken - aber garantiert irgendwann wieder en vogue sind.
In diesen Tagen wird Gemüse gern senkrecht gestellt. Zerschnittene Karotten, Spargelköpfe oder gar Zylinder aus Kartoffeln, Äpfeln oder Kohlrabi arrangieren sich neben Püreetupfern aus Garnierflaschen, Spritzbeuteln und Sahnesiphons. Dazwischen liegen kleine Perlen - oft-mals Fake-Kaviar aus passenden Gemüse- oder Fruchtsäften oder geeiste Perlen aus dem Stickstoffbad - sowie essbare Blüten oder Kressen.
Ein weiterer Trend: Das klassische „Hauptgericht“ hat seinen Stellenwert verloren. Spätestens mit Ferran Adriàs Techniken vollzog sich hierbei ein Paradigmenwechsel, der seine Ursachen aber auch in dem zunehmenden Einfluss der asiatischen Küche auf die unsrige, dem Vormarsch des Vegetarismus und anderen kulturellen Phänomenen hat: Sowohl der klassische „Dreiklang“ auf einem Teller - ein Arrangement bestehend aus einem Hauptprotagonisten (meist Fleisch), der Beilage (kohlenhydratreich) und Gemüse - als auch die Menüfolge von Vorspeise (Rohkost), Hauptgang (gekocht) und Nachspeise (süß bzw. fermentiert, etwa Käse) sind in der modernen Küche verschwunden. Die einzelnen Komponenten werden heute einzeln oder bewusst durchmischt angeboten.
Ordnung und Arrangement auf dem Teller ist nicht bloß eine Frage der Optik. Im Folgenden werden zwei völlig unterschiedliche Arten beschrieben, die gleichen Komponenten auf einem Teller anzuordnen - mit ganz anderen Geschmackserlebnissen für den Esser. Sie stellen die Grundkonzepte dar, nach denen Restaurantteller heutzutage „gebaut“ werden, also die Speisen arrangiert werden.
Bei diesem Arrangement sind die verschiedenen Komponenten weitgehend separat voneinander angerichtet - wenngleich thematisch zusammengefasst. Beim Essen des Gerichts hat man die Qual der Wahl. Mit Löffel oder Gabel wählt man eine oder mehrere Komponenten aus, kombiniert nach eigenem Gutdünken und probiert sich so durch das Arrangement.
Diese Summe von Einzelentscheidungen ergibt einen individuellen Verlauf. Der zehnte Löffel hat die Vorgeschichte neun vorheriger Löffel: einige Komponenten können nicht mehr mit bereits „aufgebrauchten“ Elementen kombiniert werden, neue, erst jetzt verkostete Bestandteile wirken nicht mehr für sich, sondern werden sofort mit dem bisher gegessenen verglichen. Es ist also nicht nur entscheidend, wie der Teller aus der Küche kommt, sondern auch die Entscheidungen des Essers tragen maßgeblich zum Gesamterlebnis bei. Es ist ein sehr demokratisches Prinzip, das den Esser in die Verantwortung für sein Erlebnis nimmt.
All die Löffel, die sich der Esser aus einem Avantgardeteller zusammenstellen kann, sind immer nur einzelne Projektionen aus dem gesamten Aromabild des Arrangements. Schnell stößt man an die Grenzen der Wiederholbarkeit: Die Elemente sind aufgebraucht, lange bevor alle Kombinationen probiert wurden. Besonders Einsteiger haben dabei oft die Befürchtung, etwas zu verpassen oder falsch zu machen. Bei den Rezepten haben wir an einigen Stellen diese Art des Arrangements vorgeschlagen, etwa bei den Effekten No. 19, 46 und 49. Einsteigerfreundlicher und nicht minder kunstvoll ist aber die Verdichtung.
Auf einem Aromateller können sich die gleichen Komponenten angerichtet finden wie auf einem Avantgardeteller. Dennoch ist die Situation anders, denn dem Esser wird keine große Wahl beim Verkosten gelassen. Dieser Teller gibt eine Dramaturgie des Erlebnisses vor. Der Koch ist der Regisseur, der das Erlebnis inszeniert, der Esser ist bloßer Konsument. Das verdichtete Arrangement stellt sicher, dass mit jedem Löffel bereits eine große Bandbreite verschiedener Komponenten im Mund landet, sodass die Idee des Regisseurs sofort klar wird. Spielräume für eigene Genusswege des Essers gibt es weiterhin, diese sind allerdings im Vergleich mit den Möglichkeiten bei einem Avantgardeteller sehr klein. Der Esser kann sich vollkommen auf die vorhandenen Aromen konzentrieren, sie entdecken, ohne zu befürchten, etwas zu verpassen. Oft werden derartig angerichtete Teller als „einfacher zu essen“ angesehen.
Man könnte auch sagen, dass der Aromateller die „zusammengeschobene“ Variante des Avantgardetellers ist - was nicht bedeutet, dass das Anrichten von Aromatellern einfacher und weniger subtil ist. Im Buch finden sich etwa bei den Effekten No. 16, 20, 38 und 41 Beispiele für ein Anrichten nach dem Aromateller-Konzept.
Die beiden Grundarrangements lassen sich variieren. Die extremste Ausprägung des Verdichtungsgedankens, der hinter dem Aromateller-Konzept steht, ist etwa ein Verrine-Gericht. Verrines sind kleine Gläser, in denen auch Speisen serviert werden können. Der Löffel durchsticht dabei immer die gleichen Schichten, jede Kombination ist identisch. Ähnlich funktionieren auch Maki-Sushi, Kuchenstücke, in Dessertringen geschichtete Speisen, Löffelgerichte, Shots und Pralinen.
Will man dem Esserlebnis eine wirkliche Dramaturgie geben, die länger andauert als ein einziger Bissen (alle folgenden wiederholen sich bei Verrine-Gerichten ja nur), muss man dem Esser vorschreiben, in welcher Reihenfolge er seinen Teller zu leeren hat. Dafür werden die Elemente beispielsweise in einer Linie arrangiert. Für Rechtshänder beginnen rechts Elemente mit den leichten Noten, im Zentrum liegen die Hauptprotagonisten und links, sozusagen als letzter Bissen, liegt der „Abgang“, der sich entsprechend lang bis zum nächsten Gang (oder bis zum Schluck Wein) hält. Für Linkshänder wird entsprechend gespiegelt angeordnet.
Ein weiterer Trick der Hochgastronomie ist es, Teller vor den Augen des Gastes anzurichten. Dabei werden etwa feste, mitunter rohe Gemüseelemente, ein kleines Stück Fisch oder Fleisch, aber auch mit kleinen Würzelementen gepunktete Pürees sehr appetitlich in Tellern mit großer Vertiefung serviert. Der Gast hat aber nur kurz Zeit zum Staunen, denn prompt gibt der Service eine schmackhafte Sauce in den Teller, sodass beispielsweise die schön gepunkteten Pürees dabei teilweise überdeckt werden. Was kurz irritiert, hat einen tieferen Sinn: Dank des dazu gereichten Gourmetlöffels, der besonders flach ist, kann man zu Beginn des Genusses noch die verschiedenen Komponenten unterscheiden. Die flüssige Sauce und das cremige Püree sind in ihrer Fließfähigkeit so unterschiedlich, dass sie sich zunächst nicht vermischen. Die Zunge erfasst also Geschmack und Aromen in einer gewissen zeitlichen Distanz. Mit zunehmendem Vortasten des Gastes, hinein in die Komponenten des Tellers - jetzt vielleicht mit Messer und Gabel oder mit Gabel und Gourmetlöffel - beginnen sich die Komponenten zu durchmischen. Auch die Aromen vermengen sich so, ihre Freisetzung ist zeitlich nicht mehr voneinander getrennt. Im Laufe des Essens vermischen sich die unterschiedlichen Saucen und Pürees vollständig, sie sind dann nicht mehr getrennt wahrnehmbar. In der sensorischen Erinnerung ist jedoch die anfängliche Wahrnehmung der Einzelkomponenten noch abgespeichert: Man weiß also noch immer, was man da isst.
Der absolute Genuss in den Spitzenküchen dieser Welt wird nicht zuletzt durch die Form des Geschirrs bedingt, auch wenn man das kaum wahrnehmen mag. Im Beispiel der à la minute angegossenen Sauce ist ein tiefer Teller mit breitem, ebenfalls leicht vertieftem Tellerrand die Krönung. So ist es nicht verwunderlich, dass Geschirrhersteller für die Spitzengastronomie spezielle Tellerformen und Platten mit lichten Vertiefungen und Neigungen herstellen, um den adäquaten Genuss komplexer Tellerkonstruktionen zu erleichtern - und sogar zu steuern. Entsprechend sind die Preise solchen Geschirrs.
Wie fortgeschritten eine Wissenschaft ist, versucht sie gern durch ihre eigenartigen Wortneuschöpfungen zu beweisen. „Oral coating“ ist eines dieser Ungetüme, das derzeit Gegenstand der physikalischen Sensorikforschung ist. Es beschreibt, wie die Geschmackspapillen auf der Zunge und die Riechzellen in der Nase durch einen Happen beeinflusst werden. Das ist wichtig, weil sich so die Vorbedingungen für den nächsten Happen ändern. Auch die Zeit zwischen zwei Happen spielt eine entscheidende Rolle. Man kennt das Phänomen, dass etwa nach einem Kaffee oder einem Stück Schokolade das direkt darauffolgend Gegessene ganz anders schmeckt. Das kann auch beim Avantgardeteller passieren, bei dem der Esser die Reihenfolge und die Dramaturgie seines Genusses selbst bestimmt. Wer allerdings - wie oben beschrieben - eine Richtung für seine Gäste vorgibt, kann in Kenntnis dieser Zusammenhänge schöne (allerdings eher subtile) Effekte zaubern.
Selbst wenn man also alle Tricks und Effekte dieses Buches beherrscht, gibt es noch genügend Raum für eigene Experimente. Viel Spaß dabei!
Außerdem lassen sich die Perlen als räumlich begrenztes Geschmacks- und Texturelement an ausgewählte Stellen eines Tellers bringen. Die Originalzutat Apfelsaft würde fließen, Apfelstückchen dagegen bieten weniger Saft und mehr Textur. Aber durch die Perlen bleibt das Apfelaroma im Mund erkennbar, ohne dass dabei der feine Geschmack, etwa eines Fischgerichts, beeinträchtigt würde.
Lange haltbar sind diese Frucht- oder Gemüseperlen natürlich nicht. Nach spätestens einer Woche im Nullgradfach des Kühlschranks sollten sie verzehrt sein. Denn mit der Zeit gelieren sie vollends durch – und man kaut Gummibälle.
Durch die Verbindung des Kalziums mit bestimmten Stellen der Alginatmoleküle ergeben sich temperaturstabile Verbindungen, wie sie in den Zellwänden der Algen ohnehin vorkommen. Am besten lässt sich das mit einem Blick auf die molekularen Strukturen verstehen. Im Wasser gelöstes Alginat besteht aus langen, fadenförmigen Molekülen, die an manchen Stellen negativ geladen sind. Kalzium hingegen ist ein zweifach positiv geladenes Molekül. Jedes Kalziumion kann also zwei negative Ladungen binden, um – wie bevorzugt – elektrisch neutral zu werden. Kommen sich nun positiv geladene Kalziumionen und negativ geladene Alginatfäden nahe, bildet sich eine starke Verbindung: Ein „Netz“ aus Fäden, dessen „Knotenpunkte“ durch Ionen festgehalten werden.
Sie brauchen:
Laborspritzflasche (alternativ eine Spritze, ohne Nadel) mit großer Öffnung Optional: Vakuumiergerät und Vakuumierbeutel
Apfelkaviar | |
(über Nacht vorbereiten) | |
10 g | Zucker |
200 ml | Apfelsaft (klarer Saft, nicht naturtrüb) |
40 ml | Yuzusaft (alternativ Limette) |
1,8 g | Alginat |
10 g | Kalziumlaktat |
1 l | Wasser (entsalzt), notfalls mineralarmes, stilles Mineralwasser (wenig Ca, Mg) |
Zucker, Apfel- und Yuzusaft vermengen, davon ca. 50 ml aufbewahren. Alginat unterrühren und mit dem Mixstab auf langsamer Drehzahl auflösen. Flüssigkeit über Nacht im Kühlschrank stehen lassen, bis die Luftblasen entwichen sind. Alternativ in einem Beutel oder Schraubglas vakuumieren.
Am nächsten Tag die Flüssigkeit in eine Laborspritzflasche umgießen.
Das Kalziumlaktat im entsalzten Wasser auflösen. Ein großes Sieb hineinhängen und die Flüssigkeit hineintropfen lassen. Nach ca. 15–30 Sekunden Perlen herausfischen und vorsichtig in kaltem Wasser abspülen. Die fertigen Perlen in dem verbleibenden, nicht mit Alginat gemischten Apfel-Yuzu-Saft bis zur baldigen Verwendung aufbewahren.
Schinken und Wurst | |
1 Stück | sehr trockner geräucherter Schinken (Schwein) |
1 | frische Blutwurst (ohne Grieben) |
Den Schinken mit einer feinen Reibe zu einem „Schnee“ reiben.
Die Blutwurst im Ofen bei 65 °C für mindestens 30 Minuten stocken lassen.
Herausnehmen und in Scheiben schneiden.
Anrichten auf Löffeln | |
Etwas | Apfelpüree |
Einige | gefriergetrocknete Himbeeren |
Den Löffel mit etwas Apfelpüree ausstreichen, dadurch lässt sich der Löffel besser mit der Oberlippe abstreichen.
Gestockte Blutwurst aus dem Ofen nehmen und mit einem scharfen Messer vorsichtig in 0,5–1 cm dicke Scheiben schneiden (daher darf sie keine Grieben haben, die stören würden).
Schinkenschnee und eine Scheibe Blutwurst harmonisch darauf anrichten. Die Apfelperlen abtropfen lassen und auf dem Löffel anrichten. Sie sollten die Hauptattraktion auf dem Löffel sein. Mit etwas zerbröselter Himbeere verzieren – diese steuert noch etwas lokale „feste“ Fruchtsäure bei, die Apfel und Yuzu pointiert. Die Himbeere darf daher auf keinen Fall dominieren.
Gibt man in die Suppenwürfel eine Einlage, etwa Fake-Kaviar aus Basilikum (siehe auch Effekt Nr. 1), muss man natürlich darauf achten, dass sie sichtbar bleibt. Deshalb verwenden wir in unserem Beispielrezept für eine feste Tomatensuppe klares Tomatenwasser.
Für das Wasser werden die Tomaten nur leicht geschnitten, damit ein Großteil des Farbstoffes in den Zellen verbleibt. Die Tomatensuppe wird sonst nicht klar. Um das schmackhafte Zellwasser zu erhalten, wird beim Abtropfen etwas Salz und Zucker zugegeben (Effekt No. 19). Deren osmotische Wirkung hilft, das Wasser zu extrahieren. Um trotz des klaren Aussehens die Assoziation an Tomate zu erzeugen, werden ein paar Tomatenconcassée-Würfel mit hineingegeben. Des Weiteren kann noch (selbst gemachtes) Tomatenpulver verwendet werden. Die Würzung darf die Optik allerdings nicht stören. Damit Thymian und Oregano trotzdem ihre Würze einbringen, werden Sie mit der Tomatenmasse in das Abtropftuch gegeben. Ihre Aromen übertragen sich so auf das auf - gefangene Tomatenwasser.
Die Basilikumkügelchen sollten vom Aroma her so rein wie möglich bleiben. Daher werden sie lediglich gesalzen und mit etwas Gemüsebrühe zubereitet. Diese bewirkt einen kleinen Umami-Effekt, der den Perlen ein wenig mehr „Schub“ bringt. Tomami, eine sehr würzige Flüssigkeit aus Tomate, erhöht diesen Umami-Effekt noch und verstärkt gleichzeitig die Anmutung von Tomate.
Die Idee bei diesem Rezept ist einerseits, über den Basilikumkaviar in den Suppenwürfeln mit zwei verschiedenen Geliertechniken zu spielen. Andererseits gelingt es gleichzeitig, Geschmacksfreigabe und Mundgefühl der Speise relativ genau zu steuern.
Die Quader sollten so geschnitten werden, dass sie sich mit einem Happen in den Mund führen lassen, wo sie zwischen Zunge und Gaumen zerdrückt werden. Zunächst wird der Mozzarellaair eine leichte Frischkäsenote erzeugen, dann wird das Gel gebrochen, und der Tomatengeschmack wird freigegeben. Der Tomamitropfen verstärkt den Tomateneindruck und schiebt eine leichte Säure und starke Umamikomponente hinterher. Die Basilikumperlen werden freigelegt, müssen aber noch zerbissen werden, damit ihr Aroma sich entfalten kann. Ausführlich wird die Wirkungsweise des Kaviars im Effekt No. 1 beschrieben.
Sie brauchen:
Spritzflasche für den Kaviar, Gelierformen (sodass Quader und Würfel geschnitten werden können), Vakuumiergerät (optional)
Basilikumperlen (am Vortag beginnen) | |
3 Bund | Basilikum |
300 ml | Gemüsebrühe |
Etwas | Ascorbinsäure (zur Farbstabilität) |
Etwas | Salz |
1,8 g | Alginat |
1 EL | Kalziumlaktat |
Basilikum mit der Gemüsebrühe, mit Salz und Ascorbinsäure sehr fein pürieren. 200 ml abmessen, mit Alginat versetzen und mit dem Mixstab auflösen. Flüssigkeit über Nacht im Kühlschrank stehen lassen, bis die Luftblasen entwichen sind. Alternativ in einem Beutel oder Schraubglas vakuumieren.
Die Flüssigkeit in eine Laborspritzflasche umgießen.
Das Kalziumlaktat im entsalzten Wasser auflösen. Ein großes Sieb hineinhängen und die Flüssigkeit hineintropfen lassen. Nach ca. 15–30 Sekunden herausfischen und vorsichtig mit kaltem Wasser abspülen.
Tomatenconcassée | |
1 | Tomate |
Eine Tomate heiß überbrühen und die Haut abziehen. Halbieren und Frucht - gehäuse, Kerne und Wasser entfernen. Das Fruchtfleisch in kleine Würfel schneiden. Tipp: Wenn die Kerne als gelartige Masse zusammenbleiben, können sie als „Tomatengel“ auf den Teller gelegt werden: Das sieht toll aus und schmeckt sagenhaft frisch.
Mozzarella-Air | |
1 | Mozzarella (mit Molke) |
Mozzarella mit seiner Molke pürieren und mit dem Stabmixer aufschäumen.
Suppengrundlage | |
1,5 kg | Tomaten |
2 Zweige | Thymian |
2 Zweige | Oregano |
2 TL | Zucker |
2 TL | Salz |
Tomaten schneiden und mit den gehackten Gewürzen, dem Zucker und Salz in ein Abtropftuch geben und das klare Tomatenwasser über Nacht auffangen. (oder die Zentrifugenmethode anwenden). Die Rückstände werden nicht weggeworfen, damit lässt sich z. B. ein köstliches Tomateneis herstellen, das zu einem mediterranen Fischgang serviert wird.
Zusammenbauen | |
4 g | Gellan |
4 g | Kappa-Carrageen |
In 2 x 400 g des Tomatenwassers jeweils einmal 4 g Gellan und einmal 4 g Kappa-Carrageen auflösen und aufkochen. In die Gelierformen gießen und ein paar der Basilikumperlen hineingeben, um sie gleichmäßig in der gelierenden Suppe zu verteilen, ebenso 2 bis 3 Würfel des Tomatenconcassées.
Kühl stellen und vollkommen durchgelieren lassen: mindestens 2 Stunden für das Kappa-Carrageen. Bei Gellan reichen 30 Minuten, es schadet aber nichts, wenn es auch zwei Stunden stehen bleibt.
Anrichten |
Tomami |
Die „Fingerfoodsuppe“ auf Teller anrichten (zwei Quader unterschiedlicher Höhe), auf die oberste Oberfläche einen Tropfen Tomami geben und eine kleine Wolke Mozzarellaschaum obenauf setzen.