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Christine Grän

Sternstr. 24

 

24 Weihnachtsgeschichten

vom Parterre bis unters Dach

 

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (1. Auflage Oktober 2015)

© 2015 by ars vivendi verlag

GmbH & Co. KG, Bauhof 1,

90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Stefan Imhof

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-604-2

 

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Inhalt

 

1 Der Weihnachtsdeal

2 Das Kuckucksnest

3 Von der Liebe und den Lügen

4 Valentinas wilde Jahre

5 Lachyoga

6 Mardi Gras und Weihnachten

7 Johnny ohne Cash

8 Das Gespenst dieser Weihnacht

9 Disziplin, altes Mädchen!

10 Der Weihnachtswunsch

11 Ein Garten im Winter

12 Sex mit Santa

13 Just for today

14 Ein Happening

15 FuckXmas

16 Affären und Auswege

17 Weihnachtsmarktexperten

18 Wünsche werden nicht wahr

19 Die Weihnachtsfeier

20 Zimt und Nelken

21 Der Baum der Erkenntnis

22 Wir sind alle keine Engel

23 Nackte Weihnachten

24 Rat mal, wer zum Essen kommt

Die Autorin

 

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1 Der Weihnachtsdeal

Maries Deli ist ein Raum in Esszimmergröße. Strenge, hohe Regale an den Wänden, gefüllt mit Weinen und Säften, Delikatessen und Gewürzen, Patisserien und feinem Konfekt. Ein großer Holztisch mit zehn Stühlen drängt Stehpult und Kühlschrank in die Ecken. Kein Ort für Supermarktfreaks, doch wer ihn aufsucht, kann lange bleiben. Mittwoch bis Sonntag von zwölf bis zweiundzwanzig Uhr bietet Maries Deli ein Tagesmenü, Mehlspeisen, Snacks sowie Getränke aller Art.

 

Marie ist vor vier Jahren in die Sternstraße gezogen, sie hat das kleine Ladenlokal und die angeschlossene Wohnung im Parterre gemietet, einen Kredit aufgenommen und Möbel bei eBay gekauft. Eine Existenzgründung scharf am Rande des Scheiterns. Viel Arbeit für wenig Geld, doch Geld immerhin, das ein kleines Leben ermöglicht. Für Personal reicht es nicht, manchmal springt eine Freundin oder eine Nachbarin für ein paar Stunden ein.

 

Die Sternstraße 24 ist ein Haus, in dem die Bewohner sich kennen und aufmerksam miteinander umgehen. Immer neugierig und gelegentlich boshaft, doch zumeist im Rahmen des nachbarschaftlichen Klatschgefälles. Wenn hässliche Worte fallen, dann hinter verschlossenen Türen. Nicht dort, wo sich die Hausbewohner, aber auch Leute aus der Straße oder dem Viertel treffen: in Maries Deli. Sie alle wohnen in jenem Teil Schwabings, der in diesen zinslosen Zeiten vergoldet wird: Hausbesitzer stocken auf, um Dach­terrassenwohnungen teuer zu vermieten. Innenhöfe und Gärten werden zu Spekulationsobjekten für Neubauten. Baustellen an jeder Ecke nerven die Anwohner. Das alte Schwabing ist dabei, sein Gesicht zu verlieren. Zur Betonwüste zu verkommen. Doch noch ist es nicht so weit, und Marie kann von ihrer Küche auf einen Garten mit Kastanienbäumen schauen, der von den Mietern gemeinsam genutzt wird.

 

Ihr Wohnhaus ist ein Bau aus der Jahrhundertwende mit Stuckdecken und Jugendstiltüren, knarzenden Parkettböden und langen, schmalen Fluren und Toiletten. Ein Teil der Wohnungen ist vermietet, andere wurden verkauft. Der Hausbesitzer ist ein Weltreisender, der im sechsten Stock logiert. Seine Wohnung ist überwiegend verwaist. Wenn überhaupt, kommt er im Sommer nach München, sobald die Sonne auf seine Dachterrasse scheint. Albian Fehrendonk hat das Haus von seinen Eltern geerbt, er war ein Einzelkind, was er im Erbfall zu schätzen wusste. Er besitzt noch fünf weitere Mietshäuser, und er lässt sie alle von einem Verwalter betreuen, während er auf Reisen ist. Auf der Suche nach – ja, was?

 

Abenteuer ist ein großes Wort mit vielen Deutungsmöglichkeiten. Doch weil er nicht gern über sich spricht, sich aber zu einer höflichen Antwort verpflichtet fühlt, sagt er eben das. Es bringt die Leute meist zum Schweigen, jeder hat eine eigene Vorstellung von Abenteuer. Albian ist Jahrgang ’75, er war ein stilles Kind und ein ziemlich verzweifelter Jugendlicher. Abgebrochenes Philosophiestudium, bindungsscheu, von Beruf Erbe. Seine Eltern ließen zu Lebzeiten nichts unversucht, ihn mit ihrer Meinung nach passenden Mädchen zu verkuppeln. Lauter Fehlschläge. Albian flüchtete in ferne Länder, schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch und kehrte erst wieder zurück, um seine Eltern zu begraben und die Erbschaft zu regeln.

 

Marie hat Albian Fehrendonk dreimal getroffen. Beim ersten Mal kam er ins Deli, um nach einem Tee zu fragen, den sie nicht führte (inzwischen hat sie eine kleine Menge auf Lager). Die zweite Begegnung fand an einem Sommerabend statt, als die Leute draußen vor der Tür standen, Wein oder Bier tranken, redeten, lachten und rauchten. Er trank badischen Grauburgunder und unterhielt sich mit Mietern, die ihn noch aus seiner Kindheit kannten. Henriette aus dem vierten Stock mit ihrem Sohn Bernhard, der wieder bei ihr eingezogen ist. Valentina Blum, siebzig, ehemaliges Fotomodel und Eigentümerin der Wohnung mit Südbalkon im zweiten Stock. Anna und Peter Hammer, seit über fünfzig Jahren verheiratet und ebenso lange in der Sternstraße 24 zu Hause. Peter ist Maler und Anna seine Muse, daran hat die Zeit nichts geändert. Die beiden kommen häufig ins Deli, weil sie Geselligkeit mögen, Wein und Mehlspeisen. Peter Hammer, der die Wohnung neben Sissy von Kuehnen kaufte, als er mit seiner Kunst noch gut im Geschäft war, hat inzwischen Schwierigkeiten, die Treppen zu steigen. Das Hüftgelenk. Die Knie. Das verdammte Alter. Doch Anna, die sich mit Gymnastik fit hält, stützt ihn, und manchmal sieht es sogar aus, als ob sie ihn trägt.

 

Valentina, verblühte Schönheit mit zunehmender Gedächtnisschwäche, flirtete an jenem Abend mit Albian Fehrendonk, nicht zielgerichtet, es war einfach ihre Art, mit Männern umzugehen. Dass er sich auf das eher seltsame denn frivole Spiel einließ, fand Marie damals einen netten Zug. Doch dann gab es eine dritte Begegnung, nach der sie ihre Meinung über ihn revidierte. Marie hatte ihr Auto vor seiner Einfahrt geparkt, weil sie in Eile war und annahm, dass er ohnehin nicht in München sei. Als er dann im Deli aufkreuzte, gab er ihr eine Minute, ihre »Schrottkarre« zu entfernen. Eisiger Ton und eine völlig überzogene Reaktion auf eine Lappalie. Sie schluckte Zorn und fuhr den Van um die Ecke. Als sie zurückkam, war Albian Fehrendonk verschwunden, und kurze Zeit später hörte sie das Dröhnen seines alten Porsche. Danach sah sie ihn monatelang nicht mehr.

 

Weshalb sie erschrickt, als er nun am Fenster des Deli steht. An einem 1. Dezember hätte Marie ihn nicht erwartet. Ein Wintertag der übelsten Art: kalt, nass und grau. Sie sitzt am Tisch und befestigt nachtblaue Kerzen am Adventskranz. Dieser ist groß und mit Federn in Blautönen geschmückt. Sie hat ein Talent zur Dekoration, eine von vielen Begabungen, die zu nichts führten. Fehrendonk starrt sie durchs Fenster an. Was will er von ihr? Die Miete hat sie bezahlt, und die »Schrottkarre« ist ordentlich geparkt. Marie hat den Vorfall nicht vergessen. Sie ist nachtragend. Kann schwer verzeihen. Auch sich selbst.

 

Als er die Tür öffnet, ertönt die Internationale, ein akustischer Gag, der in Berlin besser ankommen würde als in München. Das Einzugsgeschenk einer Freundin, die es auch gleich installierte.

 

Fehrendonk ist braun gebrannt, trägt einen Dreitagebart, mindestens, und seine dunklen Haare sind zu lang. Marie findet, dass er trotz der Bräune schlecht aussieht, müde und ausgebrannt. Wovon eigentlich, wenn er für sein Geld nie arbeiten musste?

 

»Schöne Deko«, sagt er anstelle einer Begrüßung, und sie weiß nicht, ob er die Lebkuchenkrippe im Schaufenster meint, das Gesteck aus Baumwollzweigen oder den federgeschmückten Adventskranz.

 

»Danke.« Sie steht auf und stellt zum ersten Mal fest, dass sie um ein paar Zentimeter größer ist als er. Ein ziemlich kleiner Mann, obwohl er nicht so wirkt. Klein und kräftig, aber nicht fett. Sie findet, dass er Ähnlichkeit mit einem Schauspieler hat, dessen Name ihr gerade nicht einfällt. »Kann ich was für Sie tun? Kaffee? Tee? Wein? Bier?«

 

Fehrendonk setzt sich auf einen der Stühle, keiner gleicht dem anderen, weil Einzelstücke leichter zu ersteigern waren. Er reibt sich mit den Händen die geröteten Augen. »Ein doppelter Espresso wäre nett. Ich bin erst seit Kurzem zurück, und der Jetlag ist grauenhaft.«

 

Marie bringt Espresso aus der Küche. Auch die Espressomaschine hat sie gebraucht gekauft und hofft, dass diese noch eine Weile durchhält. So gut wie alles im Laden und in der Wohnung ist secondhand. Gebrauchte Möbel und Elektrogeräte waren billig zu haben, und ihr Bruder half ihr beim Transport. Sie hatte Glück, ein Wort, das sie in den letzten Jahren eher selten strapazierte.

 

»Hühnersuppe«, sagt Marie. »Ich habe frisch gekochte Hühnersuppe, die gegen nahezu alles hilft.« Sie zeigt auf die Tafel mit den Tagesgerichten. »Es gibt auch Fleischpflanzerl mit Kartoffelsalat und Topfenpalatschinken.«

 

»Hühnersuppe.«

 

»Was zu trinken dazu?«

 

Er überlegt, als ob das eine Gewissensfrage sei, und schüttelt dann den Kopf. »Nein, danke. Meinen Sie, dass Sie meine Wohnung dekorieren könnten? Jahreszeitgemäß. Und dann brauche ich noch Weihnachtsgebäck. Und einen Baum, wenn es so weit ist. Geschmackvoll geschmückt. Den Punsch. Die Gans. Das ganze Brimborium …«

 

Sie hat ihr Gesicht unter Kontrolle. Keine Überraschung, keine Gier. Keine Neugierde vor allem. Er war seit dem Tod seiner Eltern noch nie zu dieser Zeit in München, das weiß sie von anderen Hausbewohnern. Wieso kann der Erbe seinen Weihnachtskram nicht selbst erledigen? Welche Gutsherrenart ist das denn? Einerseits würde sie gern Nein sagen, andererseits kann sie Geld gebrauchen. Was die Untertreibung des Jahres ist. »Weihnachten ist im Deli viel los, aber ich könnte vielleicht … es ist eine Preisfrage, denke ich.«

 

»Wie fast alles im Leben«, sagt Fehrendonk und sieht sie an, als wäre ihm egal, was sie fordert.

 

Du hast leicht reden, denkt Marie und geht in die Küche, um zu überlegen, welcher Betrag fair wäre. Kommt zurück mit einem Teller Hühnersuppe und Baguette und stellt sie vor ihn hin. Ihre Suppen sind im Winter gefragt: Hühnersuppe, Bohnensuppe, Linsensuppe, Gemüsesuppe, Gulaschsuppe, Fisch­suppe … Meistens kocht sie nachts, wenn das Deli geschlossen hat. Hört afrikanische Musik und beschließt ihren Tag in der Küche. Seit sie vierzig wurde und ihr Leben radikal umstellte, braucht sie weniger Schlaf. Sie könnte auch von einer Schlafstörung sprechen, doch das klingt so negativ.

 

Fehrendonk löffelt schweigend, während Marie ein junges Paar bedient, das nach einem »guten Roten zum guten Preis« sucht. Sie empfiehlt den beiden einen 2011er Spätburgunder aus dem Kaiserstuhl für siebzehn Euro. Ihre Auswahl an Rotweinen ist überschaubar, im Deli bietet sie ausschließlich deutsche Weine an – eine Frage von Finanzierungs- und Lagermöglichkeiten. Außerdem, aber dies erst an dritter Stelle, ist es eine Kompetenzfrage. In der deutschen Weinlandschaft kennt sie sich recht gut aus und kann ihre Gäste ordentlich beraten. Bei den Lebensmitteln versucht sie regionale, also bayerische Produkte anzubieten und zu verarbeiten. Bio, wenn’s geht. Klein, wie der Laden nun einmal ist, hat sie nur die Chance, in einer Qualitätsnische zu überleben.

 

Auf Fehrendonks Wunsch hin bringt Marie ihm einen zweiten Suppenteller, den er ebenso schweigsam löffelt wie den ersten. Leute, die mit solcher Hingabe essen, findet sie sympathisch. Hausbesitzer, denen alles in den Schoß gefallen ist, aber nicht. Zwei Herzen schlagen in ihrer Brust, die deutlich zu groß geraten ist. Marie hatte von Jugend an Probleme mit ihrem Busen, der peu à peu den Gesetzen der Schwerkraft folgt. Meist trägt sie weite T-Shirts oder Kleider, die ihre Taille betonen. Das einzig Schlanke an ihr, findet Marie, die irgendwann dann doch aufhörte, sich einen anderen Körper zu wünschen. Ein anderes Leben schon. Doch es war allein ihre Schuld.

 

»Sie sind eine gute Köchin«, sagt Fehrendonk, als sie seinen leeren Teller abräumt. Es klingt mehr nach einer Feststellung als nach einem Kompliment. Er hat nicht ein Jota Charme, denkt Marie, dafür einen Haufen Geld, das ist dann wohl der Ausgleich.

 

»Was halten Sie davon, dass Sie die anfallenden Kosten abrechnen und ich noch eintausendfünfhundert Euro drauflege?«

 

Marie stellt den Teller auf das Pult. Das ist mehr, als sie erwartet hat. Ein Weihnachtsgeschenk! »Für Kekse, Deko, Baum und Gans?«

 

Er zeigt auf den Adventskranz: »Ja, und so einen möchte ich auch haben. Der gefällt mir.«

 

Sie wäre eine Idiotin, wenn sie ablehnen würde. Marie nickt. »Brauchen wir einen Vertrag oder reicht ein Handschlag?«

 

Zum ersten Mal lächelt er. Ein leichtes Anheben der Mundwinkel. Albian Fehrendonk, der für seinen Rufnamen in Schulzeiten heftig büßte, streckt ihr seine rechte Hand entgegen. »Auf fröhliche Weihnachten, Marie. So darf ich Sie doch nennen, oder? Ich heiße Albian. Ich denke, ich habe diesen bescheuerten Namen, weil ich in Albiano gezeugt wurde. Ein Kaff in Norditalien. Meine Mutter war Italienerin.«

 

Von der Italienerin hat Marie schon gehört. Eine verhinderte Opernsängerin, die die Bewohner des Hauses zu Tages- und Nachtzeiten mit Arien quälte. Als die Fehrendonks bei einem Autounfall ums Leben kamen, mischte sich in die gebotene Trauer ein Quantum Erleichterung. Der Erbe war als absenter Hauswirt sehr viel angenehmer, und seine Mieterhöhungen blieben moderat.

 

Marie schüttelt seine Hand, und der Weihnachtsvertrag wird besiegelt. Wahrscheinlich ist sie unvorsichtig, weil er die Vornamen vorgeschlagen hat: Sie fragt ihn, warum er sie für Weihnachten engagieren will.

 

Wenn sein Gesicht ein Fenster wäre, hätte er die Rollläden mit einem Knall geschlossen. »Das geht Sie nichts an, Marie. Den Kranz möchte ich möglichst schnell. Die Weihnachtsbäckerei in der zweiten Adventswoche. Das ist doch machbar, oder?«

 

Sie nickt nur und denkt, dass er doch nur ein arroganter Affe ist. Außerdem missfällt ihr sein Rasierwasser, es riecht nach verbrannten Orangenschalen. Eisstimme: »Gut. Ich schlage vor, Sie zahlen einen Vorschuss von vierhundert, ich rechne das dann mit Belegen ab. Das Honorar zur Hälfte jetzt, die andere Hälfte am 24. Dezember. Espresso und Suppe gehen heute aufs Haus.«

 

Marie findet sich unverschämt, doch er akzeptiert ihren Vorschlag ohne Zögern. Für die Einladung bedankt er sich mit einer kurzen ironischen Verbeugung. Als ob er ein Problem damit hätte, Danke zu sagen. Marie gibt ihm einen Rechnungsvordruck mit ihren Kontodaten und verkauft ihm noch zwei Flaschen Eichberg Grauburgunder von 2012. Weingut Salwey, eines ihrer Favoriten vom Kaiserstuhl.

 

Als er geht, hinterlässt er Orangengeruch, und Marie hält die Tür für ein paar Minuten offen. Grau ist es draußen und nasskalt, doch der Dezember ist ein guter Monat, geschäftlich gesehen. Besonders mittags läuft es dank der vielen Stammkunden, die bei ihr essen oder etwas mitnehmen. Alkohol geht um die Tageszeit kaum, außer bei den Trinkern. Bernhard Kinkel aus dem vierten Stock gehört dazu, freier Journalist und früher gut bezahlter Autor. Heute zehrt er von den spärlichen Resten seines Ruhms und klagt darüber, am Hungertuch zu nagen. Auf einer Visitenkarte, die er privat aushändigt, steht als Berufsbezeichnung »Schluckspecht«.

 

Besser ein bekannter Alkoholiker als ein anonymer. Sein Lieblingsspruch, über den Marie nicht lachen kann. Doch bis zu einem gewissen Pegel ist Bernhard liebenswürdig und witzig, erst danach fängt er an, zu viel und Unsinn zu reden. Dann verkauft sie ihm nur noch Kaffee oder Wasser, was ihn unweigerlich vertreibt. Zwei Straßen weiter existiert ein Lokal, in dem sich Schwabings hartgesottene Trinker treffen, dort gibt er sich meistens den Rest.

 

Auch an diesem Nachmittag ist Bernhard der einzige Gast, der noch am Tisch sitzt und trinkt. Wenn das Mittagsgeschäft vorbei ist, kehrt oft bis zum Abend Ruhe ein. Dann isst Marie von ihrem Tagesgericht, trinkt Kaffee und geht vor die Tür, um eine Zigarette zu rauchen. Rituale, die sie braucht, um von einem Tag zum nächsten zu kommen. Die zwei, drei Stunden Muße sind ein Geschenk, das von Laufkundschaft unterbrochen wird, doch zumindest schafft sie es fast immer, die Zeitung zu lesen, Überschriften und ein paar Artikel, die sie interessieren.

 

Im Deli liegen die Süddeutsche und die Abendzeitung aus, die Bernhard, der fast täglich kommt, eingehend studiert, bevor ihm die Zeilen verschwimmen. Er trinkt ausschließlich Riesling von der Nahe, den Marie in größeren Mengen geordert hat. Die Weinkennerschaft ist eine seiner vielen Tarnkappen. Er würde nie zugeben, auch nicht vor sich selbst, dass er alles trinken würde, um einen gewissen Pegel zu halten. Nach drei Stunden und zwei Flaschen ist er in einem Zustand der Glückseligkeit, der auf Rasierklingen des Selbsthasses balanciert.

 

»Du solltest einen Teller Hühnersuppe essen«, sagt Marie, »so als Ausgleich.«

 

Bernhard sieht ein, dass er bisweilen auch essen muss: »Ich nehm lieber die Fleischpflanzerl, die passen besser zum Riesling. Habe ich vorhin den Hausbesitzer in seinem Peniswagen gesehen – oder war das eine optische Täuschung?«

 

Bernhard hat kein Auto. Er hat auch keine Wohnung mehr, sondern ist zurück zu seiner Mutter gezogen, nachdem sich seine Frau von ihm getrennt hatte. Er besitzt einen Laptop, teure Anzüge, maßgeschneiderte Hemden und Schuhe aus Budapest. Sozusagen Altlasten. Solange er Wert auf sein Äußeres legt, ist alles im Lot. Glaubt er. Oft lässt er bei Marie anschreiben, doch einmal im Monat kommt er zur Begleichung seiner Schulden mit einem Bündel Hunderteuroscheine, über deren Herkunft er kein Wort verliert.

 

Marie bestätigt die Ankunft von Fehrendonk, sagt aber nichts über den Weihnachtsdeal. Es wäre ihr lieber, ihn geheim zu halten, obwohl Geheimnisse es in diesem Haus schwer haben. Ohne dass sie es wollte, ist Marie zum Umschlagplatz von Nachrichten geworden. Wie eine Concierge in Paris oder eine Hauswartin in Wien. Keine Ahnung, ob ihr diese Rolle liegt, doch das sind seidene Sorgen. Dieser Laden, das ist ihre neue Existenz und vielleicht die letzte Chance. Sie hat schon zu viele verspielt.

 

»Ich glaube, dass er schwul ist.« Bernhard hält ihr sein leeres Glas hin, und Marie schenkt nach, während sie überlegt, ob das klug ist.

 

»Wer ist schwul? Fehrendonk? Wie kommst du denn darauf?«

 

»Intuition. Hast du ihn je mit einer Frau gesehen? Die Pflanzerl sind übrigens gut, aber lätschert. Ich brauch was von deiner Chilisauce.«

 

Marie stellt ihm ein Glas hin, sie verkauft ihre feuerscharfe Sauce auch im Laden.

»Ich weiß nicht … ist ja auch egal, oder? Was machst du zu Weihnachten?«

 

»Barbados. Nein, ich glaube, heuer eher nicht, haha. Ich feiere mit meiner alten Mutter, wie sich das für einen guten Sohn gehört. Ich werde mir die volle Dröhnung geben.«

 

Machst du doch jeden Tag, denkt Marie, doch sie lächelt nur. Die Wahrheit wird überschätzt, und Ehrlichkeit gegen sich selbst wäre schon eine Meisterleistung.

 

»Und du?«

 

Marie zieht die Schultern hoch. Nicht an Weihnachten und Familie denken in dieser Krisenjahreszeit! »Keine Ahnung, bis zum 24. muss ich arbeiten. Danach könnte ich zu meinem Bruder fahren, er hat mich eingeladen. Ich kann bloß seine Frau und die Kinder nicht leiden.«

 

Das mit den Kindern wollte sie nicht sagen, aber tatsächlich findet sie die Zwillinge verzogen und nervtötend, während sie von ihrer Schwägerin nur akzeptiert wird, wenn sie die demütige Verwandte und lustige Kinderhüterin spielt. Nein, sie wird nicht nach Frankfurt fahren. Ihr zweiter Bruder lebt in Berlin und hat für Familie und Familienfeste wenig übrig. Mit Henry versteht sich Marie am besten, doch Henry findet, dass er für seine Schwester schon genug getan hat, was sie verstehen kann.

 

»Die Scheißverwandtschaft ist das furchterregende Gespenst aller Weihnachten«, sagt Bernhard. Seine Glückseligkeit steht an der Klippe und ist bereit zum Absturz. Er ahnt es und versucht dagegen anzutrinken. Marie entscheidet, dass er nun genug hat, zumindest auf ihrem Territorium. Als sie sich weigert, ihm ein weiteres Glas einzuschenken, protestiert er nicht, das hat er sich abgewöhnt, sondern verlangt nach der Rechnung, die er schwungvoll unterschreibt. Dann sieht er sie mit diesem Hundeblick an, von dem er glaubt, dass Frauen ihn mögen: »Liebste Marie, könnten wir einen Deal für Weihnachten schließen?«

 

Noch einer? Marie sieht ihn fragend an.

 

»Eigentlich ist es mehr ein Weihnachtswunsch«, sagt Bernhard. »Kannst du mir in dieser Zeit, in der ich an Konsumterror, Zimtallergie und beschränkten Öffnungszeiten leide, genug zu trinken ausschenken? Mich nicht mit Wasser von diesem zauberhaften Ort vertreiben?«

 

Sie legt den Kopf schräg, das macht sie oft, wenn sie eine Entscheidung treffen soll, die ihr schwerfällt. Sagt schließlich: »Aber nur Wein oder Bier. Und nur, wenn du dich benimmst.«

 

Ein halber Sieg für Bernhard Kinkel, aber immerhin. Er nimmt seinen Kaschmirmantel aus besseren Tagen und verlässt sein Wohn-, Ess- und Trinkzimmer, um sich anderen Ortes einen Absacker zu genehmigen.

 

Marie sieht ihm nach, wie er vorsichtig ausschreitend die Straße überquert. Ein Autofahrer hupt, bremst aber für Betrunkene. Im Geschäft gegenüber dekorieren sie das Schaufenster mit Engeln und Lametta. Sigrid winkt ihr zu, sie wohnt im zweiten Stock und ist auf der Suche nach einem Parkplatz. Der Anwohnerparkschein hilft auch nichts, wenn die Lücke fehlt. Und jetzt beginnt es zu schneien. Nasse, schwere Flocken taumeln zur Erde. Das war Maries Lieblingslied als Kind: Leise rieselt der Schnee. Während sie die Melodie im Kopf abspielt, denkt sie, dass Weihnachten die Hölle der Einsamen ist. Vielleicht aber auch der Mütter und Großmütter, überhaupt aller Frauen.