Dr. Daniel 26 – Lügnerin aus Angst

Dr. Daniel –26–

Lügnerin aus Angst

Roman von Marie-Francoise

  »Du hast wieder deine Tage bekommen?« fragte Roland Seibold enttäuscht, als er bemerkte, daß seine Frau eine Packung Tampons mit ins Bad nahm.

  Tanja nickte bedauernd. »Ja, leider.«

  Niedergeschlagen lehnte sich Roland an den Türrahmen. »Also, ich glaube, allmählich sollten wir doch einen Arzt aufsuchen.«

  Tanja erschrak zutiefst, versuchte es aber zu verbergen.

  »Einen Arzt?« brachte sie nur mühsam hervor. »Aber… warum denn?« Verzweifelt bemüht sie sich, ihre Fassung wiederzugewinnen, doch Roland war so mit seinen Gedanken bschäftigt, daß ihm gar nicht auffiel, wie tief betroffen Tanja über seinen Vorschlag war.

  »Drüben in Steinhausen praktiziert doch dieser Gynäkologe«, meinte er. »Meine Schwester geht schon seit ein paar Jahren zu ihm. Er soll ja sehr nett sein.«

  Fieberhaft überlegte Tanja, wie sie diesem Arztbesuch entkommen könnte.

  »Ich weiß nicht, Roland«, wehrte sie ab. »Man wird nun mal nicht auf Befehl schwanger. So etwas dauert halt seine Zeit.«

  Sehr ernst sah Roland seine Frau an. »Bei uns dauert es aber schon fast drei Jahre. In der Zwischenzeit hat Margot ein Kind bekommen, und das zweite ist auch bereits unterwegs.«

  Erschrocken starrte Tanja ihn an. »Deine Schwester ist schon wieder schwanger? Aber… Thomas ist doch erst ein gutes Jahr alt.«

  Roland zuckte die Schultern. »Na und? Margot und Peter waren sich einig, daß sie mit einem zweiten Baby nicht zu lange warten wollten.« Er seufzte. »Wenn es bei uns doch auch so problemlos ginge.«

  Verlegen senkte Tanja den Kopf. Wenn Roland wüßte…

  »Margot ist auch nur eineinhalb Jahre älter als ich«, fuhr ihr Mann fort und riß sie damit aus ihren Gedanken. »Ich glaube, deshalb haben wir uns schon immer so gut verstanden. Ein zu großer Altersunterschied zwischen Geschwistern ist wohl nicht gut.« Er sah Tanja an. »Nimm nur dich und Natalie als Beispiel: Du bist zehn Jahre älter als deine Schwester, und manchmal scheint es mir, als hättest du überhaupt keine Beziehung zu ihr. Meistens benimmst du dich ihr gegenüber, als wäre sie eine völlig Fremde.« Er zuckte die Schultern. »Vielleicht ist sie das für dich sogar. Im Grunde seid ihr ja beide fast wie Einzelkinder aufgewachsen.«

  »Das ist es nicht«, widersprach Tanja leise. »Natalie und ich sind einfach zu verschieden.« Und ich habe es ihr nie verziehen, daß sie meine Mutter bei ihrer Geburt getötet hat, fügte sie in Gedanken hinzu.

  Roland seufzte wieder, dann stieß er sich vom Türrahmen ab. »Trotzdem bin ich der Meinung, es wäre nun an der Zeit, daß wir uns untersuchen lassen. An einem von uns muß es doch liegen, wenn du nicht schwanger werden kannst.«

  Tanja nickte ergeben. »In Ordnung, Roland. Bei nächster Gelegenheit werde ich mir einen Termin besorgen.«

  Daß diese Gelegenheit zumindest bei ihr nicht so rasch kommen würde, verschwieg sie.

*

  Fast ein wenig neidisch betrachtete Roland Seibold den dicken Bauch seiner Schwester. Es hatte ihn heute nach der Arbeit hierhergetrieben, und nun hielt er liebevoll seinen Neffen Thomas auf dem Schoß und zeigte ihm ein Bilderbuch, während immer wieder ein Blick zu Margot wanderte, der man die Schwangerschaft inzwischen schon sehr deutlich ansah.

  »Wenn es doch bei uns auch endlich klappen würde«, erklärte er plötzlich.

  Mitleidig sah Margot Klein ihren Bruder an. Sie wußte, wie sehr er sich nach einem Kind sehnte. Dann setzte sie sich spontan neben ihn und nahm seine Hand.

  »Hör zu, Roland, ich will keinesfalls einen Keil zwischen dich und Tanja treiben, aber… bist du wirklich sicher, daß sie sich ebenfalls ein Kind wünscht?« fragte sie behutsam.

  Roland nickte. »Ja, natürlich wünscht sie sich ein Baby. Tanja ist jetzt siebenundzwanzig, und um diesen Zeitpunkt herum erwacht doch beinahe in jeder Frau der Wunsch nach einem Kind. Außerdem waren wir uns bereits vor drei Jahren einig, daß wir ein Baby möchten. Deshalb hat Tanja auch die Pille abgesetzt.«

  Margot senkte den Kopf. »Alles schön und gut, Roland.« Sie zuckte die Schultern. »Weißt du, manchmal habe ich den Eindruck, daß Tanja ganz froh darüber ist, daß es mit der Schwangerschaft nicht klappt.«

  »Das ist doch Unsinn!« wehrte Roland energisch ab. »Sie ist immer sehr enttäuscht, wenn sie ihre Tage wieder bekommt.« Er schwieg kurz. »Vor zwei Wochen haben wir uns nun entschlossen, einen Arzt aufzusuchen. Ich habe am Montag einen Termin, und Tanja…« Er zögerte, sprach es dann aber doch aus. »Tanja möchte zu diesem Arzt, bei dem auch du bist.«

  Margot zog die Augenbrauen hoch. »Sie möchte? Ja… hat sie denn noch keinen Termin vereinbart?«

  Wieder zögerte Roland einen Moment. »Bis jetzt noch nicht.« Er winkte ab. »Wahrscheinlich kann sie sich einfach nicht vorstellen, daß es an ihr liegen soll. Du weißt ja, wie sensibel sie ist. Aber wenn ich meine Untersuchung erst mal hinter mir habe, wird Tanja auch nicht mehr länger zögern. Ich muß ihr eben einfach Zeit lassen.«

  »Ja, vielleicht«, meinte Margot, doch es klang nicht so, als wäre sie von den Worten ihres Bruders überzeugt. Und obwohl sie zwischen ihm und Tanja keine Zwietracht hatte säen wollen, war es ihr allein durch ihr Verhalten gelungen, Roland sehr nachdenklich zu machen.

*

  »Du kommst heute aber spät«, stellte Tanja fest, als Roland endlich nach Hause kam.

  Er hängte sein Jackett an die Garderobe, dann begrüßte er seine Frau mit einem flüchtigen Kuß. Erstaunt sah Tanja ihn an. Normalerweise wurde sie von ihm viel liebevoller begrüßt.

  »Ich war noch auf einen Sprung bei Margot«, erklärte Roland, dann setzte er sich an den gedeckten Tisch.

  »Da hättest du mich doch wenigstens anrufen können«, meinte Tanja mit leisem Vorwurf in der Stimme. »Ich mußte das Essen über eine Stunde warmhalten.« Sie zuckte die Schultern. »Ob das jetzt noch schmeckt, weiß ich nicht.«

  Uninteressiert winkte Roland ab. »Ist doch egal. Genießbar wird es schon sein und…« Plötzlich sah er seine Frau an. »Sei ehrlich, Tanja, möchtest du wirklich ein Baby, oder tust du nur so?«

  Tanja erschrak zutiefst, doch es gelang ihr gleich wieder, sich zu fassen.

  »Natürlich möchte ich ein Baby!« bekräftigte sie, aber es klang nicht sehr überzeugend, und das bemerkte Roland auch.

  »Mir scheint, Margot hat mit ihrer Vermutung recht«, meinte er.

  Da schlug Tanja mit der flachen Hand auf den Tisch. »Das hätte ich mir ja denken können! Margot hat dich also wieder gegen mich aufgehetzt! Aber sie konnte mich ja noch nie leiden!«

  »Das ist nicht wahr«, widersprach Roland energisch. »Margot mag dich sehr gern, und sie hat mich noch nie gegen dich aufgehetzt. Sie hat wohl eher gemeint, daß ich dich mit meinem Wunsch nach einer Familie… wie soll ich sagen… überrumpelt habe. Vielleicht möchtest du einfach noch damit warten.«

  Tanja zögerte. Wenn sie Roland jetzt zustimmen würde, dann hätte sie zumindest ein oder zwei Jahre gewonnen. Andererseits… im Endeffekt änderte sich damit doch nichts an ihrem grundsätzlichen Problem.

  »Ich werde morgen einen Termin bei Dr. Daniel vereinbaren«, erklärte sie leise.

  Da glitt ein glückliches Strahlen über Rolands Gesicht. »Liebling!« Stürmisch nahm er sie in die Arme und bedeckte ihr Gesicht mit zärtlichen Küssen. »Ich bin ja so froh, daß du dich auch untersuchen lassen willst.« Er lächelte sie an. »Du wirst sehen, wenn du erst schwanger bist, dann wirst du dich ebenso auf das Baby freuen wie ich.«

  Tanja nickte nur und fragte sich dabei verzweifelt, wie sie mit dieser Situation nur fertigwerden sollte.

*

  Roland hätte später nicht mehr sagen können, was ihn in dieser Nacht bewogen hatte, aufzustehen und systemtisch alle Schubladen zu durchwühlen. Noch vor einer Woche wäre ihm das nicht einmal im Traum eingefallen; er hatte seiner Frau noch niemals mißtraut. Außerdem wußte er ja überhaupt nicht, wonach er eigentlich suchte.

  »Ich bin verrückt«, murmelte er, dann schlich er ins Schlafzimmer zurück. Im schwachen Schein der Straßenlaterne, deren Licht durch die zugezogenen Vorhänge fiel, sah er Tanja im Bett liegen – zusammengerollt wie ein Murmeltier.

  Die Worte seiner Schwester drängten sich in seine Gedanken und verbanden sich mit allem, was zwischen ihm und Tanja heute abend gesprochen worden war. Nachdenklich blickte Roland auf seine Frau hinunter. Konnte es denn tatsächlich sein, daß Margot recht hatte? Daß Tanja ihm mit ihrem angeblichen Kinderwunsch nur etwas vormachte? Aber warum sollte sie das tun?

  Weil sie mich verlieren würde, dachte Roland. Mit einer Frau, die keine Kinder haben will, könnte ich niemals zusammenleben.

  Das wußte Tanja auch, und von diesem Blickwinkel betrachtet, wäre es durchaus möglich, daß Margot mit ihrer Vermutung gar nicht so falsch lag.

  Wie in Trance trat Roland an das Nachttischchen seiner Frau heran und öffnete die Schublade. Fein säuberlich gestapelt lagen hier ihre zarten Spitzentaschentücher, und wieder kam sich Roland plötzlich sehr schäbig vor, weil er hinter seiner Frau herspionierte. Was hoffte er eigentlich zu finden? Eine schriftliche Erklärung, daß sie gar keine Kinder haben wollte? Daß sie ihren Mann nur belog, um ihn nicht zu verlieren?

  Ärgerlich über sich selbst schüttelte Roland den Kopf. »Ich bin tatsächlich verrückt geworden.«

  Dann beugte er sich über Tanja und küßte sie sehr sanft, als wolle er sie für sein Mißtrauen um Verzeihung bitten, bevor er sich wieder ins Bett legte. Doch obwohl er sehr müde war, nagten die Zweifel weiter an ihm, und so dämmerte es bereits, als er in einen unruhigen Schlaf fiel. Wirre Träume suchten ihn heim, und so war er fast froh, als ihn das unbarmherzige Klingeln des Weckers aus diesem wenig erholsamen Schlaf riß.

  Er fühlte sich wie gerädert, und so bemerkte er nicht, daß Tanja, die mit ihm am Frühstückstisch saß, auch nicht gerade ausgeruht wirkte. Das gestrige Gespräch mit Roland hatte die Schatten der Vergangenheit wieder heraufbeschworen. Noch immer hörte sie die fürchterlichen Schreie ihrer Mutter, sah das viele Blut und…

  »Ich muß los, Liebes.«

  Rolands Worte rissen sie aus ihren Gedanken. Mechanisch stand sie auf, erwiderte seinen Abschiedskuß und begleitete ihn gewohnheitsmäßig zur Tür. Sie wartete noch, bis Rolands Wagen um die Ecke gebogen war, dann kehrte sie ins Haus zurück, zog sich um und bestieg eine halbe Stunde später den Bus, der sie in den Nachbarort Steinhausen brachte. Die Ärztin, die hier vor einiger Zeit die Praxis des alten Dr. Gärtner übernommen hatte, war sehr nett. Von ihr würde sie bestimmt anstandslos wieder ihr Rezept bekommen.

  Doch diesmal zögerte Frau Dr. Carisi.

  »Ich will Sie nicht bevormunden, Frau Seibold«, meinte sie. »Aber wenn Sie regelmäßig die Pille nehmen, dann sollten Sie zumindest einmal jährlich eine gynäkologische Untersuchung durchführen lassen.«

  Tanja senkte den Kopf. »Ich fühle mich aber ganz gesund.«

  »Das hat damit überhaupt nichts zu tun«, entgegnete die Ärztin. »Die Pille ist ein Hormonpräparat, das auf nicht unerhebliche Weise in den natürlichen Ablauf der weiblichen Körperfunktionen eingreift, und deshalb sollten gewisse Untersuchungen regelmäßig durchgeführt werden. Dazu gehört eben unter anderem auch die gynäkologische Untersuchung mit Zellabstrich.« Sie warf einen kurzen Blick auf das unbeschriebene Rezept. »Als Sie vor einem halben Jahr hier bei mir waren, sagten Sie, es wäre ein Ausnahmefall.« Sie sah Tanja wieder an. »Warum gehen Sie nicht mal zu Dr. Daniel hinüber? Er ist ein sehr netter und rücksichtsvoller Arzt.« Sie lächelte nachsichtig. »Ich weiß schon, daß diese gynäkologischen Untersuchungen nicht besonders angenehm sind, aber sie sind nun mal dringend erforderlich, und gerade bei Dr. Daniel müßten Sie ganz bestimmt keine Angst haben.«

  Tanja nickte. »Ich verspreche Ihnen, daß ich einen Termin vereinbaren werde, aber bitte… geben Sie mir noch dieses eine Rezept.«

  Noch immer zögerte Manon Carisi, dann schrieb sie das Rezept aus.

  »Ich habe Ihnen die Pille diesmal nur für drei Monate aufgeschrieben«, erklärte sie ernst. »Aber das ist wirklich das letzte Mal, Frau Seibold. Und ich würde Ihnen raten, Dr. Daniel schon vor Ablauf dieser drei Monate aufzusuchen.«

  »Ja, Frau Doktor«, versprach Tanja leise, dann verabschiedete sie sich und verließ die Praxis. Sekundenlang überlegte sie, ob sie gleich hier in Steinhausen in die Apotheke gehen sollte, entschied sich dann aber dagegen, weil sie sonst den Bus verpassen würde, und der nächste fuhr erst in einer guten Stunde.

  Doch als sie die Apotheke ihres Heimatortes betrat und das Rezept vorlegte, hob die junge Apothekerin bedauernd die Schultern.

  »Tut mir leid, Frau Seibold, ich habe gerade die letzte Packung verkauft«, erklärte sie. »Mit der Nachmittagslieferung bekomme ich sie aber wieder herein. Wenn Sie vielleicht ab fünfzehn Uhr noch mal vorbeischauen könnten.«

  Tanja nickte. »Selbstverständlich. Es eilt ja nicht. Vielleicht hole ich sie sogar erst morgen vormittag ab.«

  Die junge Apothekerin lächelte. »Ist in Ordnung, Frau Seibold.«

  Tanja verließ die Apotheke und ließ sich dabei die Worte von Frau Dr. Carisi durch den Kopf gehen. Vielleicht hatte die Ärztin ja recht. Es konnte wirklich nicht verkehrt sein, mal wieder einen Frauenarzt aufzusuchen. Ihr letzter Besuch beim Gynäkologen lag beinahe fünf Jahre zurück. Und über diesen Dr. Daniel hörte man wirklich nur Positives. Rolands Schwester war ja auch ganz hingerissen von ihm.

  Tanja nickte sich selbst zu. Gleich morgen würde sie in der Praxis anrufen und einen Trmin vereinbaren, ehe sie wieder der Mut verlassen würde.

*

  Den ganzen Tag über hatte Roland mit üblen Kopfschmerzen zu kämpfen gehabt. Jetzt war er auf dem Nachhauseweg, und es schien ihm, als würden die Schmerzen allmählich unerträglich.

  »Gleich wenn ich heimkomme, lege ich mich ins Bett«, nahm er sich fest vor. Ob er mit diesen Kopfschmerzen allerdings würde einschlafen können, stand in den Sternen.

  Spontan hielt Roland den Wagen vor der Apotheke an.

  »Guten Tag, Herr Seibold«, grüßte die junge Apothekerin freundlich. »Sie kommen sicher, um die Tabletten Ihrer Frau abzuholen.«