Cover

TEXT+KRITIK


TEXT+KRITIK. Zeitschrift für Literatur.

Begründet von Heinz Ludwig Arnold

Redaktion:
Steffen Martus, Axel Ruckaberle,
Michael Scheffel, Claudia Stockinger und Michael Töteberg
Leitung der Redaktion: Hermann Korte
Tuckermannweg 10, 37085 Göttingen,
Telefon: (0551) 5 61 53, Telefax: (0551) 5 71 96

Print ISBN 978-3-86916-432-8
E-ISBN 978-3-86916-434-2

Umschlagabbildung: Isolde Ohlbaum

Preis für dieses E-Book € 23,99

E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
www.dnb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2015 Levelingstraße 6a, 81673 München
www.etk-muenchen.de

Inhalt

Angela Krauß

Geschätzte Leserinnen und Leser !

Norbert Otto Eke

»Das Eigentliche ist das Unsagbare«. Angela Krauß’ Poetik der Aussparung

Bernadette Malinowski

Auf Augenhöhe. Ästhetik der Anerkennung bei Angela Krauß

Anke Bastrop

Im Sagen schweigen. Formen des Sprachlosen bei Angela Krauß

Julie Klassen

»Lieben Sie etwa die Russen?« Motive der Gesamtliebe im Werk von Angela Krauß

Rüdiger Görner

Silizium, Küsse, Weltgipfel. Anmerkungen zur Prosa »Im schönsten Fall« von Angela Krauß

Meinhard Michael

»Wann, wenn nicht jetzt !« Erkundungen über die Zeit in Texten von Angela Krauß

Sebastian Kleinschmidt

Staunend, heiter, furchtlos, geistig beschwingt. Angela Krauß – Dichterin des Enthusiasmus

Volker Braun

Notat aus »Werktage I« (8.11.88)

Marion Gees / Angela Krauß

Die Kindheit, die Liebe und die Form. Ein Gespräch

Robert Gillett / Astrid Köhler

Auswahlbibliografie

Biografie

Notizen

[109|110] img

[110|111] img

[111|112] img

[2|3]Angela Krauß

Geschätzte Leserinnen und Leser !

Wie auch immer Sie ein Buch zu lesen pflegen, von vorn nach hinten oder von hinten nach vorn – es vermag nicht alle Antworten zu geben, nach denen es Sie verlangen mag. Denn zugrunde liegen rätselhafte Fragen, der Mensch ist ihnen ohnehin ausgesetzt und hält sich tapfer. Aber mitunter stellt er sie, natürlich nur die dringendsten, und harrt auf Antwort. Sie finden diese nirgendwo sonst gedruckt, nur hier, denn die Befragte wirft ihre Antworten in den Wind, in den Luftzug gelegentlicher Gespräche mit Ihnen, so Sie literarische Zusammenkünfte jemals besuchten. Dort werden Fragen laut, zu denen sich im Buch offenbar niemand geäußert hat. Die stoische Wiederkehr dieser Fragen läßt auf ein Defizit schließen, das schmerzt, besonders mich, die ich in jedem Buch mein Innerstes nach außen gewendet zu haben glaube. Das ganze Buch ist eine einzige Antwort. Jedes ! Auf alles !

Dennoch werden mir diese häufig gestellten Fragen niemals zuviel. Dort, wo sie laut werden, kann ich nicht falsch sein. Ich habe mich nicht in der Tür geirrt. Ich bin zuhause. Ich bin von Fragen umgeben, deren Antworten in die Mitte dieser Behausung führen: zu mir selbst. Dies verdanke ich den Fragen. Am meisten den einfachen, von keinerlei Mitwissen und eifrigem Vorahnen getrübten Fragen, jenen, die in schlechtem Ruf stehen und von manchen Kollegen gefürchtet oder verlacht werden. Es sind kaum mehr als drei. Den sogenannten dummen Fragen verdanke ich viel. Den dümmsten alles. Die eine, jene mit dem Ruf der allerdümmsten Frage, stelle ich mir in bohrenden Zyklen seit dreißig Jahren immer aufs neue selbst.

Warum schrei­ben Sie eigentlich ?

Sie reißt einen Abgrund auf zwischen mir und den anderen, die ich für Nahestehende hielt. Ist es denn möglich, nicht zu schrei­ben ? Ist das denkbar? Und um welche Spezies handelt es sich dabei ? Ich bin ihr noch nicht begegnet. Oder habe ich etwas übersehen ? Erst nachdem sie mir zum ersten Mal gestellt wurde, diese Frage, richtete ich sie an mich selbst. Ich fühlte mich wie Adam und Eva, da sie erkannten, daß sie nackt waren. Seitdem schaue ich argwöhnisch an mir hinab, wie wir alle das gelernt haben. Was ist falsch an mir ? Habe ich einen Defekt ? Handelt es sich um einen Mangel oder einen Überschuß ? Hat das einen Namen ? Ist das meldepflichtig ? Wer bin ich überhaupt ? Einst küßte mich ein Römer, und jemand, der sich Ich nennt, erinnert sich daran aus Mangel an anderer Arbeit beim Liegen auf einer [3|4]Decke neben einer gleich explodierenden Fabrik. Muß das aufgeschrieben werden ? Sie hat sich heimlich in mein Nachdenken über die Welt geschlichen, die Frage, und ich bin erleichtert, wenn sie aus der Leserschaft heraus regelmäßig laut wird. Sie unterstellt etwas Unnormales, um nicht zu sagen : Verrücktes. Und dies ausgesprochen zu hören, kann eine Befreiung sein.

Er hieß Angelo.

Angelo Molini, Via E. Cialdini 3/2 Roma.

Einhundert Briefe schrieb ich ihm in jenem Jahr, als die alte Karbol­fabrik explodierte. Ein einziges Mal erhielt ich eine An­sichtskarte: Eine blauorangene Fotografie, von der ich den an einer Ecke abgeriffelten Zipfel der Glanzfolie fassen und über das Bild weg abziehen konnte.

Ich merke, im Liegen lassen sich leichter waagerechte Gedankenbewegungen machen als senkrechte. Zuerst werden die in der Tiefe ruhenden Ereignisse durch einen blitzschnellen artistischen Akt des Gehirns in die Waagerechte befördert. Nun liegt alles ausgebreitet da wie auf einer Tafel, an der ununterbrochen ge­­schnuppert, geschleckt, gekostet und geschlungen wird. Die Römer speisten im Liegen, und auch die Kinder in den Freibädern tun es, danach geben sie sich wie die Menschen zu allen Zeiten dem Liegen auf Decken ohne Vorwand hin. So wie jetzt ich. Wie konnte ich das so lange vergessen ?

Ich weiß noch, wie das war mit dem Kuß : Ich schrieb es am Abend in ein verschließbares Buch, dabei stand mir schon vor Augen, wie es jemand aufspürte und las. Als ich die Tinte trocknen sah, fürchtete ich im selben Moment, jemand entdeckte mich. Warum ich es trotzdem tat, weiß ich nicht. Vielleicht wollte ich den Schatz irgendwo bergen wie ein Tier eine ungewöhnlich schöne große Nuß, von der es später leben würde. Ich sehe es noch heute an der tadellosen Schrift : Ich habe mit der Entdeckung durch eine Autoritätsperson gerechnet und suchte sie sofort durch vorbildliches Schönschreiben für mich einzunehmen. Die schöne Form gelang mir so gut, weil ich bereits hunderte Stunden mit dem Training verbracht hatte. Meine Kinderjahre hatte ich an sie verwendet. Niemand hatte mich dazu aufgefordert. Mir scheint, als ich in dieser Gegend auf die Welt kam, habe ich durch den Schwebstaub hindurch in ihr den einzig verbleibenden Sinn meines Hierseins erkannt. Seitdem war ich gewöhnt, hart zu arbeiten. Jede Schönheit muß man hier dem Dasein entreißen; ich hatte es verstanden, kaum, daß ich geboren war. Es ist das erste, was man versteht.

Das liegt schon Jahrzehnte zurück, und diese Schönschrift ist nicht ein bißchen verblaßt. Ein schmiedeeisernes Gitter; ich komme so wenig von außen hinein wie von drinnen heraus. Der Kuß des Römers steckt [4|5]irgendwo rückwärtig fest; nur ein sehnsüchtiger Lichtschein hängt von ihm in der Luft, wie von einem lebenslänglich eingekerkerten Mond. (»Sommer auf dem Eis«)

Die Einkerkerung, sie ist fundamental. Jegliche große Erfindung der Menschheit, als was sie sich auch verkleiden möge, dient in Wahrheit der Überwindung der Einkerkerung. Nicht minder unsere kleinen Aktionen; täglich von früh bis spät trachten wir nach Befreiung, vom Kaffee am Morgen angefangen bis zum Traum vor Mitternacht. Als müßten wir den Weg ins Leben immer aufs neue nehmen, diesen traumatischen Vorstoß ins Offene, hin zum ersten Atemzug. Ins Freie ! Auch die zu Dichtung verdichtete Welt setzt ein Ungenügen an der vorgefundenen voraus; ich teile es. Man sieht es mir nicht an. Irgendwer muß dafür gesorgt haben, daß mein Äußeres der Welt rückhaltlos zuzustimmen scheint. Sie lacht, wozu schreibt sie ? Wer lacht, schreibt nicht ! Das steigert die unterstellte Verrücktheit zur Absurdität. Es bringt mich in Verlegenheit. Ich nehme mein Lachen gar nicht wahr, es ist eine Emanation meiner Zellen im Zustand der Liebe. Eine beständige, leise, nach allen Richtungen wellenschlagende Liebesbereitschaft als Modus meines Daseins.

Du ! Bis zu diesem Tag hatte ich mir noch keine Gedanken darüber gemacht, ob die Schneeflocken in der Luft zusammenstoßen. Damals hörte ich es das erstemal: Sie stoßen nicht zusammen ! Die Nähe von ihresgleichen läßt sie wegschnellen, ist zu vermuten. Sie tragen um sich einen Hof von feinen Luftwellen, ein unsichtbares Röckchen, das hält sie in einem Abstand, der einer Choreografie unterliegt. Nichts zwischen Himmel und Erde stört diesen lich­ten, euphorischen Tanz, begleitet von einem Gesang auf einer unhörbaren Frequenz. Wenn ich ihm zusehe, beginnt mich eine Ahnung zu erfüllen, gleichsam zu befallen von oben herab : daß es so auch inwendig gedacht sein könnte. Daß alle Anblicke, sämtliche Weltteilchen, deren wir ansichtig werden, mitsamt unseren Mut­maßungen, Meinungen, Erinnerungen und Spintisierereien zu feinen und einmaligen Flocken auskristallisieren und in einem Massenballett zu Boden schweben, dort vielleicht noch ein wenig ruhen, um dann unwiderruflich zu schmelzen in einen anderen Aggregatzustand hinein. Was hat man sich dabei gedacht ?

Nichts, befand meine Großmutter eine Stunde nach Einlaß zum Tanz in Alberoda, als sie keine Tour gesessen hatte und mit glühenden Wangen die erste Tanzpause nutzte, um die noch verbleibenden Möglichkeiten am Ort gegen die noch vollzähligen im Goldenen Krug von Neu[5|6]städtel abzuwägen. Die Entscheidung für die Vollzähligkeit traf sie, noch erhitzt, binnen Sekunden. Es lagen zwei Kilometer Fußmarsch zwischen dem, was sie besichtigt hatte, und dem, was noch vor ihr im Dunkeln lag. Einen gemischten Begleitschutz fand sie ebenso schnell, wie sie stets Tänzer fand, sie erreichten den Goldenen Krug binnen einer Viertelstunde, während der sie auf keine Schäkerei einging, die mit Stehenbleiben verbunden war. Sie rechnete sich das nahende Ende der Tanzpause aus, trieb zur Eile und langte, schon wieder erhitzt vom Marsch in der eiskalten Nachtluft und von der Erwartung, im Goldenen Krug an, als gerade die dritte Tour gespielt wurde. Mit einem vorgetäuschten Gang zur Toilette wich sie dem ihrem Begleiter versprochenen Tanz aus und erfaßte von der dem Eingang gegenüberliegenden Saalseite aus mit einem Blick die Lage.

Weiter ! drängte ich, und sie wurde rot und behauptete, dieses Glühen habe sie schon immer, seit hundert Jahren, von Anfang an, und deshalb bedeute es gar nichts. Und erst kürzlich habe sie geträumt, sie sei in einem hellblauen Seidenkleid und hellblauen seidenbespannten Schuhen die Strecke von Alberoda nach Neu­städtel und dann nach Oberschlema gelaufen, in einer Nacht, in der es ganz leise geschneit habe, und all die Schneeflocken seien auf ihr geschmolzen, so heiß war sie mitten im Winter 1914. (»Wie weiter«)

Ich schreibe aus Hingabe – an wen, an was ? An das aus seiner schweren eisigen Materie in einen anderen Aggregatzustand hinein Schmelzende. Ich muß es zum Schmelzen bringen, zurück in den Zustand, aus dem es einst gekommen ist, als noch alles eins war. Etwas drängt mich mit Macht zu dieser alchemistischen Handlung. Ich vollziehe sie mit dem Ernst einer Meisterin und lasse mir dies freilich nicht anmerken. Nirgendwo sonst stehen mir Geduld und Besonnenheit, Eigensinn und Klarheit in einem so unerschöpflichen Ausmaß zur Verfügung wie bei der Verwandlung eines beliebigen vorgefundenen Stoffs in mein Leben.

Als Kind habe ich siebenunddreißig Stifte zu Stümpfen geschrieben. Einhundert Briefe schrieb ich dem ersten Mann, der mich küßte. Nach dem Kuß wollte ich, daß er wußte, wer ich bin. So wie keinem Menschen wollte ich mich ihm zeigen; in einem Alter, in dem sonst Königskinder vergeben werden, faßte ich diesen Entschluß. Ich war Eisläuferin. Er war Römer. Das Briefeschreiben hielt ein Jahr an. Gegen Ende entging mir nicht, wie vom vielen Briefeschreiben in mir etwas entstand, das, je inbrünstiger ich schrieb, immer schwirrender, luftiger, [6|7]durchsichtiger wurde, schließlich wirklich ungreifbar, ein bezauberter Geist, flüchtig wie die Figur, die der Schwerpunkt des tanzenden Körpers in der Luft beschreibt. (»Sommer auf dem Eis«)

Ich schreibe jemandem. Er hat keine Gestalt. Er kommt mir entgegen, ich muß ihm nicht von hinten auf die Schulter tippen, er füllt im Entgegenkommen meinen gesamten Horizont. Gestaltlos. Er umfängt mich jetzt von allen Seiten. Zwischen uns ein Resonanzraum, der meine Stimme widerhallen läßt. Dies zur zweiten häufig gestellten Frage : Denken Sie an Ihre Leser beim Schrei­ben ?

Ja, an alle ohne Gestalt, die einen Raum bilden.

Meine Antwort fiel zu vage aus ?

Nur einen Tag verbrachte ich mit dem römischen Jungen. Träge war er, besonders im Gegenlicht, schön seine Beine : träge nach außen gebogen. Er stand da in italienischen Schuhen. Die Absätze wurden zum Boden hin schmaler, und die Spitzen zeigten weit nach außen, ziemlich frech, und wenn er saß, zeigten sie nach oben, als ob er die Zehen im Gehäuse der Schuhe hob. Davon waren auf dem Lackleder Falten entstanden, scharf, als wollten sie die Spitzen abschneiden. Träge ging er, mit den Schuhspitzen nach außen und kleinen straffen Knittern in den Kniekehlen. Ein Zucken überlief sie, sobald ich hinschaute. Er balancierte auf einer bröckelnden Zementkante, auf einer Treppenstufe, auf dem kleinstädtischen Aufmarschplatz der berühmten Industrieregion.

Ich schlug vor, den Friedhof zu besuchen.

Es war Hochsommer; ich kannte jeden Winkel auf dem Friedhof und die mamornen Gesichter, die durch die Wacholderbüsche guckten. Ich wußte die Biegungen, wo einem plötzlich ein Zug Trauernder gegenüberstehen konnte, wenn man mit der Schubkarre, über deren Rand die glitschigen Stengel der verwelkten Gebinde spießten, in die Kurve schießen wollte, ich verbrachte manche Ferientage bei den Gärtnerinnen.

Die Stadt war festlich mit Kosmodromen geschmückt, mit Schaukeln, die sich überschlugen und oben eine jähe Ewigkeit stehenzubleiben schienen, während dem kleinen Kosmonauten die Haare zum Erdmittelpunkt standen. Ich aber liebte mehr den Friedhof mit den Toten und ihren kaum bekleideten Schutzengeln und den Frauen, die in den Rosenbeeten knieten in ihren Kleiderschürzen mit Blumenmustern: die kleinen Jungen stellten sich vor sie hin, wenn sie beim Jäten waren, und ließen sie in ihre Zündholzschachteln mit den gefangenen Marienkäfern sehen.

[7|8]Der Römer stand so unvermittelt in meinem Leben, wie es nur ein Pionier der Kommunistischen Partei Italiens konnte.

Ich malte Fragezeichen in den Wegsand, weil er mich etwas fragen sollte, denn die Fragen klangen am schönsten. Heimlich hoffte ich, sie würden in direkter Weise von Liebe handeln, ohne daß ich sie verstehen und darauf reagieren müßte. Ich hoffte, solche Worte einmal probeweise zu hören und kosten zu können. Er verstand mich nicht und fragte, was ich wolle. Ich sagte es, und er verstand nichts. So konnte ich ihm alles schamlos erklären, und er drängte sich mit ungestümen, ratlosen Fragen dazwischen, die Spitzen seiner Schuhe hoben sich manchmal, und der Sand auf dem Friedhofsweg knirschte leise darunter. Schließlich nahm er meinen Kopf und küßte mich mit fest geschlossenen Lippen. Ich hörte, wie die Toten ihre Zehen bewegten, ihre klein­sten Knöchelchen und Gelenke. Eine Frau mit Gartengerät ging vorbei. Sein Mund war matt. Er rutschte meinen Hals hinunter und drückte gegen die schwitzende Haut unter dem Pionierhalstuch.

Die Stadt erzitterte vom Klang der Blaskapellen, die Schulchöre nahmen entlang der Straße der Nationen Aufstellung. Vorsichtig zog er an einem Zipfel des Halstuchs, dann steckte er den Finger in den Knoten, ruckte ein bißchen daran, bis er aufging. (»Sommer auf dem Eis«)

Jemandem schreibe ich. Jemandem in einem Resonanzraum, oder dem Resonanzraum selbst. Die ganze Welt, die mich je gestreift hat, bildet diesen schwingenden Raum. Dies geschieht von allein. Und dennoch bemühe ich mich gelegentlich um diesen Jemand, wenn er mir zu vage wird. Weil ich ihn erfahren muß. Unbemerkt, ich setze deshalb gewisse Manipulationen ein. Was das bedeutet ? Ich kann Sie, verehrte Leserin, geschätzter Leser, mit einer handgreiflichen Realität konfrontieren, mit der Sie nicht rechnen : Es ist mitten am Tag, die Szene ist nicht gestellt. Unvermittelt werde ich Zeuge, wie in einer Buchhandlung jemand ein Buch zur Kasse trägt. Es ist mein Buch ! Heiße Geistesgegenwart lodert in mir auf. Während der ich diese Person ins Visier nehme, sie betrachte, geradezu observiere. Eine Minute vergeht, Sekunden entschiedener Intimität. Schon entfernt sich die Person in Richtung Tür. Und schon suche ich eine Ecke in dieser Buchhandlung auf und habe in einer die eben beobachtete Person exakt imitierenden Geste ebenfalls ein Buch vom Stapel meiner Bücher ergriffen. Ich muß mich hinsetzen, von irgendetwas bin ich mitgenommen und gesteuert. Jedes Buchhandlungsregal hat in Kniehöhe ein vorragendes Brett zur Präsentation der Bücher. Ich kann nicht mehr prüfen, ob es mein Gewicht trägt, ich sinke auf das Brett nieder. Ich vergewissere mich, niemandes Aufmerksamkeit geweckt zu haben. Jetzt umfasse ich mein Buch mit einem ersten [8|9]Blick– ich ? Ich bin fortgegangen durch die Tür dort ! Aus dem Körper der soeben noch beobachteten Person heraus blicke ich auf mein Buch. Ich richte mich immer zuerst in dem Körper des anderen ein. Nuancen der im Beobachtungsmoment erfaßten Haltung reichen mir, es ist bekannt : das Unterbewußtsein übermittelt sie uns in Sekundenbruchteilen, die äußere mitsamt der inneren Haltung. Bin ich jetzt Mann oder Frau, ich gehe über diese Unterscheidung schnell hinweg, als ob sie mich behinderte. Um nun, unbemerkt in der Buchhandlungsecke, jener fremde Mensch, jener vollkommene Fremde zu werden, der mein Buch aufschlägt und zu lesen beginnt.

Ich besuche die Tiere mindestens einmal im Jahr. Mir ist aufgefallen : immer dann, wenn ich etwas nicht verstehen kann. Kaum könnte ich formulieren, was es ist. Einmal im Jahr verliere ich gewisse Zusammenhänge. So werde ich daran erinnert, daß etwas nicht stimmt. In den achtziger Jahren kehrte es hartnäckig als Aufgabe wieder, in den Neunzigern hat es zugenommen, und seit dem Großen Jahreswechsel tritt es immer häufiger auf.

Anfangs fühle ich mich verständnislos einem harmlosen Sachverhalt gegenüber. Unternehme ich nichts dagegen, so erfaßt dieses Gefühl der Verständnislosigkeit das der Sache am nächsten gelegene Lebensfeld, dann das übernächste und bald mein ganzes Leben. Ich verstehe dann überhaupt nichts mehr. Ich habe den Punkt der allumfassenden und tiefen Verständnislosigkeit erreicht. Taumelnd trete ich unter den Torbogen des Zoologischen Gartens, über dem ein imposantes Löwenhaupt prangt.

Bitte ? ruft man mir über Mikrofon zu.

Ein Billet ! erwidere ich schwach.

Normal ? fragt es schallend.

Normal.

Im nächsten Moment brechen die kreischenden, schmetternden, schluchzenden, jubilierenden Stimmen der Fremde über mich herein. (»Weggeküßt«)

Ah – die Berührung mit jenem anderen, der gerade gegangen ist ! Er ging, um in mir anzukommen. Eine Berührung der fremden Fingerspitze mit der meinigen, nicht mehr. Die Blutkreisläufe tauschen sich. Mein vollkommener Fremder in mir ist heute die vollkommene Fremde. Hätte ich nicht gesehen, daß es eine Frau war, ich fühlte es am bebenden Echo, am weiblichen Sehnsuchtsecho auf das Schluchzen, Jubilieren. Sie treibt auf bestimmte Stellen [9|10]zu, sie sind ihr entgegengeflutet wie warme Strömungspassagen im Meer. Und ich lese sie nun mit dem Geist der Unbekannten zum ersten Mal. Ich bin immer wieder verblüfft, wie leicht diese Verwandlung vor sich geht. Eben noch ein leibliches Eins mit meinem Buch, aus dem ein Entrinnen weder denkbar noch wünschbar schien, löst mich allein der Anblick von jemandem, mein Buch aufschlagend, aus dieser Einheit heraus und fügt mich in ein wildfremdes Wesen ein: meinen Jemand, meine Leserin. Da bin ich ! Keine Anverwandlung könnte selbstverständlicher geschehen. Kein Vorbehalt bremst mich. Alles ist mir recht. Die Menschheit möge mir, bitte in Gestalt von Bücherfreunden, ihre unendliche Vielfalt vorführen. In jeden will ich hinein und aus jeder heraus in mein Buch schauen. Ich bin bereit, mir zugunsten eines jeden beliebigen Exemplars der Gattung vollständig abhanden zu kommen.

Ich komme immer verstört hier an.

Doch was draußen ein Makel ist, löst sich gleich hinter der Kasse in Luft auf. Zwei, drei Schritte, und ich bin aus der Pflicht, die Welt zu verstehen, entlassen. Wer hier drinnen versteht, ist Experte. Alle anderen wachsen zurück zum Kind. Wir wissen nicht sehr viel mehr von den exotischen Tieren, als uns einst im Bilderbuch aus Hartpappe gezeigt wurde. Sie stehen, hocken und liegen da und schauen uns an.

Selten dürfen wir, seitdem wir erwachsen sind, etwas Fremdes so schamlos anschauen. Niemals erlaubten wir einem Fremden, uns so unverschämt zu betrachten.

Hier ist es anders: ich trete ein und beginne mit dem Schauen. Ich denke nichts. Ich habe keine Meinung. Meine sogenannten Erfahrungen, sie sind mir abhanden gekommen. Stattdessen die Stimmen der Tiere, sehnsüchtig alle, hemmungslos, stark. Ein Rufen und Schreien. Nach wem ? Nach was ? (»Weggeküßt«)

Ich brenne jetzt darauf, ich ersehne diese Auflösung von etwas, dessen Einssein ich doch lebenslang anstrebe. In einer poetischen Existenz, die verteidigt werden muß. Ich würde mich höchstwahrscheinlich gegen deren Auflösung wehren, und zwar mit Händen und Füßen, deshalb geschieht die Auflösung unangekündigt und unauffällig in Buchhandlungen. Nur hier kann sie mich überrennen. Vermutlich betrete ich eine Buchhandlung bereits in einem inneren Zustand, der dieses Äußerste, die Verwandlung in den Leser, möglich macht. Ich gehe wie jeder hinein, durchmesse wie jede Anflüge von Hilflosigkeit ob der Fülle menschlicher Wege, die hier aufgezeichnet sind. Wie jeder ahne ich, es wird sich allesamt um Verirrungen han[10|11]deln, unter denen sich auch diejenige befindet, in die ich selbst verstrickt bin. Wie jeder fürchte ich, daß es sich bei all diesen Verirrungen um das Leben handeln könnte, und zwar das eigentliche, einmalige, unwiederbringliche Leben : mein Leben. Eine Verirrung ? Das Wort kommt aus der Sprache des Reservats, in dem ich mich mit allen anderen befinde. Wenn Irren menschlich ist, so Verirren, tieferes Irren doch erst recht ! Nirgendwo sonst als in Buchhandlungen und Bibliotheken sehne ich mich in tiefes befreiendes Irren hinein ! In dieses Meer unserer unendlichen Vielfalt ! Die Thesen müssen gewechselt werden. Das begreife ich in dem Moment, da der x-beliebige Leser mit meinem Buch die Buchhandlung verläßt, ich seinen Griff nach diesem Buch mit der ihn genau imitierenden Geste wiederhole und also in besagter Ecke in ihn eingesunken bin.

Ich trete also vor so ein Tier hin.

Es erinnert sich nicht an mich. Es weiß nichts von mir, ich bin ihm vollkommen fremd. Ich bin ihm ebenso fremd wie die anderen, die sich vor ihm aufstellen, ich bin ihm nicht neu. Ich bin ein Mensch wie alle anderen für das Tier, das sich seinerseits für mich immerhin durch seine Art von den anderen Tieren abhebt. Für das Tier bin ich nur ein Mensch, fremd, aber nicht neu. Wäre ich ihm jemals neu gewesen, würde es sich wohl an mich erinnern. Aber ich bin ihm wie alle hier fremd und altbekannt. Ich muß nicht fürchten, daß seine Neugier mich trifft und mich in etwas verwickelt. Es hat mich in meinem Fremdsein einbalsamiert wie eine Mumie. Es will nichts von mir. Aber es wartet auf mich. (»Weggeküßt«)

Noch in der Buchhandlung ergreift ein leichter Taumel von mir Besitz. Kein Schwindel, ein gesichert schwingender Taumel, in einer Mitte fixiert, die ich nicht benennen kann. Ich habe von der zwölfdimensionalen Stufung alles Seienden gehört. Seitdem sollte mich nichts mehr schwindelig machen. Ich bin soeben aus mir herausgetreten in den Leser hinein. Das kann freilich jeder behaupten, ich brauche Zeichen, die das Gelingen dieses Akts beweisen. Ich starre auf das Buch in meinen Händen, verdutzt: ein mir völlig unbekanntes Werk ! Ich sah es nie, Titel und Autorenname sind mir fremd. Dieses Buch ist mir so erregend neu, daß ich die Fasern seines Leineneinbands als zarte Stacheln spüre. Mein Körpergewicht, das auf das Regalbord drückt, es scheint sich zu verdoppeln. Vor Erleichterung: Ich bin mir soeben entkommen ! Ich bin jemand anderes.

Und jetzt bin ich in der außerordentlichen Verfassung, die dritte der drei in schlechtem Ruf stehenden Fragen entgegenzunehmen. Sie kommt vergleichsweise [11|12]selten vor. So gut wie gar nicht. Dadurch ist sie exponiert genug, um den Rang der dritten Frage ausfüllen zu können. Man hat sie mir noch niemals gestellt. Was lediglich bedeutet, daß sie noch nicht in die Realität getreten ist. Der Druck an der Schwelle zu dieser unserer im Moment wahrnehmbaren Realität ist enorm. Lange hält das Tor nicht mehr stand, und dann steht sie im Raum, die Frage, die darauf wartet, daß wir, nämlich Sie und ich, ihr gewachsen sind: Gibt es sie überhaupt, die ungeschriebene Welt, die ungedachte Welt, die nicht erfahrene Welt da draußen ?

Stillschweigend

ist sich die Menschheit darin einig,

daß die Welt existiert.

Kaum einer wagt sich öffentlich hervor

mit der Frage: Gibt es die Welt eigentlich ?

Daß sie sichtbar ist, dürfte als Beweis nicht gelten.

Wenn etwas Unsichtbares existieren kann,

so wird es doch auch hin und wieder

etwas Sichtbarem gelingen, nicht zu existieren.

Warum also der auffällige Mangel

in Gesprächen am Frühstückstisch ?

Oder in der Natur, die Geduld mit uns hat.

Existiert die Welt ?

Ich muß mein Herz üben !

(»Ich muß mein Herz üben«)

[12|13]Norbert Otto Eke

»Das Eigentliche ist das Unsagbare«

Angela Krauß’ Poetik der Aussparung

Absprung

Wann, wenn nicht jetzt !

Ich träum es seit je :

Mit einer einzigen Drehung

auf dem großen rosigen Zeh

ins Quantenvakuum !

Und dann in keiner Landschaft niedergehn,

die diesem Leben gleicht.

Und stehn !1

Mit einem kühnen Brückenschlag zwischen Physik, Bewegungskunst (Tanz, Turnen) und Poesie weist das Gedicht »Wann, wenn nicht jetzt !« aus dem 2009 erschienenen Lyrikband »Ich muß mein Herz üben« in das Zentrum von Angela Krauß’ Poetik. Eingeleitet durch das Zitat eines in den »Pirqé Avót« (פרקי אבות) dem Gelehrten Rabbi Hillel zugeschriebenen Satzes über das Ergreifen des Augenblicks2, beschreibt das Gedicht den Traum erfüllter Formvollendung als graziöse Bewegung eines im sicheren Stand zur Ruhe kommenden Sprungs oder auch Tanzschritts. Die Drehung in den Nullpunkt (genauer: in den gedachten leeren Raum im Zustand niedrigster Energie) ist in diesem Traum der ›Beweggrund‹ einer Transgression, die die Nullpunktenergie des Quantenvakuums zum Absprung nutzt. Das Gedicht imaginiert sie als makellose ›Landung‹ im Anderen (»in keiner Landschaft niedergehn, / die diesem Leben gleicht«).

Programmatisch ›verdichtet‹ ist im Bild dieses ›Quantensprungs‹ als raumgreifender Grenzüberschreitung der Fluchtpunkt einer Poesie ›auf dem Sprung‹, die Welthaltigkeit erträumt (die ganze Welt in einem Satz) und dafür die Architekturen des Transitorischen und der Mobilität, wie sie in Bahnhofsgewölben Ausdruck gefunden hat, als Referenz aufruft:

[13|14] (…)

Es geht nie um etwas anderes,

als um Verlassen und Aufbruch.

Und daß für unsere lauernde, halbherzige Bereitschaft

Vorbereitungen getroffen sind,

daß die Welt mit einer dafür installierten Apparatur

ausgerüstet ist, die wartet,

daß wir aufbrechen, fortschreiten und endlich zur Sache kommen,

also zu uns selbst,

was einer unermüdlichen Fortbewegung gleicht,

das ist es,

was uns unter den weiten, hallenden Bahnhofsgewölben erregt.

Hier ist alles in einem Gehäuse zusammengefaßt.

Wie in einem Satz.3

Angesprochen ist in der Schlusscoda des Gedichts »Die Aufregung« damit das Prinzip der »Sammlung« und »Verdichtung«, das leitend ist bereits für Angela Krauß’ Erzählungen von »Das Vergnügen« (1984) bis »Milliarden neuer Sterne« (1999), sich in den jüngeren Veröffentlichungen der Autorin (»Weggeküßt«, 2002; »Wie weiter«, 2006; »Ich muss mein Herz üben« [Gedichte], 2009; »Im schönsten Fall«, 2011) aber – in der Forschung ist dies aufmerksam registriert worden – noch einmal verstärkt hat: Die Sprache wird »kürzer, knapper, gelegentlich aphorismenhaft«; Fragmentierungen lassen ihre Bücher »an struktureller Geschlossenheit« verlieren, ohne dass ihnen damit freilich »thematische Kohärenz« verloren ginge.4

Nicht nur ziert den Umschlag der Erzählung »Wie weiter« ein Bild zu fragiler Ordnung zusammengestürzter Mikadostäbchen (was wiederholt Anlass gegeben hat für hier ansetzende Überlegungen zur grazilen Eleganz von Angela Krauß’ gegenstrebigen ästhetischen Fügungen5). Die Erzählerin spricht im Zusammenhang mit dem alten »Kaiserspiel«6 auch von Verdichtung als der »Erfahrung der reinen Substanz«: »Die Gegenwart bietet sich uns ruhig zum Anschauen dar, zum Gewahrwerden?

Sie denkt nicht daran!

So bin ich es wohl, die sie zusammensetzen muß, und bitte um Ruhe, um absolute Ruhe. Ich beginne die Sonntage mit einer Anhäufung von Mikadostäbchen auf meinem Bett. Was einst ein Spiel war, die Einübung der Zartheit zur Wahrung des Gleichgewichts, heute ist es ein Beschwörungsakt!

Ich bitte um Stillstand, um Sammlung, um Verdichtung. Um die Erfahrung der reinen Substanz!«7

[14|15]8