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Doris Dörrie

Mitten

ins Herz

und andere Geschichten

Ausgewählt von

Daniel Keel

Mit einem Nachwort

der Autorin

 

 

 

 

 

 

 

 

Die vorliegende Auswahl erschien

erstmals 2004 in der Reihe

›Diogenes Bibliothek‹

Nachweis der einzelnen Texte

am Schluß des Bandes

Das Nachwort wurde von

Doris Dörrie speziell für diese Auswahl

von Geschichten geschrieben

Umschlagillustration:

Henri Matisse, ›Nu rose‹, 1935

Copyright © 2013, ProLitteris, Zürich;

Succession Henri Matisse, Paris

 

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2013

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23591 3 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60386 6

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Inhalt

Ein Mann  [7]

Die Schickse  [23]

Montagspumpernickel  [51]

Die Handtasche  [79]

Bin ich schön?  [91]

Wer sind Sie?  [113]

Der Vater der Braut  [128]

Mitten ins Herz  [141]

Trinidad  [173]

Bist du eine Hexe?  [203]

Financial Times  [208]

Manna  [216]

Was machst du, wenn ich aus dem Haus gehe?  [230]

Männer  [235]

Die Braut  [260]

 

Warum schreiben?  [279]

[7] Ein Mann

Seit in einer Zeitschrift stand, daß die Chancen, von einer Atombombe getroffen zu werden, größer sind, als als Frau über dreißig in New York einen Mann zu finden, sehe ich Panik in den Gesichtern meiner amerikanischen Freundinnen. Die Wahrscheinlichkeit, heutzutage von einer Atombombe getroffen zu werden, ist doch ziemlich hoch, versuche ich sie zu beruhigen, dann kann es mit den Männern auch nicht so schlimm sein. Ja, in Europa vielleicht, erwidern sie, aber nicht hier in Amerika. Da ich dreiunddreißig bin, seit fünf Jahren in New York lebe und nicht vorhabe, wegen der größeren Bombenbedrohung und der damit statistisch besseren Chancen, sich einen Mann zu angeln, nach Deutschland zurückzukehren, fange auch ich an, mir ernsthaft Gedanken zu machen.

Vor drei Jahren habe ich mich von Johannes getrennt. Ihm fehlte in Amerika deutsches Bier und Labskaus – er nannte es Kultur –, und er ging zurück nach Hamburg. Seit diesem blöden Artikel denke ich oft an ihn. Er hat in Deutschland als Modefotograf Karriere gemacht. Nach unserer Trennung bin ich manchmal ins ›Bremenhaus‹ in der 86. Straße gegangen und habe die deutschen Frauenzeitschriften durchgeblättert, glühend vor Eifersucht habe ich in den Blicken der Mannequins ihre Flirts mit ihrem Fotografen, mit Johannes, [8] entdeckt. Heute finde ich seinen klein gedruckten Namen unter der neuen Badekollektion in der ›Brigitte‹. Die Mannequins sehen eher gelangweilt aus. Nein, es war doch kein Fehler, daß ich ihn habe gehen lassen. Aber damals, vor drei Jahren, wußte ich noch nichts über den Zusammenhang von Atombomben, Männern und Frauen über dreißig.

Bei der Käseverkäuferin im ›Bremenhaus‹ kaufe ich wie früher ein Stück Tilsiter, weil ich sie so gerne englisch mit sächsischem Akzent sprechen höre. Über der Theke steht QUARK TODAY.

Der Tilsiter stinkt in meiner Handtasche vor sich hin, ich sitze in der ›Kleinen Konditorei‹, stochere in einem Stück Schwarzwälder Kirschtorte und frage mich, ob ich a) wirklich geglaubt habe, ausgerechnet hier auf einen passenden Mann zu treffen, und ob ich b) wirklich einen Mann will. Je länger ich den alten Damen mit blau gefärbten Haaren um mich herum zusehe, wie sie energisch ihre Linzer Torten und Sahnestückchen in sich hineinschaufeln und sich übers Wetter und die Gesundheit beschweren, um so mehr beneide ich sie. Sie haben ihre Männer überlebt, ich aber werde nie mehr einen finden.

Eigentlich hat mir seit Johannes ein Mann nicht wirklich gefehlt.

Manchmal, wenn ich das Gefühl hatte, ein bißchen Sex würde mir guttun, meiner Kreativität und meiner Haut, hatte ich kurze Affären, aber seit man sich das nicht mehr leisten kann, habe ich entdeckt, daß ein Kaufrausch in der Chanel-Boutique denselben Effekt hat. Dann zeichne ich gleich viel besser, deshalb fühle ich mich besser, und meine Haut sieht auch viel glatter aus. Es lebe Chanel.

[9] Die Schwarzwälder Kirschtorte bereue ich bereits. Mir ist übel, ich fühle mich ungesund, triebhaft, unamerikanisch. Vor Monaten habe ich aufgehört, rotes Fleisch zu essen und Kaffee zu trinken, das Rauchen habe ich schon vor Jahren aufgegeben, ich beobachte sorgfältig meinen Cholesterinspiegel, sehe zu, daß ich nicht zu viel Sodium zu mir nehme, ich trinke keinen Alkohol, trainiere meinen Körper, bemühe mich, wie ein echter Amerikaner daran zu glauben, daß man es schaffen kann, wenn man es nur wirklich will. Seit drei Jahren gehe ich einmal in der Woche zu einer Psychotherapeutin, die mich darin bestärkt und mich für einhundertzwanzig Dollar in der Stunde eindringlich vor einer Beziehungsfalle warnt. So habe ich Karriere gemacht. In New York. Und eine Eigentumswohnung im Village habe ich auch schon. Warum also will ich plötzlich einen Mann?

Meine Therapeutin kann ich das nach drei Jahren nicht fragen. Das sind Anfängerprobleme. Ihre ganze Mühe wäre umsonst gewesen.

Wie findet man überhaupt einen Mann? Seit der Veröffentlichung dieser grausamen Statistik sind die Frauenzeitschriften gespickt mit Tips und Ratschlägen. Unter der Rubrik: Nie mehr einsam: Wie aufgeweckte Cosmo-Mädchen einen Mann kennenlernen berichten Leserinnen, wie sie es geschafft haben. (Was ist ein Cosmo-Mädchen? Bin ich eins? Ich nehme es einfach mal an.) Penelope, Stewardess, 28 Jahre alt, schreibt: Männer sprechen einen oft an, wenn man ein seltsames Objekt mit sich herumschleppt. Natürlich sollten Sie sich etwas aussuchen, was Sie auch wirklich interessiert, sonst könnte die Begegnung nach wenigen Sekunden beendet sein. Ich habe gute Erfahrungen mit [10] einem großen eisernen Kreuz gemacht. Interessant. Penelopes Ratschlag hat nur einen Fehler: Sie ist erst 28 und hätte ihr eisernes Kreuz laut Statistik überhaupt nicht nötig gehabt. Barbara, Fernsehproduzentin, 36 Jahre alt, vertraue ich da schon eher: Schauen Sie sich genau an Ihrem Arbeitsplatz um. Der Trick ist, sich jemanden auszusuchen, der nicht schon von allen anderen Frauen angemacht wird. Natürlich sollten Sie ihn auch mögen.

Tja, Barbara, in meiner Redaktion gibt es nur den Chef, den alle anmachen, und einen winzigkleinen, buckligen Layouter mit dicker Brille. Ich mag ihn, keine Frage, aber ich bin drei Jahre jünger als Sie, liebe Barbara, und habe das (noch) nicht nötig.

Judy dagegen, Steuerberaterin, ist genau in meinem Alter, 33. Sie schreibt: Ich habe Männer häufig in Kaufhäusern kennengelernt. Einige Abteilungen sind besonders zu empfehlen: Lederwaren, Schreibwaren und Elektroartikel. Kommen Sie nicht auf die Idee, sich in der Herrenkonfektion auf die Lauer zu legen. Jeder Mann wird annehmen, Sie suchen ein Hemd für Ihren Freund. Dasselbe gilt für Damenunterwäsche. Haushaltswaren sind gut, Männer sind da so hilflos. Es macht mich skeptisch, daß sie schreibt, sie habe »häufig« Männer auf diese Art und Weise kennengelernt, wie groß war da der Ausschuß, aber ihr Rat scheint mir einen Versuch wert.

Vier Tage lang war ich jetzt jeden Tag nach der Arbeit bei Macy’s, aber in all den von Judy so warm empfohlenen Abteilungen habe ich keinen einzigen Mann entdecken können, nur Frauen. Ich habe den Verdacht, sie sind alle aus demselben Grund hier wie ich. Wir umschleichen uns wie Katzen, [11] beobachten uns, wie wir Brieftaschen und Koffer befühlen, Mixer und Toaster ausprobieren, uns stundenlang Schreibmaschinen vorführen lassen, fast nie etwas kaufen, und wenn, dann nur zur Tarnung. Unruhig flattern unsere Blicke über die Regale, wir mustern uns feindselig und versuchen gegenseitig unser Alter zu schätzen. Wie weit über dreißig?

Aber heute bei Bloomingdale’s, vielleicht stand mein Horoskop günstig, war ich plötzlich ganz allein in der Lederwarenabteilung, und ein Mann um die Vierzig tauchte hinter einem Schweinslederkoffer auf wie ein Deus ex Machina. Ein Mann mit dichtem, hellbraunem Haar, gutaussehend, vielleicht eine Spur zu seriös für meinen Geschmack, aber ich kann mir solche Mäkeleien ja nicht mehr leisten in meinem Alter. Er stand also vor den Koffern, ließ sie auf- und zuschnappen, ich robbte mich langsam und so unauffällig wie möglich über die Portemonnaies und die Damenhandtaschen näher, bis ich fast direkt neben ihm stand, da hörte ich ihn zum Verkäufer sagen, er suche einen möglichst eleganten Flugkoffer, er sei geschäftlich sehr viel unterwegs und müsse meist direkt vom Flughafen in eine Sitzung. Mir sank augenblicklich das Herz. Was nützt mir ein Mann, in dessen Jackentaschen ich unweigerlich irgendwann die Telefonnummer von Monique aus Paris oder Gabi aus Stuttgart finde?

Ich habe mir statt dessen die neue Folge von Wie aufgeweckte Cosmo-Mädchen einen Mann kennenlernen gekauft. Heute schreibt Susanne, Zahnarzthelferin, 35: Mein Ex-Mann mochte keine Hunde, also haben wir uns ein Kaninchen angeschafft. Als wir uns scheiden ließen, bekam ich das Sorgerecht für das Kaninchen. Ich nehme es jetzt immer [12] mit, wenn ich mit dem Zug nach Connecticut fahre. Jede Menge interessante Männer haben sich schon neben mich gesetzt, um das Kaninchen zu streicheln.

Ich sehne mich plötzlich heftig nach einem kleinen, schwarzen Kaninchen mit weißen Ohren, aber meine Eltern wohnen in Wuppertal und nicht in Connecticut. Wohin sollte ich denn fahren mit meinem Kaninchen? Ich sehe mich schon einsam und verlassen in New Haven nachts am Bahnhof stehen, der letzte Zug nach New York ist bereits abgefahren und weit und breit kein interessanter Mann in Sicht, der mein Kaninchen streicheln will.

Neuerdings habe ich Tagträume. Ich sehe einen Mann in meiner Küche sein Frühstücksei köpfen, ein anderer sitzt mit einem Martiniglas in der Hand auf meiner Couch, einer steht unter der Dusche, einen finde ich in meinem Bett. Er sieht mich erwartungsvoll an und lächelt.

Meine Therapeutin hat ein nervöses Gesichtszucken an mir bemerkt. Sie meint, ich stecke voller negativer Energie. Seit drei Jahren komme ich jeden Mittwoch um elf in dieses Zimmer, und immer riecht es leicht nach Aftershave, die Couch ist noch warm von meinem Vorgänger, manchmal, wenn ich etwas zu früh dran bin und im Vorzimmer warte, höre ich seine sonore Stimme. Aber gesehen habe ich ihn noch nie. Diskret, wie meine Therapeutin ist, entläßt sie die Patienten durch eine andere Tür, bevor der nächste hereinkommt. Heute fiel mir seine Stimme als besonders sympathisch auf.

Sport, sagt meine Therapeutin. Sport? frage ich schwach. Seit zwei Jahren gehe ich jeden zweiten Tag ins Sportstudio. Sie verordnet mir Urlaub.

[13] Ich nehme vier Wochen frei. Ohne meinen Arbeitsrhythmus fällt mir die Abwesenheit eines Mannes um so schmerzlicher auf. Ich telefoniere mit sämtlichen Freundinnen. Zögernd geben sie alle zu, seit dem Artikel auf der Pirsch zu sein. Weißt du, sagt Margie, 36, seit ich diese verdammte Statistik gelesen habe, sehe ich im Spiegel nur noch eine Frau mit Cellulitis und Bandscheibenschaden, ohne Mann, ohne Doppelbett und ohne Rente. Ich werfe ihr ihren Materialismus vor, und sie nennt mich eine unverbesserliche, europäische Romantikerin. Sie will sich einen Mann als Untermieter für ihre winzige Zwei-Zimmer-Wohnung suchen. Auf eine Anzeige melden sich im Schnitt vierhundert Interessenten, sagt Margie, und wer in Manhattan mal ein Zimmer gefunden hat, zieht nie wieder aus. Außer er heiratet eine andere, wende ich ein. Sie legt beleidigt auf.

Ich habe leider nur ein Ein-Zimmer-Apartment. Aber wenn ich durch das Wohnzimmer eine Wand ziehen würde… Unter vierhundert Bewerbern müßte doch ein passender dabeisein.

Im Fernsehen läuft, wie immer, wenn es mir schlechtgeht, The Way We Were. Ach, Barbra Streisand, diesen Luxus, dich wegen politischer Meinungsverschiedenheiten von Robert Redford zu trennen, würdest du dir heutzutage nicht mehr leisten können.

Im College gab es viele, die so aussahen wie Redford. Gutaussehend, robust, mit fabelhaften Zähnen und einem unerschütterlichen Optimismus. Wo sind die alle geblieben? In New York sind sie jedenfalls nicht. Ich wette, die sind bereits alle verheiratet, und ihre Frauen haben ihnen nach der Lektüre der Atombomben-Männer-Statistik [14] erleichtert die Hemden gebügelt und ihnen jauchzend ein Bier gebracht. Warum mußte ich mich damals im College auch ausgerechnet in den einzigen Deutschen verlieben? Johannes trug die besseren Unterhosen, knappe Slips, nicht diese gräßlichen Boxershorts; er rauchte und redete über Kunst, er war anders als die Amerikaner, er war so wie ich, damals.

Die große Liebe erwarte ich ja gar nicht. Ich möchte nur einem Mann morgens beim Rasieren zusehen, mit ihm Baseball im Fernsehen sehen und so tun, als interessiere es mich, ich möchte mein Doppelbett nicht mehr nur auf Verdacht auf beiden Seiten beziehen, im Kühlschrank möchte ich Budweiser und im Badezimmer Aftershave finden, am Strand mit ihm auf einem Handtuch liegen und von ihm hören, daß ich eine bessere Figur habe als die anderen. Ist das denn zuviel verlangt? Die Streisand verteilt immer noch ihre Flugblätter, als sie Jahre später ihren Bobby wiedersieht, und sie lieben sich immer noch und können dennoch nie, nie zusammenfinden, und ich weine, wie ich immer am Ende dieses Films weine. Verdammt noch mal, ich möchte auch mal wieder so richtig aus Liebe leiden.

In der Village Voice liegt eine Beilage des Sommerkursprogramms, in dem ›Kreative Hypnose‹ angeboten wird, ›Geheimnis des Charismas‹, ›Die Kraft der Kristalle‹, ›Lassen Sie Wunder geschehen durch die Kraft der Liebe‹ und ›Wie baue ich ein Glückwunschkartengeschäft auf‹.

Man kann an Sightseeing-Tours teilnehmen zu den Heimen berühmter Filmstars oder zu den Schauplätzen berühmter Morde, auch als Doppelpaket zum ermäßigten Preis zu [15] haben. Ich erwäge kurz, mich dafür einzuschreiben, aber dort trifft man wahrscheinlich nur Touristen, die, kaum weiß man ihre Telefonnummer auswendig, wieder nach Hause fahren. Es gibt natürlich auch maßgeschneiderte Kurse für mein Problem: ›52 Wege, einen Liebhaber zu finden‹, ›Der kreative Flirt‹ und für Fortgeschrittene ›Die kreative Beziehung‹. Aber irgendwie widerstrebt es mir – noch –, dafür einen Kurs zu belegen und mit ähnlich Erfolglosen im Rollenspiel den kreativen Flirt zu üben. Als wäre ich selbst dazu zu blöd. Meine Mutter hat immer, wenn sie ein besonders seltsames Paar sah, gesagt: Es ist doch kein Topf so schief, daß nicht ein Deckel draufpaßt. Ich frage mich, ob ich der Topf oder der Deckel bin.

Meine Freundin Julie ruft an und berichtet aufgeregt, sie gehe jetzt jeden Tag zu den Treffen der Anonymen Alkoholiker, da könne man jede Menge interessanter Männer kennenlernen. Aber du hast doch nie auch nur an Alkohol gerochen, sage ich. Opfer muß man eben bringen, sagt sie, ich trinke jetzt jeden Tag eine Flasche Bier und manchmal sogar zwei. Ich muß ja schließlich mitreden können. Und weißt du was, langsam schmeckt’s mir sogar! Sie kichert glücklich.

Ich hole die Whiskyflasche aus dem Schrank, die mir die Kollegen von der Redaktion vor einem Jahr zum Geburtstag geschenkt haben und die seither unberührt im Schrank gestanden hat. Ich trinke ihn in kleinen Schlucken wie Medizin. Ich weiß nicht, ob ich mich daran gewöhnen könnte, aber es gibt ja auch noch die Anonymen Raucher. Nach zwei Jahren sehne ich mich plötzlich nach einer Zigarette.

[16] Ich nehme mir ein Kissen und die Whiskyflasche und lehne mich aus dem Fenster. Für jeden gutaussehenden Mann, der vorbeikommt, mache ich einen Strich auf den Fensterrahmen, für jeden halbwegs attraktiven ein Kreuz. Über Fünfzig- und unter Zwanzigjährige zähle ich nicht mit. Nach drei Stunden sind 187 Männer unter meinem Fenster vorbeigegangen, davon 53 in weiblicher Begleitung, 3 wirklich gutaussehende und 7 halbwegs attraktive. Ein niederschmetternder Prozentsatz. Auf der Straße zieht ein Penner einen Pappkarton hinter sich her. Wenn du mich noch einmal fragst, ob ich dich liebe, wenn du mich noch ein einziges Mal fragst…, sagt er zu seinem Pappkarton.

Ich trinke die Flasche aus. Fünf Männer sitzen auf meiner Couch und fragen mich, ob ich sie liebe.

Ich verlasse die Wohnung.

Auf der Sechsten Avenue sitzt eine Handleserin an einem Campingtisch, winkt mir zu und schreit: Ihr Schicksal steht in Ihrer Hand! Ich bin sicher, in meiner Hand steht: Ätsch. Kein Mann in Sicht.

Ich komme an dem billigen, verstaubten chinesischen Restaurant vorbei, da waren Johannes und ich am Abend, bevor er nach Deutschland zurückgeflogen ist. Du kannst ja nachkommen, hat er gesagt. Vielleicht hätte er sagen sollen: Komm mit. Bitte. Wenn man wirklich mal eine chinesische Lebensweisheit braucht, findet man in seinem Fortune-Cookie nur banalen Mist. An dem Abend war’s ›Große Ereignisse kündigen sich nicht groß an‹.

Neben dem Chinesen hat ein neuer Laden aufgemacht, das ›Magie-Center‹. Im Schaufenster stehen sauber nebeneinander aufgereiht Spraydosen gegen ›negative Kräfte‹, [17] ›Neid und Mißgunst‹, kleine Flaschen mit den Aufschriften ›Ich-bin-stark-Öl‹ und ›Komm-zu-mir-Öl‹. Ich betrete whiskymutig schnurstracks den Laden und erkläre den beiden in schwarzes Leder gekleideten, mit schweren Ketten und Plastiktotenschädeln behängten Magie-Verkäufern mein Problem. Sie hören mir genauso milde lächelnd und aufmunternd nickend zu wie sonst meine Psychotherapeutin. Und umsonst! Sie sind offensichtlich schwul, was mir meine Enthüllungen sehr viel leichter macht. Welche Frau gibt schon gern zu, daß sie zu blöd ist, einen Mann zu finden. Sie brauchen sich gar keine Vorwürfe zu machen, sagt der eine zu mir, der seine Haare in einer karottenroten Tonsur trägt, haben Sie diese Statistik gelesen, wonach es sehr viel wahrscheinlicher ist, als Frau über dreißig von einer Atombombe getroffen zu werden? Ich nicke bitter. Schrecklich, sagt der andere. Aber es gibt doch genauso viele Männer wie Frauen, nicht? frage ich. Tja, sagen beide unisono und sehen sich an. Es gibt noch genug Heteros, wendet der Rote sich wieder mir zu, sie sind bloß schwer zu finden. Es ist ein bißchen wie bei… bei Hunden… – Pferden, sagt der andere. Ja, wie bei Pferden, fährt der Rote fort und lächelt seinem Kompagnon zärtlich zu, wenn Sie hinter ihnen herlaufen, galoppieren sie nur um so schneller davon. Sie müssen stehenbleiben und positive Schwingungen aussenden. Und deshalb empfehlen sie mir beide dringend das ›Komm-zu-mir-Paket‹, bestehend aus ›Komm-zu-mir-Öl‹, einem Beutelchen mit Liebesduft, das immer bei sich zu tragen ist, und einer Kerze, in die ich den Namen des Begehrten einritzen soll. Ich habe aber gar keinen Bestimmten im Auge, sage ich schüchtern.

[18] Daraufhin wiegen beide bedenklich das Haupt. Von anonymer Magie könnten sie mir in dieser Stadt nur abraten, es seien zu viele ausgeflippte Typen unterwegs, die stark auf Magie ansprächen. Und die werden Sie dann nie wieder los. Sie raten mir dringend, mir ein ganz bestimmtes Opfer zu suchen (bei dem Wort Opfer stößt der mit der roten Tonsur dem anderen leicht tadelnd in die Rippen), mir seinen Namen zu merken, ihm ein Haar auszureißen oder sein Jackett nach einem ausgefallenen abzusuchen und dann die Beschwörung genau nach Gebrauchsanweisung vorzunehmen.

Ich erwerbe das ›Komm-zu-mir-Paket‹, sie hängen mir fürsorglich das Beutelchen mit Liebesduft gleich um den Hals, weil manchmal schon allein der Duft helfen könne, und entlassen mich mit guten Wünschen und Ermahnungen zu positiver Denkungsart. Das Beutelchen stinkt penetrant nach Moschusöl.

Meine Therapeutin stellt fest, ich röche nach negativen Schwingungen. Sie habe auf einem Fortbildungskurs gelernt, psychische Störungen zu riechen, das sei eine alte chinesische Wissenschaft, und während sie mir davon erzählt, sehe ich plötzlich ein langes, graues Haar auf ihrer Couch. Vorsichtig hebe ich es auf und lege es in mein Portemonnaie.

Und versuchen Sie auf keinen Fall, Ihr Stimmungstief durch eine Beziehung zu beheben, schärft sie mir zum Abschied ein. Als sie sich abwendet, um die Tür zu öffnen, werfe ich einen schnellen Blick in ihren Terminkalender auf dem Schreibtisch. 10 UHR L. MONTELEONE steht da vor meinem Namen um 11 Uhr. L. Monteleone, die sonore [19] Stimme. Ein grauhaariger, gutaussehender Italiener, so Anfang Vierzig, ein Künstler vielleicht, der unter der Welt leidet, stelle ich mir vor und sehe sofort in meinem Portemonnaie nach – das Haar ist noch da –, oder ein fetter Mafioso im Kamelhaarmantel, der sich behandeln läßt, weil ihn sein Gewissen quält?

Ist das lange, graue Haar wirklich von ihm, oder ist es vielleicht ein Hundehaar? Auf dem Weg nach Hause kaufe ich eine Lupe. Es sieht zum Glück sehr nach Menschenhaar aus und leidet unter Spliss. Monteleone, was für ein schöner Name. L. für Ludovico? Luigi? Lino? Die sechs Tage bis zu meiner nächsten Therapiestunde kommen mir vor wie sechs Jahre.

Am nächsten Mittwoch stehe ich um sechs Uhr früh auf, wasche mir die Haare, schminke mich sorgfältig und ziehe mein bestes Kleid an. Vor Aufregung trinke ich in einer Kneipe einen Wodka, bevor ich um 10.30 Uhr das Vorzimmer meiner Therapeutin betrete.

Ich lausche seiner entfernten Stimme, sie ist nicht nur sonor und sympathisch, sondern auch ausgesprochen sexy. Leider kann ich nicht verstehen, was er sagt, einmal nur glaube ich, ein Warum? Warum? herauszuhören. Wie gut ich ihn verstehen kann, Herrn L. Monteleone. Warum geht die Vorzimmerdame ausgerechnet heute nicht wie sonst aufs Klo, um ihre Zigarette zu rauchen? Ich zittere vor Angst, daß sie innerhalb einer Woche das Rauchen aufgegeben hat, da holt sie endlich ihre Zigaretten aus der Schublade, zwinkert mir verschwörerisch zu und verschwindet. Kaum ist sie draußen, springe ich auf und reiße die Tür zum Behandlungszimmer [20] auf. Er liegt nicht auf der Couch, sondern sitzt, wie ich, das macht ihn mir sofort sympathisch, graue Haare fallen ihm fast bis auf die Schultern. Überrascht drehen sich meine Therapeutin und er nach mir um. Er sieht markant aus, vielleicht nicht gerade schön, aber markant ist doch viel interessanter als schön, ich schätze ihn auf Anfang Vierzig, das beste Alter für einen Mann, sehr groß ist er nicht, aber bestimmt auch nicht kleiner als ich. Ich muß schon sagen! faucht meine Therapeutin, und ich stammle Entschuldigung. Ich dachte, es ist schon elf Uhr, und schließe schweißnaß vor Aufregung die Tür. Der Vorzimmerdame kritzle ich eine Nachricht, mir sei plötzlich schlecht, ich könne meine Stunde heute unmöglich wahrnehmen.

Zu Hause ziehe ich die Vorhänge zu. Sorgfältig schnitze ich L. MONTELEONE ins Wachs, sein Name ist so lang, daß er kaum auf die Kerze paßt. Genau nach Anweisung reibe ich sie mit dem ›Komm-zu-mir-Öl‹ ein, zünde die Kerze an und halte mit klopfendem Herzen sein Haar in die Flamme.

Es verzischt schneller, als ich gucken kann. Aber die Kerze brennt vier Stunden und zwanzig Minuten lang, und so lange, haben mir meine magischen Berater eingeschärft, muß ich mich auf mein Opfer konzentrieren. Als die Flamme endlich zuckend erlischt, schlafe ich vor Erschöpfung ein.

Vom Telefonklingeln wache ich Stunden später erst auf. Im Traum war ich in Wuppertal. Meine Mutter häkelte einen Klopapierüberzug fürs Auto aus rosa Wolle und murmelte unablässig vor sich hin: Es ist kein Topf so schief, daß kein Deckel draufpaßt. Mein Anrufbeantworter, den ich eingeschaltet habe, um bei meiner Zeremonie nicht [21] gestört zu werden, meldet sich und erzählt, daß ich im Moment leider nicht zu Hause bin, es piepst, und ich höre ein Atmen, und dann sagt eine sonore, sympathische Männerstimme: Hier ist Leonardo Monteleone, schade, daß Sie nicht zu Hause sind…

Ich springe aus dem Bett, verheddere mich im Bettlaken, kann das Telefon nicht finden. Leonardo Monteleone, was für ein Name! Schade, sagt die Stimme, na ja, dann… Ich wühle mich quer durch das Zimmer an der Schnur zum Telefon, warten Sie, warten Sie, sage ich atemlos, ich bin gerade nach Hause gekommen. Mein Name ist Leonardo Monteleone, wiederholt er in fast akzentfreiem Englisch. Sie haben heute morgen in der Praxis Ihren Schal vergessen, so einen grün gemusterten…

Ich trage nie grün gemusterte Schals. O ja, sage ich, das muß meiner sein. Aus dem Liebesbeutel unter meinem Kinn strömt Moschusduft.

Ich könnte Ihnen den Schal vorbeibringen.

Das ist schrecklich nett von Ihnen…, stottere ich.

Oh, unterbricht er mich, das war nicht aufdringlich gemeint. Ich hatte nur vergessen, daß es Frauen in dieser Stadt nicht gerne haben, wenn wildfremde Männer ihre Adresse kennen…

Sie sind nicht von hier? frage ich.

Nein, ich komme aus Deutschland.

Ach, wirklich? sage ich nonchalant, woher denn in Deutschland?

Wuppertal, ich weiß nicht, ob Ihnen das was sagt.

Ich nehme den Liebesbeutel vom Hals und lege ihn unter mein Kopfkissen.

[22] Ich wohne in der Leroy Street 15, sage ich langsam auf deutsch, kommen Sie schnell.

Na, denn tschö, sagt er, und bis gleich.

[23] Die Schickse

Dave Goldman aus Long Island und Unna Krieger aus Deutschland verliebten sich auf dem Rücksitz eines Käfers in Kalifornien und wurden sich schnell einig darin, daß die Menschen Kaliforniens zu glücklich waren für ihrer beider Geschmack.

In New York sind die Menschen depressiv, aggressiv und gemein, seufzte Dave voller Heimweh.

Da möchte ich hin, sagte Unna.

Nur wenige Wochen später packten sie ihre Koffer, exmatrikulierten sich und bestiegen ein Flugzeug nach New York mit der Vorstellung, dort unter lauter Unglücklichen besonders glücklich werden zu können.

Da sie in New York keine Bleibe hatten und auch sonst kaum Geld, hatte Dave es für die beste Idee gehalten, Unna erst einmal zu seinen Eltern nach Long Island mitzunehmen.

Das ist alles gar kein Problem, hatte er Unna erklärt, du wirst sehen.

Oh, Dave, sagte Unna, meinst du nicht, daß deine Eltern vielleicht…

Nein, unterbrach er sie, meine Eltern werden dich mögen, da bin ich ganz sicher.

Daves Mutter war klein und zierlich und hatte [24] platinblond gefärbte Haare, sein Vater war dagegen kahlköpfig, braungebrannt, untersetzt, und es verband ihn nicht die geringste Ähnlichkeit mit seinem dünnen, blassen, hübschen Sohn. Beide Eltern sprachen mit starkem Akzent.

Kennen Sie zufällig die Stubbenkammerstraße in Berlin? fragte Frau Goldman Unna, während sie den Abendbrottisch deckte, da haben wir mal gewohnt.

Nein, sagte Unna, ich war noch nie in Berlin.

Frau Goldman stand jetzt so dicht neben Unna, daß Unna den Weichspüler in ihrem Wollkleid riechen konnte. Auf deutsch sagte Frau Goldman langsam und klar zu Unna: Sie sind jung, Sie haben nichts mit der Vergangenheit zu tun. Wir sind zwar nicht glücklich darüber, daß Sie und Dave… – Sie machte eine kleine Pause und legte das Besteck vor Unna. – Aber wir haben nichts gegen Sie. Verstehen Sie?

Unna nickte. Daves Vater sah sie ruhig an.

Was hat sie zu dir gesagt? flüsterte Dave, als seine Mutter sich abwandte, um Gläser zu holen.

Unna schüttelte den Kopf und schwieg.

Und? fragte Herr Goldman seinen Sohn.

Was und? schoß Dave zurück.

Welche Universität wäre dem Herrn denn recht? Und welches Fach darf’s denn diesmal sein?

Linguistik, sagte Dave.

Sein Vater sah ihn lange und stumm an, dann langte er über den Tisch nach dem Salz. Unna sah die KZ-Nummer auf seinem Unterarm. Voller Entsetzen fiel ihr ein, daß sie sich als Schulmädchen Telefonnummern von möglichen Liebhabern mit Kuli an die gleiche Stelle geschrieben hatte, weit genug unter dem Ärmel, daß niemand sie sehen konnte.

[25] Keinen Cent, sagte Daves Vater, keinen verdammten Cent werde ich für diesen Quatsch ausgeben. Linguistik! Hat man so einen Blödsinn schon mal gehört!

Dave stieß seinen Stuhl zurück und stand auf. Komm, sagte er zu Unna und packte sie am Arm, wir gehen.

Er zog sie zur Tür und griff mit der anderen Hand nach ihrem Koffer und seiner Reisetasche.

Unna wandte sich zu seinen Eltern um.

Entschuldigung, murmelte sie, da zog Dave sie schon aus dem Haus.

Ein Hotel wie das in der 33. Straße hatte Unna noch nie zuvor gesehen. Auf dem Boden in der Eingangshalle klebte so viel Kaugummi, daß sie es zuerst für das Muster des Fußbodens hielt, bis sie feststellte, daß ihre Schuhe bei jedem Schritt seltsame Geräusche von sich gaben und lange Kaugummifäden nach sich zogen.

Der Fahrstuhl war kaputt. Alte, kranke, kaputte Menschen quälten sich im Schneckentempo die Treppen hoch. Aus den Wänden waren große Stücke Putz herausgefallen, das Geländer war zerbrochen.

Eine schwarze Frau mit aufgequollenen elefantendicken Beinen blieb stehen, ließ Dave und Unna an sich vorbei und sah ihnen verwundert nach, wie sie energisch mit ihren Koffern in der Hand nach oben stiegen.

Das Zimmer war im siebten Stock. Es war groß, dunkel, leer, bis auf ein Bett und einen Stuhl. Auf dem Boden ein zerfetzter, fleckiger Teppich, vor dem einzigen Fenster mit vergilbten, löchrigen Vorhängen die Brandmauer des nächsten Hauses. Unna stellte sich direkt vors Fenster auf die [26] Zehenspitzen und verdrehte den Kopf. Tief unten sah sie ein gelbes Taxi, eine Frau in einem roten Nylonmantel, die über die Straße eilte.

Über dem verrammelten Kamin hing ein großer Spiegel mit blinden Flecken.

Die Matratze war kaputt, das löchrige Laken hatte gelbe Flecken. Sie konnte nicht glauben, daß es wirklich Urinflecken waren, bis sie daran roch.

Dave, sagte sie schwach, was machen wir hier?

Er zuckte die Achseln und ging ins Bad. Sie kam hinterher. Der Badewannenboden war mit einer schwarzen Masse bedeckt, wieder dauerte es eine Weile, bis sie glaubte, was sie sah. Die schwarze Masse bewegte sich, es waren Kakerlaken, die rücksichtslos übereinanderstiegen und sich abmühten, an der glatten Badewannenwand hinaufzuklettern.

Ich glaube, das halte ich nicht aus, flüsterte sie.

Überall in New York gibt es Kakerlaken, sagte Dave.

Die Badezimmertür ließ sich nicht schließen.

Dave stand genau in der Mitte des Zimmers. Er zog seine Jacke an.

Morgen früh komme ich zurück, sagte er.

Wohin gehst du? rief sie entsetzt.

Ich muß mit meinen Eltern reden, sagte er, ich muß ihnen klarmachen, daß ich jemand anders bin, als sie glauben.

Du läßt mich hier allein? jammerte Unna und klammerte sich an ihn. Allein in New York?

Er pflückte ihre Arme von seinem Hals, küßte sie flüchtig und schlug die Tür dreimal hinter sich zu, bis sie endlich ins Schloß fiel.

[27] Sie setzte sich heulend in ihrem Mantel aufs Bett und betrachtete den verdreckten Boden zu ihren Füßen.

Liebst du mich? sagte sie probeweise, und dann mußte sie husten. Als sie damit fertig war, hörte sie andere Menschen obendrüber und nebenan röcheln, schniefen, herumgehen, schreien. Sie stand auf, ging zu dem fleckigen Spiegel und starrte hinein. Ihr kantig geschnittenes Gesicht mit den weißblonden, langen Haaren und klaren, hellen Augen wirkte, als sei es dabei, sich aufzulösen. Die Angst in ihrem Körper fühlte sich an, als habe sie zuviel Kaffee getrunken.

Sie war tatsächlich eingeschlafen und wachte mitten in der Nacht von einem wütenden Fauchen auf, wie von einem mächtigen Tier. Entsetzt sprang sie aus dem Bett. Angeekelt spürte sie den schmierigen Dreck unter ihren bloßen Füßen. Abermals fauchte es, ganz dicht neben ihr, zum Greifen nah.

Unna fing an zu zittern, da strich ein warmer Wind um ihre nackten Beine. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen und näherte sich dem altmodischen kleinen Heizkörper, von dem sie fest angenommen hatte, daß er sowieso nicht funktioniere. Jetzt aber war er glühendheiß, daß sie sich fast die Finger an ihm verbrannte, und nach erneutem heftigem Fauchen fing er an zu hämmern, zu klopfen und zu röhren. Unna lächelte im Dunkeln. Sie hatte einen Kompagnon gefunden in ihrem Elend, ein Wesen, das zu ihr sprach. Vorsichtig wanderte sie zurück zu ihrem verpißten, kaputten Bett, legte sich vorsichtig auf die Schicht aus T-Shirts und Schals, die sie darüber gebreitet hatte, und lauschte den eigenwilligen Mitteilungen ihres Heizkörpers.

[28] Genauso werde ich sein als alte Frau, dachte sie, einsam, allein, getröstet nur von meiner Heizung. Wenigstens weiß ich jetzt schon, wie es dann sein wird.

Warum liebst du mich nicht? fragte sie Dave.

Er kam in den frühen Morgenstunden, sie wachte davon auf, daß sich ihr Bett bewegte wie von einem Erdbeben, mit einem Schrei fuhr sie hoch, da saß er neben ihr und betrachtete sie stumm. Sie vergrub ihren Kopf in seinem Schoß.

O Gott, sagte sie, ich kann ohne dich nicht leben.

Zieh dich an, sagte er, wir gehen frühstücken.

Es ist erst halb fünf, sagte sie.

Na und? sagte er und grinste, wir sind in New York, Baby.

Er trank nur Kaffee, schwarz, und sah ihr zu, wie sie mit schlechtem Gewissen, aber gutem Appetit drei English Muffins mit Marmelade so zierlich wie möglich verdrückte. Einmal hatte er lächelnd zu ihr gesagt: Wie abhängig du vom Essen bist. Diesen Satz vergaß sie nie mehr, ihr ganzes Leben nicht.

Mein Vater will, daß ich in seinem Geschäft arbeite, aber er sagt es nicht. Er will, daß ich zu Kreuze krieche, daß ich darum bitte, für ihn arbeiten zu dürfen, dieser elende, kleine Stinker, diese Ratte, dieses ungebildete Monster, dieses Arschloch.

So darfst du nicht über deinen Vater reden.

Warum nicht? schrie er. Warum nicht? Er schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die Salz- und Pfefferfässer tanzten. Muß ich denn mein ganzes Leben stillhalten, weil er im KZ war?

[29] Unna wandte sich erschrocken ab.

Ach, Scheiße, sagte Dave und strich sich mit einer abrupten Geste die langen Haare aus dem Gesicht. Haare zum Irrsinnigwerden, dicke, glänzende, dunkle, ungerecht schöne Haare für einen Mann. Allein der Anblick seiner Haare ließ Unna die Knie weich werden.

Mein schöner Dave, dachte sie zärtlich und legte ihre Hand auf seine. Bleibst du bei mir? fragte sie leise.

Er zog seine Hand zurück. Sie malte aus einem Kaffeetropfen Kringel auf den Tisch. Oh, sie wollte ihn wirklich nicht fragen, wirklich nicht. Liebst du mich?

Er sah sie ausdruckslos an. Ich weiß es nicht, sagte er.

Sie hatte das Gefühl, in der Kabine einer Achterbahn zu sitzen, die an ihrem höchsten Punkt angelangt ist, die Nase bereits nach unten gesenkt, einen Augenblick geschieht gar nichts, hilflos starrt man in die Tiefe, das Herz springt einem aus dem Körper, die Hände verkrallen sich im Sitz, die Luft bleibt einem weg, und in der Erkenntnis, daß die Abfahrt nicht zu stoppen ist, schreit man aus nie gekannter Tiefe um sein Leben.

Aber gestern wußtest du es doch noch, flüsterte sie entsetzt, wie kann sich das über Nacht ändern?

Du hast mich gefragt, sagte er verzweifelt, und ich habe dir eine ehrliche Antwort gegeben.

Ich hasse deine Ehrlichkeit.

Willst du, daß wir uns belügen wie alle anderen Menschen auch?

Aber gestern hast du mich doch geliebt.

Gestern ist gestern. Überraschend füllten sich seine Augen mit Tränen.

[30] O Gott.

Jetzt heulten sie beide wie die Schloßhunde. Eine ältere Bedienung mit kahlen Stellen in den mausgrauen Haaren kam an ihren Tisch, zählte wortlos zusammen und legte die Rechnung vor Dave.

Das Leben ist kein Picknick, sagte sie und räumte die Teller ab. Sie sahen ihr beide nach, dann flüsterte Unna: Wirst du mich nie mehr lieben?

Woher soll ich das wissen?

Aber vielleicht, vielleicht wirst du es wieder tun, oder?

Vielleicht, sagte er und putzte sich mit der Serviette die Nase.

Ich liebe dich, sagte sie und legte Daumen und Zeigefinger um sein Handgelenk. Wie feingliedrig er war und wie plump sie selbst. Sein schneeweißer, dünner Körper brachte sie in Verlegenheit. Sie war nur wenige Zentimeter größer als er, aber sie fühlte sich oft wie eine Riesin neben ihm. Am Anfang hatte sie sich immer sofort aufs Bett gelegt, wenn er sie besuchen kam, um ihn nicht im Stehen küssen zu müssen. Im Liegen fühlte sie sich kleiner, zierlicher, weiblicher.

Ich würde gern noch einen Reispudding essen, sagte sie tapfer.

Er fuhr zurück nach Long Island und meldete sich drei Tage lang nicht. Am ersten Tag weinte Unna nur ein bißchen, am zweiten schon mehr, am dritten wachte sie weinend auf und ging weinend ins Bett.

Es klopfte, kurz nachdem sie das Licht ausgemacht hatte.

Sie stürzte zur Tür, riß sie auf, wollte sich schon in Daves Arme werfen, aber geblendet vom gelben Flurlicht, sah sie [31] nur die Umrisse einer riesigen Frau in einem zeltartigen Morgenmantel vor ihrer Tür.

Entschuldigen Sie die Störung, sagte die große Frau höflich, ich frage mich, ob Sie vielleicht ein wenig Zahnpasta übrig haben.

Jetzt sah Unna, daß die Frau ihr vor den großen rosa Rosen ihres Morgenmantels eine Zahnbürste entgegenstreckte. Unnas Blick wanderte langsam über die Rosen zu einem weichen, zerknitterten Mondgesicht mit kleinen wasserblauen Augen und dünnen, braunen, strapsigen Haaren.

Sie dürfen mich Tamara nennen, sagte die große Frau.

Nur eine halbe Stunde später heulte Unna in Tamaras weiche Schulter: Und jetzt weiß er plötzlich nicht mehr, ob er mich liebt!

Tamara schnalzte mit der Zunge. Da schicken die Eltern ihren kleinen David zum teuren Studieren, und was tut er? Er kommt mit einer kleinen Schickse zurück, das soll vorkommen.

Es ist noch schlimmer, sagte Unna und wischte sich die Tränen aus den Augen.

Noch schlimmer?

Ich komme aus Deutschland.

Oh, là, là, sagte Tamara, das ist schlimm. Sie rückte schwer schnaufend ihren großen Leib in die Mitte von Unnas Bett und zog die Decke über ihre Beine. Geht Ihre Heizung nicht?

Doch, sagte Unna, aber erst nach Mitternacht.

Aus Deutschland, na so was, sagte Tamara und fuhr auf deutsch fort: Guter Hund, Platz!

Unna sah sie verwirrt an, Tamara aber brach in schallendes [32] Gelächter aus, klatschte in die Hände und rief laut: Platz! Faß! Hopp! Sitz! Ich hatte als Kind einen Spitz aus Deutschland, fuhr sie ruhig fort und wischte mit auffallend kleinen Händen über die schäbige Bettdecke. Haben Sie zufällig was zu trinken?

Tut mir leid, erwiderte Unna, ich habe keinen einzigen Cent.

Hätte ja sein können, seufzte Tamara und versank in düsteres Schweigen.

Wie kamen Sie zu dem Spitz? fragte Unna, nur um irgend etwas zu sagen.

Tamara sah sie prüfend an. Interessiert Sie das wirklich?

Ja, log Unna, bestimmt.

Mein Vater war Arzt, sagte Tamara, er machte viele Hausbesuche, er war sehr beliebt. Ein alter Emigrant aus Deutschland hinterließ ihm seinen Hund, als er starb, und weil mein Vater nicht wußte, wohin mit dem Tier, brachte er ihn mit nach Hause. – Sie verstummte.

Weiter, sagte Unna leise.

Ein weißer Spitz, schneeweiß, fuhr Tamara sofort fort, als habe sie nur auf Unnas Aufforderung gewartet. Seinen Namen hatte mein Vater vergessen, ich taufte ihn Schnaps, weil ich das Wort so lustig fand, es war das einzige deutsche Wort, das ich kannte, keiner in meiner Familie sprach deutsch, aber der Hund war ja schließlich Deutscher und brauchte, wie ich fand, einen deutschen Namen. Schnaps war ein trauriger Hund, er saß meistens unterm Tisch und leckte sich die Pfoten, zu keinem Spiel ließ er sich animieren, er gehorchte nicht, und deshalb ging ich mit ihm nur ungern auf die Straße. Meine Mutter kümmerte sich um [33] ihn, und ich hatte Schnaps fast völlig vergessen, bis Fräulein Botchek in unser Haus kam. Sie sollte mir Geigenunterricht geben, weil mein Vater von einem Patienten eine ziemlich kostbare Geige anstelle der Bezahlung bekommen hatte. Mein Vater…, sagte Tamara kopfschüttelnd und lehnte sich dann ächzend zurück. Sie haben wirklich nichts zu trinken?

Unna schüttelte bedauernd den Kopf. Verwundert stellte sie fest, daß sie in den letzten Minuten kein einziges Mal an Dave gedacht hatte.

Fräulein Botchek, gab sie Tamara das Stichwort, aber Tamara hatte die Augen geschlossen, ihr Kopf sackte nach vorn, langsam hoben und senkten sich die Rosen über ihrem gewaltigen Busen – sie schlief.

Neugierig beugte sich Unna über die monströse schlafende Frau in ihrem Bett, eine Mischung aus Mottenkugeln und altem Fett entströmte ihrem halbgeöffneten Rosenmantel. Vorsichtig kroch Unna näher, bis sie jede Falte in Tamaras Haut erkennen konnte, jedes Schnurrbarthaar, jede große Pore auf ihrer glänzenden Nase. Tief eingebettet in eine Halsfalte lag ein goldenes Kettchen mit einem Davidstern als Anhänger. Unna senkte den Kopf bis kurz über Tamaras gewaltigen Busen, zu gern hätte sie sich an ihn gekuschelt wie in ein großes, weiches Kissen. An diesem Busen wartete jede Menge Trost.

Tamara klappte die Augen auf und starrte Unna verwundert an, erschrocken rückte Unna zur Seite.