Friedrich Christian Delius

Als die Bücher noch geholfen haben

Biografische Skizzen

Vorsätze

Wenige Tage nach dem Ende der Schlacht von Stalingrad nicht weit vom Vatikan in das warme Frühlingslicht von Rom geboren, die Mutter eine milde Mecklenburgerin, der Vater ein westfälischer Pfarrer, zwischen hessischen Wäldern und Fachwerkhäusern, Bücherregalen und Fußballplatz Lesen und Schreiben gelernt und zugleich stotternd und stumm geworden – wo fängt es an, das Ich, das mit gelähmter Zunge zur Sprache drängt und im Alter von zehn Jahren mit der Schreibmaschine des gefürchteten Vaters sich einen «Weltplan» tippt? Und als «Beruf» angibt: Dichter.

Dies Rätsel habe ich auch in der Erzählung «Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde» nicht gelöst, und ich will es nicht lösen, denn es treibt mich voran. Wer schweigt und stottert, mag, im Idealfall, ein besonders glühender Liebhaber der Sprache sein. Die Vorstöße vom Schweigen zum Schreiben, vom Fußballfan am Radio zum Bastler epigonaler Gedichte, die Expeditionen von weitschweifenden Leseabenteuern zu abgehackten Zeilen, ich habe sie rational nie begriffen. Ich entdeckte ganz neue, selbst induzierte Glücksgefühle, ich spürte die Wohltat, mich am Schopf der eigenen Texte aus dem Sumpf der Sprachlosigkeit ziehen zu können, mit jedem neuen und möglicherweise besseren Gedicht festeren Boden unter den Füßen zu gewinnen und so das «entmündigte Ich wieder aufzurichten» (Kertész). Es wuchs die Lust am Widerspruch – erst gegen die Sprache der Väter, Großväter und Götter, dann gegen die Sprachen der Floskeln, der Macht, der Wirtschaft, der Ideologie. Wenigstens auf den Spiel- und Kampfplätzen der schriftlichen Sprache durfte ich mich stark fühlen, viel stärker als ich war, was wiederum die jugendliche Arroganz beförderte. Schreiben hieß Opposition und Selbstentdeckung, und ein dauernder Kampf gegen den Dilettanten, Nichtskönner und Hochstapler, als den ich mich sah.

Es zog mich ins Zentrum der deutschen Reibungen und Widersprüche, anderthalb Jahre nach dem Mauerbau. Aber was wäre Berlin gewesen ohne den Weg durch die Mauer, ich brauchte Gesprächspartner in beiden Berlins. Die politischen Schübe von 1965, 1966, 1967, 1968 haben mich nicht gehindert, zehnmal mehr Jean Paul und Fontane zu lesen als Marx. Theorie war meine Sache nie, Aktionismus noch weniger, und die Höhepunkte meiner Studentenbewegung waren ein gelungener Steilpass auf Wolfgang Neuss, eine Dissertation über «Der Held und sein Wetter» und das Werfen eines Steines in London. Die Maxime von Friedrich Schlegel begleitet mich seit 1965: «Jeder Satz, jedes Buch, so sich nicht selbst widerspricht, ist unvollständig.» Ein heimlicher Romantiker, wer möchte das nicht sein? Oder doch ein aufklärerischer Ästhet, der sich an Walter Benjamins Anspruch orientiert «Ein Autor, der die Schriftsteller nichts lehrt, lehrt niemanden»?

Nichts kann so falsch sein wie die Erinnerung. Jahrzehnte später sieht alles so einfach aus und glatt: der kleine Schritt von der Schulbank unter das literarische Zirkuszelt, die Kurzstrecken vom ersten zum zweiten, dritten oder fünften Buch, die Übungen im politischen Speerwerfen, die Weitsprünge mit drei Gedichtzeilen in die Gerichtssäle und wieder zurück, die Stabhochsprünge über Berliner Mauern, die Hindernisrennen zum Entdeckerglück, der Zehnkampf der Verlegerei. Also, noch einmal von vorn: ein paar Nahaufnahmen literarischer Lebenskapitel aus den Zeiten, als die Bücher noch geholfen haben.