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Gregor Schöllgen

Deutsche Außenpolitik

Von 1945 bis zur Gegenwart

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

 

 

In seiner zweibändigen Geschichte der deutschen Außenpolitik folgt Gregor Schöllgen dem schwierigen Weg Deutschlands von einem passiven Ordnungsfaktor im europäischen Staatensystem zu einem souveränen und integrierten Nationalstaat in der globalisierten Welt. Das 1871 gegründete Deutsche Reich, so sein Befund, war stark und schwach zugleich. Es war zu stark für das Gleichgewicht der Kräfte in Europa – und zu schwach, um dieses Europa von seiner deutschen Mitte aus dominieren zu können. Der dennoch immer wieder unternommene Versuch, dieser halbhegemonialen Stellung zu entkommen, mündete in die Katastrophe zweier Weltkriege. Die Teilung Deutschlands war die Folge. Dass die Deutschen diese akzeptierten, war die Voraussetzung für die neuerliche Vereinigung ihres Landes. Die beiden Bände verfolgen diesen Weg über beinahe zwei Jahrhunderte im Spiegel der Außenpolitik des Deutschen Bundes und des Kaiserlichen Deutschland, der Weimarer Republik und des Dritten Reiches, des geteilten und des wieder vereinigten Deutschland.

Über den Autor

 

 

Gregor Schöllgen, geb. 1952, Professor für Neuere Geschichte an der Universität Erlangen, ist Mitherausgeber der Akten des Auswärtigen Amtes und des Nachlasses von Willy Brandt sowie Autor zahlreicher zeitgeschichtlicher Bücher. Bei C.H.Beck sind von ihm lieferbar: Ulrich von Hassell (2004), Der Eiskönig (2008).

Inhalt

 

 

Vorwort

1. Prolog: Die Deutsche Frage 1871–1945

2. Souveränität durch Integration 1945–1955

3. Etablierung im Westen 1955–1966

4. Öffnung nach Osten 1966–1975

5. Sicherung des Status quo 1975–1989

6. Im Schatten der Revolution 1989–1991

7. Neue Horizonte 1991–2012

8. Epilog: Die Deutsche Frage in der Weltpolitik

 

 

Anhang

Abkürzungen

Anmerkungen

Quellen und Literatur

Personenregister

Vorwort

 

 

Dieses Buch ist der zweite Teil einer zweibändigen Geschichte der deutschen Außenpolitik vom Wiener Kongress bis zur Gegenwart. Der erste Band behandelt die Zeit bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Beide Bände sind in sich geschlossene Darstellungen, die einander ergänzen. Sie sind aus den Quellen gehoben, allen voran den veröffentlichten Akten des Auswärtigen Amtes. Diese liegen – mit einer editionsbedingten Ausnahme – für die Zeit der Bundesrepublik bis 1982 in 58 Bänden vor und werden im Jahresrhythmus unterhalb der Sperrfrist von 30 Jahren ergänzt.

Frühere Auflagen des Bandes erschienen unter dem Titel «Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland». Mit der Neuausgabe wurde er dem übergreifenden Thema angepasst, zumal der eine Bezugspunkt der Bonner Außenpolitik das Deutsche Reich und der andere die DDR gewesen ist, deren Außenpolitik im Folgenden angemessen berücksichtigt wird. Schließlich umfasst die Außenpolitik des vereinigten Deutschland inzwischen fast ein Vierteljahrhundert. Dass sie nach wie vor in jenem Auswärtigen Amt organisiert wird, das mit der Gründung des Deutschen Reiches durch Otto von Bismarck aus der Taufe gehoben wurde, ist mehr als eine Fußnote der Geschichte.

Für die Neuauflage ist der Text vollständig überarbeitet und erheblich erweitert worden. Da sowohl die Quelleneditionen als auch und vor allem die Literatur zum Thema inzwischen alle Dimensionen sprengen, beschränkt sich die Bibliographie auf einige Standardwerke und neuere Titel.

Erlangen, im April 2013

Gregor Schöllgen

1. Prolog: Die Deutsche Frage

1871–1945

Am Anfang stand erneut ein Untergang. So wie 1806 der Zusammenbruch des Alten, des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation die Voraussetzung für die Gründung eines deutschen Nationalstaates gewesen war, lag im Untergang dieses Deutschen Reiches die Voraussetzung für die Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik. 1806 wie 1945 spielte die Auflösung der die Deutsche Frage gleichsam einrahmenden Koalitionen die entscheidende Rolle. Machte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts der Zerfall der so genannten Quadrupelallianz aus Großbritannien, Russland, Österreich und Preußen den Weg frei für die Reichsgründung des Jahres 1871, so führte die Auflösung der Anti-Hitler-Koalition aus den USA, der Sowjetunion, Großbritannien sowie Frankreich zur Gründung der beiden deutschen Teilstaaten.

Wenn die beiden Fälle auch zeigen, wie sehr sich die Deutsche Frage über die weltpolitischen Rahmenbedingungen definierte, sind sie doch nur bedingt vergleichbar. Seit Jahrhunderten mit der Sicherung seiner mutierenden Außengrenzen und immer stärker mit sich selbst beschäftigt, fehlten dem 1806 aufgelösten Alten Reich die Kraft und der Wille zur dynamischen Behauptung seiner exponierten geostrategischen Stellung in der Mitte des europäischen Kontinents. Ganz anders stellte sich die Lage im Falle des 1871 gegründeten neuen Reiches dar. Zumindest für seine zahlreichen Nachbarn, Gegner und Opfer war der zweite von diesem Deutschen Reich ausgelöste Krieg der Jahre 1939 bis 1945 der endgültige Beleg, dass ein deutscher Nationalstaat, der zwangsläufig eine Großmacht sein würde, mit dem Gleichgewicht der Kräfte und mit dem Frieden in Europa und der Welt nicht vereinbar sein konnte.

Die Auflösung der «gescheiterten Großmacht»[1] Deutsches Reich durch die vier Sieger im Frühjahr 1945 war eine folgerichtige Konsequenz aus dieser historischen Analyse, der sie im Februar 1947 eine zweite folgen ließen. Mit der Auflösung Preußens durch das Kontrollratsgesetz Nr. 46 – praktisch die einzige gemeinsame Entscheidung, zu der sich die vier Siegermächte noch in der Lage sahen – gaben sie zu Protokoll, dass der Grund allen Übels im preußischen Kern des deutschen Nationalstaates zu suchen sei. Denn für die Sieger über Deutschland war der in Hitlers Regie geführte Eroberungs-, Beute- und Vernichtungsfeldzug vor allem auch der Endpunkt einer Entwicklung, die mit den Schlesischen Kriegen Preußens in der Ära Friedrichs des Großen begonnen und in der Kolonial-, Welt- und Weltkriegspolitik Bismarcks und Wilhelms II. ihre logische Fortsetzung gefunden hatte.

Tatsächlich war das Deutsche Kaiserreich 1871 aus Preußen heraus beziehungsweise um dieses herum gegründet worden. Selbstverständlich war das nicht, befand sich doch das preußische Königreich am Ende der Napoleonischen Ära nicht gerade in der besten Verfassung. Allerdings war in der Substanz erhalten geblieben, was Friedrich II. während der drei Schlesischen Kriege, also in den Jahren 1740 bis 1763, begründet hatte. Vor allem weil es dem Preußenkönig während des letzten, des Siebenjährigen Krieges gelungen war, die schlesische Beute zeitweilig gegen eine Koalition aller kontinentaleuropäischen Großmächte zu behaupten, hatte sich der vergleichsweise junge Staat einen Platz in deren Kreis sichern können.

Da Preußen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert auf der richtigen Seite gestanden und an der großen Abwehrschlacht gegen das revolutionäre, expansive Frankreich Napoleons I. teilgenommen hatte, gehörte es zum Kreis jener Mächte, die 1815 in Wien die neue europäische Ordnung festlegten. Diese sah eine enge Verflechtung der europäischen und der deutschen Angelegenheiten vor. Anstelle des 1806 untergegangenen Alten Reiches wurde mit dem Deutschen Bund aus souveränen, prinzipiell gleichberechtigten Staaten und Städten ein «passiver Ordnungsfaktor im europäischen Staatensystem»[2] installiert, der sich einerseits über das Gleichgewicht der Mächte in Europa definierte und dieses andererseits in erheblichem Maße mit garantierte. Weil mithin Änderungen in der Deutschen Frage immer auch die europäische Ordnung betrafen, waren sie nur denkbar, wenn sich diese Ordnung ihrerseits auflöste.

Da am Ende dieses dann tatsächlich eintretenden Auflösungsprozesses die Gründung des Deutschen Reiches unter preußischer Führung stand, hat man im Nachhinein eine ursächliche Beziehung zwischen beiden Entwicklungen hergestellt. Die aber hat es nur insofern gegeben, als kein zweiter Staat von dem Zerfall der in Wien installierten Ordnung derart profitiert hat wie Preußen. Denn der Krimkrieg der Jahre 1853 bis 1856, der dieser Ordnung den endgültigen Todesstoß versetzte, eröffnete jenen Spielraum, den Preußen nutzte, um über drei entschlossen geführte Kriege nicht zuletzt gegen Österreich, den Rivalen um die Führung in Deutschland, vor allem aber gegen Frankreich, den entschiedendsten Gegner dieses Prozesses, die Voraussetzung für die Gründung eines deutschen Nationalstaates in preußischer Regie zu schaffen.

Obgleich Österreich außen vor und die Lösung mithin kleindeutsch blieb, hatte dieses 1871 gegründete Deutsche Reich doch ein solches Potential, dass es über kurz oder lang das Gleichgewicht der Kräfte in Europa in Frage stellen musste. Das lag an seiner spezifischen machtpolitischen Lage, die man zutreffend als «halbhegemonial»[3] bezeichnet hat – zu stark, um von den anderen ignoriert oder übersehen werden zu können; zu schwach, um aus eigener Kraft die Hegemonie über den Kontinent errichten zu können. Schon Otto von Bismarck, der eigentliche Gründer und erste Kanzler dieses Deutschen Reiches, hatte das erkannt und wenige Jahre nach seinem Coup darüber nachgedacht, ob man dieser strategischen Falle nicht durch die Flucht nach vorn entkommen könne. Dass Bismarck selbst den Gedanken eines präventiven Schlages alsbald zu den Akten legte und sich auf die Sicherung des Reiches durch ein System politischer Rückversicherungen konzentrierte, änderte nichts daran, dass er fortan zum politischen und militärischen Repertoire des außenpolitischen Denkens und Planens in Deutschland zählte. Er war den Deutschen, aber auch ihren Nachbarn derart vertraut, dass noch Hitler ihn mobilisieren und gewissermaßen in seinem Windschatten ganz andere Ziele verfolgen konnte.

Die halbhegemoniale Statur war ein gravierender Geburtsfehler des neuen Reiches, aber sie war nicht sein einziger. Nicht minder folgenreich sollte sein, dass der deutsche Nationalstaat von Anfang an als europäische Großmacht aufgestellt war und im Verständnis seiner Bewohner auch als solche aufgestellt sein musste. Im strategischen Zentrum des Kontinents gelegen und von so vielen Nachbarn – darunter mit Frankreich, Russland und Österreich immerhin drei Großmächte – umgeben wie kein zweites vergleichbares Land der Erde, konnte sich das Deutsche Reich nur als Großmacht behaupten. Wenn sich die Deutschen in einer Frage einig waren, dann war es diese. So wie ihre Nachbarn in dieser deutschen Großmacht, je gewichtiger sie wurde, eine Gefährdung der Ordnung und des Friedens in Europa sahen.

Und diese Großmacht legte im Laufe der Jahre und Jahrzehnte noch beträchtlich an Gewicht zu. Vor allem beschränkte sich das Deutsche Reich schon bald nicht mehr auf die Sicherung seiner exponierten Stellung im Zentrum des Kontinents, sondern es etablierte sich, in der Bismarck-Zeit beginnend, als Weltmacht. So gesehen war der Großmachtstatus kein Ziel, sondern eine Etappe. Er musste eine Etappe sein, denn im Zeitalter des Imperialismus, das 1881/82 mit der faktischen Inbesitznahme Tunesiens durch Frankreich und Ägyptens durch Großbritannien eingeläutet wurde, konnte es keine Großmacht bei der Sicherung des heimischen Besitzstandes belassen. Das galt für England, Frankreich und in gewisser Weise auch für Russland, also die etablierten europäischen Weltmächte ihrer Zeit; es galt für die beiden außereuropäischen Großmächte Japan und USA, die in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts zu Weltmächten aufstiegen – Japan durch seinen Krieg gegen China, Amerika infolge des Krieges gegen Spanien; es galt selbst für Österreich-Ungarn, das sich allerdings in pragmatischer Selbstbeschränkung auf den Balkan, also das Terrain vor der eigenen Haustür, konzentrierte; und es galt nicht zuletzt für Italien und Deutschland, die Neulinge im Kreis der europäischen Großmächte.

Weltmacht zu sein hieß, die Energie und die Fähigkeit zu besitzen, bei der vermeintlich letzten Runde der Aufteilung der Erde in Macht-, Interessen- und Einflusssphären mitzumischen. Wer diese Energie und diese Fähigkeit nicht besaß oder nicht unter Beweis stellte, galt als schwach und lief Gefahr, seinerseits Gegenstand expansiver Ambitionen anderer zu werden. Nachdem mithin der erste Schritt, die Gründung einer deutschen Großmacht, getan war, gab es keine Alternative, als ihm den zweiten folgen zu lassen. Dieser Griff nach der Weltmacht, der im Grunde nichts anderes war als die Erarbeitung und Sicherung eines Status unter seinesgleichen, war im deutschen Fall, gemessen an seinen Ergebnissen und im Vergleich mit den Kolonialreichen der Briten oder der Franzosen, ausgesprochen bescheiden.

Dass er gleichwohl auf den entschiedenen Widerstand der übrigen Großmächte traf, lag an der rhetorischen Offensive, mit der die deutsche Weltpolitik einherging, vor allem aber an der substantiellen Stärkung der ohnehin und in praktisch jeder Hinsicht Gewichtigsten unter den europäischen Großmächten. Dass diese Sicht der Dinge bei den übrigen Großmächten zum Schulterschluss führte, konnte kaum überraschen; und dass die Deutschen dieses Zusammenrücken ihrerseits als «Einkreisung» wahrnahmen, auch nicht: Sie waren überzeugt, dass die anderen sie nicht «liebten». Dafür, fand Theobald von Bethmann Hollweg, der bei Ausbruch des Großen Krieges amtierende Reichskanzler und gewiss kein Hardliner, «sind wir zu stark, zu sehr Parvenü und überhaupt zu eklig».[4]

Kein Wunder, dass der Erste Weltkrieg von den Deutschen als präventiv geführter Existenzkampf begriffen wurde. Dass die Zertrümmerung des Deutschen Reiches das Ziel eines «im Haß verbündete[n] Europa» war, das die Deutschen «nicht dulden» wollte, stand im Herbst 1914 für Thomas Mann wie für die allermeisten seiner Landsleute außer Frage.[5] Denn «die junge, die aufsteigende Macht ist psychologisch genommen immer im Angriff, und die anderen, die bestehenden Mächte sind es, die sich gegen sie zu verteidigen haben».[6] Nicht nur Thomas Mann sah in diesem Krieg einen dem Siebenjährigen Krieg vergleichbaren Existenzkampf. Damals wie jetzt ging es nicht nur um die Behauptung der jungen Großmacht als Weltmacht, sondern auch um die Erkämpfung einer hegemonialen Position in Europa. Mit anderen Worten: Wenn man Bismarcks Entscheidung nicht rückgängig machen beziehungsweise machen lassen wollte, musste man sie korrigieren.

Daran änderte die Niederlage Deutschlands in diesem Ersten Weltkrieg nichts, ganz im Gegenteil. Das den Deutschen im Juni 1919 mit dem Vertrag von Versailles oktroyierte äußere Format ihres im Kern erhalten gebliebenen Nationalstaates erforderte in ihren Augen eine grundlegende Revision. Während sich die Außenpolitiker der ein halbes Jahr vor der Vertragsunterzeichnung ins Leben gerufenen Weimarer Republik auf die Wiederherstellung des alten Großmachtstatus konzentrierten, gingen die Vorstellungen ihrer Nachfolger seit dem Januar 1933, und keineswegs nur die des Reichskanzlers Adolf Hitler, weit darüber hinaus. Die Strategen der deutschen Außenpolitik begriffen zum Beispiel auch den Anschluss Österreichs und der sudetendeutschen Gebiete der Tschechoslowakei als Teil einer großräumigen Sicherung Deutschlands und revitalisierten damit die schon in der Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland angelegten Pläne einer deutschen Hegemonie über den europäischen Kontinent.

Die Bedenken, die 1938 aus den Reihen des Auswärtigen Dienstes und des Militärs erhoben wurden, bezogen sich auf das Tempo, das Hitler anschlug. Die Vertreter der preußisch-deutschen Eliten trieb die Sorge um, dass die forcierte Gangart Deutschland in einen Krieg mit den Westmächten führen könnte, den es zu diesem Zeitpunkt nicht überleben würde. Gegen den Krieg als Mittel der Politik hatten sie keine grundsätzlichen Einwände, und gegen die von Hitler verfolgten Ziele schon gar nicht, jedenfalls soweit sie diese kannten. Dass es ihm um mehr als um die Sicherung des Deutschen Reiches ging, dass Hitler ein gewaltiger, von Deutschland kontrollierter «Lebensraum» im Osten Europas vorschwebte, wusste man; sein am 5. November 1937 vor den Oberkommandierenden von Heer, Luftwaffe und Marine sowie dem Reichskriegs- und dem Reichsaußenminister ausgebreiteter Plan, «spätestens 1943/45 die deutsche Raumfrage zu lösen» und mit Blick auf dieses Ziel zunächst Österreich und die Tschechoslowakei auszuschalten, blieb unwidersprochen.[7] Allerdings hatte Hitler seine rassenideologisch motivierten Vernichtungspläne bei dieser Gelegenheit außen vor gelassen.

Dass die übrigen Großmächte, wie von Hitler prognostiziert, dem deutschen Expansionsdrang zumindest in dieser ersten Phase nicht nur keine Widerstände entgegensetzten, sondern ihn hinnahmen oder, wie im Falle der sudetendeutschen Gebiete der Tschechoslowakei, sogar im Vorhinein billigten, schien zu belegen, dass die Sicht der Deutschen auf ihre heikle geostrategische Lage für andere nachvollziehbar war. Hitler wusste diese Zurückhaltung zu nutzen und von der solchermaßen gefestigten und verbreiterten Ausgangsposition aus einen beispiellosen Feldzug gegen Europa zu führen, der spätestens mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 nicht nur ein Eroberungs- und Beute-, sondern auch ein Vernichtungs- und Versklavungsfeldzug gewesen ist.

Es lag nahe, dass die Opfer und Gegner darin keinen radikalen Bruch mit der Tradition preußisch-deutscher Politik und Kriegführung seit den Tagen Friedrichs des Großen, sondern vielmehr eine konsequente Fortsetzung dieser Tradition erkennen wollten. Für sie stand fest, dass auch dieser Krieg eine Folge- und Begleiterscheinung des deutschen Expansionsdrangs und dieser wiederum die Konsequenz aus dem Großmachtstatus Preußen-Deutschlands war. Wenn die Deutschen, wie sie es von Anfang an getan hatten, ihren Nationalstaat nur als Großmacht denken konnten, dann allerdings war es für ihre Gegner konsequent, nicht nur die deutsche Großmacht auf alle Zeit zu zerschlagen, sondern auch den Nationalstaat aufzulösen. Daher zwangen die alliierten Sieger die Deutschen am 7. beziehungsweise in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 1945 zunächst zur bedingungslosen Kapitulation und übernahmen dann, vier Wochen später, in einem zweiten Schritt auch die oberste Regierungsgewalt in ihrem Land.

Fortan war Deutschland nicht mehr als ein geographischer Begriff. Das Schicksal des Landes und des Volkes lag vollständig in den Händen der Siegermächte, und die hatten schon während des Krieges einige weitreichende Entscheidungen getroffen. Die wichtigsten waren zwischen den Staats- und Regierungschefs der USA, der Sowjetunion sowie Großbritanniens vereinbart worden. Insgesamt dreimal haben sich die «Großen Drei» getroffen, vom 28. November bis zum 1. Dezember 1943 in Teheran, vom 4. bis zum 11. Februar 1945 in Jalta und zuletzt, nach der Niederwerfung Deutschlands, vom 17. Juli bis zum 2. August 1945 in Potsdam. Allerdings war, was die ursprüngliche Besetzung anging, am Ende des Potsdamer Treffens nur noch Stalin dabei. An Stelle des wenige Monate zuvor verstorbenen amerikanischen Präsidenten Roosevelt nahm dessen Nachfolger, der bisherige Vizepräsident Harry S. Truman, und für den während der Konferenz zuhause abgewählten Churchill der britische Premierminister Clement Attlee teil. Der französische Ministerpräsident Charles de Gaulle saß nicht einmal mit am Verhandlungstisch, obgleich man sich bereits in Jalta auf Frankreich als vierte Besatzungsmacht verständigt hatte.

Ohne Zweifel ist Stalin als der große Gewinner aus diesen Treffen hervorgegangen. Insbesondere bei den für ihn entscheidenden Zielen hat der sowjetische Diktator, von Nuancen abgesehen, keine nennenswerten Abstriche machen müssen. Das lag zum einen am Verlauf des asiatisch-pazifischen Krieges. Dort entwickelten sich die Dinge ähnlich wie zuvor auf dem europäischen Kriegsschauplatz: Je näher sich die Alliierten an die japanischen Hauptinseln herankämpften, umso verbissener wurde der Widerstand der Gegner und umso höher die Verluste namentlich der Amerikaner. Daher war Roosevelt wie Truman sehr an einem Kriegseintritt der Sowjetunion gegen Japan gelegen, der dann auch, einer Zusage Stalins entsprechend, am 8. August, also wenige Tage nach Abschluss der Konferenz von Potsdam und zwischen den beiden amerikanischen Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki, erfolgte.

Zum anderen gab es die Macht des Faktischen. Als die Rote Armee im Januar 1944 die alte polnische Grenze überschritt, hatte noch kein einziger alliierter Soldat seinen Fuß auf französischen Boden gesetzt. Zum Zeitpunkt der deutschen Kapitulation hielten sowjetische Truppen nicht nur den größten Teil des Deutschen Reiches einschließlich der Hauptstadt Berlin besetzt, sondern auch Polen, Rumänien, Ungarn, Bulgarien, Teile der Tschechoslowakei einschließlich Prags und das östliche Österreich. Der Nordosten Jugoslawiens mit Belgrad wurde aufgrund eines Abkommens mit Tito bereits wieder geräumt. Das also waren die Fakten. An ihnen kamen Truman und Attlee nicht vorbei, und so überließen sie Stalin, von Griechenland und in gewisser Weise auch von Jugoslawien abgesehen, Ostmittel- und Südosteuropa mehr oder minder vollständig.

Auch Polen. Was die inneren Verhältnisse des Landes anging, hatte Stalin schon in Jalta die Anerkennung des von ihm installierten so genannten Lubliner Komitees durchgesetzt. Auch wenn einige Vertreter der Londoner Exilregierung aufgenommen werden mussten, blieb es ein Marionettenregime. Das war natürlich auch Churchill und Roosevelt bewusst. Daher ließen sie sich von Stalin in Jalta zusagen, «so bald wie möglich freie und unbehinderte Wahlen» in Polen durchführen zu lassen.[8]

Im Übrigen erhielt der sowjetische Diktator von seinen westlichen Verhandlungspartnern bereits in Jalta jene Ostgrenze Polens, die schon Hitler im Grenz- und Freundschaftsvertrag vom 28. September 1939 als deutsch-sowjetische Demarkationslinie akzeptiert hatte und die in ihrem mittleren Abschnitt entlang des Bug verlief. Im Unterschied zu den sowjetisch-deutschen wurde allerdings in den alliierten Absprachen das polnische Kerngebiet Białystok Polen zugeschlagen, das zudem den südlichen Teil des vormals deutschen Ostpreußen erhielt. Im Gegenzug legte Stalin seine Hand auf das nördliche Ostpreußen mit dem wichtigen Hafen Königsberg, dem heutigen Kaliningrad.

Die Westmächte stimmten einer Verschiebung der alten polnisch-sowjetischen Grenze nach Westen unter der Bedingung zu, dass der polnische Staat eine entsprechende territoriale Kompensation erhielt. Das war nur auf Kosten des Kriegsverursachers Deutschland denkbar. Es gehört zu den nur schwer begreifbaren Ergebnissen alliierter Politik in der Endphase des Zweiten Weltkrieges, dass der Täter Deutschland und das Opfer Polen nicht nur ähnlich behandelt, sondern dass die Schicksale beider Staaten über die Grenzfrage aufs Engste miteinander verknüpft und die beiden Völker so über Jahrzehnte in einem Zustand latenter Spannung gehalten wurden.

Die Potsdamer Konferenz bestimmte, «daß bis zur endgültigen Festlegung der Westgrenze Polens die früher deutschen Gebiete östlich der Linie, die von der Ostsee unmittelbar westlich von Swinemünde und von dort die Oder entlang bis zur Einmündung der westlichen Neiße und die westliche Neiße entlang bis zur tschechoslowakischen Grenze verläuft …, in dieser Hinsicht nicht als Teil der sowjetischen Besatzungszone in Deutschland betrachtet werden sollen»[9]. So sagt es das Kommuniqué, mit dem am 2. August 1945 nicht nur diese Zusammenkunft, sondern die Konferenzserie der Drei insgesamt abgeschlossen wurde. In Potsdam verschob man also die polnisch-deutsche Grenze der Zwischenkriegszeit deutlich nach Westen und erweiterte Polen damit um Gebiete, die weder zu jenem alten Königreich Polen gehört hatten, das seit 1772 zwischen Preußen, Österreich und Russland aufgeteilt worden war, noch zur polnischen Republik der Zwischenkriegszeit.

Der Grenzverlauf zeigt, wie sehr sich Stalins Stellung gegenüber seinen westlichen Partnern im Verlauf des Jahres verbessert hatte. Während er noch im Sommer 1944 von der östlichen, der Glatzer Neiße ausgegangen war, setzte er in Potsdam gegenüber den Westmächten die gut 200 Kilometer weiter westlich verlaufende Görlitzer Neiße durch, so dass nunmehr auch Niederschlesien an Polen fiel. Indem die Sieger des Krieges diese Lösung zudem als provisorisch bezeichneten, trugen sie einiges dazu bei, dass sich der deutsche Revisionismus der Nachkriegszeit auf diesen Nachbarn fixierte. Kein Wunder, dass Polen immer wieder auf einer definitiven Anerkennung der Oder-Neiße-Linie durch die Deutschen bestand. Tatsächlich ist diese mehrfach ausgesprochen worden – durch die DDR bereits im Juli 1950, durch die Bundesrepublik im Dezember 1970, durch beide deutsche Teilstaaten faktisch erneut auf der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa im August 1975 und schließlich noch einmal im deutsch-polnischen Grenzvertrag vom November 1990 durch das vereinigte Deutschland.

Wenig befriedigend waren auch jene Lösungen, die während des Krieges als Antwort auf die Deutsche Frage gefunden werden konnten. Sie hatten durchweg Kompromisscharakter. Als sicher galt nur, dass Deutschland nach der bedingungslosen Kapitulation vollständig besetzt werden sollte und dass zu diesem Zweck Besatzungszonen einzurichten waren. Über diese beziehungsweise die Grenzen zwischen ihnen machte sich in London eine Beratende Europäische Kommission Gedanken, die im Oktober 1943 bei einem Treffen der drei Außenminister in Moskau eingesetzt worden war.

In dieser Kommission wurde im Januar 1944 auch der wichtigste und zugleich folgenreichste Vorschlag erdacht, nämlich die Demarkationslinie zwischen der östlichen, sprich sowjetischen, und den zwei beziehungsweise drei westlichen Besatzungszonen entlang einer Linie Lübeck-Helmstedt-Eisenach-Hof verlaufen zu lassen. Das war eine britische Idee, der Stalin rasch zustimmte. Als der Vorschlag auf den Tisch kam, war man ja noch fast ein halbes Jahr von der alliierten Invasion in Frankreich entfernt, während die Rote Armee bereits in Polen vorrückte, und in den Reihen der westlichen Generalstäbe galt es als wahrscheinlich, dass die Sowjets bei Kriegsende am Rhein stehen würden.

Im September und November 1944 legten zwei Zonen- und ein Kontrollabkommen das Weitere fest, vor allem die Aufteilung der westlichen in eine britische und eine amerikanische Besatzungszone. Aus diesen beiden wurde später die französische Zone herausgeschnitten. Außerdem sollten die 20 Verwaltungsbezirke von «Groß-Berlin» einen besonderen Status erhalten und nicht als Teil der sowjetischen Besatzungszone gelten. So kam es dann auch. Bei Kriegsende hielten amerikanische Verbände Thüringen und Teile Sachsens, britische Einheiten Magdeburg und Teile des westlichen Mecklenburgs besetzt, während die Rote Armee ganz Berlin kontrollierte. Am 29. Juni 1945 kamen Vertreter der Alliierten Oberkommandos in Berlin überein, sich auf die vereinbarten Linien in Mitteldeutschland und Berlin zurückzuziehen.

Die oberste Gewalt in diesem Deutschland westlich von Oder und Neiße sollte von jedem in seiner Besatzungszone und zugleich in einem Alliierten Kontrollrat gemeinsam durch alle ausgeübt werden. Vergleichbares galt für Groß-Berlin, wo eine Interalliierte Militärkommission die Kontrolle über die Verwaltung der Stadt übernahm. Das Ganze war eben ein Kompromiss. Wie ja auch die Koalition, die ihn erdacht hatte, von Anfang an ein Kompromiss gewesen war. Was hatte denn schon die Sowjetunion, was hatte die Stalin-Diktatur mit den westlichen Demokratien gemein, wenn nicht die bedrohliche Lage, in die sie allesamt durch Hitlers Politik und Kriegführung gebracht worden waren? Was verband sie außer dem im Übrigen alternativlosen Entschluss, Deutschland bis zu dessen totaler Niederlage zu bekämpfen? Tatsächlich trennte die Mitglieder dieser Anti-Hitler-Koalition mehr, als sie verband – nicht nur, aber auch in der Deutschen Frage. Für die Deutschen waren das trübe Aussichten, zumal sie den Spielraum, der sich aus diesen Interessengegensätzen ergab, nicht nutzen konnten. Sie waren Figuren auf einem Schachbrett, und die Züge der Spieler hingen von allen möglichen Erwägungen und Interessen ab. Zuallerletzt von denen der Deutschen.

2. Souveränität durch Integration

1945–1955

Nicht die Deutschen haben ihr Schicksal bestimmt, sondern die Umstände: Der harte Winter 1946/47, das Vorgehen der Sowjets in ihrem europäischen Machtbereich und die Entwicklungen in Ostasien führten binnen weniger Jahre zu Entscheidungen in der Deutschen Frage, die sich im Frühjahr 1945 niemand hatte vorstellen können – im Kreis der alliierten Sieger nicht, und in Deutschland schon gar nicht. Somit blieb die Deutsche Frage auch im anbrechenden neuen Zeitalter des Kalten Krieges, was sie seit dem Wiener Kongress stets gewesen war: ein Produkt der weltpolitischen Entwicklungen.

Dabei spielten gerade während des ersten Nachkriegsjahrzehnts die Ereignisse in Ostasien eine bemerkenswerte Rolle. Was in Korea, Vietnam und zunächst vor allem in China vor sich ging, tangierte Deutschland unmittelbar. Denn der Verlauf und das absehbare Ergebnis des chinesischen Bürgerkriegs, der seit 1945 geschwelt hatte und im Juni 1946 offen ausgebrochen war, bestärkten die Amerikaner in ihrer Absicht, einer ähnlichen Entwicklung in anderen Teilen der Welt, auch in Deutschland, gegenzusteuern. Nachdem Mao Tse-tung, die Führungsfigur der chinesischen Kommunisten, am 1. Oktober 1949 die Gründung der Volksrepublik China proklamiert hatte, verließ der unterlegene Anführer der nationalchinesischen Verbände, Generalissimus Chiang Kai-shek, im Dezember das Festland und wich mit dem Staatsschatz, anderthalb Millionen Getreuen sowie dem Parlament nach Taiwan aus. Zwar hatten die USA Chiang Kai-shek bis zuletzt mit Rüstungslieferungen und anderen Maßnahmen unterstützt, direkt eingreifen in den Konflikt wollten sie aber nicht. Zu den mittelbaren Folgen der Umwälzungen in China gehörte sein Rückzug aus den Kontrollorganen über Deutschland. Hatte China im Herbst 1945 noch an der ersten Außenministerkonferenz der fünf alliierten Sieger in London teilgenommen, blieb es im Folgenden diesen Treffen fern und zog 1949 mit der Schließung der chinesischen Militärmission in Berlin einen Schlussstrich unter sein Engagement.

Anders als in China waren die Vereinigten Staaten in Deutschland als Besatzungsmacht militärisch massiv präsent und zudem für das Schicksal des Besetzten verantwortlich. Allerdings stellte der grimmige Jahrhundertwinter 1946/47 selbst die in Nachschub- und Versorgungsfragen wie keine zweite Macht der Zeit organisierten Amerikaner vor erhebliche Probleme, zumal sie zunehmend auch für die in dieser Hinsicht überforderten Briten einspringen mussten. Das war eine gewaltige Herausforderung, weil neben der Bevölkerung der Westzonen auch das Riesenheer der vor allem aus Polen und der Tschechoslowakei Vertriebenen, insgesamt zwischen zwölf und 14 Millionen Menschen, untergebracht und versorgt werden musste. Die allermeisten von ihnen, soweit sie ihr Ziel lebend erreichten, strandeten am Ende dieser «vermutlich … größte[n] Bevölkerungsbewegung der Weltgeschichte» im Westen Deutschlands und damit auch in der Besatzungszone Großbritanniens. Dessen Kriegspremier hatte Mitte Dezember 1944 öffentlich keinen Zweifel gelassen, dass «Vertreibungen in größerem Umfang, als man sich bisher auch nur vorgestellt hatte, nicht nur Teil, sondern eine der Grundlagen der europäischen Nachkriegsordnung seien».[1]

Jetzt war Churchill zwar nicht mehr im Amt, aber sein Land musste den desaströsen Folgen dieser Entscheidung ins Auge sehen. Ohne die Amerikaner, die ihrerseits während des Krieges grünes Licht für den Massenexodus gegeben hatten, wären die Probleme nicht lösbar gewesen. Ihre Hilfe war ein letzter Anstoß für die administrative Reform in den beiden westlichen Zonen. Anders als hinter der Gründung Nordrhein-Westfalens, mit der die Briten am 23. August 1946 sowjetischen und französischen Ambitionen auf das Ruhrgebiet einen Riegel vorschoben, stand also hinter dem zum 1. Januar 1947 vollzogenen Zusammenschluss zum Vereinigten Wirtschaftsgebiet, der so genannten Bizone, ursprünglich keine politische Absicht. Jedenfalls keine, die auf eine wie auch immer geartete Staatlichkeit Westdeutschlands zielte.

Das galt auch für den nach Amerikas Außenminister George C. Marshall benannten Plan, der europäischen und mit ihr der Weltwirtschaft durch ein umfassendes Hilfsangebot unter die Arme zu greifen. Im Frühsommer 1947 angeregt, war das Programm als Hilfe zur Selbsthilfe gedacht. Die Leistungen bestanden in der Lieferung von Waren, insbesondere Lebensmitteln und Rohstoffen, aber auch in der Vergabe von Krediten und in der Weitergabe von Know-how. Bis zum 31. Dezember 1952 wurden etwa 14 Milliarden US-Dollar im Rahmen dieses European Recovery Program zur Verfügung gestellt. Den größten Anteil erhielt nicht zufällig Großbritannien; die westlichen Besatzungszonen in Deutschland und später dann die Bundesrepublik lagen mit drei Milliarden Dollar an vierter Stelle.

Aber natürlich hatte das Unternehmen von Anfang an auch eine politische Dimension. Kritiker und Gegner behaupteten sogar, die Einladung an die Sowjetunion und ihre jungen Satelliten, sich an dem Programm zu beteiligen, sei aus rein taktischen Erwägungen erfolgt. Denn prompt geschah, was absehbar war: Stalin ließ seinen Außenminister, das war seit 1939 Wjatscheslaw M. Molotow, abwinken. Spätestens mit der Errichtung der für die Hilfsmaßnahmen zuständigen OEEC, der «Organization for European Economic Cooperation», war die zunehmend politische Stoßrichtung des Projekts nicht mehr zu übersehen.

Denn einen Monat zuvor, am 17. März 1948, hatten die Benelux-Staaten, Frankreich und Großbritannien in Brüssel einen Pakt, die so genannte Westunion, aus der Taufe gehoben, der wie das politisch-militärische Pendant zur OEEC aussah. Wohl richtete sich diese Union erklärtermaßen gegen ein «Wiederaufleben der deutschen Aggressionspolitik»,[2] doch war schlechterdings nicht zu übersehen, dass die sowjetische Expansion bei der Gründung Pate gestanden hatte. Kein Wunder, dass der amerikanische Präsident noch am Tag der Unterzeichnung öffentlich versicherte, «daß der Entschlossenheit der freien Staaten Europas, sich selbst zu schützen, unsere Entschlossenheit, ihnen zu helfen, nicht nachstehen wird».[3] Tatsächlich nahm der amerikanische Senat schon am 11. Juni 1948 mit großer Mehrheit eine Resolution an, in der die Regierung aufgefordert wurde, an «regionale und andere» Abkommen Anschluss zu suchen, «die auf wirksamer und fortgesetzter Selbsthilfe und gegenseitiger Hilfe beruhen und die die nationale Sicherheit der Vereinigten Staaten betreffen».[4] Die Ankündigung kam einer Revolution gleich. Zum ersten Mal in Friedenszeiten zeigte sich Amerika entschlossen, auf einem anderen Erdteil für längere Zeit Flagge zu zeigen: Am 4. April 1949 wurde der Vertrag über die NATO, die «North Atlantic Treaty Organization», von zwölf Staaten unterzeichnet.

Ohne die Manöver der Sowjets ist diese strategische Weichenstellung nicht zu verstehen. Wohin man auch schaute, schienen sie vorrücken und dabei anfänglich auch die Grenzen jenes Machtbereichs überschreiten zu wollen, den der Westen ihnen während des Krieges zugestanden hatte. Alarmiert verfolgte die amerikanische Administration vor allem die offenkundigen oder doch vermuteten Machenschaften Stalins in der Türkei und Griechenland, auf die Truman schon Mitte März 1947 mit einem Manifest reagiert hatte. In dieser nach ihrem 33. Präsidenten benannten Doktrin sagten die USA grundsätzlich allen freien Völkern Unterstützung gegen bewaffnete Minderheiten im Innern oder Druck von außen zu und legten zu diesem Zweck ein umfassendes wirtschaftliches und finanzielles Hilfsprogramm auf. Dass sich die Sowjets danach vor allem auf ihren eigenen Machtbereich konzentrierten, machte die Sache nicht wirklich besser, weil entweder die dabei angewandten Methoden zum Himmel schrien oder weil sich Stalin und seine Handlanger nicht an gegebene Zusagen hielten.

So vor allem in Polen. Immerhin hatte Stalin – im Gegenzug zu den beträchtlichen Konzessionen Churchills und Roosevelts bei der Anerkennung der Marionettenregierung sowie der Westverschiebung Polens – in Jalta das Zugeständnis gemacht, «so bald wie möglich freie und unbehinderte Wahlen» in Polen durchführen zu lassen.[5] Die aber wurden bis zum 19. Januar 1947 hinausgeschoben, und das Ergebnis sprach für sich: 90 Prozent für den kommunistisch beherrschten Block. Ohne mit der Wimper zu zucken, hatte Stalin also in Polen das Prinzip durchsetzen lassen, das er im April 1945 Milovan Djilas, dem Stellvertreter des jugoslawischen Partisanenführers und späteren Ministerpräsidenten Josip Tito, so erläutert hatte: «Dieser Krieg ist nicht wie in der Vergangenheit; wer immer ein Gebiet besetzt, erlegt ihm auch sein eigenes gesellschaftliches System auf. Jeder führt sein eigenes System ein, so weit seine Armee vordringen kann.»[6]

Den letzten Anstoß für eine grundlegende Kurskorrektur der amerikanischen Europa- und Deutschlandpolitik brachten die Vorgänge in der Tschechoslowakei, die zum Jahresende 1945 von amerikanischen und sowjetischen Truppen geräumt worden war. Nachdem die Kommunisten in ersten freien Wahlen Ende Mai 1946 zwar landesweit knapp Prozent, aber eben nicht die Mehrheit der Stimmen auf sich hatten vereinigen können, setzten sie auf andere Mittel und Methoden, um ihre Machtbasis zu erweitern. Am 25. Februar 1948 warf Staatspräsident Eduard Beneš das Handtuch und stimmte unter dem Druck eines Generalstreiks, von Massendemonstrationen und anderen Aktionen einer Regierung der Erneuerten Nationalen Front zu, die praktisch nur noch aus Kommunisten bestand.

Diese Ereignisse vor Augen, fiel in Washington, alsbald auch in London und selbst in Paris, die Entscheidung zur Gründung eines westdeutschen Teilstaates. Wie immer er aussehen würde, als ausgeschlossen galt jedenfalls eine Entwicklung wie in der Sowjetischen Besatzungszone, wo es schon im April 1947 zum zwangsweisen Zusammenschluss der Kommunistischen und der Sozialdemokratischen Partei zur SED, der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, gekommen war. Die Weichen für die westdeutsche Staatsgründung wurden in London gestellt, wo Vertreter des Brüsseler Paktes sowie der USA und Kanadas seit Februar 1948 über den Ausbau der Bizone berieten und am 7. Juni einen entsprechenden Beschluss in Form von Empfehlungen veröffentlichten. Daraus ergab sich für die elf Ministerpräsidenten der drei westlichen Besatzungszonen der Auftrag zur Ausarbeitung einer Verfassung nach vorgegebenen Kriterien. Nach vorbereitenden Maßnahmen machte sich am 1. September 1948 ein Parlamentarischer Rat an die Arbeit.

Gleichsam über Nacht war die Sowjetunion für den Westen an die Stelle des gefährlichsten Gegners gerückt, hatte Stalin die Funktion Hitlers übernommen. Einer, der das früh erkannte und auch kein Blatt vor den Mund nahm, war Winston S. Churchill, vormals Stalins Partner in der Anti-Hitler-Koalition und jetzt britischer Oppositionsführer. Das ließ ihn freier sprechen. Mitten durch Europa, so befand er schon Anfang März 1946 und benutzte dabei ein Bild, das Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels geprägt hatte, senke sich ein «Eiserner Vorhang», der den befreiten Teil des Kontinents von einer immer stärker dem «sowjetrussischen Einfluß» ausgesetzten Sphäre trenne.[7] In Deutschland verlief diese Linie zwischen dem sowjetisch kontrollierten Bereich und den von den drei Westmächten besetzten Zonen. Nirgends sonst in Europa oder an seinen Rändern prallten die Gegensätze so heftig aufeinander wie auf dem Territorium des vormaligen gemeinsamen Gegners.

Hier lagen die eigentlichen Ursprünge des Kalten Krieges. Welche der Siegermächte dafür die entscheidende Verantwortung zu tragen hatte, war auch eine Frage der Perspektive. Für Stalin war die Sache klar: Seine früheren Partner im Kampf gegen Hitler gingen gegen die Sowjetunion in Stellung. Darauf musste er reagieren, und er tat es umgehend. Die Gründung der Westunion quittierte er am 20. März 1948 mit der Abberufung des sowjetischen Vertreters im Alliierten Kontrollrat, also mit dem Boykott der gemeinsamen Verwaltung Deutschlands. Der Abschluss der Londoner Konferenz wurde schon am 16. Juni 1948 mit dem Auszug des sowjetischen Vertreters aus der Alliierten Kommandantur für Berlin beantwortet. Und auf die Nacht-und-Nebel-Aktion, mit der die drei Westmächte am 21. Juni in ihren Besatzungszonen eine Währungsreform über die Bühne gebracht hatten, reagierte Stalin zunächst mit einer entsprechenden Reform in seiner eigenen Zone sowie in ganz Berlin und dann mit einer totalen Blockade des Westteils der Stadt.

Sämtliche Land- und Wasserverbindungen in die westlichen Sektoren der ehemaligen Reichshauptstadt wurden gekappt. Es lag an den Westmächten, nachzugeben oder der Sowjetunion die Stirn zu bieten. Sie entschieden sich für Letzteres, und das konnte nur heißen: Die Bevölkerung West-Berlins musste aus der Luft versorgt werden. Tatsächlich flogen fortan täglich 900 Maschinen bis zu 13.000 Tonnen Nahrung, Brennstoffe und Medikamente in die geschundene Metropole. Diskrete Verhandlungen, unter anderem am Rande der Vereinten Nationen, zogen sich in die Länge. Erst als Stalin die Aussichtslosigkeit seiner Blockade eingesehen hatte, lenkte er ein. Am 12. Mai 1949 hob Moskau die Abriegelung auf – und die Westmächte hatten einen neuen Verbündeten.

Denn nicht nur rückten West-Berliner und Westdeutsche sowie Westalliierte auf Dauer eng zusammen, vielmehr half die Luftbrücke den Deutschen westlich der Elbe auch, sich relativ rasch mit dem Gedanken einer Teilstaatsgründung abzufinden, wenn auch unter dem Vorbehalt, ein Provisorium zu errichten. Das nämlich bestimmte die Verfassung, die deshalb bloß «Grundgesetz» genannt wurde. Nachdem sie am 24. Mai 1949 in Kraft getreten war, versammelte sich am 7. September der am 14. August gewählte Deutsche Bundestag zu seiner ersten Sitzung. Eine Woche später, am 15. September, wurde Konrad Adenauer durch die Abgeordneten des Parlaments mit einer Stimme Mehrheit, seiner eigenen, zum Bundeskanzler gewählt.

Selbstverständlich war das nicht, denn Adenauer zählte bereits 73 Jahre. Aber das musste, eine gute körperliche und geistige Konstitution vorausgesetzt, kein Nachteil sein. Der gebürtige Kölner brachte ja gewissermaßen die Lebenserfahrung des schließlich gescheiterten Deutschen Reiches ein. 1876 zur Welt gekommen, hatte er die Spielregeln der Politik noch in der Kaiserzeit kennengelernt. Denn die Anwaltskarriere, die Konrad Adenauer nach dem Studium der Rechtswissenschaften und der Tätigkeit als Gerichtsassessor bei der Kölner Staatsanwaltschaft 1903 zunächst eingeschlagen hatte, ging bald in eine politische Laufbahn über.

Seit 1908 war er für das katholische, schichtenübergreifende Zentrum Beigeordneter in Köln, seit 1917 Oberbürgermeister der Stadt. Das Kölner Amt brachte ihn immer wieder auch in direkte Berührung mit den auswärtigen Angelegenheiten des Deutschen Reiches, so als Präsident des Preußischen Staatsrates. Dieses Amt wiederum war zwar eher dekorativer Natur, führte ihn aber ins Zentrum der Macht, wo Adenauer auch als Kanzlerkandidat ins Gespräch kam. Kurz nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten wurde er als Oberbürgermeister abgesetzt, musste sich seither wiederholt verstecken, wurde mehrfach festgenommen und saß schließlich nach dem gescheiterten Staatsstreich des 20. Juli bis November 1944 in Gestapo-Haft.

Nach dem Krieg und anfänglicher Zurückhaltung schloss sich Adenauer der neu gegründeten CDU an, der überkonfessionellen Christlich-Demokratischen Union, wurde schon im Januar 1946 zum Vorsitzenden der Partei in der britischen Zone, später dann zu ihrem ersten Bundesvorsitzenden gewählt. Dass die junge Republik ihre Zelte provisorisch am Rhein aufschlug und die Provinzstadt Bonn zu ihrer Hauptstadt erkor, ging wesentlich auf den ersten Kanzler zurück. Rheinischer Herkunft und katholisch, insoweit antipreußisch, war Konrad Adenauer der typische und zugleich ideale Repräsentant des neuen Teilstaates. Lag einst das Zentrum des Reiches zwischen Elbe und Weichsel, so befand sich das der neuen Republik zwischen Elbe und Rhein. War der Blick von Berlin aus gerne nach Osten, nach Russland oder auch nach Polen, geschweift, so blickte man von Rhöndorf beziehungsweise von Bonn aus seit jeher nach Westen. Die Nachbarschaft Frankreichs und die wiederholte Besetzung durch die Franzosen hatten hier ihre Spuren hinterlassen, aber auch dazu beigetragen, dass gerade die Rheinländer wussten, wie wichtig eine Verständigung mit Frankreich war.

Denn gerade an diesem Nachbarn führte kein Weg vorbei, wenn man die mit der Staatsgründung ins Auge gefassten Ziele erreichen wollte. Und unter diesen war, von der Garantie der äußeren Sicherheit einmal abgesehen, die Integration in die westliche Staatengemeinschaft das wichtigste. Dafür sprach nicht nur der gerade bei Adenauer sehr ausgeprägte Vorsatz, die Deutschen von einem neuerlichen politischen Irrweg abzuhalten, sie also vor sich selbst zu schützen. Vielmehr war der Kanzler wie die Mehrzahl der Deutschen überzeugt, dass die Bundesrepublik fest in den westlichen Kulturkreis eingebunden werden müsse, weil Deutschland, erst recht der westlichste seiner drei Teile, in ihm historisch beheimatet sei. Diese Auffassung gewann umso mehr an Boden, je deutlicher sich im Zuge des Kalten Krieges der west-östliche Gegensatz ausbildete.

Schließlich aber sollte die Verankerung in der westlichen Staatengemeinschaft jedem Verdacht vorbeugen, dass die Bundesrepublik eine «Schaukelpolitik» zwischen West und Ost treiben, also gewissermaßen an die Außenpolitik der Weimarer Republik anknüpfen wolle. Insbesondere während der zwanziger Jahre war diese versucht gewesen, durch Annäherung an die isolierte Sowjetunion einen gewissen Druck auf die westlichen Nachbarn der Berliner Republik auszuüben. In den Reihen der Westmächte, an deren Seite die Bonner Republik jetzt Schritt für Schritt rückte, war dieses Changieren noch deutlich in Erinnerung. Das stellte man in Bonn schon bei den ersten politischen Gehversuchen in Rechnung, und es ist bemerkenswert, wie sorgfältig die deutsche Außenpolitik bis zum Ende des Kalten Krieges darauf bedacht gewesen ist, alles zu unterlassen, was diesem Misstrauen hätte Nahrung geben können.

Selbstverständlich verbanden die Politiker der ersten Nachkriegsgeneration mit ihrem Angebot und ihrer Zustimmung zu einer weitestgehenden Integration der Bundesrepublik in die westliche Staatengemeinschaft auch Erwartungen. Allen voran die Erlangung politischer Gleichberechtigung für den jungen Staat und eine Garantie seiner äußeren Sicherheit. Das klang vermessen, aber die äußeren Umstände änderten sich seit Kriegsende in einer Weise und mit einer Geschwindigkeit, welche die westlichen Siegermächte nur wenige Jahre nach der Katastrophe zum Umdenken und zum Eingehen auf deutsche Wünsche und Forderungen zwangen. Wie nach dem Ende des Ersten Weltkrieges war die sowjetische Herausforderung auch jetzt der eigentliche Anstoß: Die Deutschen wurden zunehmend gebraucht – als Partner und Verbündete. Darin lagen Chancen. Man musste sie erkennen, und man musste sie nutzen.

Aber natürlich stellten sich auch Fragen, kamen Zweifel auf: Kollidierte die feste Verankerung des Teilstaates im Westen nicht mit dem Gebot der Wiedervereinigung Deutschlands, dem obersten Ziel deutscher Politik seit 1949? Würden die Sowjets nicht jedes Interesse an einer Wiedervereinigung, so sie es denn ernsthaft hegten, verlieren, wenn sie davon ausgehen mussten, dass ein vereintes Deutschland seine weltpolitische Heimat im gegnerischen Lager finden würde? Spätestens am 7. Oktober 1949 hatten auch die Optimisten zur Kenntnis zu nehmen, dass die staatliche Teilung im Grunde schon mit der Geburtsurkunde der Bonner Republik besiegelt worden war.

Das begann sich abzuzeichnen, als am 21. April 1946 im der SBZ, der Sowjetischen Besatzungszone in Deutschland, die Kommunistische und die Sozialdemokratische Partei zwangsweise zur SED, der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, zusammengeschlossen wurden. Obgleich die SED bei den Kreis- und Landtagswahlen im Herbst des Jahres unter dem Strich keine Mehrheit zusammenbrachte und in «Groß-Berlin», wo die Sozialdemokraten noch antreten konnten, durch diese klar deklassiert wurden, ließ sie an ihrem Führungsanspruch nicht mehr rütteln. Gegen ihren durch den Kreml gestützten totalitären Drang zur Macht hatten auch Christdemokraten oder Liberale keine Chance. Wie der Weg auszusehen und wo er zu enden hatte, erfuhren die führenden Repräsentanten der SED – Otto Grotewohl, Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht – am 18. Dezember 1948 und am 27. September 1949 durch Josef Stalin in Moskau.