Eric-Emmanuel Schmitt
Vom Sumo, der nicht dick werden konnte
Erzählung
Aus dem Französischen von Klaus Laabs
Fischer e-books
Eric-Emmanuel Schmitt, 1960 in St.-Foy-les Lyons geboren, ließ sich als Pianist in Lyon ausbilden und studierte Philosophie in Paris. Als Romancier, Dramatiker und Autor für Film und Fernsehen lebt er heute in Brüssel. In Frankreich gehört er zu den bedeutendsten Theaterautoren seiner Generation und hat auch international Erfolg. Für »Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran« ( Fischer Taschenbuch Bd. 16117) wurde er mit dem Deutschen Bücherpreis 2004 in der Kategorie »Publikumsliebling des Jahres« ausgezeichnet. Und ebenfalls im Jahr 2004 mit dem Quadriga- Preis.
Covergestaltung: bürosüd°, München
Coverabbildung: Marcelino Truong
Die französische Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel ›Le sumo qui ne pouvait pas grossir‹
bei Editions Albin Michel, Paris
© 2009 Albin Michel, S.A., Paris
© 2009 Ammann Verlag & Co., Zürich
Alle Rechte
S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-401369-5
Als ich noch mager war, lang und flach, rief mir Shomintsu im Vorübergehen zu:
»Ich sehe schon, wie groß und stark du mal wirst.«
Unglaublich! Von vorn sah ich aus wie ein am Streichholz gedörrter Hering, von der Seite … von der Seite konnte man mich gar nicht sehen, ich war nicht drei-, sondern nur zweidimensional, wie eine Zeichnung, mir fehlte jedes Relief.
In den ersten Tagen hatte ich noch nichts darauf erwidert, weil ich mir selbst mißtraue: Es passiert mir oft, daß ich denke, die Leute würden mich mit Worten, Grimassen oder Gesten beleidigen, bis ich dann meinen Irrtum bemerke. Entweder habe ich etwas falsch gedeutet oder verzerrt wahrgenommen, oder ich habe geträumt. Solche wiederholten Wahnvorstellungen nennt man, glaube ich, Paranoia, jawohl, außer meiner Allergie habe ich auch Paranoia.
»Jun, beruhige dich, du machst dich nur selber fertig«, redete ich im stillen auf mich ein. »Dieser alte Hinkefuß hat das bestimmt nicht gesagt.«
Als Shomintsu aber zum dritten Mal nahte – es versteht sich, daß ich die Ohren so weit aufgesperrt hatte wie eine Fledermaus –, ließ ich mir natürlich kein Wort entgehen, nicht eine Silbe. Ich hätte das leiseste Grummeln gehört, das dieser Weißgepuderte an mich richtete.
»Ich sehe schon, wie groß und stark du mal wirst.«
»Du kannst mich mal!«
Das hatte gesessen, da war ich mir sicher.
Shomintsu aber überhörte meine Antwort einfach: Mit einem Lächeln nahm er seinen Spaziergang wieder auf, als ob ich kein Wort gesagt hätte.
Am nächsten Morgen blieb er stehen und rief mit der inspirierten Miene dessen, dem die Worte just in diesem Augenblick zuflogen:
»Ich sehe schon, wie groß und stark du mal wirst.«
»Hast du Matsch in der Birne, oder was ist?«
Nichts zu machen, er hängte es mir immer wieder an! Wumms, jeden Tag ging’s von vorne los.
»Ich sehe schon, wie groß und stark du mal wirst.«
»Paß auf, was du sagst!«
Von nun an erwiderte ich jeden Morgen, je nachdem, wie wütend ich war, alles mögliche: »Setz dir eine Brille auf, Opa, damit du nicht gegen die Wand läufst!«, »Man hat schon für weniger Leute in die Klapsmühle gesperrt!« oder »Reg mich lieber nicht auf, sonst verlierst du noch deine letzten drei Zähne.«
Unerschütterlich schluckte er seine Spucke runter und setzte seinen Weg fort, vergnügt, friedvoll und unempfänglich für das, was ich ihm an den Kopf geworfen hatte. Eine Schildkröte. Ich hatte den Eindruck, mich dreißig Sekunden lang mit einer Schildkröte unterhalten zu haben, so runzlig war sein Gesicht, grünlich braun, ohne ein Härchen, mit zwei winzigen Äuglein, über die sich uralte Lider schlossen. Jawohl, eine Schildkröte, deren vertrockneter Hals sich mit schwerem Schädel herabsenkte und im knochenharten Panzer des makellosen, frisch gestärkten Anzugs verschwand. Ich fragte mich irgendwann, welche Krankheit schuld an seinem unveränderlichen Verhalten sein könnte. War er blind oder taub, schwachsinnig oder einfach nur feige? Bei der Frage, was ihm fehlte, hatte man nur die Qual der Wahl.
Ihr werdet mir sagen, um ihn loszuwerden, hätte ich bloß nicht mehr an der Straßenecke aufzukreuzen brauchen; nur, ich hatte gar keine andere Wahl. Wenn man fünfzehn ist, muß man sehen, wie man sich über Wasser hält. Vor allem, wenn man auf sich allein gestellt ist. Hätte ich mich nicht an die Ecke der Scharlach-Straße gestellt – strategisch günstig zwischen U-Bahn-Ausgang und Bushaltestelle, vor dem rosaroten Backsteinhaus, in dem die bescheuertsten Fotoromane Japans veröffentlicht wurden –, dann hätte ich keine Chance auf genügend Kundschaft gehabt, der ich meine Ware andrehen konnte.
Ehrlich gesagt, wurde ich gerade wegen dem kompletten Schwachsinn, den er erzählte, neugierig auf Shomintsu. Das war mir allemal lieber als das Gedöns der Gutmenschen, die mich den lieben langen Tag mit Fragen löcherten wie: »Warum bist du in deinem Alter nicht in der Schule?«, »Weiß deine Familie, daß du hier bist?«, »Hast du keine Eltern, die sich um dich kümmern? Sind sie tot?« So viele sinnvolle und präzise Fragen, auf die ich nie eine Antwort gab.
Ach ja, manchmal kam da noch eine andere Frage: »Schämst du dich nicht, so einen Dreck zu verkaufen?« Für diesen Fall hielt ich eine Antwort parat: »Nein, ich würde mich schämen, ihn zu kaufen.« Nur daß ich diese Antwort nie eingesetzt habe; schließlich konnte ich es nicht riskieren, einen Käufer zu verprellen.
Mit einem Wort, dieser Shomintsu, der zu sehen meinte, wie groß und stark ich mal würde, besaß den Vorzug, daß er auch bereit war, sich gegen den Strom zu stellen, und nicht nur nachplapperte, was die anderen sagten. In diesem Tokio, wo alle Leute in dieselbe Richtung unterwegs waren und wo sich alle wie zum Verwechseln ähnlich sahen, war er irgendwie anders. Nicht, daß er mir dadurch sympathisch geworden wäre, keineswegs, mir war überhaupt niemand sympathisch, aber es machte ihn mir etwas weniger unsympathisch.
Weil, eins muß ich euch noch mal klar sagen: Ich litt seinerzeit unter Allergie. Ich vertrug die ganze Welt nicht mehr, mich eingeschlossen. Ein hochinteressanter Fall für die Medizin, wenn sie sich denn für mich interessiert hätte: Ich hatte eine universelle Allergie. Nichts konnte mich locken, alles war mir zuwider, so sehr, daß ich mich aus Ekel vor dem Leben am ganzen Körper kratzen mußte. Das Atmen zerrte unerträglich an meinen Nerven, und wenn ich mich umschaute, wollte ich mir am liebsten an einer Mauer den Schädel einschlagen. Allein vom Beobachten der Leute wurde mir speiübel. Ich bekam die Krätze, wenn ich ein Gespräch von ihnen mithörte, und Pickel, wenn sie mir mit ihrer Häßlichkeit zu nahe traten. Ihre Gegenwart schnürte mir die Luft ab, und wenn sie mich angerührt hätten, nein, ich durfte gar nicht daran denken, ich wäre vermutlich ohnmächtig geworden. Mit einem Wort, die Krankheit bestimmte mein ganzes Leben: Schule ade, ich hatte keine Freunde und betrieb ohne große Worte meinen Handel. Ich ernährte mich von Fertigprodukten, von Konserven und Tütensuppen, die ich irgendwo allein in mich hineinlöffelte, eingeklemmt zwischen den Brettern einer Baustelle. Spätabends dann legte ich mich an menschenverlassenen, oft übelriechenden Orten aufs Ohr, so sehr verlangte es mich danach, allein zu schlafen.
Sogar das Denken bereitete mir Schmerzen. Sich den Kopf zerbrechen? Unnütz. Mich erinnern? Lieber nicht. Sich über etwas im voraus Gedanken machen? Auch das lieber nicht. Ich hatte mich von der Vergangenheit wie von der Zukunft abgeschnitten. Oder wenigstens versuchte ich es. Mein Gedächtnis einzumotten war nicht das Problem, es quietschte ja eh nur so von bösen Erinnerungen, schwieriger war es, auf die schönen Träume zu verzichten. Und dennoch verbot ich sie mir. Schließlich wußte ich, daß beim Aufwachen immer der Hammer kam, wenn klar wurde, daß sie niemals in Erfüllung gehen konnten.
»Ich sehe schon, wie groß und stark du mal wirst.«
Was war in mich gefahren an diesem Montag? Ich antwortete nicht. Ich ließ meinen Kopf so tief in einen Kübel voll düsterer Gedanken hängen, daß ich Shomintsu nicht bemerkt hatte, der stehengeblieben war, mich angesehen und seinen Satz gesagt hatte.
Noch einmal sagte er laut:
»Ich sehe schon, wie groß und stark du mal wirst.«
Ich hob den Blick und sah ihn an. Er bemerkte, daß ich ihn gehört hatte, und legte nach:
»Du glaubst mir nicht, wenn ich dir sage, wie groß und stark du mal wirst?«
»Hör mir mal gut zu, Schildkröte, ich scheiße auf dein Gebabbel! Ich will mit niemandem reden, das macht mich müde! Kapiert?«
»Wieso denn?«
»Ich habe eine Allergie.«
»Eine Allergie wogegen?«
»Eine universelle Allergie.«
»Seit wann?«