Christoph Martin Wieland
Das große Lesebuch
Herausgegeben von Sascha Michel
Fischer e-books
Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur.
Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.
Originalausgabe
Covergestaltung: bilekjaeger, Stuttgart
Abbildung: J.W. von Goethe,»Portrait Christioph Martin Wieland«, 1790/picture-alliance/akg-images
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
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ISBN 978-3-10-401871-3
Dies leidet einige Ausnahmen, ich weiß es wohl; aber in den meisten Fällen bleibt es doch bei der Regel.
»Wenn eine Regierung weise genug ist, mit der Verfeinerung der Sitten und der Aufklärung der Menschen Schritt zu halten, dann bietet sie selbst der wohlthätigsten Revoluzion die Hand. Alles gewinnt dann eine bessere Gestalt; alles verändert sich nach und nach; alles geschieht ohne Blutvergießen, ohne Gewaltthätigkeit,« u.s.w. – sagt ein sehr verständiger Däne in seinen patriotischen Gedanken über stehende Heere, politisches Gleichgewicht und Staatsrevoluzionen; einem kleinen Büchlein, das manchem seyn sollenden Staatsmann en place, wenn er es allzu hastig hinunter schlänge, vielleicht (gleich jenem in der Apokalypse) gewaltiges Bauchgrimmen verursachen dürfte, aber, wenn es wohl verdaut und in Saft und Blut verwandelt würde, unfehlbar sehr heilsame Wirkung thun müßte.
Aus drey hundert acht und vierzig […] geistlichen und weltlichen Fürsten, Prälaten, Grafen, Dynasten und Reichsstädten die unmittelbare Ritterschaft und die freyen Reichsdörfer nicht gerechnet.
Was hiergegen einzuwenden ist weiß ich so gut als ein anderer: nur behaupte ich was uns helfen könne, sey eine (höchst nöthige) Reformazion unsrer Verfassung, nicht eine sinnlose Umkehrung und Zerstörung derselben.
Er nimmt wie Wachs des Bösen Eindruck an,
Weist guten Rath und Warnung trotzig ab,
Denkt immer an das nützlichste zuletzt,
Verstreut sein Geld wie Sand, ist stolz und rasch.
Dieß möchte vielleicht Ausnahmen zu leiden scheinen; aber ich zweifle, ob sie bey schärferer Prüfung als solche bestehen würden. Luther, den man zum Beyspiele anziehen könnte, kam (wie bekannt) ohne seine Schuld zu der Ehre ein Anführer zu werden; und überdieß war er noch nicht vermählt, dachte auch nicht daran es jemahls zu werden, als er sich (mit Erasmus von Rotterdam zu reden) beygehen ließ, dem Papst an seine dreyfache Krone und den Mönchen an ihre dicken Bäuche zu greifen.
Sleidanus.
Der geneigte Leser wird hier einen ziemlichen Anachromismus bemerken, der, zum Unglück, nicht der einzige in diesem Werke ist, und vielleicht einigen Zweifel gegen die Glaubwürdigkeit dieser ganzen Geschichte erwecke könnte, dessen Hinwegräumung wir den Criticis überlassen. Anmerk. des Herausg.
Wenn Herr Danischmend diese Frage seines kleinen Buben für eine von den spitzfindigen hält, so muß ihn die väterliche Liebe gewaltig verblenden. Es ist, mit seiner Erlaubniß, eine sehr dumme Frage. Denn hätte der Junge Acht gegeben warum es bey Tage hell ist, nemlich, daß es hell wird so bald die Sonne aufgeht, und so lange hell bleibt als die Sonne am Himmel ist, so hätte er sogleich schließen können, daß es dunkel werden muß wenn die Sonne weg ist: Der Bube sollte mein gewesen seyn; ich wollt’ ihn gelehrt haben Schlüsse machen!
Magister Duns.
Wenn Herr Duns sich bemühen wollte meinen siebenten Versuch mit Bedacht zu lesen, so würde er finden, daß der Junge, ohne die Logik gelernt zu haben, mehr Logik in seinem Hirnkasten hatte als er meint.
David Hume.
Und wenn ein Kind von vier Jahren mit einem hoch illuminierten Doktor von vierzig über solche Dinge in Wortwechsel kommt, so ist immer eine Schellenkappe gegen einen Doktorhut zu wetten daß das Kind Recht hat.
Tristram Shandy.
Christoph Martin Wieland ist der unbekannteste Klassiker der großen deutschen Literatur-Epoche um 1800. Tief im Schatten von Goethe und Schiller stehend, ist er von der Öffentlichkeit weitgehend vergessen worden. Eine begeisterte Wiederentdeckung wie bei Hölderlin oder Kleist scheint bei Wieland kaum vorstellbar. Selbst ein ähnlich vergessener Autor wie Jean Paul dürfte zumindest in Insider-Kreisen ein paar Anhänger mehr haben.
Die Gründe für dieses Verblassen von Wielands Ruhm liegen auf der Hand: Der Ironiker Wieland hat nie einen Roman wie den Werther geschrieben, mit dem sich vor allem die Jungen und Unglücklichen identifizieren konnten. Für deutschnationales Pathos ließ sich Wielands weltbürgerliches Temperament im 19. und 20. Jahrhundert nur schwer instrumentalisieren. Wer andererseits in der deutschen Literatur mit richtigen Außenseitern und Revolutionären sympathisieren wollte, wurde eher bei Hölderlin fündig als bei Wielands diplomatischen Plädoyers für eine konstitutionelle Monarchie. Und die transzendental Obdachlosen der Moderne fanden sich eher beim krisengeschüttelten Kleist wieder als bei der nüchternen Skepsis von Wielands Spätwerk.
Auch die Unstrittigkeit von Wielands literaturgeschichtlicher Bedeutung ändert nichts an diesem Befund: Ohne Zweifel etwa gilt Wieland als Begründer des modernen deutschen Romans. Wieland übersetzte als Erster die wichtigsten Shakespeare-Stücke ins Deutsche, womit er nicht nur den Anstoß zur Shakespeare-Begeisterung seiner Zeit gab, sondern auch den Wortschatz des Hochdeutschen bereicherte. Nicht zuletzt war der von ihm herausgegebene Teutsche Merkur eines der zentralen Organe der Aufklärung und die erste bedeutende Kulturzeitschrift in Deutschland überhaupt. Der Hinweis aber auf solche historischen Verdienste bleibt so lange bloß museal, wie Wielands Texte selber nicht gelesen, ihre sprachliche Eleganz und Lebendigkeit nicht wahrgenommen werden.
Einer, der nicht müde wurde, Wielands alles andere als museale Bedeutung für die Gegenwart zu betonen, war der Schriftsteller Arno Schmidt. Durch Wielands Schreibtisch, so Schmidt, müssten »wir Schriftsteller unsern ersten Meridian ziehen« (Schmidt 1958, S.275). Wieland – das war für Arno Schmidt vor allem der »jeder Metaphysik abhold[e]«, kritische Intellektuelle: nervös, »zappelig im Kaffeerausch«, »mit einem blitzartig arbeitenden Gehirn, dessen Gangliensystem ein Netz nicht von Einbahnstraßen sondern von Autobahnen war«. Zwar räumte Schmidt ein, dass man möglicherweise selbst ein Intellektueller sein müsse, um Wielands Anspielungsreichtum genießen zu können – womit im Grunde schon alles gesagt war über Wielands Chancenlosigkeit beim Publikum (ebd., S.264). Vielleicht aber ist es gerade dieser skeptische, dabei religiös durchaus nicht unmusikalische Intellektuelle, der heute mehr denn je gefragt sein könnte.
Wie kein anderer Autor seiner Zeit wusste Wieland um die »Kontingenz und Hinfälligkeit […] abschließende[r] Vokabulare« und war »nie ganz dazu in der Lage, sich selbst ernst zu nehmen« (Rorty 1993, S.128). Wieland also zeichnete sich bereits im 18. Jahrhundert durch das aus, was dem amerikanischen Philosophen Richard Rorty zufolge typisch für die liberalen Ironikerinnen der sogenannten Postmoderne ist. Nicht nur jeder Metaphysik, sondern überhaupt jedem Fundamentalismus abhold, setzte Wieland radikal auf die Offenheit des Dialogs: Jede noch so emphatisch vorgetragene Position wird bei Wieland nie so ganz die Anführungszeichen los, in denen sie steht; jede Rede provoziert Gegenrede; letzte Gewissheiten und Utopien, ob von Gläubigen oder politischen Revolutionären, stehen bei Wieland unter Ideologie-, genauer gesagt: unter Schwärmereiverdacht. Entsprechend aktuell erscheint Wieland deshalb gerade in einer Zeit, die »mit den Trümmern ihrer großen Erzählungen« fertig zu werden versucht (von Petersdorff 2001, S.55) und dabei entweder in lähmende Melancholie oder in neue Formen (mörderischer) Schwärmerei zu verfallen droht.
Abgesehen aber von solchen Aktualitätserwägungen, möchte das vorliegende Lesebuch auch einfach historisch in jenes faszinierende Textuniversum entführen, das man »Aufklärung« nennt. Schon die relative Zufälligkeit der alphabetisch angeordneten Stichwörter zeigt dabei an, dass ein so vielseitiger Schriftsteller wie Wieland weder auf einen bestimmten Begriff noch auf die Linie einer literaturgeschichtlichen Erzählung zu bringen ist.
Gerade Wielands Skepsis gegenüber dem demokratischen Experiment der Französischen Revolution zum Beispiel lässt ihn frühzeitig den Umschlag in neue Formen der Willkürherrschaft und bereits ein Jahr vor dem Staatsstreich des 18. Brumaire den Erfolg Napoleon Bonapartes erkennen [→ Buonaparte; Französische Revolution]. Als Aufklärer ist Wieland also immer auch ein großer Entzauberer, der utopischen Schwärmereien [→ Divinationskraft] grundsätzlich misstraut. Zugleich aber stehen in seinen Texten bezeichnenderweise immer wieder religiöse oder politische Schwärmer im Mittelpunkt, deren moralischer Glutkern bei aller notwendigen Entzauberung auch auf Wielands Texte ausstrahlt. Anführungszeichen und Rollenprosa hin oder her – wenn es etwa um die Idee eines völkerverbindenden Weltbürgertums geht, kann auch ein Autor wie Wieland erstaunlich schwärmerisch werden [→ Kosmopoliten; Sklaverey]. Ein Roman wie die Geschichte des Agathon arbeitet sich bis in die Form hinein an dem Konflikt zwischen Entzauberung und tugendhafter Schwärmerei in einer alles andere als tugendhaften Welt ab. Einen solchen Roman literaturgeschichtlich als ersten deutschen Entwicklungsroman zu feiern, verpasst deshalb genau genommen seinen gesamten Witz: So dominant im Text einerseits der Wunsch nach Harmonie und Happy End sein mag, so disharmonisch klingen andererseits all die Stimmen, die in ihm zur Sprache kommen, und so unzuverlässig erscheint vor allem die immer wieder beschworene Teleologie der Geschichte, die eigentlich für eine ordentliche Entwicklung des Titelhelden sorgen soll [→ Entwicklung; Roman; Zufall].
Wie unruhig und ambivalent Wielands Texte sind, zeigt unter anderem auch die Kritik an der christlichen Religion in Agathodämon [→ Christianer] oder die unterschwellige Sympathie für einen Sophisten wie Hippias im Agathon [→ Verschiedenheit der Begriffe]. Die poetologische Entsprechung dieser Ambivalenz, Wielands Spiel mit Herausgeberfiktion und Dialog, kann im Rahmen dieses Lesebuches leider nur unzureichend dargestellt werden. Dennoch sollte deutlich werden, wie die beeindruckende Stimmenvielfalt seiner Texte für das oben genannte Kontingenzbewusstsein sorgt.
Was zu dieser Stimmenvielfalt wesentlich beiträgt, sind nicht zuletzt Wielands wunderbare Frauenfiguren. Wieland war im 18. Jahrhundert geradezu berüchtigt für seine spielerischen Imaginationen erotisch-sinnlicher Weiblichkeit [→ Liebe]. Frauen sind bei Wieland aber nicht nur raffinierte Verführerinnen, sondern immer wieder auch kluge und selbstbewusste Philosophinnen. Nicht zufällig rechnet zum Beispiel die Hetäre Lais mit Platons Idee der Unsterblichkeit der Seele ab [→ Hetären; Unsterblichkeit der Seele] und zeichnet sich damit durch das aus, was für die gesamte Epoche der Aufklärung charakteristisch ist: die Kritik des gesunden Menschenverstandes an spekulativer Schwärmerei [→ Ideen; Philosophen].
Da bei der Textauswahl für den vorliegenden Band ausschließlich literarische und publizistische Arbeiten herangezogen wurden, erfährt man wenig über Wielands Biographie. Die wichtigsten biographischen Informationen werden deshalb in den Daten zu Leben und Werk nachgereicht, die exklusiv von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT+KRITIK verfasst wurden. Wer mehr über Wielands Person, seine pietistische Herkunft etwa oder die gesellschaftliche Situation am Weimarer Hof, wissen möchte, dem sei vor allem der von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften herausgegebene Briefwechsel in zwanzig Bänden empfohlen. Eine Auswahl weiterführender Literatur befindet sich am Ende des vorliegenden Bandes.
Sascha Michel
Also I. »Was ist Aufklärung?«
Antwort: Das weiß jedermann, der vermittelst eines Paars sehender Augen erkennen gelernt hat, worin der Unterschied zwischen Hell und Dunkel, Licht und Finsternis besteht. Im Dunkeln sieht man entweder gar nichts oder wenigstens nicht so klar, daß man die Gegenstände recht erkennen und voneinander unterscheiden kann: sobald Licht gebracht wird, klären sich die Sachen auf, werden sichtbar und können voneinander unterschieden werden – doch wird dazu zweierlei notwendig erfodert: 1) daß Licht genug vorhanden sei, und 2) daß diejenige, welche dabei sehen sollen, weder blind noch gelbsüchtig seien, noch durch irgendeine andere Ursache verhindert werden, sehen zu können oder sehen zu wollen.
II. »Über welche Gegenstände kann und muß sich die Aufklärung ausbreiten?«
Drolligte Frage! Worüber, als über alle sichtbare Gegenstände? Das versteht sich doch wohl, dächte ich; Oder muß es dem Herrn noch bewiesen werden? Nun wohlan! Im Dunkeln (ein einziges löbliches und gemeinnütziges Geschäfte ausgenommen) bleibt für ehrliche Leute nichts zu tun als zu schlafen. Im Dunkeln sieht man nicht, wo man ist? noch wo man hingeht, noch was man tut, noch was um uns her, zumal in einiger Entfernung, passiert; man läuft Gefahr, bei jedem Schritte die Nase anzustoßen, bei jeder Bewegung etwas umzuwerfen, zu beschädigen oder anzurühren, was man nicht anrühren sollte, kurz, alle Augenblicke Mißgriffe und Mißtritte zu tun; so daß, wer seine gewöhnliche Geschäfte im Dunkeln treiben wollte, sie sehr übel treiben würde[1]. Die Anwendung ist kinderleicht. Das Licht des Geistes, wovon hier die Rede ist, ist die Erkenntnis des Wahren und Falschen, des Guten und Bösen. Hoffentlich wird jedermann zugeben, daß es ohne diese Erkenntnis ebenso unmöglich ist, die Geschäfte des Geistes recht zu treiben, als es ohne materielles Licht möglich ist, materielle Geschäfte recht zu tun. Die Aufklärung, d.i. so viel Erkenntnis, als nötig ist, um das Wahre und Falsche immer und überall unterscheiden zu können, muß sich also über alle Gegenstände ohne Ausnahme ausbreiten, worüber sie sich ausbreiten kann, d.i. über alles dem äußern und innern Auge sichtbare. – Aber es gibt Leute, die in ihrem Werke gestört werden, sobald Licht kommt; es gibt Leute, die ihr Werk unmöglich anders als im Finstern, oder wenigstens in der Dämmerung, treiben können; – z.B., wer uns Schwarz für Weiß geben oder mit falscher Münze bezahlen oder Geister erscheinen lassen will; oder auch (was an sich etwas sehr Unschuldiges ist), wer gerne Grillen fängt, Luftschlösser baut und Reisen ins Schlaraffenland oder in die glücklichen Inseln macht, – der kann das natürlicherweise bei hellem Sonnenschein nicht so gut bewerkstelligen als bei Nacht oder Mondschein oder einem von ihm selbst zweckmäßig veranstalteten Helldunkel. Alle diese wackern Leute sind also natürliche Gegner der Aufklärung, und nun und nimmermehr werden sie sich überzeugen lassen, daß das Licht über alle Gegenstände verbreitet werden müsse, die dadurch sichtbar werden können; ihre Einstimmung zu erhalten ist also eine pure Unmöglichkeit; sie ist aber, zu gutem Glücke, auch nicht nötig.
III. »Wo sind die Grenzen der Aufklärung?«
Antwort: Wo, bei allem möglichen Lichte, nichts mehr zu sehen ist. Die Frage ist eigentlich von gleichem Schlage mit der: wo ist die Welt mit Brettern zugeschlagen? und die Antwort ist wirklich noch zu ernsthaft für eine solche Frage.
IV. »Durch welche sichere Mittel wird sie befördert?«
Das unfehlbarste Mittel zu machen, daß es heller wird, ist, das Licht zu vermehren, die dunkeln Körper, die ihm den Durchgang verwehren, soviel möglich, wegzuschaffen und besonders alle finstern Winkel und Höhlen sorgfältig zu beleuchten, in welcher das Nro. 2. erwähnte lichtscheue Völkchen sein Wesen treibt.
Alle Gegenstände unsrer Erkenntnis sind entweder geschehene Dinge oder Vorstellungen, Begriffe, Urteile und Meinungen. Geschehene Dinge werden aufgeklärt, wenn man bis zur Befriedigung eines jeden unparteiischen Forschers untersucht, ob und wie sie geschehen sind? Die Vorstellungen, Begriffe, Urteile und Meinungen der Menschen werden aufgeklärt, wenn das Wahre vom Falschen daran abgesondert, das Verwickelte entwickelt, das Zusammengesetzte in seine einfachem Bestandteile aufgelöst, das Einfache bis zu seinem Ursprung verfolgt und überhaupt keiner Vorstellung oder Behauptung, die jemals von Menschen für Wahrheit ausgegeben worden ist, ein Freibrief gegen die uneingeschränkteste Untersuchung gestattet wird. Es gibt kein anderes Mittel, die Masse der Irrtümer und schädlichen Täuschungen, die den menschlichen Verstand verfinstert, zu vermindern als dieses, und es kann kein anderes geben.
Die Rede kann also auch hier nicht von Sicherheit oder Unsicherheit sein. Niemand kann etwas dabei zu befürchten haben, wenn es heller in den Köpfen der Menschen wird – als diejenigen, deren Interesse es ist, daß es dunkel darin sei und bleibe; und auf die Sicherheit dieser letztern wird doch wohl bei Beantwortung der Frage keine Rücksicht genommen werden sollen? Wahrlich, wir können ihrentwegen ganz ruhig sein; sie werden schon selbst für ihre Sicherheit sorgen. Sie werden auch künftig, wie bisher, ihr möglichstes tun, alle Öffnungen, Fenster und Ritzen, wodurch Licht in die Welt kommen kann, zu verbauen, zu vernageln und zuzustopfen; werden nicht ermangeln, uns andern, die wir uns zu unserm und andrer Leute notdürftigem Gebrauch mit etwas Licht versehen, die Laternen zu zerschlagen, sobald sie die stärkern sind, und, wo sie das nicht sind, alle nur ersinnliche Mittel anwenden, die Aufklärung wenigstens in ein böses Geschrei zu bringen. Ich denke nicht gern Arges von meinem Nebenmenschen: aber ich muß gestehen, die Sicherheit der Aufklärungsmittel, die unserm Frager so sehr am Herzen liegt, könnte mir seine Lauterkeit wider Willen verdächtig machen. Sollte er etwa meinen, es gebe respektable Dinge, die keine Beleuchtung aushalten können? Nein, so übel wollen wir von seinem Verstande nicht denken! Aber er wird vielleicht sagen: »Es gebe Fälle, wo zuviel Licht schädlich sei, wo man es nur mit Behutsamkeit und stufenweise einfallen lassen dürfe.« Gut! nur kann dies mit der Aufklärung, die durch Unterscheidung des Wahren und Falschen bewirkt wird, in Teutschland wenigstens, der Fall nicht sein; denn so stockblind ist unsre Nation nicht, daß sie wie eine Person, die am schwarzen Star operiert worden ist, behandelt werden müsse. Es wäre Spott und Schande, wenn wir, nachdem wir schon dreihundert Jahre lang nach und nach einen gewissen Grad von Licht gewohnt worden sind, nicht endlich einmal imstande sein sollten, hellen Sonnenschein ertragen zu können. Es greift sich mit Händen, daß das bloße Ausflüchte der lieben Leute sind, die ihre eigenen Ursachen haben, warum es nicht hell um sie sein soll.
V. »Wer ist berechtigt, die Menschheit aufzuklären?«
Wer es kann! – »Aber wer kann es?« – Ich antworte mit einer Gegenfrage, wer kann es nicht? Nun mein Herr? da stehen wir und sehn einander an? Also, weil kein Orakel da ist, das in zweifelhaften Fällen den Ausspruch tun könnte (und wenn eines da wäre, was hälf’ es uns ohne ein zweites Orakel, das uns das erste erklärte?), und weil kein menschliches Tribunal berechtigt ist, sich einer Entscheidung anzumaßen, wodurch es von seiner Willkür abhinge, uns so viel oder wenig Licht zukommen zu lassen, als ihm beliebte: so wird es wohl dabei bleiben müssen, daß jedermann – von Sokrates oder Kant bis zum obskursten aller übernatürlich erleuchteten Schneider und Schuster, ohne Ausnahme, berechtigt ist, die Menschheit aufzuklären, wie er kann, sobald ihn sein guter oder böser Geist dazu treibt. Man mag die Sache betrachten, von welcher Seite man will, so wird sich finden, daß die menschliche Gesellschaft bei dieser Freiheit unendlichmal weniger gefährdet ist, als wenn die Beleuchtung der Köpfe und des Tuns und Lassens der Menschen als Monopol oder ausschließliche Innungssache behandelt wird. Nur wollte ich allenfalls raten, ne quid Res publica detrimenti capiat – eine höchst unschuldige Einschränkung dabei zu verfügen; und diese wäre: das sehr weise Strafgesetz der alten Kaiser des ersten und zweiten Jahrhunderts gegen die heimlichen Konventikel und geheimen Verbrüderungen zu erneuern, und demzufolge allen, die nicht berufen sind, auf Kanzeln und Kathedern zu lehren, kein anderes Mittel zur beliebigen Aufklärung der Menschheit zu gestatten als die Buchdruckerpresse. Ein Narr, der in einem Konventikel Unsinn predigt, kann in der bürgerlichen Gesellschaft Unheil anrichten: ein Buch hingegen, was auch sein Inhalt sein mag, kann heutzutage keinen Schaden tun, der entweder der Rede wert wäre oder nicht gar bald zehnfältig und hundertfältig durch andere vergütet würde.
VI. An welchen Folgen erkennt man die Wahrheit der Aufklärung?
Antwort: Wenn es im ganzen heller wird; wenn die Anzahl der denkenden, forschenden, lichtbegierigen Leute überhaupt, und besonders in der Klasse von Menschen, die bei der Nichtaufklärung am meisten zu gewinnen hat, immer größer, die Masse der Vorurteile und Wahnbegriffe zusehends immer kleiner wird; wenn die Scham vor Unwissenheit und Unvernunft, die Begierde nach nützlichen und edeln Kenntnissen und besonders, wenn der Respekt vor der menschlichen Natur und ihren Rechten unter allen Ständen unvermerkt zunimmt; und (was ganz gewiß eines der unzweideutigsten Kennzeichen ist), wenn alle Messen einige Frachtwagen voll Broschüren gegen die Aufklärung in Leipzig ein- und ausgeführt werden. Denn die figürlichen Nachtvögel sind, in diesem Punkte, gerade das Widerspiel der eigentlichen: diese werden erst bei Nacht laut; jene hingegen schreien am grellsten, wenn ihnen die Sonne in die Augen sticht.
Sagt, hab ich recht? Was dünkt euch von der Sache
Herr Nachbar mit dem langen Ohr?
Timalethes.
Ein paar Goldkörner aus –
Maculatur oder Sechs Antworten auf sechs Fragen.
In: Der Teutsche Merkur, April 1789, S. 97–105.
[…] Die vielgestaltigen und niemahls ruhenden Fakzionsgeister arbeiten dem guten Dämon der Nazion zu eifrig entgegen, als daß Sie auf das Bedürfniß der Ruhe, wie stark es auch von dem Volke gefühlt wird, so sicher rechnen dürften. Aber ich wüßte Ihnen einen Rath, und ich müßte mich sehr irren, oder es ist das einzige Mittel, Ihr Gemeinwesen, mitten unter seinen Siegen, Triumfen und Eroberungen, vor dem immer näher rückenden Untergange zu retten.
Wie Sie sprechen! Sie könnten einem, der leichter als ich zu schrecken wäre, angst und bange machen. Aber – weil doch auch der Rath eines Feindes nicht immer zu verachten ist, – Ihr einziges Rettungsmittel, wenn ich bitten darf?
Es ist – entsetzen Sie Sich nicht gar zu sehr! – es ist – weil Sie doch keinen König mehr wollen, und in der That auch, so lang’ es noch Bourbons giebt, keinen haben können – Ihre Konstituzion vom Jahre 1795, die nach dem ungeheuern Riß, den sie am achtzehnten Fruktidor bekommen hat, ohnehin nicht lange mehr halten kann, je eher je lieber selbst ins Feuer zu werfen, und – einen Diktator zu erwählen.
Einen Diktator?
Oder Lord Protektor, oder Protarchon, oder wie ihr ihn sonst nennen wollt. Der Nahme thut wenig zur Sache; wenn es nur ein Mann ist, dem ihr die unumschränkte Gewalt, welche das alte Rom, wenn es um Rettung der Republik zu thun war, einem ad hunc actum ernannten Diktator beylegte, mit Sicherheit anvertrauen könnt. Ich räsoniere so. Wenn ihr dem Königthum nicht einen so unauslöschlichen Haß geschworen hättet, und wieder einen König haben wolltet und könntet, so müßte es ein liebenswürdiger junger Mann, von großem hohem Geist, von den größten Talenten im Krieg und Frieden, von unermüdlicher Thätigkeit, von eben so viel Klugheit als Muth, von dem festesten Karakter, von reinen Sitten, einfach und prunklos in seiner Lebensart, immer Meister von sich selbst; ohne irgend eine Schwachheit wobey ein andrer ihn fassen könnte, zugleich offen und verschlossen, sanft und heftig, geschmeidig und hart, mild und unerbittlich, jedes zu seiner Zeit, kurz, ein Mann seyn, wie es in jedem Jahrhundert kaum Einen giebt, und dessen Genius alle andre in Respekt zu halten und zu überwältigen wüßte. Ein anderer als ein solcher könnte euch, in der außerordentlichen Lage, in welche die Revoluzion euch geworfen hat, nichts helfen. Da ihr nun keinen solchen König haben könnt, so müßt ihr einen Diktator suchen, der alle diese Eigenschaften in sich vereinige. Er darf aber, aus vielerley Rücksichten, kein eigentlicher Franzose, wenigstens von keiner alten und bekannten Familie seyn; und wenn er sogar einen ausländischen Nahmen hätte, so wäre es nur desto besser. Auch muß er eine Menge Proben abgelegt haben, daß er alle die Eigenschaften, die ich zu eurem Diktator nöthig finde, und von denen ich ihm keine nachlassen kann, wirklich besitze; und wenn er sich bereits einen großen Nahmen in der Welt gemacht hätte, und im Besitz der allgemeinen Achtung stände, so sehe ich nicht, was ihm noch abginge, um euer und der ganzen Welt Retter zu werden. Das Außerordentlichste bey der Sache ist, daß ihr diesen Mann nicht erst zu suchen braucht; denn, durch einen Glücksfall, den man wohl in seiner Art einzig nennen kann, ist er schon gefunden.
Buonaparte also?
Wer anders?
Und auf wie lange?
So lange als er es ausdauert. Ich besorge, ihr werdet ihn nur zu bald verlieren. Also je länger je besser.
Buonaparte Diktator der großen Nazion! Der Vorschlag hat etwas Einleuchtendes. Wir werden ihn in Überlegung nehmen.
Ich fordre alle eure Köpfe in beiden Senaten heraus, einen bessern zu thun.
Fast sollt’ ich es selbst glauben.
Die Sache mag einige Schwierigkeiten haben. Aber der Hauptpunkt ist doch, euch recht von den großen Vortheilen zu überzeugen, welche die Alleinherrschaft, zumahl eines solchen Mannes wie mein Diktator ist, vor einer jungen, unerfahrnen, launenvollen und zwischen so vielen Parteyen und Fakzionen hin und herschwankenden Demokratie hat, wenn es darauf ankommt, einen zu Grunde gerichteten und bereits in moralische Verwesung gehenden Staatskörper von dreyßig Millionen Gliedern wieder zu beleben und aufblühen zu machen.
Gespräche unter vier Augen (1798): SW, Bd. 31, S.86–91.
Unstreitig war ein so seltner und von dem herrschenden Egoism unsrer Zeit so stark abstechender Gemeingeist eine der wirksamsten Ursachen der so schnellen Vermehrung der Christianer. Wer wollte nicht in eine zahlreiche Gesellschaft zu treten wünschen, deren Glieder in jedem Fall auf die thätigste Unterstützung von allen übrigen rechnen dürfen? Es kommen aber noch verschiedene andere hinzu, wovon ich nur die hauptsächlichsten berühren will. Erstens: alle weichen, gutartigen, von der Ansteckung des herrschenden Verderbnisses frey gebliebenen, und zu einer gewissen herzerhebenden Schwärmerey geneigten Seelen, zumahl unter dem zärtern Geschlecht, sind, so zu sagen, als natürliche Kandidaten des Christenthums zu betrachten, und werden schon durch den bloßen Anblick der Liebe und Eintracht, der Gemüthsruhe, der guten Ordnung und Zucht, und der stillen unscheinbaren, aber beglückenden häuslichen Tugenden, die unter den Christianern herrschen, für diese guten Menschen, und folglich auch für den Glauben, der sie dazu macht, eingenommen und gewonnen. Zweytens: auf der andern Seite finden sich auch unter denen, die der Welt bis zum Überdruß genossen haben, oder die von ihr verlassen worden sind, so wie unter der Menge von großen Sündern, die von ihrem erwachten Gewissen schwer gedrückt und geängstiget werden, manche, denen das Asyl, das ihnen hier aufgethan wird, – die Hoffnung von allen ihren Sünden rein gewaschen und sogar in die Gemeine der Heiligen aufgenommen zu werden – um so willkommener ist, da die Eleusinischen und andere Mysterien, wo diese Bequemlichkeit sonst auch zu haben war, ihren Kredit immer mehr und mehr verlieren. Drittens: die Religion, die in gewissem Sinne der Menschheit überhaupt unentbehrlich ist, wird insonderheit für gewisse Gattungen von Menschen, in irgend einer Epoke des Lebens, ein dringendes Bedürfniß der Einbildungskraft und des Herzens. Aber dann ist ihnen auch mit einer Religion, die in bloßen religiösen Gebräuchen und Festivitäten besteht, und deren Ansehen sich bloß auf ein hohes Alterthum gründet, wenig gedient. Sie verlangen eine Religion, die in Geist und Herz eingreift, die auf beide wohlthätig wirkt, die dem Niedergeschlagenen aufhilft, den Betrübten tröstet, den Schwachen stärkt, den Leidenden erquickt. Wer sich in diesem Falle befindet, wird natürlicher Weise eine neue Religion, die alles dieß verspricht und hält, einer alten vorziehen, die nur noch ein leeres Fantom ohne Geist und Leben ist, und weder den Kopf noch das Herz befriediget.
Ich sagte dir vorhin, der erste Stifter des Christenthums scheine die Absicht nicht gehabt zu haben, der Urheber einer neuen Religion, in der gewöhnlichen Bedeutung dieses Wortes, zu seyn. Allein so bald sein Institut von den Juden zu den übrigen Völkern überging, mußte es nun gewisser Maßen für das besondere Bedürfniß der letztern eingerichtet werden, und, da es mit der alten Vielgötterey nicht wohl bestehen konnte, nothwendig die Gestalt einer neuen Religion annehmen, die an die Stelle der alten träte, und das alles wirklich leistete, was jene durch eitle Täuschungen vergebens zu bewirken gesucht hatte. Diese Nothwendigkeit scheinen die Vorsteher der Christianer immer mehr einzusehen, und ihre ganze Verfassung darnach einzurichten. Was im Geiste des ersten Stifters bloße reine Angelegenheit des Herzens war, gewinnt nun unvermerkt eine Form, in der ich bereits die ganze Anlage zu künftigen Tempeln und Altären, zu Priestern und Opfern, zu einem öffentlichen Gottesdienste, der unsern Griechischen und Römischen an Pracht, und zu einer Priesterherrschaft, welche die alte Jüdische an Furchtbarkeit hinter sich zurück lassen, ja sogar zu einer neuen Art von Mythologie und von Dämonism, unter welchem der Geist und das Wesen des ersten Instituts endlich erdrückt werden wird, erblicke. Schon jetzt haben die Christianer sich zu einer geheimen Gesellschaft, die ihre exoterische und esoterische Lehre hat, gebildet; schon jetzt haben sie ihre Mysterien, die kein profanes Auge entweihen darf; und indem sie von den unsern, als von Erfindungen der bösen Geister, mit Verachtung und Abscheu sprechen, finden ihre Vorsteher es doch (um dem Reiche Gottes desto mehr Unterthanen zu gewinnen) wohl gethan, die Formen und die Sprache des geheimen Gottesdienstes zu Eleusis auf die feierliche Begehung einer gewissen, von ihrem Meister kurz vor seinem Tode zu seinem Andenken gestifteten symbolischen Handlung, anzuwenden. »Sie allein sind im Besitz des wahren Lichts und des wahren Mittels die Seelen zu reinigen; auch sie haben ihre unaussprechlichen Worte; und was der Hierofant zu Eleusis seinen Eingeweihten betrüglicher Weise verspricht, ein frohes Gemüth im Leben, und Hoffnung eines bessern im Tode, davon können sie allein den ihrigen die vollständigste Gewißheit geben.« – Wie stolz und anmaßend auch diese Behauptungen der Christlichen Hierofanten klingen, so gründen sie sich auf das Bewußtseyn ihrer guten Sache, und es ist nicht zu läugnen, daß in dieser Rücksicht der Vortheil ganz auf ihrer Seite ist.
Zu allem diesem kommt noch eine Art von innerer Polizey, wodurch ihre Gemeinen, und (vermöge der engen Verbindung, worin sie mit einander stehen) das ganze Christianische Wesen als Ein Leib, der von Einem Geiste regiert wird, so zu sagen einen besondern Staat im Staate ausmachen, der entweder von diesem noch in Zeiten unterdrückt werden muß, oder ihn selbst zuletzt verschlingen wird. Die Diener ihrer Gemeinen sind in verschiedene Klassen abgetheilt, und die so genannten Aufseher haben sich, als Stellvertreter der Apostel, bereits eine Art von obrigkeitlichem Ansehen zu verschaffen gewußt, welches sich mit dem Wachsthum der Gemeinen natürlicher Weise immer weiter ausdehnen wird. Einen Glaubensgenossen, oder, nach ihrer Art zu reden, einen Bruder, vor die ordentliche Römische oder von Römern angeordnete Obrigkeit zu ziehen, ist eines der größten Verbrechen in ihren Augen. Ihre Vorsteher schlichten nicht nur alle unter ihnen über streitige Rechtsfragen, wiewohl selten vorfallende Händel, sondern üben auch ein sehr scharfes Censurund Strafamt über ihre Untergebenen aus; und da alle Verbrechen, die etwa in ihrem Mittel begangen werden, zu Vermeidung des Skandals (wie sie es nennen) mit der äußersten Sorgfalt verheimlicht und dem Auge des gesetzmäßigen Richters entzogen werden, so leuchtet die Unschuld und Unsträflichkeit der Christianer, in Vergleichung mit den Anhängern der alten Religion, welche noch die ungleich größere Mehrheit ausmachen, um so viel stärker hervor, erhält sich immer in ihrem alten Ruf, und erwirbt ihnen unter dem bessern Theile des Volks immer neue Anhänger.
Was dieser, auf möglichste Unabhängigkeit vom Staat abzweckenden, obgleich bis jetzt noch unschuldigen Verfassung die Krone aufsetzt, ist die Einrichtung, vermöge deren jede Gemeine, die nicht etwa ihrer Armuth oder zufälliger Umstände wegen selbst Unterstützung bedarf, eine mehr oder weniger reiche Gemein-Kasse besitzt, die mit der größten Gewissenhaftigkeit verwaltet, und zu allen Arten von Liebeswerken, (wie sie es nennen) zu Unterstützung armer Wittwen, Erziehung verlaßner Waisen, Verpflegung dürftiger oder zu Arbeit unvermögender alter Leute, kranker, gefangener, oder vertriebener Brüder und Schwestern, u. dergl. auch im Nothfall zu Handreichung an andre nothleidende Brüder-Gemeinen, verwendet wird. Da es nichts seltnes ist, daß begüterte Christianer (deren Anzahl immer zunimmt) ihr ganzes Vermögen, oder doch einen beträchtlichen Theil, diesem heiligen Gemeinschatz schenken, so ist leicht zu sehen, daß diese ökonomische Einrichtung für die Fortdauer und den immer steigenden Flor eines so wohl organisierten, höchst moralischen kleinen Staats in dem äußerst unmoralischen großen Staate mit der Zeit wichtig werden kann.
Dieß, lieber Hegesias, ist das Wesentlichste, was ich von dem Ursprung und der innern Verfassung der Christianer bisher zu erfahren Gelegenheit hatte. Wie viel auch zur Vollständigkeit daran fehlen mag, so ist es doch mehr als hinlänglich, dir zu zeigen, wie sehr sie sich von allen übrigen Menschen, die in ihrer Sprache verachtungsweise unter dem Nahmen Welt begriffen werden, unterscheiden. Denn du wirst aus meiner Erzählung bemerkt haben, daß sie für alles, was an ihnen karakteristisch ist, entweder neue Wörter oder neue Bedeutungen der alten erfunden, und sich überhaupt an eine Menge sonderbarer figürlicher Redensarten gewöhnt haben, welche zusammen genommen eine eigene Sprache ausmachen, die den Profanen ohne einen besondern Schlüssel unverständlich ist, und weit mehr, als man meinen sollte, zur Befestigung und Ausbreitung ihrer Sekte beyträgt. Und nun sage mir, was meinst du, was, bey so bewandten Sachen, aus diesen Leuten werden, oder (um mich in ihrer Manier auszudrücken) was dieser Baum für Früchte bringen wird?
Ich. Wenn du selbst, ehrwürdiger Apollonius, mir deine Meinung davon nicht bereits zu erkennen gegeben hättest, so würde ich sagen, daß ich wenig oder nichts von ihnen erwarte. Da sie im Lauf von sechzig Jahren, ohne es selbst zu merken, schon so weit von dem Pfade ihres ersten Führers abgekommen sind, wie weit werden sie sich erst in fünf oder sechs Generazionen von ihm verirret haben! Je zahlreicher die Sekte wird, desto mehr muß die Einfalt und Lauterkeit ihrer ersten Glieder abnehmen; je mehr ihr Institut an Form gewinnt, desto weniger wird es von dem Geiste des Urhebers übrig behalten. Formulare, Symbole und Gebräuche abgerechnet, werden ihre Nachkommen unvermerkt wieder werden wie andere Menschen, und in weniger als zwey hundert Jahren dürfte leicht von den ersten Christianern nichts als der Nahme übrig seyn. So, dünkt mich, bringt es die Natur der Sache, oder vielmehr die menschliche Natur mit sich, die über jedes ihr entgegen strebendes Institut mit der Zeit immer die Oberhand behält. Wenn also unsre Priester und Obrigkeiten nur so weise sind, von diesen guten frommen Schwärmern und ihren harmlosen theurgischen Mysterien keine Kenntniß zu nehmen, – was von der natürlichen Toleranz des Polytheism billig zu erwarten ist – so müßte, sollt’ ich denken, auch diese Schwärmerey das Schicksal aller übrigen haben, und man wird von den Christianern in vierzig bis funfzig Olympiaden nicht mehr reden hören, als von den Orfikern oder den ehemahligen Therapeuten in Ägypten, deren Institut mir (im Vorbeygehen zu sagen) dem Christianischen so ähnlich scheint, daß es ihm wohl gar zum Muster gedient haben könnte. Aber, wie gesagt, in diesem, wie in allem andern, wird dein Urtheil mir immer mehr gelten als mein eigenes.
Apollonius. Nicht so, Freund Hegesias! Die menschlichen Dinge können und sollen von mehr als Einer Seite betrachtet werden. Es ist, denke ich, viel Wahres in der Vorstellung, die du dir von der zunehmenden Abartung der Christianer machst; nur die Folgerung, die du daraus ziehst, scheint mir unrichtig zu seyn. Höre die Gründe, warum ich über diesen Punkt anders denke. Ohne Zweifel kam die Gleichgültigkeit des Polytheism gegen alle Arten von Religionen, die sich mit ihm vertragen, Anfangs den Christianern sehr zu Statten, und würde ihnen noch ferner zum Schirme dienen, wenn sie nicht die Obrigkeit durch ihren Ungehorsam gegen das Verbot geheimer Zusammenkünfte, und die Priester durch ihre Unduldsamkeit gegen den noch herrschenden Götterdienst, wider sich aufreitzten, und sich dadurch von Zeit zu Zeit wohl verdiente Bestrafungen zuzögen, die in ihrer Sprache Verfolgungen heißen, aber, im Ganzen genommen, bisher von geringer Bedeutung und noch geringerer Wirkung gewesen sind. Indessen ist nicht zu läugnen, daß gewöhnlich allenthalben, wo die kaiserlichen Befehlshaber und Beamten so klug und menschlich sind, durch die Finger zu sehen, und die Angeber vielmehr abzuschrecken als zu begünstigen, auch die Christianer an ihrem Theile sich ziemlich ruhig zu verhalten pflegen, und, nach dem weisen Rath ihres Meisters, Schlangenklugheit mit Taubeneinfalt zu paaren suchen. Auf der andern Seite ist mehr als wahrscheinlich, daß die Halcyonischen Tage, die das bevorstehende Jahrhundert unter der Regierung Trajans und seiner ersten Nachfolger zu erwarten hat, der Ausbreitung dieser neuen Religion (die aus den vorangeführten Ursachen nothwendig immer schneller und weiter um sich greifen muß) günstig seyn werden. Aber die Unbeständigkeit der menschlichen Dinge wird, in längerer oder kürzerer Frist, wieder Tyrannen, oder schwache, wollüstige und der Weltregierung nicht gewachsne Fürsten auf den Thron der Cäsarn setzen. Das ungeheure Römerreich nähert sich unvermerkt seinem Verfall, und muß zuletzt unter seiner eigenen Last zusammen stürzen. Glaubst du, daß die Christianer, die indessen zu mehrern Millionen angewachsen sind, müßige Zuschauer dabey abgeben werden? Ich glaub’ es nicht. Ihre Religion, die, je weiter sie sich von dem milden, humanen Enthusiasm des Stifters entfernt, desto mehr von dem ausschließlichen unduldsamen Fanatism des alten Judenthums in sich aufnimmt, wird ihnen dann zugleich das Ziel ihrer Bestrebungen zeigen, und die Mittel es zu erreichen in die Hand geben. Der Christ (so sagen sie schon jetzt) ist in die Welt gekommen, die Feinde Gottes, die bösen Geister, die sich von den bethörten Menschen auf dem ganzen Erdboden als Götter anbeten lassen, zu bekämpfen, ihre Werke zu zerstören, und das Reich Gottes und seines Gesandten auf den Trümmern des ihrigen zu errichten. Jeder, der sich zu ihm bekennt, ist ein Kämpfer in diesem heiligen Kriege. Glücklich, wer die Zeit des Triumfs erleben wird; noch glücklicher, wer sein Leben für die Sache Gottes aufopfert. Der Krieg, in den sie angeworben sind, ist ein Vertilgungskrieg, und muß sich also, da der Allmächtige auf ihrer Seite ist, oder vielmehr seine eigene Sache durch sie führt, nothwendig mit dem Untergang seiner Feinde endigen. Heißt dieß, in unsre Sprache übersetzt, etwas anders als: die Christianer dürfen und werden nicht eher ruhen, bis ihre Religion die allein herrschende ist, und den Polytheism gänzlich verschlungen hat? – Aber wie könnte dieß jemahls geschehen, so lange die Abgötter im Besitz der höchsten Gewalt im Staate bleiben, die Gesetze den Götzendienst und seine Priester mit ihrer ganzen Macht schützen, und der Kaiser selbst der oberste Priester Jupiters ist? – Die höchste Gewalt muß also über lang oder kurz, es koste was es wolle, in die Hände der Christianer gespielt werden, – und, glaube mir, Hegesias, so wenig es auch jetzt noch das Ansehen hat, daß sie mit so großen Dingen umgehen, dieß ist schon jetzt das wahre Geheimniß, das eigentliche unaussprechliche Wort ihrer Mystagogen, deren große Mehrheit, bey aller ihrer anscheinenden Demuth, und bey aller Verachtung der irdischen Dinge, mit welcher sie jetzt ihren Stolz befriedigen, die Zeit kaum erwarten kann, da der Triumf ihrer Partey sie in den Besitz des Ansehens, der Einkünfte und der reichen Tempelgüter unsrer Priester setzen wird. Diese Zeit wird kommen, Hegesias; ich sehe sie im Geist; ich glaube sogar einen Theil der Umstände, welche sie herbey führen werden, vorher zu sehen: und wenn ich mich auch hierin täuschte, in dem Haupterfolg kann ich mich nicht täuschen; dafür bürgt mir der mächtige Genius, der das Christenthum gegen seine Feinde und Freunde schützt, der es nie unterliegen lassen, sondern gerade dann, wenn es seinem Untergang am nächsten zu seyn scheint, gleich seinem Stifter wieder erwecken, und in reinerm Glanz als jemahls über die Menschheit, die es zu veredeln und zu beglücken bestimmt ist, aufgehen lassen wird.
Aber durch wie viele Veränderungen, Umwandlungen, Verbildungen und Entweihungen, durch welche Stürme, Gefahren, Erschütterungen und Katastrofen wird es gehen, bis es seine ganze Bestimmung erfüllt hat, wenn es anders in der unendlichen Folge der Zeiten einen solchen Punkt giebt! Von wie vielem Unheil und Jammer, von welchen Verbrechen und Gräueln wird es bald die Veranlassung, bald der Vorwand, bald der Deckmantel seyn! Wie oft wird der Kurzsichtige sein wohlthätiges Licht von der dicksten Finsterniß verschlungen sehen! Wie tief wird es oft unter sich selbst herunter gesunken zu seyn, und seinen großen Zweck gänzlich verfehlt zu haben scheinen!
Es war (wie du sehr richtig bemerkt hast) unmöglich, daß der ursprüngliche Geist des Christianism, indem er von Christus selbst in seine unmittelbaren Anhänger, von diesen in die ersten Gemeinen, und so immer weiter von den Juden zu den polytheistischen Völkern, und von der ersten Generazion zur zweyten und dritten überging, nicht unvermerkt von seiner Lauterkeit hätte verlieren sollen. Das Göttlichste wird menschlich, sobald es sich Menschen mittheilt; und die aufrichtigste Sinnesänderung kann einen verderbten Menschen nicht so gänzlich umschaffen, daß nicht eine Anlage zu neuer Verderbniß übrig bleibe. Es war leicht, zu einem neubekehrten Syrer, Asiaten, Griechen, Römer, Gallier u.s.w. und, unter allen diesen so verschiedenen Völkern, zu einem Sklaven, Freygelaßnen, oder Freygebornen von niedrigerm oder höherm Stande, schlechter oder besser erzogen, mehr oder weniger gebildet oder verbildet, mit mehr oder weniger natürlicher Anlage zu einer edlen Sinnesart, mit mehr oder minder hartnäckigen Vorurtheilen und bösen Gewohnheiten behaftet, – es war ein leichtes, zu allen diesen so ungleichartigen Menschen zu sagen: Seyd gesinnt wie Christus gesinnt war. Um gesinnt zu seyn wie Er, müßte man er selbst seyn. Wer es unternahm, seinen göttlichen Sinn, seine einfältig erhabene Theosofie, seinen Glauben, seine Liebe, seine reinen anspruchlosen Tugenden in solche Menschen zu verpflanzen, glich einem Gärtner, der die Früchte eines reichen Bodens und einer glühenden Sonne unter einem kalten Himmel in einem undankbaren Boden erziehen will: sie werden gar bald aus der Art schlagen, und, wo es auch am besten gelingt, doch nie zu der Güte und Vollkommenheit derjenigen gelangen, die in ihrem angebornen Klima reiften; sie werden diesen mehr oder weniger an Gestalt, Farbe, Geruch und Geschmack ähneln, aber an Geist und Kraft immer weit unter ihnen bleiben. – Doch dabey wollen wir uns, da es Natur der Sache ist, nicht länger aufhalten. Die Umgestaltung des primitiven Christenthums zu einer ausschließlich herrschenden Volks-und Staatsreligion wird noch besondere, zuvor unbekannte Übel theils herbey führen, theils zur Begleitung haben, die mir für eine Reihe künftiger Jahrhunderte eine traurige Aussicht geben. Das menschliche Geschlecht, zu dessen Befreyung Christus erschienen war, wird von seinen vorgeblichen Bevollmächtigten in neue Fesseln geschlagen werden. Statt des Lichts, das über die Welt aufgehen sollte, wird sich eine fast allgemeine langwierige Finsterniß über sie verbreiten, und statt der Humanität, zu welcher die ausgearteten Menschen gleichsam wiedergeboren werden sollten, werden sie in eine noch größere Barbarey und Verwilderung zurück fallen, als die, woraus unsre alten Gesetzgeber unsre Vorältern gezogen haben. Aber gegen alle diese Übel trägt das Christenthum auch Heilkräfte in seinem Schooße, die immer, so oft es Zeit seyn wird, ihre Wirkung thun, und das, was ich von der wohlthätigen Tendenz und unzerstörbaren Natur desselben gesagt habe, rechtfertigen werden.
Ich hätte Tage lang zu reden, wenn ich dir hierüber alles sagen wollte, was mich ein durch so lange Beobachtung der menschlichen Dinge geschärftes Divinazionsvermögen mit einer Art von Gewißheit voraus sehen läßt. Es sey also zur Probe an folgendem genug.
Ich sagte, Christus habe keine vollständige Vorschrift dessen, was seine Nachfolger für wahr anzunehmen hätten, kein eigentliches Glaubensformular hinterlassen. Alles war bey ihm praktisch, nichts Spekulazion: es kam darauf an, den Willen des Vaters, den er als bekannt voraussetzte, wirklich zu thun; Gott über alles, die Menschen als sich selbst zu lieben; nicht spitzfindige Untersuchungen über das Wesen Gottes und über den ersten Grund und die äußersten Grenzen des Rechts und der Pflicht anzustellen. Von diesem Wege haben die Christianer ziemlich bald angefangen sich zu entfernen, und ich höre, daß sie sich wegen Verschiedenheit der Meinungen über Dinge, worüber vernünftige Menschen gar keine Meinung haben, bereits in mehrere Sekten gespaltet haben, die einander wechselweise für irrgläubig erklären, und mit großer Bitterkeit verdammen und verfolgen. Einige von ihnen, die sich, weil sie von den übersinnlichen und göttlichen Dingen mehr als andre wissen wollen, Gnostiker nennen, haben bereits die Fragen, was Christus eigentlich sey? Wie und in wie fern er Gottes Sohn sey? Ob nur der erste unter den Erschaffnen, oder wirklicher Gott? u.s.w. auf eine Art zur Sprache gebracht, die leicht voraus sehen läßt, daß die Streitigkeiten und Spaltungen, welche sich über diese und eine Menge ähnlicher Fragen, wozu es ihnen an Stoff nicht fehlt, erheben werden, nicht eher aufhören können, bis eine große Staatsrevoluzion die höchste Gewalt in die Hände der Christianer gelegt, und eine der streitenden Parteyen es in ihre Macht bekommen haben wird, die übrigen mit Hülfe des weltlichen Arms zu unterdrücken. Je mehr Anhänger das Christenthum unter den substilen, von Alters her sofistischen und disputiersüchtigen Griechen gewinnt, desto mehr wird dieser vorwitzige Geist der Spekulazion über unbestimmbare und unbegreifliche Dinge, die Wuth Recht zu behalten, und die Anmaßung andere zu unsrer Meinung zu nöthigen, unter diesen Leuten überhand nehmen, so daß die Bruderliebe unter dem Gezänk über die Glaubenslehren oft sehr ins Gedränge kommen wird. Denn das schlimmste ist, daß sie – aus Verwirrung dessen, was ihr Stifter bey dem Worte Glauben dachte, mit dem Begriff, den sie damit verbinden – jeden Irrthum in Glaubenssachen für verdammlich, und die Beharrlichkeit bey einer Überzeugung, die ihnen irrig scheint, für ein sakrilegisches Verbrechen erklären, welches sie, sobald sie die Macht dazu haben, aufs strengste zu bestrafen nicht ermangeln werden. Das Unheil, das durch diese schwerlich jemahls beyzulegenden Fehden zwischen Rechtgläubigkeit und Irrgläubigkeit dereinst über die Christliche Welt kommen wird, ist unübersehbar. Je größer die Autorität ihrer Aufseher und Lehrer alsdann seyw wird, desto schrecklicher wird diese bisher nie gekannte Pest wüthen; und wenn dann noch vollends schwachsinnige oder tyrannische Fürsten auf den unglücklichen Einfall kommen sollten, sich in diese heillosen Händel zu mischen und Partey zu nehmen, so würde man nur zu oft, um einer spitzfindigen Distinkzion, oder um eines beiden Parteyen unverständlichen Wortes willen, Ströme Bluts fließen, und blühende Städte und Provinzen, von heiligen Bürgerkriegen verheert, Gott und seinem Christ zu Ehren in Einöden verwandelt sehen.