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Sabine Gruber

Die Zumutung

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

Zum Buch

Mariannes Körper arbeitet der Vergänglichkeit schneller entgegen, bestimmter als üblich, die Lebenszeit ist radikaler, vorhersehbarer begrenzt. Dennoch und eben deshalb hat sie Liebschaften, geht auf Feste, lernt Beppe kennen, der hartnäckig und unbeholfen um sie wirbt und ihre Liebe gewinnt, weil er so gut zuhört, er, der Übergewichtige, der ihren fremdgewordenen Körper besser kennt als der ferne Freund und eigentliche Gefährte Mariannes, Paul in Rom. Doch alle können nur zusehen, wie folgerichtig Gefühle, Gedanken und schließlich die Existenz zur Disposition stehen. Mariannes Körper stört jede Nähe, jede Lust, jeden Frieden, «es ist, als verlangte mein Körper Antworten, ohne vorher Fragen zu stellen».

Die Zumutung, Sabine Grubers zweiter Roman, verweist auf ein Ensemble von Antworten, die das Universum einer existentiellen Bedrohung ausmachen, in welchem sich die großen und kleinen Dinge neu formieren.

Ein schönes, poetisches und auch humorvolles Buch über die tiefe, gebrochene Liebe zum Leben.

Über die Autorin

Sabine Gruber wurde 1963 in Meran geboren. Sie studierte Germanistik, Geschichte und Politikwissenschaft in Innsbruck und Wien. 1988–1992 Universitätslektorin in Venedig. Sabine Gruber lebt in Wien. Sie erhielt u.a. den Förderungspreis der Stadt Wien, das Solitude-Stipendium, den Priessnitz-Preis und den Förderungspreis zum österreichischen Staatspreis sowie das Heinrich-Heine-Stipendium der Stadt Lüneburg.

Neben Erzählungen, Hörspielen und Theaterstücken veröffentlichte sie den Roman «Aushäusige» (1996), zuletzt den Lyrikband «Fang oder Schweigen» (2002).

Für
Robert Schindel und
Carmen Unterholzer

About suffering they were never wrong,
The Old Masters: how well they understood
Its human position; how it takes place
While someone else is eating or opening a window

or just walking dully along: …

Über Leiden waren sie niemals geteilter Meinung,
Die alten Meister: wie gut sie wußten,
Wie es für sich ist und einfach stattfindet,
Während irgendeiner ißt oder ein Fenster öffnet

oder gerade vorbeigeht; …
W. H. Auden, Músee des Beaux Arts

 

 

 

 

 

Man muß den Tod in ein Gespräch verwickeln, ihn ablenken. Er arbeitet weniger schnell, wenn man mit ihm spricht. Es müssen nicht Worte sein, er liebt auch Bilder von Schiffen, Delphinen und Seepferdchen. Manchmal genügt ihm die Farbe Schwarz, oder er riecht an weißen Lilien.

Da er eitel ist, bezieht er gerne alles auf sich: die konzentrischen Kreise auf dem Wasser, Trauerweiden, Mohnkapseln, Sensen und Sanduhren. Er erschien Adam in der Gestalt eines Bockes, Abraham als kranker Greis. Ich möchte nicht wissen, wie oft er sich verkleidet.

Wir haben ein Abkommen getroffen, das nur ich unterzeichnet habe: Solange ich mit ihm spreche, zeigt er Geduld. Eines Tages jedoch werde ich seiner Ungeduld nichts mehr entgegensetzen können, er wird seine Augen und Ohren jemand anderem schenken. Ich werde ausgedient haben.

Es ist nicht das erste Mal, daß er mich anherrscht, ich nach Worten ringe, mir überlege, wie ich ihn besänftigen kann. Ich habe ihn anfangs kaum bemerkt, obwohl wir uns schon begegnet sind, als ich noch ein Kind war; manchen nimmt er diese Unaufmerksamkeit übel, er revanchiert sich mit Schmerzen.

Ich habe keine; das, was mich erwartet, wird vielleicht Schmerz sein, aber jetzt fühle ich nichts. Ich habe nichts, was auf ein klar definierbares Übel verweist, nichts signalisiert, daß ich in Not bin; und dennoch ist es so, als verlange mein Körper Antworten, ohne vorher Fragen zu stellen.

Ich war nie schmerzblind, hatte Augen für meine aufgeschürften Knie nach einem Fahrradunfall, für den Schnitt in den Daumen, die roten Füße im kalten Bachwasser, die Kratzspuren am Oberarm nach dem Kampf um einen Ball – sie alle waren da und waren gleich wieder verschwunden.

Wie hätte ich den Tod wahrnehmen sollen; er war einer unter vielen und deswegen auch nicht zu sehen. Oder er war zu sehen, wie alle und alles zu sehen ist, und einige Male auch deutlicher.

Als ich vier war, starb mein Spielfreund an Leukämie. Ich verstand die Worte nicht, weder «Sterben» noch «Tod». Sie bedeuteten die Übersiedlung in den Himmel, den ich als feste Kuppel sah, als Aufenthaltsort der Engel. Diese waren schön, leicht und bunt und sehr geschäftig um die Weihnachtszeit. Ein wenig später verwandelten sie sich in barocke Putti oder Jünglinge in strahlenden Gewändern; sie waren Fürsten des Schnees oder des Feuers, Regenten der Sonne, Schutzengel, Todesengel, Heilengel und Sühneengel.

Mit vierzehn verlor ich meinen Schulfreund; er wurde von einem Lastwagen erdrückt. Der Tod verschloß mir den Mund. Er war farblos und kalt wie der Himmel an jenem Januartag. Oben und unten war Nichts, Himmel und Erde waren wieder urzeitliche Einheit, das Chaos in meinem Kopf, dem Ordnung und Farben abhanden kamen. Von den Engeln fehlte von nun an jede Spur. Sprach ich dennoch von ihnen, waren sie flügellos, bodenständig und großherzig.

Mein Tod – so viel glaube ich zu wissen – ist kein Fassadenkletterer, er arbeitet in meinem Inneren, damit es keiner merkt. Er arbeitet schon lange. Untertags überdeckten die Lebensgeräusche sein Pochen und Klopfen; erst mit den Jahren und Nächten wurde ich hellhörig. Er versteckt sich gerne im Schlaf oder macht sich den Zufall zum Komplizen.

Als ich fünfunddreißig war, holte er sich meinen besten Freund im ausgebrochenen Frieden, als wollte er sich nicht länger von ihm beschreiben lassen. Mein Lebensfreund war Journalist. Jetzt schreibe ich dem Tod hinterher. Jetzt rede ich. Er ist überall, pfuscht ins Handwerk, hämmert, mißt.

Ich bin eine seiner Baustellen. Um ihn zu beruhigen, gebe ich ihm Einblick in sein vollendetes Werk. Ich erzähle ihm von meinem Tod und überlebe ein wenig.

I

Als sie mich hinaustrugen, blickte ich in den wolligen Himmel; die großen Cumuli sahen aus wie walzenförmige Wolkenbänder, die auf ein veränderliches Wetter deuteten. Wenn sich die Trauergesellschaft nicht beeilte, würde sie noch in den Regen kommen – ein schönes Wassergemisch aus Himmel und aus Augen.

Ich verrutschte, weil die vorderen Träger kleiner waren als die hinteren, weil die Kiste auf den Schultern der Männer lag, wie es Brauch war. Und die kalten Zehen berührten das kalte Holz.

Als sie mich hinaustrugen, klammerte sich mein Vater an meine Mutter. Wie die Wolken drängten sich die Trauernden aneinander, Hände in Händen, Köpfe an Schultern, verschwanden im Dunkel der Stoffe.

Leo trat die Erde fest, als böte sie ihm zuwenig Halt; er trat von einem Fuß auf den anderen und wäre lieber gesprungen, stand da, wie eingepackt in einen Sack, aus dem nur die Schuhe ragten, lebendiges Getrippel. Zugeschnürt der Hals, so daß er endlich einmal zu schweigen verstand, gegen die Langatmigkeit der Pfarrersrede, gegen die Langatmigkeit seines Lebens. Er sah an allen vorbei in die Blumen: Wie heißen sie? Nie habe ich es gewußt. Nie habe ich es mir merken können.

Als sie mich ins Freie trugen, übersetzte Leo meine Gedanken in seine Sprache. Während er nach Worten suchte, stellte er sich vor, wie ich mich über ihn lustig machte. Diese letzte Übersetzung, sagte er sich, ist immer unrichtig, sie kennt keine Überprüfung, keine Wörterbücher. Es ist, als spräche man in einer nie mehr gesprochenen Sprache. Vielleicht ist das der einzige Trost. Man übersetzt aus dem Nichts und ist schon froh, wenn etwas in seine Nähe kommt.

Leo war bis zum Morgengrauen damit beschäftigt gewesen, Erinnerungen zu sortieren; die Jahreszahlen stifteten nur noch Verwirrung, weil der Anfang allein dastand, ihm keine Daten mehr folgten: Sie waren verbrannt in der Leidenschaft, verloren in Gedanken, zerflossen im Schmerz. Das Ende blieb zahllos, unbegreiflich; es fiel aus allen Laden.

Er konnte erst einschlafen, nachdem er sich an eine spätere Begegnung erinnert hatte. Ich saß im eisblauen dünnen Mantel auf dem Küchenstuhl. «Woran denkst du?» hatte er mich damals gefragt.

«An meine eigene Beerdigung.»

Wahrscheinlich, dachte Leo und drehte sich vorsichtig zur Bettmitte, habe ich gelacht. Ja, sie hatte mich mit ihrem augenverschlossenen Glucksen angesteckt.

Als sie mich aus der Totenkapelle vor die Kirche trugen, dicht hinter den Kränzen, sah ich: Sie haben an die weißen Lilien gedacht, an die duftenden Madonnenblumen mit den leicht zurückgebogenen Blütenblättern. Sie haben auch meinen Wunsch nach Feuerlilien respektiert. Ich sah keine Nelken. Ich sah Leos Blick in den Blumen, nach den Namen suchend.

Mein Vater war fassungslos. Die Augen meiner Mutter hatten sich in Striche verwandelt, als lachte sie. Sie versetzte sich eben in meine Kindheit zurück, abgedunkelt durch die niedergeschlagenen Lider, eilig, um zu sehen, was noch da war von den frühen Zeiten: eine verdrängte Geburt, die in diesem Augenblick ins Gedächtnis fiel, ein Bild und die dazugehörigen Schreie.

Erna war zu spät gekommen und stand hinter den Säulen; sie umfaßte ihren Mantel, zog den Kopf ein, so daß das Kinn bis zur Unterlippe hinter dem Kragen verschwand. Ihre Blicke ruhten auf Leos Hinterkopf. Wie ist der alt geworden. Sie stieß mit der Fußspitze gegen einen mit Efeu bewachsenen Naturstein, der ein Familiengrab einfaßte, dahinter verdeckten Zuckerhutfichten die Inschrift. Es ist immer zu früh, dachte sie und schluckte. Viel zu früh. Leos melierter Lockenkopf war unversehens im Menschenhaufen verschwunden.

Als ich im Freien lag, zog sich Vera hinter die Friedhofsmauer zurück und rauchte zwischen den geparkten Autos eine Zigarette. Das Ziffernblatt zeigte kurz nach zwei Uhr. Ungeduldig schüttelte sie das Stahlband Richtung Handrücken und betrachtete das Muster auf dem Unterarm. Bin ich dicker geworden? Sie dachte nicht an mich, sie dachte an Leos Ausbrüche, als er von meinem Tod erfahren hatte. Sie ließ es sich nicht nehmen, ihn zu begleiten, auch wenn diese Begleitung einem Kontrollgang glich. Am Morgen hatte Leo noch am Bettrand gesessen und in den Haaren gewühlt: «Ja, ich habe sie bis zuletzt», und Vera hatte sich zum Spiegel gedreht und wortlos eine Wutträne zerdrückt. Sie trug ein neues Kostüm mit dazu passender Tasche, beides hatte mehr gekostet, als Leo in zwei Monaten verdiente. Manchmal nannte er sie «Duse»; das Leben ging ständig über ihre Kräfte.

Es wäre vorbei, dachte ich und stellte mir Holztaler vor, der in seiner Großstadtwohnung nachdenklich vor einem Photo saß. Es zeigte mich lachend neben Leo. Von der früheren Holztalerin war nur das zusammengebundene Haar zu sehen, das sie ins Dekolleté hängen ließ; sie wurde schon damals geschnitten. Holztaler stand plötzlich auf, weil er sich, an seine eigene Endlichkeit erinnert, nicht mehr halten konnte. Wie ein Zootier lief er vor seinem Schreibtisch auf und ab und merkte plötzlich, daß er in Gedanken an seiner eigenen Beerdigungsrede schrieb.

Der Zug setzte sich in Bewegung und mit ihm Paul, der sich darauf konzentrierte, der Frau vor ihm nicht auf die Schuhe zu steigen. Das Beten der Dorfweiber machte ihn nervös, weil sich aus dem Gemurmel kein Wort herauslösen ließ. Das letzte Bild von mir, das er in seinem Kopf trug, versuchte er ständig gegen ein früheres einzutauschen. Es gelang ihm nicht. Er zog mir die Schuhe aus, glitt mit der flachen Hand über das Bein, riß am Reißverschluß des Kleides – jedesmal sah er einen fremden Kopf auf dem ihm vertrauten Körper. Das Parte-Photo überlagerte alle Erinnerungen, machte sie gesichtslos, nur die Dinge lebten. Vor zwei Jahren hatte er mit dem Messer das Eis des Kühlschranks zu entfernen versucht und dabei die Wand durchstochen. Laut zischend war das Freon ausgeströmt. Im selben Augenblick fiel ihm mein Fahrrad ein, dessen Vorderrad während einer Party gestohlen worden war. Er hatte es nach Hause getragen und das fehlende Teil am selben Morgen nachgekauft. Am Ende, dachte er, besteht das erinnerte Leben nur aus ein paar Mißgeschicken und leidenschaftlichen Episoden. Er hörte mich laut atmen, zog mich enger an sich heran, sah mich wieder und wieder abgebildet auf einem weißen kreuzlosen Blatt, das man ihm in einem schwarzumrandeten Kuvert sogar nach Rom geschickt hatte. Als die Musik einsetzte, «Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen», die er sich immer wieder hat anhören müssen, auch am Abend, als er den Kühlschrank beschädigt hatte, erfaßte die Trauer seinen Körper und schüttelte ihn, daß Leo, der hinter ihm zum Stehen gekommen war, weil die Betweiber pausierten, sachte auf seine Schulter klopfte. «Komm», sagte er, und Paul wußte nicht, wohin. Paul verschwand noch einmal mit seinem Gesicht in den Haaren meiner Scham, Paul drückte seinen kaum behaarten Kopf in meine Achselhöhle, er schob sich in mich, daß die Frauen vor ihm zu schimpfen begannen: «Können Sie nicht…», sich mit ihren dunklen Rücken gegen ihn stemmten, daß er aufwachte, die Augen trocknete, um in den flaumigen Himmel zu schauen.

«Schönes Wetter, nicht?» Mit diesem Satz zog mich einer, den ich nicht kannte, aus der Kiste. Die Träger konnten aufatmen; im alten Plattenspieler des Pfarrers hob sich sogleich die Nadel, ein letztes Krachen ging durch die Boxen und dann: Stille.

Die Betweiber liefen zurück in ihre Häuser und schwiegen. Auf dem Parte-Zettel stand ein anderer Name, silbern unter einem Kreuz, der mir nichts sagte. Ich fiel aus dem Himmel und landete mitten in einem Gartenfest, sah die weit geöffneten Augen der Gastgeberin, die vor einem Kind kniete und Holzklötzchen stapelte.

«Schönes Wetter, ja.» Es war diese Schwüle, die in der Stadt hängenbleibt, hineingedrückt in die Straßen und Plätze, die kein Luftzug auseinandertreibt, in der man den nackten Oberarm hebt, um sich scheinbar das Haar aus der Stirn zu streichen, in Wirklichkeit aber nur, um den Geruch unter der Achsel zu prüfen.

Ich roch nicht. Ich legte die Hand wieder auf das Knie und blickte dem Licht nach, das über die Terrasse wanderte. Der Hausangestellte drehte den Scheinwerfer Richtung Garten und stieg von der Leiter. «Guten Abend.» Innerlich summte ich: «Sehet – Wen? – Den Bräutigam. Sehet ihn – Wie? – Als wie ein Lamm», äußerlich war ich ein Mitglied der Terrassengesellschaft, nippte und nickte abwechselnd, daß mich keiner vermißte.

Der Dicke rührte sich nicht von der Stelle. «Kennen Sie den Mann oder die Frau?»

«Beide», sagte ich, obwohl es nicht stimmte. Jemand hielt einen Kalender vor die Kerzenflamme, als die Tür zur Terrasse ins Schloß fiel. Jemand küßte die Hand der Gastgeberin.

Ich dachte an Holztalers Schreibtisch, an die verglaste Oberfläche und an das Bild der neuen Holztalerin, das eingerahmt neben seinen Büchern stand. Jedesmal, wenn er mit ihr stritt, drehte er es um und starrte auf das Preisschild: ATS 180. So verband er diese Zahl mehr und mehr mit den Auseinandersetzungen, die sich zwischen ihm und seiner neuen Frau ergaben. Holztaler sagte nicht: «Wir haben dicke Luft», Holztaler flüsterte bedeutungsschwanger in den Hörer: «Wir sind wieder auf Hundertachtzig», und Leo lachte müde.

Es wird vorbei sein, und ich werde es nicht wissen. Vielleicht doch, vielleicht wird mir die Ahnung ein kleines Stück Wissen geben, das Vorauswissen, das niemandem gehört außer mir und meinen kälter werdenden Zehen. Holztaler, hoffte ich, würde höflich sein und eine Beileidskarte an Leo schicken.

Ich stand auf und entschuldigte mich. Auf dem Tisch neben dem Geländer lagerten Weißweinflaschen; keine war geöffnet. Ich sprang über die Treppen ins Grüne, wo weitere Tische aufgebaut waren. Beinahe wäre ich ausgerutscht. Wie konnte ich nur allein und zu früh auf dieses Gartenfest gehen. Die Gastgeberin verneigte sich vor einem elegant gekleideten Mann und lachte laut. Der Dicke gesellte sich dazu, machte eine Handbewegung in meine Richtung und sah ständig zu mir herüber. Im Grün waren noch gelbe Punkte erkennbar, obwohl längst Schatten war; der Löwenzahn blühte. Eine Schmeißfliege kroch durch ein Gläserspalier auf der weißen Tischdecke. Ich stülpte ein Glas über sie und überlegte, wo ich mich hinstellen könnte, damit niemand meine Unsicherheit bemerkte.

«Sie sind Marianne?» Der Mann hatte sich wieder genähert; er stand vor mir wie ein abgerichteter Hund, der mich durch den Abend begleiten sollte; und ich wurde rot. «Ich kenne Sie aus einem Restaurant, wo ich nachts öfter an der Bar stehe, um mich vor dem Nachhausegehen noch etwas müde zu trinken.»

«Ich bin nicht von hier», sagte ich, weil er mir nicht gefiel. Er hatte Holztalers Stimme, nur preßte sie Holztaler mit Kraft aus seinem mageren Leib, diese kam aus einem fettreichen Klangkörper und hatte etwas Weiches. Der Dicke sah aus wie Emil Gilels auf dem Cover meiner alten Brahms-Platte.

Ich ging zu einem frei gewordenen Tisch hinter der Linde. Er folgte mir.

«Marianne», hörte ich ihn sagen, «warum sind Sie hier? Brauchen Sie eine Galerie?»

Ich schätzte die Linde fünfzehn Meter hoch; sie sah aus wie eine Kreuzung aus einer Sommer- und einer Winterlinde.

«Wenn Sie eine Galerie brauchen, sind Sie hier am falschen Ort.»

«Lassen Sie mich in Ruhe.» Ich drehte ihm den Rücken zu, suchte nach etwas in meiner Handtasche.

«Marianne», sagte er mit Nachdruck, um meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, während ich mich über die Tasche gebeugt hatte, ganz Hand, ganz beschäftigt mit deren Inhalt, mit Lippenstiften, Taschentüchern und Zettelchen, doch der Hausangestellte hielt mir das Tablett mit den in Rohschinken eingerollten Grissini vor die Nase, und ich griff sofort zu, drehte mich um und kehrte auf die Terrasse zurück.

Die Gastgeberin begleitete ihren Haus- und Hofphotographen in den Garten. Ich grüßte sie und verschwand. Sie war ein Koloß wie mein neuer Verehrer, hinterließ aber nicht den Eindruck, als lebte sie ungesund; nur ihre Haare waren derart aufgehellt, daß sie sich je nach Lichtverhältnissen mehr oder weniger aufzulösen schienen. Riesinger hatte es im letzten Jahrzehnt geschafft, von drei Photographen zu leben, denen sie regelmäßig ihre Wände in der Innenstadt zur Verfügung stellte. Der eine photographierte seit Jahren Wolken, der andere unleserliche Schriftzeichen. Berger, mit dem sie nun unter der Linde stand, arbeitete mit dem Photoabfall der Firmen, die für Supermärkte und Drogerien Filme entwickelten. Meistens verwendete er Nacktphotos, die er stark vergrößerte, oder er kopierte unscharfe Geschlechtsteile heraus. Ihm lag Riesinger zu Füßen. Wo immer er erschien, lief sie hinter ihm her. Wer Berger von früher kannte, wunderte sich über seine Furchen und Falten. Er hatte sich jahrelang nach oben gegrinst; nun waren seine Gesichtszüge entstellt; selbst auf Beerdigungen hörte er nicht auf zu grinsen. Und Riesinger grinste mit, sie schien nicht zu merken, daß die Falten ihres Gegenübers sich mehr und mehr auf sie übertrugen.

Ich blickte in die Linde, die nicht mehr blühte, stellte mir Leos zerraufte Haare vor, sah ihn am Bettrand sitzen, die Beine gegrätscht, mit gebeugtem Oberkörper. Und ich sah die Träger, unbekannte Männer, die mich gegen Bares zur Grube trugen.

Als sie mich kurz vor dem Kriegerdenkmal abstellten, auf dem auch der Name meines Großonkels steht, der im Alter von neunzehn Jahren in Weißrußland gefallen ist, ging Paul demonstrativ nach hinten und zählte im stillen die Namen von vier Mitgliedern aus der Familie seines Vaters auf, die in Prag, Triest und Buchenwald erschossen, erhängt und vergast worden waren. Erna folgte ihm und erschrak, weil in diesem Augenblick, angekündigt durch einen schrillen doppelten Piepston, eine Kurznachricht auf dem Handy angekommen war. Umständlich fingerte sie in der Manteltasche, konnte das Gerät aber nicht ausmachen, weil die Tastensperre eingeschaltet war. Die nächste halbe Stunde verbrachte sie in der Angst vor einem neuerlichen Piepston, weil es ihr peinlich war, vor den Leuten das Telefon aus der Tasche zu holen und auszuschalten.

Vera hatte sich indessen ins Auto gesetzt und eine Kassette in den Recorder geschoben. Sie drückte den Kopf mit Kraft gegen die Stütze, so daß ihr Hals noch länger erschien. Als sie im Innenspiegel unregelmäßig verstrichenes Make-up auf ihrem Gesicht entdeckte, befürchtete sie zwei Finger und verschmierte damit die Farbe. Leo ist ein Idiot, dachte Vera, er weiß nicht, was er an mir hat.

Ich kramte in meiner Tasche und merkte, daß ich das Telefon zu Hause liegengelassen hatte, das bedeutete, daß ich nicht heimlich verschwinden konnte, sondern die Gastgeberin oder den Hausangestellten würde bitten müssen, mir ein Taxi zu rufen.

Berger lächelte ins dick geschminkte Riesinger-Gesicht und ersparte sich so das Sprechen. Vor mir saß wieder das Mädchen, warf die Holzklötzchen unter die Tische. Der Dicke kam in Begleitung des Hausangestellten die Treppen herauf.

«Beppe», sagte er. Ich sah auf eine langfingrige schmale Hand, die nicht zum restlichen Körper paßte.

«Meinen Namen kennen Sie ja schon.» Wir grüßten einander, als begegneten wir uns an diesem Abend zum ersten Mal. Es kostete mich eine große Anstrengung, freundlich zu bleiben. Leo hatte immer gesagt, mein Gesicht falle aus wie das Licht bei einem Gewitter. Plötzlich kam Dunkles über mich, und ich verlor jede Ausstrahlung. Ich langweilte mich schnell, haßte Menschen, die nicht zur Sache kamen, die die Wörter benützten, als wären sie Gummibänder.

Aber Beppe faßte sich kurz, er hielt den Mund, nachdem er seinen Namen genannt hatte, und zog sich ins Innere des Hauses zurück.

Ich litt unter der Schwüle. Die Haut meiner Unterschenkel war gespannt. Die Wassereinlagerungen schmerzten; ich konnte nirgendwo die Beine hochlegen. Den Rohschinken hatte ich vorsorglich in der Serviette verschwinden lassen, als sich der Hausangestellte mit dem Tablett von mir abwendete. Im Laufe des Abends würde ich den Schinken an Riesingers Schoßhündchen verfüttern.

Allmählich füllte sich die Terrasse, aber es war niemand dabei, den ich kannte. Ich versetzte mich zurück in die Kiste, dachte an die letzten Kleider, an das letzte Paar Schuhe, das man mir überstreifen würde, und sah gleichzeitig die Kleider und Schuhe der Gäste, sah ihre Bewegungen, hörte das Geplauder, das sich in meinem Kopf mit der Begräbnismusik vermischte. Einmal ertappte ich mich dabei, wie ich «Barrabam» sang, so laut, daß mir ein heiserer Ton entwischte, den ich sofort in ein Hüsteln verwandelte.

Ein rotes Klötzchen fiel auf meine Sandale; ich brachte es dem Mädchen zurück und strich ihm übers Haar. Am liebsten hätte ich es gepackt und in den Garten getragen. Ich hatte Lust, mich mit ihm im Gras zu rollen, es auf meinen Bauch zu setzen. Seine Mutter saß stocksteif und ohne ein Lächeln ans Geländer gelehnt. Auch als man ihr zuprostete, verzog sie keine Miene. Jedes herumgeschleuderte Bauklötzchen erschien mir wie ein Angriff auf sie.

Ich fing den Blick des Mädchens auf und zog Grimassen, damit es lachte. Aber immer wieder schoben sich braungebrannte Schenkel und Leinenhosen, rasierte Beine und gebügelte Stoffe zwischen uns, so daß ich mir etwas Neues einfallen lassen mußte. Das Mädchen war schneller als ich: Es wiegte seinen Kopf und erhaschte einmal hier, einmal dort meinen Blick zwischen den bewegten Beinen. Wir spielten eine ganze Weile Verstecken.

Kinder, sagte meine Mutter einmal, seien dazu da, damit wir auf unser eigenes Überleben achteten; sie sagte es ohne Vorwurf und ohne Dankbarkeit zu erwarten.

Ich habe keine Kinder, vielleicht war mein Kopf deshalb so oft in der Kiste. Diese Bilder habe ich mir nicht ausgesucht. Irgendwann stand die Holzkiste vor mir und war nicht mehr wegzudenken; ganz gleich, wohin ich mich drehte oder wendete, ob ich mich neben, vor oder hinter sie stellte: sie blieb in meinen Augenwinkeln. Und wenn ich – selten genug – auf sie draufsprang, so war mir klar, daß zwar die Kiste aus meinen Augen verschwunden war, aber daß ich diesen einzigartigen Ausblick, diese Einsicht ins volle Leben, ihrer ständig spürbaren Existenz verdankte.

Holztaler haßte diesen Blick, verachtete ihn. Er kam ihm trotz seiner großen Möglichkeiten, trotz seiner nekrophilen Wortgewalt nicht bei; seine Sprache war immer nur geliehen.

«Darf ich?» fragte Beppe und verneigte sich, hielt einen Arm angewinkelt am Rücken und zeichnete mit dem anderen etwas tolpatschig einen Kreis in die Luft. Ich dachte an meine prallen Beine und wäre am liebsten geflüchtet, aber er zog mich, ohne eine Antwort abzuwarten, vom Sessel und führte mich ins kühle Wohnzimmer.

«Marianne, sagen Sie mir –»

Ich unterbrach ihn: «Gar nichts sage ich Ihnen.»

Es tanzte kein Mensch. Aus den Boxen kam «Kruder & Dorfmeister»-Musik, dieser Vienna Groove, der in kurzer Zeit sämtliche Lebensbereiche erobert hatte. Neben der Anlage stand eine junge gepiercte Frau. Sie unterhielt sich mit dem Wolkenphotographen und kratzte sich dabei am Hintern.

Ich fragte mich, ob Riesinger die CDs gekauft oder eine Akademiestudentin beauftragt hatte, sich während des Abends um die Anlage zu kümmern.

«Musik, Musik!» rief Beppe und drehte mich über den schlecht getäfelten Fußboden; ich blieb mit der dünnen Sohle in einer Fuge hängen und stolperte auf Beppe zu. Er roch gut und hatte einen angenehmen Griff. Wie sehr brauchte ich etwas Festes, etwas, das dauert. Ich ging sofort auf Distanz, wenn ich an Männern oder Frauen Unentschlossenes entdeckte, Zögerlichkeit.

Während mich Beppe durchs Wohnzimmer zog, mußte ich an Holztaler denken. «Ich hasse Tanzen», hatte er mir an einem der ersten Abende gestanden. «Jede dieser Bewegungen ist mir fremd, sie ist mir geradezu zuwider.» Wir hatten an einem Tisch gesessen, von dem aus die Tanzfläche gut sichtbar war. Der damaligen Freundin merkte man an, daß sie nur ihm zuliebe sitzen geblieben war: Sie zuckte am ganzen Körper, wippte mit dem Fuß, und obwohl ihre Beine keine Ruhe gaben, blieb sie auf ihrem Platz. Zum Ausgleich studierte sie Sportwissenschaften. Leo und ich wirbelten und keuchten und waren glücklich. Weil wir mit dem Tanzen gar nicht mehr aufhören konnten, kein Lied auslassen wollten, hatte Holztaler eiligst sein Bier ausgetrunken, seine Freundin am Ärmel gezupft und sich verabschiedet.

Später schenkte Beppe ein und deutete auf den Photographen, der am Türrahmen lehnte: «Muß doch ein schönes Gefühl sein. Irgendwann kommt er in den Himmel und steht in seinen eigenen Bildern.»

«Frühwald kommt nicht in den Himmel», sagte ich.

«Schlechte Erfahrungen?»

«Nein, nein, ich kenne ihn ja kaum. Aber meine Freundin –»

Ich überlegte, ob ich ihm von Erna erzählen sollte, ließ es dann aber bleiben. Sie hatte sich vor einigen Jahren so sehr in Frühwald verliebt, daß sie nicht mehr sprechen konnte. Sie war eine Perfektionistin, der es aus Angst, etwas Falsches zu sagen, während des Sprechens die Wörter zerriß. In Gedanken baute sie unaufhörlich Sätze zusammen, suchte nach besseren Formulierungen, und wenn es Zeit war, sie anzubringen, und sie aufgeregt vor dem Angebeteten stand, schienen sie ihr plötzlich banal und unpassend: Sie schwieg oder begann zu stottern.

Wir fuhren, kurz nachdem sie das erste Mal mit dem Photographen geschlafen hatte, für eine Woche ans Meer. Ich hatte mich auf den Himmel und die Weite gefreut, aber Erna redete nur über Frühwald. Sie stand wie Demosthenes am Strand und brüllte in die Wellen. Es blieb aber bei dieser einen Nacht; nach unserer Rückkehr stellte sich Frühwald tot, und als sie sich einmal zufällig in der U-Bahn begegnet seien, erzählte sie, habe er weggeschaut.

Auf der Terrasse weinte das Kind. Die Studentin hatte «Angels with dirty faces» von Tricky aufgelegt, und Beppe fiel nach ein paar weiteren fuchtelnden und rasanten Bewegungen erschöpft aufs Sofa. «Marianne!» rief er quer durch den Raum und breitete die Arme aus. Ich versprach, mich neben ihn zu setzen, sobald ich etwas gefunden hatte, das ich essen durfte.

Draußen standen die Weißweinflaschen noch immer unangetastet auf dem Tisch; die Leute holten sich die Getränke aus dem Wohnzimmer, wo es deutlich kühler war, gingen dann aber in den Garten zurück und fächerten sich mit Papiertellern Luft zu.

Ich nahm ein paar Brötchen, ein wenig Obst, alles andere enthielt zuviel Eiweiß oder Salz. Es gab Platten mit Käse und Rauchfleisch, aber auch mit Fisch und den verschiedensten Wurstwaren. Trotz der schlechten Beleuchtung sah ich, wie der Speck schwitzte. Man hatte ihn zu früh ins Freie gebracht. Ich legte für Beppe etwas Schinken an den Tellerrand und machte mich davon. Berger steuerte die Linde an; ich wollte ihn auf keinen Fall sprechen. Sein Grinsen hätte auch auf mein Gesicht übergehen können.

«Was für ein großartiger Künstler», sagte ich und deutete auf den Katalog, der auf dem Nierentisch lag. Es handelte sich um Arbeiten des Kubaners Felix Gonzalez-Torres.

«Sie kennen sie?» Ich stellte Beppes Teller vor ihm ab und setzte mich ihm gegenüber auf einen Ledersessel. Er machte ein so unglückliches Gesicht, daß ich lachen mußte.

«Mögen Sie Torres nicht?»

«Marianne, geben Sie mir Ihre Tasche.»

«Die Tasche? Sie steht hier gut zwischen meinen Beinen.»

Was wollte er mit der Tasche? Ich blätterte im Katalog, betrachtete die Reproduktion eines Plakates, auf dem Torres’ Bett zu sehen war, ein weißes, ungemachtes, leeres Doppelbett. Paul hatte mir einmal von den riesigen New Yorker Reklametafeln erzählt. Ich hatte diese Arbeit lange Zeit im Kopf, sah den Abdruck der Körper in den zerwühlten Kissen, in den ungeglätteten Leintüchern; ich roch das Bild und spürte die Wärme in den Falten, ohne es je gesehen zu haben. Nie zuvor war meine Vorstellungskraft so nahe an die Wirklichkeit herangekommen. Als ich das Bett, nach einigen Jahren, zum erstenmal auf dem Photo im gleichen vor mir liegenden Katalog betrachtet hatte, war mir, als blickte ich in einen mir längst bekannten Raum, als sähe ich mein eigenes, das ich soeben verlassen hatte.

«Sein Lebensgefährte ist an AIDS gestorben», sagte Beppe teilnahmslos. Er beugte sich vor und schaute sich zwischen die Beine.

«Es gehört großer Mut dazu, den intimen Schmerz in die Öffentlichkeit zu stellen.»

Beppe reagierte nicht auf diesen Satz; er begann zu betteln, erst um die Tasche, dann um mich.

Ich hätte versprochen –

Es sei ihm ein Mißgeschick –

«Mein Gott, Marianne, stellen Sie sich nicht so an; Sie müssen mir helfen.» Er hob immer wieder den linken Oberschenkel und fuhr mit der Hand unter den Hintern. Seine Stirn glänzte wie der Speck neben den Weißweinflaschen.

Ich gab nach und erhob mich.

«Nur die Tasche», sagte er halblaut, «die Tasche.»

Er entriß mir die Handtasche, öffnete sie, ohne mich zu fragen.

«Hierher, hierher. Drehen Sie sich um.»

Ich berührte mit den Beinen den Tisch, während Beppe hinter mir mit der Tasche hantierte und ich mich fragte, was er tat. Um mich zu beruhigen, stellte ich aus den Anfangsbuchstaben des Katalogherausgebers «Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien» neue Namen zusammen: Maria, Martha, Klaudia, Susanne, Ludwiga, Waltraud. Es war ein altes Spiel, das ich immer wieder spielte, wenn ich nicht mehr weiterwußte. Ich begann von vorne: Moritz, Martin, Klaus – da stand Beppe auf, drückte seinen Bauch gegen meinen Rücken und flüsterte mir ins Ohr: «Begleiten Sie mich hinaus. Ich flehe Sie an, Marianne, machen Sie kein Aufsehen.»

Stephan, Lorenz, dachte ich noch, aber Wiens W blieb ohne männlichen Vornamen.

Beppe hatte meinen Arm gepackt, sich eingehakt, nickte hektisch lächelnd zu Frühwald in den Türrahmen und zog mich nach draußen.

«Darf ich wissen, was Sie vorhaben?» Ich entkam ihm nicht; sein Arm, den er in meinen geschoben hatte, wirkte wie eine Klammer, aus der ich mich nur mit Bissen oder Tritten hätte befreien können. Er öffnete das angelehnte Tor mit der Fußspitze und schloß es mit der Ferse, um weder die Tasche noch mich loslassen zu müssen. Ich analysierte blitzartig die Lage, in der ich mich befand: Mit Ausnahme des Wolkenphotographen hatte keiner meine unfreiwillige Flucht wahrgenommen, und von Beppe kannte ich nicht einmal den ganzen Namen.

«Lassen Sie mich los», schrie ich. Beppe zog mich noch ein paar Autolängen mit sich weiter, dann löste er seine Umklammerung. Wir waren fünfzig Meter von Riesingers Villa entfernt. Von der Gartenbeleuchtung war nichts mehr zu sehen. Beppe lehnte sich erschöpft gegen den Maschendrahtzaun, atmete durch. «Sie darf es nie erfahren. Marianne, versprechen Sie mir, daß Sie schweigen werden.» Er drehte den Kopf zuerst in die eine, dann in die andere Richtung, schaute, ob neue Gäste eintrafen, verstummte, als die Scheinwerfer eines Autos näherkamen.

Ich war plötzlich müde, wünschte mich in ein frisch bezogenes, kühles Bett. In der Aufregung hatte ich meine schweren Beine vergessen. Ich stützte einen Fuß auf der Stoßstange des vor mir geparkten Autos ab und drückte das Knie durch, als flösse das Wasser dadurch herzwärts.

«Kann ich meine Tasche wiederhaben?» Ich sagte es mit Ungeduld.

Wie aus dem Schlaf heraus sah mich Beppe an, mit zusammengekniffenen Augen.

«Die Tasche.»

Sein Blick wanderte von der Schulter über den Ellbogen zur Hand, in der er die Handtasche hielt.

«Die Tasche», wiederholte ich und machte Anstalten, sie ihm wegzunehmen. Da kam er endlich in Gang, stolperte los mit diesem «Nein, nein!» auf den Lippen, zu dem er sich Mühe geben mußte. Er lief bis zur nächsten Kreuzung, ich hinter ihm her. Als ich ihn am Sakko packte, griff ich in den feuchten Leinenstoff. Sein Hemd war durchgeschwitzt.

Er runzelte die Stirn und schaute zu Boden. «Ich habe mich auf Riesingers Chihuahua fallen lassen, verstehen Sie? Wie konnte ich wissen, daß dieser elende Köter unter den Kissen lag. Bei dieser Hitze. Natürlich ist er tot.»

Über uns blinkte die Ampel, in regelmäßigen Abständen kam Farbe in Beppes Gesicht. Ich erinnerte mich an Frühwalds Vernissage, an Riesingers Schoßhündchen, das zwischen den Beinen der Besucher herumlief; alle blickten auf den Hund, während Riesinger eine schlecht vorbereitete Eröffnungsrede hielt, die einem Wetterbericht glich. Sie deutete auf Frühwalds Photos und sprach von der faserigen, büscheligen oder fädigen Beschaffenheit der Cirrus-Wolken, dabei handelte es sich bei den von ihr beschriebenen Bildern eindeutig um Stratus-Wolken in einer bläulichen Färbung, die den ganzen Himmel bedeckten. Bei jedem verdächtigen Geräusch, das die Rede seiner Herrin hätte stören können, begann der Hund zu bellen.

Ich wagte einen vorsichtigen Blick in meine Tasche, konnte aber in der Dunkelheit nichts erkennen.

«Ich kaufe Ihnen eine neue», sagte Beppe. Ein paar Meter vor uns lief eine Katze über die Straße. «Sie haben mich gerettet. Ohne Sie säße ich wahrscheinlich noch immer auf dem Hund. Es knackte unter mir, als hätte der Holzrahmen des Sofas nachgegeben.»