Cover

Natalie Knapp

Der Quantensprung des Denkens

Was wir von der modernen Physik lernen können

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Über Natalie Knapp

Natalie Knapp, geb. 1970, studierte Philosophie, Literaturwissenschaften, Religionsphilosophie und Religionsgeschichte. Sie promovierte über Heidegger, Derrida und Rilke in Freiburg i. Br. und arbeitet als freie Autorin und Kulturredakteurin für den SWR. Als philosophische Beraterin leitet sie Seminare und hält Vorträge in Deutschland, der Schweiz sowie in verschiedenen europäischen Ländern. Schwerpunkt ihrer Arbeit ist das Thema Bewusstseinswandel im 21. Jahrhundert.

Über dieses Buch

Unsere Gesellschaft befindet sich nicht nur im Wandel, ökologische, wirtschaftliche und soziale Systeme geraten aus dem Gleichgewicht. Dieses Buch zeigt Wege auf, all diese Veränderungen zu verstehen und damit umzugehen. Es geht der Frage nach, wie wir unser Denken beweglicher gestalten können, wie wir Formen des Denkens erlernen können, die der Welt gerechter werden. In der Physik ist dieser Schritt längst vollzogen, nämlich in der Quantenphysik. Natalie Knapp unternimmt den hochinteressanten Versuch, die Erkenntnisse der Quantenphysik als Vorbild und Muster dafür zu nehmen, wie man das enge Korsett eines alten Weltbildes abstreifen und anders zu denken beginnen kann, zum Teil mit verblüffenden praktischen Erkenntnissen.

Impressum

2. Auflage Oktober 2011

Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Mai 2011

Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel «anders denken lernen»

Copyright © 2008 by Oneness Center Publishing, Bern

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung ZERO Werbeagentur, München

(Abbildung: © FinePic, München)

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ISBN Buchausgabe 978-3-499-62696-8 (1. Auflage 2011)

ISBN Digitalbuch 978-3-644-44231-3

www.rowohlt-digitalbuch.de

 

ISBN 978-3-644-44231-3

Fußnoten

1

Es gab auch vor Newton vereinzelt Wissenschaftler, die versuchten, ihre Ideen durch exakte Beobachtungsreihen und Experimente zu belegen, wie z.B. Galilei, aber erst durch Newton wurde diese Methode zur Grundlage der Naturwissenschaften.

2

Vor dem Beginn des neuzeitlich naturwissenschaftlichen Zeitalters war das logische Denken sehr wohl ein Mittel, um sich in der Welt des Glaubens zurechtzufinden.

Das Weltbild dieser Zeit war jedoch vom Weltbild meines Großvaters genauso weit entfernt wie das Weltbild der alten Griechen. Nicht jeder Form des Glaubens liegen dieselben Wahrnehmungsfunktionen zugrunde.

3

Die vorhandenen Untersuchungen darüber, wie sich das Denken der Frauen vom Denken der Männer unterscheidet, tragen mehr zur Verwirrung als zur Aufklärung bei, da sie ein allzu grobes Raster verwenden.

4

Dies soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass an jedem komplexen Vorgang des Denkens alle zwölf Kategorien beteiligt sind, dass jeder Inhalt des Denkens und der Wahrnehmung durch ein Zusammenspiel aller Verstandesfunktionen geformt wird.

5

Zu den vier physikalischen Grundkräften gehören auch der Elektromagnetismus sowie die starke und die schwache Kernkraft. Die starke Kernkraft bewirkt, dass ein Atomkern stabil bleibt, während die schwache Kernkraft dafür verantwortlich ist, dass sich verschiedene Teilchenarten ineinander umwandeln können. Auch der Zerfall von Teilchen wird durch diese schwache Kraft ermöglicht.

6

Die Quantenmechanik, auch Quantentheorie genannt, beschreibt das Verhalten der Materie im atomaren und subatomaren Bereich.

In ihrer ursprünglichen Form wurde sie fast gleichzeitig von zwei verschiedenen Physikern entdeckt: von Werner Heisenberg und Erwin Schrödinger. Zu ihrer Vervollkommnung haben jedoch zahlreiche weitere Physiker beigetragen.

Da es mir nicht auf die mathematischen Feinheiten, sondern vor allem auf die philosophischen Auswirkungen der einzelnen Aspekte der Quantentheorie ankommt, verwende ich die Begriffe «Quantenmechanik», «Quantentheorie» und «Quantenphysik» gleichbedeutend.

7

Das Rastertunnelmikroskop tastet die Oberfläche der Atome ab und erzeugt ein Bild, das etwa eine Milliarde mal größer ist als das Original.

8

Genau genommen gibt es zwei Relativitätstheorien, die allgemeine und die spezielle. Während die spezielle Relativitätstheorie (1905) das seltsame Verhalten von Raum und Zeit beschreibt, führt die allgemeine Relativitätstheorie (1916) das Phänomen der Schwerkraft auf ein Zusammenwirken von Raum, Zeit und Körpern von großer Masse (z.B. Planeten) zurück. Ich verwende im Folgenden nur noch den Begriff Relativitätstheorie.

9

Erst dann werden wir diese Phänomene vollständig verstehen, einordnen und vielleicht auch nutzen können. Derzeit untergraben auch Hersteller zweifelhafter Geräte zur Gesundheitspflege immer wieder die Glaubwürdigkeit von Popps Thesen. Sie benutzen den Begriff der Biophotonenstrahlung, um ihre Produkte zu bewerben. Ob die Biophotonenstrahlung irgendwann tatsächlich zur Gesundheitsförderung eingesetzt werden kann, ist noch nicht geklärt. Doch es lohnt sich mit Sicherheit, weiter zu forschen.

10

Es gibt zwar eine einheitliche mathematische Theorie, die alle Phänomene beschreibt, die von Elementarteilchen oder Lichtteilchen verursacht werden, doch kein einheitliches Verständnis dessen, was diese Theorie für unser Weltbild bedeutet. Die Theorie der kleinsten Teilchen heißt «Quantenelektrodynamik». Sie wurde bereits in den 1940er Jahren entwickelt.

11

Diese Gleichung wurde zu einer der wichtigsten der modernen Physik. Man kann damit Vorhersagen über das Verhalten von Atomen machen oder über physikalische Systeme wie Halbleiter oder Laser. Die gesamte Computertechnologie wäre ohne die Schrödingergleichung nicht denkbar. 1933 hat Erwin Schrödinger dafür den Nobelpreis erhalten.

12

Inzwischen wurde in zahlreichen Experimenten bewiesen, dass die Vorstellung, ein Photon könne den Doppelspalt nur entweder als Welle oder als Teilchen durchqueren, nicht haltbar ist.

Dennoch entspricht diese Vorstellung immer noch dem, was wir im Alltag als «gesunden Menschenverstand» bezeichnen.

13

Einzelne Dichter oder auch Philosophen haben selbstverständlich eine eigene Sprache entwickelt, d.h. eigene Bilder, Begriffe, Satzmelodien und Rhythmen. Mithilfe der Begriffe einiger Philosophen lassen sich auch viele Aspekte der modernen Physik besser beschreiben und verstehen. Zu nennen wären dabei u.a. Plotin, Leibniz oder Spinoza. Doch ihre Begriffe sind nicht Teil unserer Alltagssprache geworden und stehen uns deshalb nicht unmittelbar zur Verfügung. Hinter jedem ihrer Begriffe steht eine ganze gedankliche Welt. Erst wenn wir uns mit diesen Gedankenwelten vertraut gemacht, sie erforscht und verstanden haben, erleichtern uns die philosophischen Begriffe das Verstehen.

14

Das Experiment war eines der wichtigsten Experimente der Quantenphysik; wir werden es später eingehend betrachten.

15

Exakt 299 792 458 Meter pro Sekunde.

16

In der Physik wurden in den 1960er Jahren trotzdem Teilchen eingeführt, die sich mit Überlichtgeschwindigkeit fortbewegen. Allerdings nur als theoretische mathematische Möglichkeit. Man nannte diese hypothetischen Teilchen «Tachyonen». Man stellte sich Tachyonen als Teilchen mit «negativer Masse» vor; denn lediglich Teilchen, die weniger als «kein Gewicht» haben, könnten sich mit Überlichtgeschwindigkeit fortbewegen. Ihre «negative Masse» hätte auch zur Folge, dass man sie nicht auf Lichtgeschwindigkeit abbremsen könnte.Sie müssten sich immer mit Überlichtgeschwindigkeit fortbewegen. Tachyonen sind jedoch bislang nicht mehr als eine mathematische Spielerei. Ihre Existenz kann experimentell weder nachgewiesen noch ausgeschlossen werden. Innerhalb unseres physikalischen Weltbildes scheint so etwas wie eine «negative Masse» derzeit zwar denkbar, aber nicht sinnvoll zu sein.

17

Albert Einstein war nicht im konfessionellen Sinn religiös. Er bekannte sich erst sehr spät zum konfessionellen Judentum. Sein Glaube galt vielmehr der Macht und der Schönheit der Naturgesetze.

Er nannte Gott oft ganz unkonventionell den «Alten» und meinte damit die Kraft der universellen Gesetze, die vom Menschen nicht beeinflusst werden können. Ein personifizierter Gott war ihm fremd.

18

Genauer: «Der Alte würfelt nicht!»

19

Vor allem in ihrer von dem Quantenphysiker Shimon Malin erweiterten und vertieften Form.

20

Diese Antwort ergibt natürlich nur innerhalb der Welt der physischen Tatsachen einen Sinn. Sie erklärt nicht, warum diese Welt überhaupt entstanden ist, warum die Natur also ihre allererste Entscheidung getroffen hat. Mit dieser Frage wären wir bei einem der interessantesten philosophischen Grundprobleme angelangt: Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts? Dieses Problem können wir weder mit den Mitteln der Physik noch mit den Mitteln der Philosophie befriedigend lösen.

Aus philosophischer Perspektive ist es dennoch von großer Bedeutung, da die Fragen der Philosophie eine völlig andere Funktion haben als die Fragen der Naturwissenschaften.

Philosophische Fragen sind auch – und vielleicht sogar gerade dann – sinnvoll, wenn sie niemals abschließend beantwortet werden können. Doch darauf werde ich in den folgenden Kapiteln eingehen.

21

Einige Neurowissenschaftler unterscheiden nicht mehr zwischen Gehirnfunktionen und Denkprozessen. Sobald sie herausfinden, dass Denkprozesse mit physischen Gehirnfunktionen korrespondieren, gehen sie davon aus, Gehirnfunktionen seien die Ursache für geistige Vorgänge.

Sie sprechen beispielsweise von «Schaltkreisen» und «Gedächtnisspeichern» im Gehirn und glauben dadurch, dem Phänomen der Erinnerung näher zu kommen.

22

Da alle unsere Bilder nur drei Dimensionen haben, ist eine exakte Vorstellung der Raumzeit nicht möglich. Raumzeit kann lediglich mit den Mitteln der Mathematik exakt beschrieben werden.

In der Mathematik sind viele Operationen möglich, die in unserer materiellen Alltagswelt keine Entsprechung haben. Dazu gehören bereits so einfache Dinge wie Brüche, denen keine exakte reale Zahl entspricht, weil diese Rechenoperation unendliche Stellen nach dem Komma zur Folge hat.

23

Das kleine Buch ist unbedingt lesenswert, da es die Problematik der Dimensionen auf ebenso amüsante wie aufschlussreiche Weise vermittelt.

24

Die Spaltung zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften ist ein Phänomen unserer Zeit. Im Mittelalter und vor allem in der Antike forschten viele Wissenschaftler in beiden Bereichen.

Zahlreiche Philosophen wie beispielsweise Thales, Demokrit oder Aristoteles waren Mathematiker oder Naturforscher. In der frühen Neuzeit sind Descartes oder Leibniz gute Beispiele für ein Miteinander der Disziplinen. Auch Newton wurde von seinen Zeitgenossen als Philosoph bezeichnet.

25

Das Bruttoinlandsprodukt ist ein Maß für die wirtschaftliche Leistung einer Volkswirtschaft in einem bestimmten Zeitraum. Es misst den Wert der im Inland hergestellten Waren und Dienstleistungen.

26

Die Methode der achtsamkeitsbasierten Stressbewältigung (MBSR: mindfulness based stress reduction) wurde 1979 von dem Molekularbiologen Jon Kabat-Zinn in den USA entwickelt, um durch das gezielte Lenken der Aufmerksamkeit und die Entwicklung von Achtsamkeit zur Stressbewältigung beizutragen.

Anmerkungen

1

Gudrun Schwarzer: Visuelle Wahrnehmung, in: Schneider/Sodian (Hrsg.), Enzyklopädie der Psychologie, Bd. 2, Kognitive Entwicklung, Göttingen u.a., 2006.

2

Marius von Senden: Die Raumauffassung bei Blindgeborenen vor und nach der Operation, Inaugural-Dissertation, Kiel, 1931.

3

Joseph Weizenbaum: Wir gegen die Gier, in: Süddeutsche Zeitung vom 812008, S. 13.

4

R. Pogge: The toxic placebo, in Med Times, 91/1963, S. 773778.

5

R. v.Bredow: Homöopathie., in GEO, Heft 6/1997, S. 4456.

6

Werner Heisenberg: Der Teil und das Ganze, München, 1969, S. 102/103.

7

Zitiert nach Lincoln Barnett in: The Universe and Dr. Einstein, New York, 1948, S. 22.

8

Werner Heisenberg: Der Teil und das Ganze, S. 114.

9

Fritz Albert Popp: Die Botschaft der Nahrung, Frankfurt am Main, 1999.

10

Vgl. Werner Heisenberg: Der Teil und das Ganze, S. 147.

11

Werner Heisenberg: Der Teil und das Ganze, S. 325/326.

12

P. C. W. Davies/J. R. Brown: (Hrsg.) Jürgen Koch, (Übers.): Der Geist im Atom, Basel u.a., 1988, S. 109,

13

Vgl. P. C. W. Davies/J. R. Brown: Der Geist im Atom, S. 168ff.

14

Vgl. P. C. W. Davies/J. R. Brown: Der Geist im Atom, S. 152.

15

Vgl. Anton Zeilinger: Einsteins Schleier. Die neue Welt der Quantenphysik, München, 2005, S. 229.

16

Vgl. Shimon Malin: Dr. Bertlmanns Socken, Leipzig, 2003, S. 137.

17

Zitiert nach Johann Wolfgang von Goethe: Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, 14. Aufl. 1989, Bd. 1, S. 142.

18

Edwin A. Abbott: Flächenland, Hrsg. und übers. von Peter Buck. Bad Salzdetfurth, 1990.

19

Zitiert nach Jun Ishiwara: Bericht über Einsteins Gastvortrag in Kyoto, 1922. In: Archive for History of Exact Sciences, Band 36, Nr. 3, 1986, S. 271279.

20

Ap Dijksterhuis (Universität Amsterdam) et al.: Science, Bd. 311, S. 1005.

21

Richard Anschütz: August Kekulé, Band 1, Leben und Wirken, Verlag Chemie, Berlin 1929, S. 658.

22

Vgl. August Kekulé: Rede vom 11. März 1890 anlässlich des 25. Jahrestages der Entdeckung des Benzols. In: Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft, Jahrgang 23, P. Jacobson u.a. (Red.), Berlin, 1890, S. 1302.

23

Die Ergebnisse der Untersuchung werden vorgestellt in: Frank Ruthenbeck: Intuition als Entscheidungsgrundlage in komplexen Situationen, Münster, 2004.

24

George Land und Beth Jerman: Breaking Point and Beyond, San Francisco, Harper Business, 1993.

25

Nachzuhören unter: Sir Ken Robinson: RSA Animate-Changing Education Paradigms, http://www.youtube.com, 7122010.

Vorwort

«Sie können den ganzen Newton aus jedem Deutschlehrer, aus jeder Börsenmaklerin und jeder Gärtnerin herausfragen, weil er uns allen in den Knochen sitzt», sagte mal ein Physikprofessor zu mir.

Wie hat er das gemeint? Warum tragen wir alle Isaac Newton, den großen Physiker der Neuzeit, mit uns herum, selbst wenn wir noch nie seinen Namen gehört haben? Warum kennen wir seine Gesetze auch dann, wenn wir im Physikunterricht eine Niete waren? Und warum halten wir in unserem Alltag an diesen Regeln fest, obwohl die Wissenschaft längst darüber hinausgewachsen ist?

«Der Quantensprung des Denkens» wird auf diese Fragen eine Antwort geben. Nach der Lektüre werden Sie wissen, welche Gesetze unbewusst Ihr Denken und damit auch Ihr Leben bestimmen. Es wird Ihnen leichter fallen, diese Regeln zu verändern. Denn Sie sind in den Möglichkeiten der Lebensgestaltung sehr viel freier, als Ihnen derzeit bewusst ist. Sie müssen sich nur darüber klar werden, dass Ihnen die Natur mit dem Verstand ein wunderbares Organ mitgegeben hat. Bei jedem von uns ist es auf einzigartige Weise ausgebildet, und seine Fähigkeiten sind vielfältiger, als Sie bislang ahnen.

Dieses Buch soll Ihnen dabei helfen, sich von ein paar überholten Denkregeln zu befreien und mit neuen Möglichkeiten des Denkens vertraut zu werden. Es wird Ihnen zeigen, was Sie eigentlich tun, wenn Sie denken, und wie Sie das auch anders tun können.

Und ganz nebenbei erhalten Sie eine Einführung in die Quantenphysik, die auch all jene verstehen werden, für die Physik bislang ein Buch mit sieben Siegeln war.

The world is the space between memory and possibility, the physical trace of an idea, without thought it cannot exist.

 

Die Welt ist der Raum zwischen Erinnerung und Möglichkeit, die physische Spur einer Idee. Ohne unser Bewusstsein kann sie nicht existieren.

 

(Kogi-Weisheit)

Einleitung

«Die Menschheit hat bereits viele schwierige Situationen überstanden und immer ist es ihr gelungen, diese Krisen erfolgreich zu nutzen. Oft schon sind durch eine drohende Gefahr Ahnungen und Geheimnisse im Herzen der Menschen erwacht, die dabei helfen konnten, die Not zu wenden.»

LOUIS DE BROGLIE, NOBELPREISTRÄGER PHYSIK

Die schlechte Nachricht finden Sie täglich in allen Zeitungen: Unsere Welt ist in einem verheerenden Zustand. Die gute Nachricht ist: Sie können etwas tun. Etwas, das die Welt, in der wir leben, wirklich verändern kann. Sie brauchen dafür nicht mehr als Ihre Aufmerksamkeit!

Wir haben gelernt, auf eine ganz bestimmte Art zu denken. Mit dieser Art des Denkens strukturieren wir unseren Alltag, betreiben Wissenschaft, Wirtschaft und Politik. Sie ist für uns wie eine zweite Haut geworden, die wir schon so lange tragen, dass wir sie gar nicht mehr bemerken. Über viele Jahrhunderte hat sie uns gedient und geschützt, doch inzwischen sind wir herausgewachsen. Unsere Denkstrukturen sind zu eng geworden. Die Probleme, die unsere Gesellschaft heute begleiten und die uns derzeit unlösbar scheinen, sind eine Folge dieses Prozesses. Um diese Probleme lösen zu können, müssen wir die verbrauchte Haut unserer Denkstrukturen abstreifen. Denn darunter erwartet uns schon längst eine neue Membran.

Die Evolution fordert von der Natur seit Milliarden von Jahren solche Veränderungen, doch zum ersten Mal scheint es, als könnten wir Menschen uns bewusst daran beteiligen. Es liegt an uns, ob unsere Erde die Möglichkeit erhält, sich zu erholen und ob wir Formen des Zusammenlebens finden, die uns auch in Zukunft tragen werden: ökologisch, politisch, wirtschaftlich, gesundheitlich und sozial.

Wer glaubt im 21. Jahrhundert noch, die Erde sei eine Scheibe und habe ihren Platz im Mittelpunkt des Universums? Diese Vorstellung haben wir mit dem Denkgebäude des Mittelalters hinter uns gelassen.

Die Denkstrukturen, die uns heute zur Verfügung stehen, sind im 16. und 17. Jahrhundert entstanden. Sie orientieren sich an den Erkenntnissen der Physik. Die Physik war seither die Wissenschaft, die unser Leben am nachhaltigsten geprägt hat. Auf materieller Ebene, indem sie das Fundament für die Entwicklung der Technik gelegt hat, auf geistiger Ebene, indem sie unser Bild von der Realität geformt hat.

Mit der Entdeckung der Quantenphysik zu Beginn des 20. Jahrhunderts hätte eine Erweiterung unserer Denkstrukturen einhergehen müssen, eine Evolution unseres Denkens. Dies ist bis heute nicht erfolgt. Unser Weltbild wird noch immer von physikalischen Grundpfeilern gestützt, die längst überholt sind. Wir leben geistig in einer Welt, die es schon lange nicht mehr gibt. Kein Wunder also, dass sie auch physisch langsam auseinanderfällt. Doch die Erkenntnisse der Quantenphysik können uns helfen, die alten Denkstrukturen aufzubrechen. Die Grundlagen für eine Erneuerung unseres Weltbildes stehen uns bereits zur Verfügung. Wir müssen uns lediglich die Freiheit nehmen, sie anzuerkennen.

In der Kernphysik gibt es den Begriff der «kritischen Masse». Wenn eine bestimmte Masse an spaltbarem Material zur Verfügung steht, kann die Kettenreaktion einer Kernspaltung ausgelöst werden. Unterhalb dieser Masse geschieht gar nichts, doch sobald sie überschritten wird, entsteht eine Kettenreaktion und ein enormes energetisches Potenzial wird freigesetzt. Ähnliche Phänomene kann man auch in der Wirtschaft und in vielen anderen Lebensbereichen beobachten. Sobald sich eine bestimmte Menge von Menschen für die Nutzung einer Technologie entscheidet, gibt es eine Kettenreaktion und innerhalb kürzester Zeit ist diese Technologie aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken. Das beste Beispiel ist das Internet: Es hat sich in den ersten Jahren sehr langsam verbreitet und war dann schlagartig auch im hintersten Winkel der Welt verfügbar. In den USA entsteht nach diesem Prinzip gerade ein neues Umweltbewusstsein. Die Anzahl von Bürgerstiftungen steigt sprunghaft, weltweit engagieren sich immer mehr Menschen für regionale Anliegen.

Woran liegt das? Ganz einfach daran, dass wir nicht nur unseren Planeten, sondern vielfach auch unsere Kultur und unsere Art zu denken miteinander teilen. Wir schöpfen aus einem gemeinsamen kreativen Potenzial und wir verfügen über ein kollektives Bewusstsein. Sobald eine bestimmte Anzahl von Menschen neue Möglichkeiten zu denken entwickelt, stehen sie wie bei einer Kettenreaktion bald schon allen zur Verfügung. Es kommt nicht darauf an, wer letztlich den entscheidenden Lösungsvorschlag für eines unserer Probleme hat. Wichtig ist, dass wir gemeinsam die Art des Denkens bereitstellen, die für die Entdeckung einer Idee benötigt wird.

Dieses Buch geht der Frage nach, wie wir unser Denken beweglicher gestalten können. Wie können wir Formen des Denkens erlernen, die der Welt, in der wir leben, gerecht werden? Wie schaffen wir eine Atmosphäre, in der unser gemeinsames Denkpotenzial kreativ wirksam werden kann? Wie können wir lernen, dieses Potenzial zu nutzen und den Veränderungen, die uns bevorstehen, mit Offenheit anstatt mit Angst zu begegnen? Wie können wir gemeinsam einen globalen Bewusstseinswandel vollziehen?

Um auf diese Fragen Antworten zu finden, müssen wir zunächst verstehen, wie unser Denken die Welt, in der wir leben, beeinflusst. Was verstehen wir unter «Wirklichkeit»? Was ist ein Weltbild? Und was tun wir eigentlich, wenn wir denken?

Die Quantenphysik spielt dabei eine Schlüsselrolle. Sie bildet eine Brücke von den modernen Naturwissenschaften zu einem Weltbild, das lebendigere Formen des Denkens einschließt. Die Auseinandersetzung mit der Quantenphysik ermöglicht uns, diese Brücke zu überschreiten.

Wenn wir das enge Korsett unseres alten Weltbildes abstreifen, beginnen wir, freier zu denken. Wir werden neue Begriffe von Welt, Wahrheit und Wirklichkeit kennen lernen. Wir werden erfahren, wie Geist und Materie ineinander greifen. Sobald wir unserer lebendigen Welt lebendig denkend begegnen können, werden sich auch die ersehnten Lösungsmöglichkeiten zeigen, für uns selbst und für die Welt, in der wir leben.

Es ist leichter, als Sie (jetzt) denken. Fangen wir an.

1 Grundbegriffe verstehen

«Je mehr eine Kultur begreift, dass ihr aktuelles Weltbild eine Fiktion ist, desto höher ist ihr wissenschaftliches Niveau.»

ALBERT EINSTEIN

Was ist Wirklichkeit?

Seit Isaac Newton im 17. Jahrhundert die Methode der neuzeitlichen Naturwissenschaft etabliert hat, haben wir eine einfache Formel für das, was wir für wirklich halten: Wirklich ist, was messbar ist. Denn nur wenn etwas messbar ist – so glauben wir –, können wir sicher sein, dass es auch außerhalb unserer Vorstellungskraft existiert. Vor Newton waren die meisten Philosophen und Naturwissenschaftler ganz anderer Ansicht.[1] Wenn sie wissen wollten, wie die Wirklichkeit beschaffen war, suchten sie in ihrem Geist nach Antworten. Sie erforschten die Gesetze der Natur allein durch ihr Denken. So hat beispielsweise Demokrit bereits vor zweitausend Jahren eine Theorie der Atome entwickelt. Er versuchte erst gar nicht, ein hochauflösendes Mikroskop zu entwickeln, um die Atome sichtbar zu machen und seine Theorie zu beweisen. Niemand kam auf die Idee, die so gefundenen Naturgesetze durch Experimente zu überprüfen und exakt nachzumessen, ob es sich auch wirklich so verhält. Was diese Wissenschaftler denkend entwickelt hatten, erschien ihnen wesentlich realer als jedes Experiment. Und zwar nicht deshalb, weil sie ihre Fähigkeiten überschätzten, sondern weil die Sphäre des Denkens für sie wirklicher war als die der Materie, weil die unvergängliche Welt des Geistes der vergänglichen Welt der Materie bei weitem überlegen war. Aus heutiger Perspektive erscheint das völlig absurd, aber diese Auffassung hatte eine lange Tradition. Für viele große Denker war sie so selbstverständlich wie unser Glaube an die Forschungsergebnisse der Naturwissenschaften.

Als ich als Teenager zum ersten Mal mit dem Denken Platons in Kontakt kam, schien es mir erstaunlich, dass es tatsächlich jemanden gab, für den die Idee eines Tisches realer war als der Tisch selbst, die Idee der Freiheit realer als eine konkrete Erfahrung. Wenn ich damals überhaupt so etwas wie Stufen von Realität erkennen konnte, dann war eine Idee als bloße Möglichkeit auf jeden Fall weniger real als die konkrete materielle Wirklichkeit eines Objektes oder einer physischen Erfahrung. Mir so etwas wie ein Reich der Ideen vorzustellen, erschien mir ungefähr so sinnvoll wie das Reich der griechischen Götter auf der Spitze des Olymp. Die naturwissenschaftliche Definition der Wirklichkeit war für mich so selbstverständlich, dass ich gar nicht auf die Idee gekommen wäre, sie infrage zu stellen. Wirklich war, was messbar war, und jeder, der etwas anderes glaubte, war schlicht und einfach nicht auf der Höhe der Zeit.

Was ist ein Weltbild?

Ob wir die Welt des Geistes oder die Welt der Materie zur Grundlage unseres Lebens erklären, ist eine Frage des Weltbildes. Das eigene Weltbild zu erfassen, ist allerdings äußerst schwierig, da es all das umfasst, was wir für selbstverständlich halten und niemals wirklich infrage stellen. Es ist die Grundlage unseres Denkens, Handelns und Fühlens.

Als Kind bat ich meinen Großvater, mir von den ersten Menschen zu berichten. Er erzählte mir von Adam und Eva. Eigentlich hatte ich die Geschichte vom Neandertaler erwartet. Ich konnte es nicht fassen, dass er so alt geworden war, ohne jemals vom Urknall und der Evolution gehört zu haben. Er tat mir leid, und ich war sicher, dass er einfach nur schlecht informiert war. Um ihm die Peinlichkeit zu ersparen, habe ich ihn damals nicht aufgeklärt. Erst viel später wurde mir klar, dass in seinem Weltbild verschiedene Realitäten nebeneinander Platz hatten: die Tatsachen der naturwissenschaftlichen Forschung und die Wahrheit der Religion. Wobei die Geschichte von Adam und Eva ohne Zweifel an erster Stelle stand.

Meine kindliche Reaktion macht eine der Eigenheiten des naturwissenschaftlichen Weltbildes deutlich: Was sich außerhalb unseres Weltbildes befindet, deklarieren wir meistens als Mangel an Information und Bildung. Wir können es allenfalls als sonderbare Eigenart tolerieren, nicht aber verstehen. Unser Weltbild bestimmt und begrenzt unsere Wahrnehmungsfähigkeit. Es wird uns von unseren Eltern und Lehrern vermittelt und ist als Teil der Zeit und der Kultur, in der wir leben, auch ein kollektives Gebilde.

Wie bei meinem Großvater gibt es allerdings die Möglichkeit, dass sich verschiedene Weltbilder überlagern, denen unterschiedliche Formen der Wahrnehmung und des Denkens zugrunde liegen. Auch mein Großvater glaubte an die Naturgesetze, auch er war überzeugt davon, dass seine Kinder im Bauch seiner Frau entstanden und herangewachsen waren. Für ihn waren sie trotzdem zuallererst ein Geschenk Gottes und er machte sich gar nicht erst die Mühe, diese beiden Tatsachen miteinander in eine logische Verbindung zu bringen. Sie gehörten zu unterschiedlichen Welten, denen unterschiedliche Formen des Denkens zugrunde lagen. Das logische Denken gehörte lediglich zur Welt der Naturwissenschaft und hatte in der Welt seines christlichen Glaubens nichts zu suchen.[2]

Sich dort zurechtzufinden, erforderte eine ganz andere Form der Wahrnehmung. Diese Form der Wahrnehmung war bei mir nicht ausgebildet, für ihn war sie jedoch ebenso selbstverständlich wie das logische Denken. Ich bin mir sicher, dass mein Großvater sich nicht bewusst in verschiedenen Welten bewegte und verschiedene Formen der Wahrnehmung ein- oder ausschaltete. Für ihn war das ein natürlicher Vorgang, er hatte gelernt, sich in beiden Welten zurechtzufinden.

Jeder Mensch entwickelt aus individuellen und kollektiven Elementen einen eigenen Organismus des Denkens und der Wahrnehmung. Zwar sind wir meist in der Lage, die Inhalte verschiedener Weltbilder zu unterscheiden: philosophische, politische oder religiöse Überzeugungen. Den individuellen Organismus des Denkens und der Wahrnehmung, der diese Inhalte formt, können wir meistens nicht erkennen. Es fällt uns nicht schwer zu sehen, wie sehr sich die Körper der Menschen voneinander unterscheiden. Beim Denken gehen wir jedoch immer noch davon aus, dass es sich um ein und dasselbe Prinzip handelt, lediglich mehr oder weniger gut ausgebildet.[3] Und da wir nur für wirklich halten, was messbar ist, haben wir sogar eine Maßeinheit für dieses Prinzip entwickelt: den Intelligenzquotienten. Wir haben Intelligenztests entwickelt, um den Intelligenzquotienten zu messen. Inzwischen haben zahlreiche Trainingsprogramme zur Lösung dieser Tests gezeigt, dass sie nicht die Intelligenz eines Menschen testen, sondern lediglich seine Fähigkeit, Intelligenztests zu lösen. Die Formen des Denkens sind so vielfältig, dass diese Maßeinheit nur ganz wenige davon erfasst.

Was tun wir, wenn wir denken?

Wenn wir in unserer Alltagssprache vom «Denken» sprechen, meinen wir meistens das intellektuelle Verarbeiten von Informationen. Die Informationen, die wir denkend verarbeiten, können sowohl aus Sinneswahrnehmungen als auch aus abstrakten Maßeinheiten wie beispielsweise Zahlen bestehen. Schon Aristoteles definierte Denken als Fähigkeit des Verstandes, Informationen zu verarbeiten.

Immanuel Kant hat 1781 in der «Kritik der reinen Vernunft» die Grundfunktionen dieses intellektuellen Vermögens herausgearbeitet. Er ist der Frage nachgegangen, was wir eigentlich genau tun, wenn wir denkend Informationen verarbeiten, und hat dabei Erstaunliches herausgefunden. Der Verstand ordnet die Informationen, die er verarbeitet, nach einem bestimmten Muster. Dieses Muster erzeugt die Grundstrukturen unserer Wahrnehmung. Es ist nicht in den Informationen enthalten, die beispielsweise unsere Sinne dem Verstand vermitteln, sondern ist Teil des Verstandes selbst. Was wir als «Wirklichkeit» erfahren, ist demnach immer schon vom Verstand vorstrukturiert. Unabhängig von diesen Grundstrukturen kann unser Verstand nichts erkennen. Die Struktur unseres Verstandes ist demnach ein Teil unserer Wirklichkeit.

Die Verstandesfunktionen, die dieses immer gleiche Muster von «Wirklichkeit» erzeugen, nennt Kant «Kategorien» oder «reine Verstandesbegriffe». Sie ordnen unsere Wahrnehmungen auf einer sehr grundsätzlichen Ebene. Und sie arbeiten zusammen mit den sogenannten reinen Anschauungsformen: mit Raum und Zeit. Auch Raum und Zeit sind nicht Teil der Informationen, die unser Verstand verarbeitet. Sie sind keine objektiven physikalischen Größen, sondern gehören zu der Art und Weise, wie wir unsere Wahrnehmungen vorstrukturieren. Sie sind so etwas wie die innere Bühne, auf der sich unsere Wahrnehmungen abspielen.

Um die Verstandesfunktionen und die Anschauungsformen erkennen und voneinander unterscheiden zu können, müssen wir in der Lage sein, uns selbst beim Denken zu beobachten und dabei den Fokus nicht auf den Inhalt des Gedachten zu lenken, sondern auf den Prozess des Denkens selbst. Wir müssen die Bühne und alles, was sich darauf abspielt, von außen betrachten können, während ein Teil von uns auf der Bühne steht. Das ist ein ausgesprochen anspruchsvoller Vorgang, der viel Übung im abstrakten Denken erfordert. Die «Kritik der reinen Vernunft» gilt nicht ohne Grund als eines der schwierigsten Werke der philosophischen Literatur. Ich werde mich deshalb hier auf ein Beispiel beschränken: die Kategorie von Ursache und Wirkung.[4]

Isaac Newton soll das Prinzip der Schwerkraft entdeckt haben, als er sah, wie ein Apfel von einem Baum zu Boden fiel. Wir gehen davon aus, dass es sich dabei um ein grundlegendes Naturgesetz handelt, um eine der vier physikalischen Grundkräfte des Universums,[5] eine Grundstruktur der Wirklichkeit. Ohne die ordnende Verstandesfunktion, die eine Ursache mit einer Wirkung verknüpft, ist das Naturgesetz der Schwerkraft jedoch nicht denkbar. Newton wäre nicht in der Lage gewesen, Baum, Apfel und Fallen miteinander in Beziehung zu setzen und die Schwerkraft als Ursache des Fallens zu erkennen. Die verschiedenen Sinneseindrücke hätten beziehungslos nebeneinander gestanden.

Dass es für jede Wirkung eine Ursache gibt, erscheint uns selbstverständlich. Die meisten von uns gehen auch heute noch davon aus, dass das Prinzip von Ursache und Wirkung ein Aspekt der Natur ist, der sich – über unsere Wahrnehmung vermittelt – auf unser Denken überträgt. Dass es sich um ein Gesetz unseres Denkens handeln könnte, das unsere Wahrnehmung von der Natur formt, erscheint uns seltsam.

Im 18. Jahrhundert hat dieser Gedanke Kants viele Menschen zutiefst erschüttert. Alles, was sie bis dahin für real gehalten hatten, erschien ihnen plötzlich als Produkt ihres eigenen Verstandes. Sie hatten das Gefühl, ihrer eigenen Wahrnehmung nicht mehr vertrauen zu können. Sie wollten die Dinge nicht nur auf eine vom Verstand vorgeformte Art erkennen können, sondern so, wie sie eigentlich sind, d.h. in der Sprache Kants als «die Dinge an sich».

Immanuel Kant wusste, dass seine präzisen Untersuchungen der menschlichen Vernunft ebenso revolutionär waren wie seinerzeit die Entdeckungen des Kopernikus. So wie Kopernikus gesehen hatte, dass die Erde nicht unbewegt den Mittelpunkt des Universums bildet, hatte Kant einleuchtend gezeigt, dass unsere Erkenntnis sich nicht nach den Erkenntnisobjekten richtet, sondern dass alles, was wir erkennen, durch unser Denken geformt wird. Während wir jedoch die Entdeckungen des Kopernikus längst in unser Alltagsbewusstsein integriert haben, erscheinen uns die Gedanken Kants noch immer befremdlich.

Wir können davon ausgehen, dass sich die Grundstrukturen unseres Denkens ebenso ähneln wie der Aufbau unseres Körpers. Darüber hinaus ist der Organismus des Denkens jedoch so einzigartig wie unsere Physiognomie oder Konstitution. Er wird durch unsere Anlagen, unser Elternhaus, unsere Schulbildung und die Kultur in der wir leben geprägt. Wir können ihn auf unterschiedlichste Weise ausbilden oder vernachlässigen.

Was geschieht, wenn wir die Welt wahrnehmen?

Wenn ich aus meinem Wohnzimmerfenster sehe, blicke ich auf eine kleine Dachterrasse. Ich sehe dort Pflanzen in Blumentöpfen und einen kleinen Bistrotisch. Auf diesem Tisch scheinen seit Monaten zwei kleine Gegenstände aus Metall zu stehen. Sie standen schon im Frühling dort, im Sommer, im Herbst und auch im Winter, und niemand hat sie je verrückt. Wann auch immer ich dort hinsah, fragte ich mich, was das wohl für Gegenstände sein könnten – Blumenvasen, Aschenbecher, Kerzenständer, Pfeffer- und Salzstreuer – sie waren zu weit weg, um ihre Form genau zu erkennen. Irgendwann beschloss ich, das Rätselraten zu beenden und mir die Sache mit dem Fernglas genauer anzusehen. Erstaunlicherweise nützte das überhaupt nichts. Zwar konnte ich die Gegenstände ganz nah heranholen, besser sehen konnte ich sie aber trotzdem nicht. Anstatt zweier kleiner verschwommener Gegenstände sah ich schlicht und einfach zwei große verschwommene Gegenstände.