Christoph Drösser

Der Mathematikverführer

Zahlenspiele für alle Lebenslagen

Inhaltsverzeichnis

Widmung

KEINE ANGST VOR GROSSEN ZAHLEN

ODER
SECHS MOLEKÜLE VON GOETHE

Wie viele Hartz-IV-Empfänger ließen sich für den Preis eines Eurofighters ein Jahr lang mit dem Regelsatz versorgen? 180, 1800 oder 18000? Das auszurechnen ist gar nicht so schwer – und hilft, politisch wie finanziell, ein Gefühl für Größenordnungen zu entwickeln.

DER TANKSTELLENMÖRDER

ODER
EIN BEDINGT WAHRSCHEINLICHER TÄTER

Mord an der B 91. Und kaum verwertbare Spuren – bis auf das Blut unter den Fingernägeln des Opfers. Volltreffer! Eine DNA-Analyse überführt den vorbestraften Matthias Bernsdorf als Täter. Mit «an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit». Aber reicht das aus? Wie zuverlässig ist eigentlich der Gentest? Über Statistik und Polizeiarbeit.

IN DREI SCHRITTEN ZUM ERFOLG

ODER
AUCH GENIES KÖNNEN IRREN

Viele tun sich schwer, aus einem Endpreis die Mehrwertsteuer «rauszurechnen». Das ist nämlich ein Dreisatz. Und an einer solchen Dreisatz-Rechnung ist sogar schon einmal eine Frau gescheitert, Marilyn vos Savant, die als intelligenteste Frau der Welt gilt. Sie hatte sich mit Hühnern vertan. Aber das war in Wahrheit eine Denksportaufgabe.

DURCHSCHNITTSVERDIENER

ODER
AB DURCH DIE MITTE

Gehaltsverhandlungen in der Firma Bauner Elektronik. Die Mitarbeiter verdienen im Schnitt 2850 Euro. Zu wenig, findet der Betriebsrat und fordert Nachbesserung. Denn der Durchschnittsverdienst in der Branche liegt bei 3000 Euro. Doch was genau beschreibt der Durchschnitt eigentlich? Verdient der «typische» Mitarbeiter bei Bauner 2850 Euro? Nein, die meisten bekommen deutlich weniger.

DAS HEIRATSPROBLEM

ODER
… OB SICH NICHT DOCH WAS BESSERES FINDET

Marina ist eine begehrenswerte Frau. Gerade hat Karsten ihr einen Heiratsantrag gemacht. Ganz romantisch. Doch Marina zögert. Nicht zum ersten Mal. Es könnte ja noch ein Besserer kommen. Klarer Fall von Traumprinz-Syndrom, meint ihre Freundin. Dabei lässt sich die Wahrscheinlichkeit sogar berechnen, welcher Bewerber aus einer bestimmten Anzahl von Interessenten der beste sein dürfte. Eine mathematische Liebeshilfe.

DER ERRECHNETE WAHLSIEG

ODER
WENIGER IST MANCHMAL MEHR

Dicke Luft in Hoppenstadt. Da wegen einer Gebietsreform die Wahlkreise neu zugeschnitten werden müssen, sieht die Bürgerpartei ihre Chancen schwinden. Da ist Kreativität gefordert. Denn es ist durchaus möglich, mit weniger Stimmen mehr Mandate zu erringen. Ebenso ist es möglich, durch zu viele Stimmen Mandate zu verlieren. Erklären kann das nur die Wahl-Mathematik.

DIE GEFÄLSCHTE SEMINARARBEIT

ODER
BENFORDS SELTSAMES GESETZ

Wenn man irgendeine Zeitung nimmt und alle darin notierten Zahlen heraussucht, von den Börsenkursen über den Wetterbericht bis zum Sport, dann beginnen 30 Prozent dieser Zahlen mit der Ziffer 1, 18 Prozent mit der Ziffer 2 und so weiter. Das heißt, die Ziffern sind ungleich verteilt. Das hat Frank Benford herausgefunden. Mit seinem Gesetz lassen sich gefälschte Seminararbeiten ebenso leicht erkennen wie geschönte Bilanzen.

FAIRPLAY

ODER
EIN PERFEKTES SYSTEM

Frank Burmeister kennt ein nahezu sicheres System, um beim Roulette zu gewinnen. Er setzt konsequent auf Schwarz und verdoppelt seinen Einsatz, wenn Rot fällt. Doch das nahezu Unwahrscheinliche passiert. Elfmal hintereinander bleibt die Kugel auf einer roten Zahl liegen. Frank Burmeister verliert über 10000 Euro – und hat etwas gelernt: über Erwartungswerte und das «Gesetz der Serie».

EIN MÖRDERISCHER GEHEIMBUND

ODER
DER «GOLDENE SCHNITT»

Hippasos gehört den Pythagoreern an, die das Erbe des längst verstorbenen Pythagoras ehren. «Alles ist Zahl», hatte dieser gelehrt, alle Verhältnisse in unserer Welt lassen sich durch ganze Zahlen ausdrücken. Aber Hippasos hat herausgefunden, dass das nicht stimmt, und dabei die irrationalen Zahlen entdeckt, zum Beispiel das «schöne» Phi, auch bekannt als «Goldener Schnitt».

FRAUENFRAGEN

ODER
MEHR IST MANCHMAL WENIGER

Die Frauenbeauftragte der Erlanger Hochschule für Übersetzungswesen ist alarmiert. Die neuesten Zulassungszahlen belegen nachdrücklich, dass Frauen bei der Auswahl benachteiligt werden. Nur 31 Prozent der weiblichen Bewerber wurden angenommen, gegenüber 47 Prozent bei den Männern. Aber in jedem einzelnen Fachbereich wurden prozentual mehr Bewerberinnen zugelassen. Ein Paradox namens Simpson.

MÄNNERPHANTASIEN

ODER
BIER, BEINE UND ANDERE EXTREME

Frühlingserwachen am Elbstrand. Kolja und Jens genießen die ersten Sonnenstrahlen und die ersten Frauenbeine der Saison. Wenn nur die im Sand abgestellte Bierdose nicht immer umkippen würde. Wann die Dose den sichersten Stand hat und aus welcher Entfernung man ein Frauenbein am besten in den Blick nehmen kann, hilft die Analysis herauszufinden. Aber Vorsicht! Das sind «Extremwertaufgaben».

ZEIT IST GELD

ODER
EIN VERLOCKENDES ANGEBOT

Die Beraterin der Sparbank, Frau Weichmann, bietet sagenhafte Konditionen. Aber welche der verlockenden Varianten – «klassisch», «geradlinig» oder «dynamisch» – ist tatsächlich die beste? Um das herauszufinden, gilt es, zwischen linearem, quadratischem und exponentiellem Wachstum zu unterscheiden. Im Endeffekt ist das exponentielle Wachstum unschlagbar. Das musste auch der Viktoriasee erfahren.

ROUTENPLANUNG

ODER
MINISTER AUF REISEN

Außenminister sind viel unterwegs. Wie aber findet man für eine Antrittsreise in neun Städte den kürzesten Weg? Prinzipiell ist es einfach, das sogenannte Problem des Handlungsreisenden zu lösen, aber tatsächlich ist es schwieriger als erwartet. Für eine Rundtour durch neun Städte beispielsweise gibt es 20160 mögliche Routen. Da ist der Routenplaner schnell überfordert und eine Optimierungsstrategie gefragt.

IN DEN STRASSEN VON MANHATTAN

ODER
PYTHAGORAS VOR GERICHT

In der Nähe einer Schule wird ein Drogendealer festgenommen. Aber wie nah genau? Denn davon hängt ab, ob sein Verbrechen vor Gericht als «besonders schwerer Fall» gilt. Anstatt vor Ort nachzumessen, genügt der Staatsanwältin ein Stadtplan und der Satz des Pythagoras – der vielleicht bekannteste Satz der Mathematik.

KLINGENDE MATHEMATIK

ODER
DER JOHANN-SEBASTIAN-CODE

Als der Musiktheoretiker Andreas Werckmeister eine neue Art der Klavierstimmung entwickelte, war Johann Sebastian Bach begeistert und schrieb gleich ein ganzes Klavierwerk für die «wohltemperierte» Stimmung. Und nicht nur das. Auf dem Titelblatt seines Werkes, das will der Pianist Bradley Lehmann 2005 herausgefunden haben, hat er zugleich den mathematischen Code für diese Stimmung festgehalten.

ALLES FLIESST?

ODER
BANKRÄUBER IM STAU

55000 Euro in kleinen Scheinen auf der Rückbank des gestohlenen BMW– und nichts geht mehr. Manni und Harry stehen im Stau, während die Polizei übers Radio schon die Fahrzeugbeschreibung durchgibt. Ja, der Verkehrsfluss ist scheinbar unberechenbar – und lässt sich doch berechnen. Zwar sind lineare Gleichungssysteme und Extremwertaufgaben nicht ohne – aber das Ergebnis ist äußerst überraschend.

KREISQUADRIERER

ODER
WAHRHEIT PER GESETZ

5. Februar 1897. Im Abgeordnetenhaus des US-Bundesstaates Indiana wird heftig debattiert. Von der Quadratur des Kreises ist die Rede und davon, dass ein neuer, korrekter Wert für Pi gesetzlich festgelegt werden soll. Aber wissen die Abgeordneten überhaupt, wovon sie da reden? Nein, sie sind dem «Kreisquadrierer» Edwin J.Goodwin auf den Leim gegangen. Und die Goodwins dieser Welt sind immer noch nicht ausgestorben.

ANHANG

MERKSACHEN

AUSGERECHNET: LÖSUNGEN

QUELLENANGABEN

INDEX

For Andrea,

my lucky number

KEINE ANGST VOR GROSSEN ZAHLEN

ODER
SECHS MOLEKÜLE VON GOETHE

«Die Mathematik als Fachgebiet ist so ernst, dass man keine Gelegenheit versäumen sollte, sie unterhaltsamer zu gestalten.»

Blaise Pascal (1623  1662)

«Mehr Licht!», soll Johann Wolfgang von Goethe gesagt haben, bevor er seinen letzten Atemzug tat. Dann entschlief der große deutsche Dichter.

Der letzte Atemzug Goethes – gewiss ein kostbarer Hauch für eingefleischte Fans des Geheimrats (und vielleicht eine unappetitliche Vorstellung für andere). Aber wo ist er hin? Ist in der Luft, die wir hier und heute in unsere Lungen ziehen, ein Molekül enthalten, das Goethe einmal ausgeatmet hat? Vielleicht sogar eines aus diesem einen, letzten Atemzug?

Man kann über so eine Frage ins Philosophieren verfallen. Oder aber ins Rechnen. Die wenigsten Leute kommen auf die letztere Idee – dabei ist die Sache gar nicht so schwierig, wenn man ein paar grundlegende Zahlenwerte kennt.

Manche erinnern sich vielleicht noch aus der Schule an die Einheit «Mol». Ein Mol eines Stoffes ist eine Menge von 6 · 1023 Molekülen. Also 600 000 000 000 000 000 000 000 Moleküle. Solche Einheiten braucht man im Umgang mit diesen winzigen Bausteinen der Materie.

Für Gase aller Art gilt: Bei normalem atmosphärischem Druck hat ein Mol des Gases ein Volumen von etwa 25 Litern. Ein Atemzug – zum Beispiel der letzte von Goethe – hat etwa ein Volumen von einem Liter, enthält also ein fünfundzwanzigstel Mol oder 2,4 · 1022 Moleküle. Wir atmen im Durchschnitt vielleicht 20-mal pro Minute, das macht in 83 Jahren (so alt wurde Goethe) 20 · 60 · 24 · 365 · 83 = 872 496 000 Atemzüge – oder aber 2 · 1031 Moleküle. (Hier steckt schon mal eine grobe Vereinfachung drin: Sicher hat Goethe eine Menge der Moleküle zweimal ein- und ausgeatmet, insbesondere wenn nachts das Fenster geschlossen war).

Man kann davon ausgehen, dass sich die Luft in unserer Atmosphäre seit Goethes Tod sehr gut durchmischt hat und deshalb in jedem Liter Luft etwa gleich viele Goethe-Moleküle enthalten sind. Wie viel Luft enthält die Atmosphäre? Ihre Masse, das habe ich irgendwo nachgelesen, beträgt 5 · 1021 Gramm. Ein Mol Luft wiegt etwa 30 Gramm. Das macht also 5 · 1021: 30 = 1,7 · 1020 Mol Luft – oder auch die unvorstellbar große Zahl von 1044 Molekülen.

Nun haben wir alle Zahlen zusammen für die finale Rechnung: Wir dividieren die Zahl aller Luftmoleküle durch die Zahl der Goethe-Moleküle und erhalten: Eines von 5 · 1012 (oder 5 Billionen) Luftmolekülen hat Goethe irgendwann mal geatmet, eines von 4 · 1021 Molekülen war sogar in jenem letzten Atemzug. Da wir, wie schon Goethe, mit jedem Atemzug 2,4 · 1022 Moleküle einatmen, sind darunter im Durchschnitt 5 Milliarden Moleküle, die Goethe irgendwann einmal geatmet hat – und 6 Moleküle aus dem Atemzug, mit dem der Dichter sein Leben aushauchte. Im Durchschnitt. Auf ähnliche Weise kann man übrigens die Zahl der Moleküle in einem Glas Wasser berechnen, die irgendwann einmal durch Goethes Körper gegangen sind.

Sechs Moleküle aus Goethes letztem Hauch in jedem Liter Luft, den wir einatmen! Da atmet man gleich sehr viel ehrfürchtiger. Zwar ist die ganze Rechnung eine ziemliche Spinnerei. Ich habe sehr grobe Schätzungen vorgenommen und das Ergebnis bei jedem Schritt großzügig auf- oder abgerundet. Aber darum geht es gar nicht. Gefragt war hier nach der Größenordnung: Ob es plausibel ist, dass wir ständig Goethe-Moleküle einatmen. Und das ist es offenbar – egal ob es nun 6 sind oder 2 oder 20.

Die Fragestellung ist natürlich völlig irrelevant, aber die Beschäftigung mit solchen Zahlen gibt uns ein Gefühl für Größenordnungen. Und ein solches Gefühl zu haben ist wichtig, spätestens wenn es um Geld geht: Es ist eben nicht egal, ob man 100 oder 10 000 Euro ausgibt. Wir hatten einmal einen Wirtschaftsminister, der auf die Frage eines Reporters, wie viele Nullen eine Milliarde hat, raten musste: «Ach du lieber Gott! Sieben? Acht?» Es sind neun, Herr Bangemann!

Nun kann es jedem einmal die Sprache verschlagen, wenn er plötzlich eine Fernsehkamera oder ein Mikrofon auf sich gerichtet sieht. Ein bisschen Bedenkzeit muss schon erlaubt sein. Aber vielen Politikern muss man leider zutrauen, dass sie es tatsächlich nicht wissen. Und trotzdem täglich über Beträge mit sieben, acht oder neun Nullen entscheiden.

Auch wenn wir ständig in den Nachrichten mit Berichten über Milliarden-Beträge überschüttet werden – ein richtiges Gefühl dafür, wie groß so eine Milliarde ist, haben die wenigsten Menschen. Psychologen haben das Verhältnis der Menschen zum Geld untersucht und festgestellt, dass sie bis etwa 500 000 (damals waren es noch D-Mark) noch eine sinnliche Vorstellung von der Höhe der Beträge haben («Eigenheim» antworten sie auf die Frage, was man dafür kaufen kann), aber dann hört es auf. Ein Minister mag dafür kämpfen, in diesem Jahr einen Etat von 21 Milliarden Euro zu bekommen, weil es letztes Jahr 20 Milliarden waren – aber ob er sich den Betrag wirklich vorstellen kann, darf man getrost bezweifeln.

Aber auch wenn große Zahlen das sinnlich Fassbare oft übersteigen, ist es nicht nur für Minister sinnvoll, den Umgang mit ihnen zu üben, um sie auf Plausibilität überprüfen zu können, indem man sie mit anderen, bekannten Größen vergleicht. Das Rechnen mit ihnen ist eigentlich genauso einfach wie das Rechnen mit kleineren Zahlen, wie man an dem Goethe-Beispiel sehen konnte (dabei waren die Exponenten sehr nützlich: Näheres dazu steht im Anhang auf S. 223).

Ein Beispiel zum Thema Geld: Nehmen wir an, der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank, Josef Ackermann, sitzt an seinem Computer und arbeitet. Da erspäht er vor der Tür seines Büros einen 5-Euro-Schein auf dem Gang, den jemand verloren hat. Lohnt es sich für Ackermann, aufzustehen und den Geldschein aufzuheben? Dabei nehmen wir an, dass er in der Zeit, die er nicht am Computer sitzt, kein Geld verdient (was natürlich Unsinn ist). Die Frage ist also eigentlich: Wie lange muss Herr Ackermann für 5 Euro arbeiten? Schätzen Sie erst einmal, bevor Sie es ausrechnen!

Im Jahr 2006 hat Ackermann etwa 12 Millionen Euro verdient. Das ist eine Menge Geld. Wir nehmen zu seinen Gunsten an, dass er dafür pro Woche 60 Stunden gearbeitet und keinen Urlaub genommen hat. Dann ergibt sich, bei 52 Wochen, ein Stundenlohn von 3846 Euro. Runden wir die Zahl noch einmal ab und sagen 3600 Euro. Das heißt: Jede Sekunde verdient Josef Ackermann einen Euro. Damit es sich lohnt, den 5-Euro-Schein aufzuheben, darf die Aktion also nicht länger als 5 Sekunden dauern. Sputen Sie sich, Herr Direktor!

Ein anderer Vergleich, der verdeutlicht, wie viel unsere Spitzenmanager verdienen: Herr Ackermann muss 345 Sekunden oder knapp 6 Minuten arbeiten, bis er den Hartz-IV-Regelsatz von 345 Euro beisammen hat. Apropos Hartz IV: Schätzen Sie doch bitte noch einmal, wie viele Hartz-IV-Empfänger man für den Preis eines Eurofighters ein Jahr lang mit dem Regelsatz versorgen kann? 180, 1800 oder 18 000?

Ein Eurofighter kostet den Steuerzahler 75 Millionen Euro. Geteilt durch den Regelsatz, geteilt durch 12 – macht ungefähr 18 000. Das ist die Zahl sämtlicher Hartz-IV-Empfänger in einer Stadt wie Bochum. Nun gut, das kann man nicht gegeneinander aufrechnen. So ein Jet muss ja auch sein. Deutschland hat aber nicht einen dieser Flieger bestellt, sondern 180.

Man kann gewiss politisch argumentieren, dass diese Rechnung demagogisch sei und Äpfel mit Birnen vergleiche. Dass wir die modernen Kampfjets zu unserer Verteidigung dringend bräuchten und der Preis gerechtfertigt sei. Das mag ja vielleicht so sein, die Rechnung stimmt aber trotzdem. Und wer sich für derartige Investitionen einsetzt, der darf nicht nur qualitativ argumentieren («Wir brauchen das, weil …»), sondern sollte auch quantitativ überzeugen: «Wir können uns diese Ausgabe leisten.» Und dann muss er sich auf einen entsprechenden Äpfel-Birnen-Vergleich einlassen, weil jeder Euro eben nur einmal ausgegeben werden kann.

 

MUT ZUR UNGENAUIGKEIT Stellen Sie sich – noch ein Beispiel – folgendes Spiel vor: Jemand hat am Rand der Autobahn von Hamburg nach Berlin eine zwei Zentimeter breite und zwei Meter hohe Latte in den Boden geschlagen. Irgendwo zwischen Hamburg und Berlin, Sie haben keine Ahnung, wo. Sie fahren die Strecke nachts mit dem Auto und haben eine Pistole dabei. Zu einem beliebigen Zeitpunkt, den Sie frei wählen können, kurbeln Sie die Fensterscheibe herunter und schießen in Richtung Straßenrand. Einmal. Wenn Sie die Latte treffen, haben Sie gewonnen.

Würden Sie auch nur einen Euro auf dieses Spiel wetten, selbst wenn der Gewinn im Fall eines Treffers eine Million betrüge? Nein? Genau das machen aber Millionen von Menschen jede Woche, wenn sie einen Lottoschein ausfüllen. Die Chance, sechs Richtige zu tippen, ist nämlich genauso groß wie die Aussicht des nächtlichen Schützen, die Latte zu treffen, etwa 1 zu 14 Millionen. Viel Glück weiterhin!

Wir haben auch für Wahrscheinlichkeiten nur wenig Intuition. Je nachdem, wie ein Problem formuliert ist, täuschen wir uns über unsere Chancen. Auch da hilft letztlich nur eines: Ausrechnen, zumindest überschlagsweise.

In der Schule wurde von uns erwartet, genau zu rechnen. Da genügte auf die Frage «Wie viel ist 7 mal 14?» nicht die Antwort «Ungefähr 100!» – die Lehrerin wollte die exakte Lösung hören, nämlich 98.

Für die meisten praktischen Fälle aber ist 7 mal 14 ungefähr 100, die Kreiszahl π ist 3 (statt 3,14 …, siehe S. 205), die Erdbeschleunigung 10 m/​s2 (statt 9,81). Exakte Werte sind nur notwendig, wenn es auf wirkliche Präzision und feine Unterschiede ankommt. Im Sport beispielsweise wollen wir nicht wissen, ob jemand die 100 Meter in «ungefähr 10 Sekunden» gelaufen ist – da liegen zwischen 9,8 und 10,4 Sekunden ganze Klassen. Beim Rechnen mit Größenordnungen ist Präzision dagegen oft eine Scheinpräzision. Der Statistiker Walter Krämer bringt gern das Beispiel einer Tabelle aus einer britischen Publikation, die die Zahl der zivilen Opfer des 2. Weltkriegs auflistet:

Insbesondere die erste Tabelle ist natürlich völlig unsinnig, weil sie präzise Zahlen (Norwegen) mit ungefähren (Belgien) oder gar nicht bekannten vermischt. Bei solchen Additionen kommt immer eine scheinbar exakte Zahl heraus, die unser Vertrauen erweckt, die aber mit Sicherheit falsch ist.

Also: Haben Sie Mut zur Ungenauigkeit, solange die Größenordnung stimmt. Dann bekommen Sie mit etwas Übung das Reich der Zahlen in den Griff.

 

«AUSGERECHNET» Auf der Erde leben 6,5 Milliarden Menschen. Wenn sie alle dicht gedrängt nebeneinanderstünden, wie bei einem Rockkonzert – hätten sie dann auf dem Bodensee Platz? Erst schätzen, dann rechnen! (Der Bodensee hat eine Fläche von 536 Quadratkilometern.)

Auflösung unter www.rowohlt.de/​mathematikverfuehrer

DER TANKSTELLENMÖRDER

ODER
EIN BEDINGT WAHRSCHEINLICHER TÄTER

Die Nachricht braucht zwei Stunden, um in der rheinischen Kleinstadt die Runde zu machen. «Haben Sie das mit der Inge Herkenbusch schon gehört? So ein nettes Mädchen.» Am nächsten Morgen titelt die Lokalzeitung: «Der letzte Kunde zahlt mit Mord.»

Die Zeitung geht bei der Lagebesprechung am späten Vormittag herum. Detlef Behnke, Leiter der Mordkommission, hat mit den Seiten die Überschwemmung rund um die übergelaufene Kaffeemaschine aus dem Baumarkt getrocknet. Die Seiten riechen besser, als dass sie sich entziffern lassen.

Jeder Kollege trägt seine Ergebnisse vor. Inge Herkenbusch, 28 Jahre, tritt um 20 Uhr ihren Nachtdienst in der Freien Tankstelle an der B 91 an. Feierabend wäre um 4 Uhr morgens gewesen. Die vielbefahrene Bundesstraße – beliebt als Ausweichstrecke der Autobahn – führt in Sicht- und Hörweite an der Stadt vorbei. Um 2.15 Uhr will ein Autofahrer seine 50 Liter Super plus bezahlen, er findet den Verkaufsraum menschenleer vor. Erst zwei oder drei Minuten später tritt er so dicht an die Kasse heran, dass er die Leiche hinter dem Tresen entdeckt. Über Handy alarmiert er die Polizei.

Das Opfer ist erwürgt worden. Die Kasse ist leer, der Autofahrer, der die Leiche fand, hat in einer übereifrigen Aktion in Anwesenheit der Beamten seine Taschen geleert. Er wollte seine Unschuld beweisen und zerstörte dabei womöglich wertvolle Spuren am Tatort. Beim folgenden Streit mit den Beamten lässt sich der Autofahrer zu Bemerkungen hinreißen, die einer der Polizisten als eine auf sich gemünzte Beleidigung empfindet. Ein Verfahren dürfte folgen.

«Bleiben Sie beim Thema», mahnt Kommissar Behnke.

Im Kassencomputer hat Inge Herkenbusch seit Dienstantritt 34 Buchungen gespeichert. 28-mal ist getankt worden, davon einmal Gas. Die restlichen Buchungen betreffen Lebensmittel, Süßigkeiten (10 Rollen Mentos-Dragees der Geschmacksrichtung «fruit»!) und Zigaretten. 20-mal wurde mit Karte bezahlt, das wird von den Fahndern zurzeit abgeglichen. Die letzte Buchung stammt von 1.03 Uhr.

Wenn der Täter ein Tank-Kunde war, kann er an diesem Vormittag Hunderte von Kilometern entfernt sein oder das Ausland erreicht haben. Oder hat er nur Zigaretten gekauft? Dann könnte er in der Umgebung wohnen.

«Das ist eine müßige Diskussion», schneidet Behnke die Spekulationen seiner Mitarbeiter ab. «Wie viele Mörder hatten wir in den letzten Jahren, die vor dem Mord noch ordentlich bezahlt haben?»

Kollegin Benz mit dem Elefantengedächtnis hebt die Hand. Behnke übersieht das.

Die Spurensicherung ist bei der Arbeit. Alle bisher ausgewerteten Abdrücke an Kasse und Tresen stammen vom Mordopfer und von Kollegen – sowie von dem übereifrigen Autofahrer. Gerade als die Runde wieder in Auflösung begriffen ist, kommt Jungkommissar Hufnagel herein, seinen abgestoßenen Kaffeebecher mit der Aufschrift «I Love Justice» in der rechten Hand. Hufnagel hat sich im Umfeld der Herkenbusch umgehört. Deren Zwei-Zimmer-Wohnung beschreibt er als piefig, zugebaut und mit acht Kissen auf dem Sofa. Inges Lebensgefährte, vier Jahre jünger und auffallend mager, erlitt einen Schock und ist noch nicht vernehmungsfähig.

«Hätte er die Kissen vor das Sofa gelegt und nicht darauf, hätte er sich nicht so wehgetan, als er kollabierte», berichtet Hufnagel mitleidlos. Vor dem Kollaps konnte der Lebensgefährte noch mitteilen, dass Inge am Vorabend wie gewohnt mit ihrem Opel Corsa zur Arbeit gefahren sei. Niemand habe sie bedroht, auch sonst habe es keinen Ärger gegeben.

«Die führten ein Leben wie ein altes Ehepaar», erzählt Hufnagel. «Ohne Höhen, ohne Tiefen, ohne Dramen, ohne Ehrgeiz, ohne Phantasie.»

«Das sind die Fassaden, hinter denen Abgründe lauern», behauptet die Benz. Sie muss es wissen, sie stammt aus solchen Verhältnissen.

Alle Nachbarn berichten nur Gutes über das Mordopfer. Ein Nebenbuhler? Unmöglich. Schulden? Dunkle Geschäfte? Aber doch nicht die Inge.

Behnkes Leute schwärmen aus, er selbst wartet auf das Ergebnis der gerichtsmedizinischen Untersuchung. Am frühen Nachmittag meldet sich Horst Schlächter, Spezi des Kommissars seit vielen Jahren. «Auch schlechten Menschen lacht bisweilen das Glück», dröhnt Schlächter am Telefon. «Ich habe hier einen Volltreffer. Es ist nicht zur Vergewaltigung gekommen, das Opfer hat sich gewehrt, heftig gewehrt. Unter den Fingernägeln haben wir Blut gefunden, genug für eine DNA-Analyse

«Horst, habe ich dir schon mal gestanden, dass ich mit niemandem so gern telefoniere wie mit dir?»

«Warte ab, es kommt noch besser. Das Ergebnis habe ich mit unserer bundesweiten Datenbank für Sexualstraftäter abgeglichen.»

«Bingo?»

«Bingo! Matthias Bernsdorf, 43 Jahre, vorbestraft wegen Vergewaltigung. Hat fünf Jahre abgesessen und ist seit zwei Jahren wieder draußen. Weinst du?»

«Wenn du die Adresse hast, werde ich es tun.»

Matthias Bernsdorf ist in Köln gemeldet. Auf der Fahrt dorthin hört sich der Kommissar die Schwärmereien des jungen Wachtmeisters über die CSI-Serien im Fernsehen an. Er kennt alle drei auswendig und erklärt langatmig, warum er die aus Las Vegas am liebsten mag. Aus seinen bevorzugten Ermittlern hat er sich eine ganz persönliche CSI-Version zusammengebaut, die nur aus Frauen besteht.

«Hört sich mehr nach Erotikthriller an», wirft Behnke desinteressiert dazwischen.

Der Wachtmeister hält das nicht für einen Vorwurf. «Ich liebe es, wenn alles zusammenkommt», schwärmt er. «Die gute alte Ermittlungsarbeit mit der Faust, und auf der anderen Seite das Labor mit dem geilen blauen Licht, Pipette und das Strichmuster auf dem Gel-Streifen. Gerechtigkeit ist cool.» Er findet auch den Plan cool, die DNA aller Deutschen zu sammeln, zur Not per Zwangsgesetz. Ein Schamhaar, eine Hautschuppe, ein Tropfen Blut oder Sperma am Tatort, und der Computer spuckt den Täter aus. Behnke teilt die Begeisterung des Youngsters nicht, behält seine Bedenken jedoch für sich, weil es ihn anstrengt, mit Fortschrittsgläubigen zu diskutieren.

Die Vorortsiedlung unweit der Autobahn erfüllt alle Klischees, ebenso das Hochhaus, ebenso Matthias Bernsdorf. Jogginganzug, Badelatschen, laufender Fernseher, die Wohnung ein Chaos, und Bernsdorf flattert die Bierfahne voran. Weil dieser Kandidat nicht der Typ für lockeren Smalltalk ist, kürzt der Kommissar die Sache ab: «Wo waren Sie gestern Nacht zwischen 0 und 2 Uhr?»

«Sie meinen, nachdem ich aus der Oper raus und bevor ich im Casino aufgelaufen bin?» Bernsdorf lacht, es klingt nicht fröhlich. «Wo soll einer wie ich schon hin? Als vorbestrafter Vergewaltiger findest du seltsamerweise nur schwer Freunde. Und mit Hartz IV kannst du keine großen Sprünge machen.»

«Wird das jemand bezeugen?», fragt der Kommissar. «Wenn nicht, muss ich Sie bitten, mit uns auf die Wache zu kommen.»

«Aber was Sie mir vorwerfen, verraten Sie mir vorher doch noch, oder?»

«Sie werden verdächtigt, gestern Abend in Greversrath die Tankstellen-Kassiererin Inge Herkenbusch getötet zu haben.»

Bernsdorf ist verblüfft. Oder täuscht er Verblüffung vor? «Greversrath? Da war ich noch nie!», protestiert er. Der Wachtmeister tritt einen Schritt nach vorn, aber Bernsdorf leistet keinen Widerstand. Handschellen knacken, unterwegs sagt der Verhaftete: «In so einem noblen Wagen habe ich seit Jahren nicht gesessen.»

Kommissar Behnke ist ein guter Fahnder. Er hat gelernt, seinen Gefühlen zu trauen. Und ein Gefühl sagt ihm auf der Rückfahrt, dass die Verblüffung von Bernsdorf echt war. Prompt gesellt sich zum Gefühl ein handfestes Argument: Der Mann mit der Bierfahne wurde nie wegen Raub oder Diebstahl bestraft. Sein Vergewaltigungsopfer war eine 17-Jährige aus dem Bekanntenkreis – das Muster der Tat passt nicht zum Mord in der Tankstelle.

Nachdem er Bernsdorf abgeliefert hat, besucht Behnke seinen Spezi Schlächter. Der Gerichtsmediziner winkt sofort triumphierend mit seinem Bericht. «Wenn das so weitergeht, seid ihr bald überflüssig», ruft er in seiner poltrigen Art.

Behnke blättert die Seiten durch und murmelt: «Natürlich bin ich starr vor Ehrfurcht im Angesicht von so viel wissenschaftlicher Beweiskraft. Aber du weißt, dass ich meine Probleme mit 100 Prozent habe.»

Hinter Schlächter steht eine Espressomaschine. Schweizer Fabrikat, vierstelliger Preis. Behnke bemüht sich, nicht hinzusehen. Neid ist ein starkes Gefühl.

«Dieser Test der Firma Bionconvict, den wir seit neuestem hier haben, ist wirklich ein Knaller», schwärmt Schlächter.

«Bauen die auch Kaffeemaschinen?»

«Kaffeemaschinen? Nicht dass ich wüsste.»

«Dann erzähl weiter.»

«Wenn zwei Proben dasselbe DNA-Profil besitzen, erkennt der Test das praktisch mit Sicherheit. Umgekehrt, wenn die Profile verschieden sind, zeigt der Test nur in 0,001 Prozent der Fälle eine Übereinstimmung an – das ist einer von 100 000.»

«Klingt wirklich beeindruckend», erwidert Behnke. «Aber du sprichst immer von ‹DNA-Profil›. Kann es nicht sein, dass zwei Menschen ein identisches Profil haben? Dann würden wir eventuell einen Unschuldigen hinter Gitter bringen.»

«Das kommt tatsächlich vor», gibt Schlächter zu, «aber das ist noch seltener. Die Wahrscheinlichkeit, dass das DNA-Profil eines beliebigen Mannes mit der Probe vom Tatort übereinstimmt, liegt bei 0,0001 Prozent. Das heißt: einer von einer Million. Nein, nein, du kannst 100-prozentig sicher sein, dass wir den Richtigen am Haken haben. Na gut, sagen wir zu 99,99 Prozent, mit ein paar weiteren Neunen hinter dem Komma.»

 

STATISTIK ODER POLIZEIARBEIT? Dennoch ist Behnke nicht restlos überzeugt. Und der Kommissar tut gut daran zu zweifeln. Denn tatsächlich sind die beeindruckenden Zahlen des Gerichtsmediziners zunächst einmal nicht viel mehr als statistisches Blendwerk. Aus der «fast» 100-prozentigen Trefferquote folgt «fast» gar nichts. Es fehlt nämlich noch eine wichtige Größe, und die lässt den Fahndungserfolg in einem ganz anderen Licht erscheinen.

Ein einfacheres Beispiel aus der Polizeipraxis kann helfen, das Problem mit der «bedingten Wahrscheinlichkeit» zu erläutern: Ein Tourist beobachtet nachts in einer fremden Stadt, wie ein Taxifahrer ein parkendes Auto beschädigt und Unfallflucht begeht. Er gibt bei der Polizei an, ein blaues Taxi erkannt zu haben. Da es in der Stadt nur zwei Taxiunternehmen gibt, eines mit blauen und eines mit grünen Autos, fällt der Verdacht sofort auf den Unternehmer mit den blauen Taxis. Aber die Polizisten wollen wissen, ob sie ihrem Zeugen trauen können. Schließlich war es dunkel, und da kann man blau und grün schon einmal verwechseln. Also führen sie am nächsten Abend unter ähnlichen Sichtverhältnissen einen Test mit dem Zeugen durch. Das Ergebnis: Mit jeweils 80-prozentiger Sicherheit identifiziert er grüne und blaue Wagen. Diese 80 Prozent sind für den Richter ein hinreichender Beweis, er verurteilt den Taxiunternehmer.

  9-mal  A-Analyse  

 A-ProfilA-Test0-prozentiger A-Profil1-prozentige    

 1-malA-Proben 

    

 

«AUSGERECHNET» Eine Party. Zwei Gäste stellen fest, dass sie am selben Tag Geburtstag haben. «Was für ein Zufall!», sagt der eine. «Das würde ich nicht sagen», antwortet der andere. «Bei einer Party dieser Größe beträgt die Wahrscheinlichkeit dafür mehr als 50 Prozent.» Wie viele Gäste sind mindestens anwesend?

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