Inhaltsverzeichnis

Fußnoten

Menachem

Nachdem er erfahren hatte, dass ein Jude das Liebesgedicht erfunden habe, ließ der unerwidert liebende Magistrat Rufkin S. – möge sein Name in den Gully der Geschichte fallen – Feuer und Glasscherben auf unser schlichtes Schtetl regnen. (Selbstverständlich ist das Liebesgedicht nicht von einem Juden erfunden worden, sondern umgekehrt.)

Mein gesetzlicher Name ist Alexander Perchow. Aber alle meine Freunde nennen mich Alex, weil das eine Version meines gesetzlichen Namens ist, die man lässiger sprechen kann. Mutter nennt mich »Alexi-nerv-mich-nicht«, weil ich sie immer nerve. Wenn Sie wissen wollen, warum ich sie immer nerve: Das liegt daran, dass ich immer mit Freunden woanders bin und so viel Geld verbreite und so viele andere Dinge ausführe, die eine Mutter nerven. Vater hat mich immer Schapka genannt, wegen der Pelzmütze, die ich sogar im Sommermonat getragen habe. Er hat aufgehört, mich so zu nennen, weil ich ihm befohlen habe, mich nicht mehr so zu nennen. Es klang für mich wie ein kleiner Junge, und ich habe mich immer sehr stark und potent gefunden. Ich habe viele, viele Freundinnen, das können Sie mir glauben, und sie haben alle verschiedene Namen für mich. Eine nennt mich »Baby«, nicht weil ich ein Baby bin, sondern weil sie mich bekümmert. Eine andere nennt mich »Ganze Nacht«. Wollen Sie wissen, warum? Ich habe eine Freundin, die mich »Geld« nennt, weil ich um sie herum so viel Geld verbreite. Sie leckt meine Lippen dafür. Ich habe einen winzigen Bruder, der mich »Alli« nennt. Ich stehe nicht so sehr auf diesen Namen, aber auf ihn stehe ich sehr, also erlaube ich ihm, dass er mich Alli nennt, okay. Was seinen Namen angeht: Er ist »Klein-Igor«, aber Vater nennt ihn »Tollpatsch«, weil er ständig gegen irgendwas spaziert. Erst vier Tage her hat er ein blaues Auge gekriegt, weil er mit einer Mauer falschen Umgang hatte. Wenn Sie wissen wollen, wie der Name meiner Hündin ist: Er ist Sammy Davis jr. jr. Sie hat diesen Namen, weil Sammy Davis jr. Großvaters geliebter Sänger war, und die Hündin gehört ihm, nicht mir, weil ich es nicht bin, der denkt, dass er blind ist.

Was mich angeht, so bin ich 1977 gezeugt, im selben Jahr

An der Universität habe ich in meinem zweiten Jahr Englisch maßlos gute Leistungen gehabt. Das war eine sehr imposante Sache, denn mein Lehrer hatte Scheiße zwischen den Ohren. Mutter war so stolz auf mich, dass sie sagte: »Alexi-nerv-mich-nicht, du hast mich so stolz gemacht.« Ich erkundigte mich, ob sie mir eine Lederhose kaufen wollte, aber sie sagte nein. »Shorts?« »Nein.« Vater war auch stolz. Er sagte: »Schapka«, und ich sagte: »Nenn mich nicht so«, und er sagte: »Alex, du hast Mutter so stolz gemacht.«

Mutter ist eine bescheidene Frau. Sehr, sehr bescheiden. Sie

Vater schuftet für ein Reisebüro, das Heritage Touring getauft ist. Es ist für Juden wie den Helden, die danach sehnen, das erhebende Land Amerika zu verlassen und bescheidene Dörfer in Polen und der Ukraine zu besuchen. Vaters Reisebüro beschafft einen Übersetzer, einen Führer und einen Fahrer für die Juden, die versuchen, die Plätze auszugraben, wo ihre Familien früher gelebt haben. Okay, bis zu dieser Reise hatte ich nie einen Juden kennen gelernt. Aber das war ihr Fehler, nicht meiner, denn ich war immer bereit – man könnte sogar schreiben: ich glühte darauf –, einen kennen zu lernen. Ich will auch diesmal wahrheitlich sein und erwähnen, dass ich vor der Reise vorgestellt hatte, dass Juden Scheiße zwischen den Ohren haben. Das liegt daran, dass ich von Juden nur wusste, dass sie Vater viel Geld dafür bezahlen, um im Urlaub von Amerika in die Ukraine zu fahren. Aber dann habe ich Jonathan Safran Foer kennen gelernt, und ich kann Ihnen sagen: Er hat keine Scheiße zwischen den Ohren. Er ist ein genialer Jude.

Genauso wie der Tollpatsch, den ich nie Tollpatsch, sondern

Hier beginnt die Geschichte.

Aber zuerst muss ich meine gute Erscheinung vortragen. Ich bin hundertprozentig groß. Ich kenne keine Frauen, die größer sind als ich. Die Frauen, die ich kenne, die größer sind als ich, sind Lesben, für die 1969 ein sehr tragweites Jahr war. Ich habe gut aussehendes Haar, das in der Mitte durchgeteilt ist. Das liegt daran, dass Mutter es an der Seite durchgeteilt hat, als ich ein Junge war, und um sie zu nerven, habe ich es in der Mitte durchgeteilt. »Alexi-nerv-mich-nicht«, sagte sie, »wenn du dein Haar so durchteilst, siehst du aus wie einer, der geistig nicht in der Mitte ist.« Ich weiß, dass sie das nicht so gemeint hat. Mutter äußert sehr oft Dinge, von denen ich weiß, dass sie es nicht so meint. Ich habe ein aristokratisches Lächeln und verteile gern kleine Faustschläge. Mein Bauch ist

Vater bekam einen Telefonanruf von dem amerikanischen Büro von Heritage Touring. Sie wollten einen Fahrer, Führer und Übersetzer für einen jungen Mann, der bei Anbruch Juli in Lutsk sein würde. Das war eine mühselige Bitte, denn bei Anbruch Juli feiert die Ukraine den ersten Geburtstag ihrer ultramodernen Verfassung, weswegen wir sehr vaterländische Gefühle haben, und darum würden viele weit weg in Urlaub fahren. Es war eine unmögliche Situation, wie 1984, bei den Olympischen Spielen. Aber Vater ist ein übereindruckender Mann, der immer kriegt, was er sehnt. »Schapka«, sagte er am Telefon zu mir, als ich gerade zu Hause vor dem Fernseher saß und mir eine Sendung über wundertätige Putzmittel ansah, »welche war noch mal die Sprache, die du dieses Jahr an der Universität studiert hast?« »Nenn mich nicht Schapka«, sagte ich. »Alex«, sagte er, »welche Sprache hast du studiert?« »Englisch«, sagte ich. »Und bist du gut?«, fragte er mich. »Fließend«, sagte ich, denn ich hoffte, ihn damit so stolz zu machen, dass er mir die Zebra-Polsterbezüge kaufen würde, von denen ich träume. »Ausgezeichnet, Schapka«, sagte er. »Nenn mich nicht so«, sagte ich. »Ausgezeichnet, Alex. Du wirst alle Pläne, die du für Anbruch Juli hast, für nichtig erklären.« »Ich habe keine Pläne«, sagte ich. »Doch, hast du«, sagte er.

Es ist jetzt geziemend, Großvater zu erwähnen, der auch dick ist, aber noch mehr als meine Eltern. Also gut, ich erwähne ihn. Er hat goldene Zähne und viele Haare im Gesicht, die er jeden Abend kämmt. Er hat viele Jahre in vielen Anstellungen geschuftet, hauptsächlich auf den Feldern und später als Maschinenbediener. Seine letzte Anstellung war bei

Großvaters Name ist auch Alexander. Zusätzlich auch der von Vater. Wir sind alle Erstgeborene, was für uns eine riesengroße Ehre ist, ungefähr so groß wie bei den Sportarten der Baseball, der in der Ukraine gefunden worden ist. Ich werde mein erstes Kind Alexander nennen. Wollen Sie wissen, was geschieht, wenn mein erstes Kind ein Mädchen ist? Ich sage es Ihnen: Er ist kein Mädchen. Großvater wurde 1918 in Odessa

Nachdem er mit mir getelefoniert hatte, telefonierte Vater mit Großvater, um ihm zu sagen, dass er bei unserer Reise der Fahrer sein würde. Wenn Sie wissen wollen, wer der Führer sein würde, dann sage ich Ihnen: Es würde keinen Führer geben. Vater sagte, dass ein Führer keine unvermeidliche Sache war und Großvater von seiner Zeit bei Heritage Touring einen Haufen Zeug wusste. Vater nannte ihn einen Spezialisten. (Damals, als er das sagte, klang das sehr vernünftig. Aber was für ein Gefühl hast du jetzt dabei, Jonathan, im Schein von allem, was passiert ist?)

Als wir drei, die drei Männer mit dem Namen Alex, uns abends im Haus meines Vaters versammelten, um uns wegen der Reise zu unterhalten, sagte Großvater: »Ich will das nicht.

Also machten wir einen Plan, wie wir den Helden am 2. Juli um 15 Uhr nachmittags am Bahnhof von Lwow aufnehmen würden. Danach würden wir zwei Tage in der Gegend von Lutsk vertreiben. »Lutsk?«, sagte Großvater. »Du hast nichts von Lutsk gesagt.« »Er will aber nach Lutsk«, sagte Vater. Großvater versank in Denken. »Er sucht das Städtchen, aus dem sein Großvater kam«, sagte Vater, »und eine Frau, die er Augustine nennt und die seinen Großvater aus dem Krieg gerettet hat. Er will ein Buch über das Städtchen seines Großvaters schreiben.« »Oh«, sagte ich, »dann ist er intelligent?« »Nein«, korrigierte mich Vater. »Er hat einen zweitklassigen Kopf. Das amerikanische Büro hat uns informiert, dass er jeden Tag mit ihnen telefoniert und viele halbkluge Fragen nach genießbarem Essen stellt.« »Auf jeden Fall gibt es doch Wurst«, sagte ich. »Natürlich«, sagte Vater. »Er ist nur halbklug.« An dieser Stelle muss ich wiederholen, dass der Held ein sehr genialer Jude ist. »Wo ist dieses Städtchen?«, fragte ich. »Es heißt Trachimbrod.« »Trachimbrod?«, fragte Großvater. »Das ist beinahe fünfzig Kilometer von Lutsk«, sagte Vater. »Er besitzt eine Karte und ist voll Hoffnung, dass er die Lage findet. Es wird nicht schwer sein.«

Als Vater zur Ruhe gegangen war, sahen Großvater und ich noch mehrere Stunden Fernsehen. Wir sind beide Menschen, die sehr verspätet wach bleiben. (Ich war nahe daran zu schreiben, dass wir beide es genießen, verspätet wach zu bleiben,

Der Anfang der Welt kommt oft

Am 18. März 1791 drückte Trachim B.s doppelachsiger Wagen seinen Besitzer auf den Grund des Flusses Brod oder auch nicht. Die W.-Zwillinge waren die Ersten, die das seltsame Treibgut an der Oberfläche auftauchen sahen: sich schlängelnde Schlangen aus weißer Schnur, ein knittriger Samthandschuh mit ausgestreckten Fingern, leere Garnspulen, leutselige Pincenez, Him- und Brombeeren, Fäkalien, Rüschen, die Scherben eines zerschmetterten Zerstäubers, ein Stück Papier, auf das in ausblutender roter Schrift ein Vorsatz geschrieben war: Ich werde … ich werde …

Hannah weinte. Chana watete in das kalte Wasser, zog die Beine der Kniehose an den Stoffbändern hoch und schob die an die Oberfläche treibenden Gegenstände des Lebens beiseite. Was machst du da?, rief der entehrte Wucherer Jankel D. und hüpfte auf die beiden Mädchen zu, dass der Uferschlamm spritzte. Er streckte eine Hand nach Chana aus, während er mit der anderen wie immer die inkriminierende Abakusperle verdeckte, die er aufgrund einer Schtetl-Proklamation an einer Schnur um den Hals tragen musste. Komm aus dem Wasser raus, sonst passiert dir noch was!

Die beiden Zwillinge des Hochgeachteten Rabbis, rief Jankel zurück. Sie spielen im Wasser, und ich habe Angst, dass einer von ihnen was passiert!

Da kommen ja die seltsamsten Sachen hoch!, lachte Chana und spritzte Wasser auf all die Dinge, die rings um sie wuchsen wie ein Garten. Sie fischte die Hände einer Babypuppe und die Zeiger einer Standuhr heraus. Schirmspeichen. Einen Diet-rich. Die Gegenstände wurden von Luftblasen emporgetragen, die an der Oberfläche zerplatzten. Die etwas jüngere und weniger vorsichtige der Zwillingsschwestern fuhr mit gespreizten Fingern durch das Wasser und brachte jedes Mal etwas Neues zum Vorschein: ein gelbes Windrad, einen mit Schlamm verschmierten Handspiegel, die Blütenblätter eines versunkenen Vergissmeinnichts, ein Päckchen Samen …

Doch ihre etwas ältere und vorsichtigere Schwester Hannah – ihr genaues Ebenbild bis auf die Härchen, die zwischen ihren Augenbrauen wuchsen – sah vom Ufer aus zu und weinte. Der entehrte Wucherer Jankel D. nahm sie in die Arme, drückte ihren Kopf an seine Brust und murmelte: Ist ja gut … ist ja gut … Bitzl Bitzl rief er zu: Fahr zum Haus des Hochgeachteten Rabbis und bring ihn her. Und hole auch Menasche den Arzt und Isaak den Rechtsgelehrten. Beeil dich!

Der verrückte Grundbesitzer Sofiowka N., dessen Namen das Schtetl später auf Landkarten und in mormonischen Volkszählungsunterlagen annahm, trat hinter einem Baum hervor. Ich habe alles gesehen, was geschehen ist, sagte er mit hysterischer Stimme. Ich kann alles bezeugen. Der Wagen war zu schnell für diesen Feldweg – noch schlimmer als zur eigenen Hochzeit zu spät zu kommen, ist, zur Hochzeit der Frau zu spät zu kommen, die man kriegen wollte, aber nicht gekriegt hat –,

Trachim?, fragte Jankel und ließ es zu, dass Hannah die inkriminierende Perle befingerte. Ist Trachim nicht der Schuhmacher aus Lutsk, der vor einem halben Jahr an Lungenentzündung gestorben ist?

Seht euch das an!, rief Chana kichernd und hielt den Cunnilingusbuben aus einem schmutzigen Kartenspiel hoch.

Nein, sagte Sofiowka. Der Mann hieß Trachum, mit einem U. Der hier hieß Trachim mit I. Und dieser Trachum ist in der Längsten Nacht gestorben. Nein, warte mal. Warte mal. Er ist daran gestorben, dass er Künstler war.

Und das hier!, kreischte Chana und schwenkte eine ausgebleichte Karte des Universums.

Komm aus dem Wasser raus!, rief Jankel, und zwar lauter, als er es gegenüber der Tochter des Hochgeachteten Rabbis oder gegenüber irgendeinem anderen jungen Mädchen eigentlich sein wollte. Dir passiert noch was!

Chana kam schnell zum Ufer. Das dunkelgrüne Wasser verbarg den Zodiakus, als die Sternenkarte auf den Grund des Flusses sank und sich wie ein Schleier über den Kopf des Pferdes legte.

Die Fensterläden des Schtetls wurden wegen des Spektakels aufgestoßen (Neugier war das Einzige, was alle Bewohner miteinander verband). Der Unfall hatte sich bei dem kleinen Wasserfall ereignet, an jenem Uferabschnitt, wo die momentane Grenze zwischen den beiden Teilen des Schtetls – dem

Mir scheint, es hat einen Unfall gegeben, keuchte Schloim W., der bescheidene Antiquitätenhändler, der von Almosen leben musste, weil er seit dem allzu frühen Tod seiner Frau nicht mehr imstande war, sich von seinen Kandelabern, Figürchen oder Stundengläsern zu trennen.

Woher weißt du das?, fragte Jankel.

Bitzl Bitzl hat es mir zugerufen, als er mit seinem Boot zum Haus des Hochgeachteten Rabbis fuhr. Ich habe auf dem Weg hierher an so viele Türen wie möglich geklopft.

Gut, sagte Jankel. Wir brauchen eine Schtetl-Proklamation.

Ist er denn wirklich tot?, fragte jemand.

Bestimmt, versicherte Sofiowka. So tot, wie er war, bevor seine Eltern sich kennen lernten. Vielleicht sogar noch toter, denn damals war er wenigstens ein Schuss im Schwanz seines

Hast du versucht, ihn zu retten?, fragte Jankel.

Nein.

Halt ihnen die Augen zu, sagte Schloim zu Jankel und zeigte auf die Mädchen. Er zog sich rasch aus – dabei entblößte er einen Bauch, der größer war als die meisten anderen, und einen Rücken, der mit dichten Locken aus schwarzem Haar bedeckt war – und sprang ins Wasser. Federn strichen auf den Schwingen der Strudel über ihn hinweg. Lose Perlen und zahnfleischlose Zähne. Blutgerinnsel, Wein und zersplitterte Kristalllüster. Die aufsteigenden Wracktrümmer wurden immer dichter, bis Schloim die Hände nicht mehr vor Augen sehen konnte. Wo? Wo?

Hast du ihn gefunden?, rief Isaak der Rechtsgelehrte, als Schloim schließlich wieder auftauchte. Wissen wir eigentlich, wie lange er schon dort unten ist?

War er allein oder war seine Frau bei ihm?, fragte die trauernde Schanda T., Witwe des verstorbenen Philosophen Pinchas T., der in seiner einzigen bedeutenden Abhandlung »An den Staub: Vom Menschen bist du, und zum Menschen sollst du werden« argumentierte, es sei theoretisch möglich, das Leben und die Kunst gegeneinander auszutauschen.

Ein starker Wind fegte durch das Schtetl und entlockte ihm ein Pfeifen. Jene, die in trüb beleuchteten Kammern schwer verständliche Texte studierten, sahen auf. Liebende, die Sühneopfer darbrachten und Versprechen, Verbesserungsvorschläge und Ausflüchte machten, verstummten. Mordechai C., der einsame Kerzenzieher, tauchte die Hände in eine Schüssel mit warmem, blauem Wachs.

Er hatte eine Frau, warf Sofiowka ein und schob die linke Hand tief in die Hosentasche. Ich erinnere mich gut an sie. Sie hatte so üppige Brüste. Gott im Himmel, was für herrliche Brüste sie hatte! Wer könnte die je vergessen? Sie waren … oh Gott, sie waren so herrlich. Ich würde alle Worte, die ich seither gelernt

Woher weißt du das alles?

Ich bin als Kind einmal nach Rowno gefahren, weil ich für meinen Vater dort etwas erledigen sollte. Ich war im Haus dieses Trachim. Sein Nachname liegt mir auf der Zunge, aber ich weiß genau, dass er Trachim mit I hieß und dass er eine junge Frau mit herrlichen Brüsten, eine kleine Wohnung voller Nippes und eine Narbe vom Auge bis zum Mund oder vom Mund bis zum Auge hatte. Das eine oder das andere.

KONNTEST DU SEIN GESICHT SEHEN, ALS ER VORBEIFUHR?, fragte der Hochgeachtete Rabbi mit lauter Stimme, während seine Töchter flink unter den beiden Enden seines Gebetsmantels Zuflucht suchten. DIE NARBE?

Und dann – oijoijoi – habe ich ihn wieder gesehen, als ich ein junger Mann war, der versuchte, in Lwow sein Glück zu machen. Wenn ich mich recht erinnere, lieferte Trachim Pfirsiche – oder vielleicht waren es auch Pflaumen – in ein Haus voller Schulmädchen, das gegenüber lag. Oder war er ein Briefträger? Ja, es waren Liebesbriefe.

Natürlich ist es unmöglich, dass er noch am Leben ist, sagte Menasche der Arzt und öffnete seine Arzttasche. Er holte einige Totenscheine hervor, die von einem neuen Windstoß mitgenommen und in die Bäume gewirbelt wurden. Einige davon würden im September mit den anderen Blättern fallen. Andere würden Generationen später mit den Bäumen fallen.

Und selbst wenn er noch am Leben wäre, könnten wir ihn nicht befreien, sagte Schloim, der sich hinter einem großen Felsen abtrocknete. Man kann erst zu dem Wagen vordringen, wenn die ganze Ladung an die Oberfläche gestiegen ist.

WIR MÜSSEN EINEN SCHTETL-ERLASS VERFASSEN, verkündete der Hochgeachtete Rabbi noch mit gebieterischerer Stimme.

Können wir sicher sein, dass er eine Frau hatte?, fragte die trauernde Schanda und legte die Hand auf ihr Herz.

Haben die Mädchen irgendetwas gesehen?, fragte Avram R., der Edelsteinschneider, der selbst keinen einzigen Ring trug (obgleich der Hochgeachtete Rabbi ihm versichert hatte, er kenne eine junge Frau in Lodz, die ihn glücklich machen könne [für immer]).

Die Mädchen haben nichts gesehen, sagte Sofiowka. Ich habe gesehen, dass sie nichts gesehen haben.

Die Zwillinge – diesmal alle beide – begannen zu weinen.

Aber wir können uns in dieser Sache doch nicht nur auf sein Wort verlassen, sagte Schloim und machte eine Geste in Sofiowkas Richtung, der seinerseits diese Freundlichkeit mit einer Geste beantwortete.

Fragt nicht die Mädchen, sagte Jankel. Lasst sie in Ruhe. Sie haben genug durchgemacht.

Inzwischen hatten sich beinahe alle der über dreihundert Einwohner des Schtetls eingefunden, um über das zu debattieren, wovon sie nichts wussten. Je weniger einer wusste, desto unnachgiebiger bestand er auf seiner Meinung. Das war nichts Neues. Vor einem Monat war es um die Frage gegangen, ob es im Interesse der Kinder nicht besser sei, das Loch im Bagel ein für alle Mal zu stopfen. Vor zwei Monaten hatte es die grausame und komische Diskussion über Schriftsetzen und davor die Debatte über die Frage der polnischen Identität gegeben, die viele zum Weinen und viele zum Lachen gebracht und zahlreiche neue Fragen aufgeworfen hatte. Und es würde weitere Fragen geben, über die man sich die Köpfe würde heißreden können, und danach noch mehr Fragen. Fragen vom Anbeginn der Zeit – wann immer das gewesen war – bis zum Ende. Von Asche? zu Asche?

VIELLEICHT, sagte der Hochgeachtete Rabbi und erhob

Aber wir brauchen eine Proklamation, sagte Froida J., der Bonbonmacher.

Nicht, wenn das Schtetl proklamiert, keine Proklamation zu erlassen, berichtigte ihn Isaak.

Vielleicht sollten wir versuchen, uns mit seiner Frau in Verbindung zu setzen, sagte die trauernde Schanda.

Vielleicht sollten wir anfangen, die Überreste einzusammeln, sagte Eliezer Z. der Zahnarzt.

Und im Geflecht der Diskussion ging die Stimme von Hannah, die unter dem fransenbesetzten Flügel des Gebetsmantels ihres Vaters hervorlugte, beinahe unter.

Ich sehe etwas.

WAS?, fragte ihr Vater und brachte die anderen zum Schweigen. WAS SIEHST DU?

Da drüben, sagte sie und zeigte auf das schäumende Wasser.

Inmitten von Schnur und Federn, umringt von Kerzen und durchweichten Streichhölzern, von Krabben, Schachfiguren und seidenen Quasten, die sich wie Quallen wiegten, war ein Baby, ein Mädchen, noch von Schleim überzogen und rosig wie das Innere einer Pflaume.

Die Zwillinge versteckten sich wie Geister unter dem Tallith ihre Vaters. Das in den versunkenen Nachthimmel gehüllte Pferd auf dem Grund des Flusses schloss die müden Augen. Die prähistorische Ameise in Jankels Ring, die schon lange bevor die erste Planke von Noah festgehämmert worden war, reglos im honigfarbenen Bernstein gelegen hatte, verbarg schamvoll den Kopf zwischen ihren vielen Beinen.

Die Lotterie, 1791

Es gab Leute, die glaubten, dass Trachim nie gefunden werden und der Fluss genug losen Sand über ihn schwemmen würde, um ihn ordentlich zu beerdigen. Diese Leute legten bei ihrer monatlichen Runde über den Friedhof Steine ans Flussufer und sagten Dinge wie:

Armer Trachim – ich kannte ihn nicht gut, aber ich hätte ihn gut kennen können.

oder

Du fehlst mir, Trachim, auch wenn wir uns nie begegnet sind.

oder

Ruhe, Trachim, ruhe in Frieden. Und mach unsere Mühle sicher.

Einige vermuteten auch, dass er nicht unter seinem Wagen

Oder vielleicht hatte ihn eine Witwe gefunden und in ihr Haus gebracht: Sie kaufte ihm einen Schaukelstuhl, zog ihm jeden Morgen einen anderen Pullover an, rasierte ihn, bis die Haare aufhörten zu wachsen, nahm ihn abends mit ins Bett, flüsterte ihm süße Trivialitäten in das, was von seinem Ohr übrig geblieben war, lachte mit ihm bei schwarzem Kaffee, weinte mit ihm beim Betrachten vergilbter Fotos, sprach blauäugig davon, dass sie Kinder haben wolle, begann sich nach ihm zu sehnen, bevor sie schließlich krank wurde, setzte ein Testament auf, in dem sie ihm alles vermachte, dachte beim Sterben allein an ihn, wusste immer, dass er nur eine Einbildung war, und glaubte dennoch an ihn.

Andere waren überzeugt, es habe nie einen Leichnam gegeben. Trachim, der geniale Betrüger, habe tot sein wollen, ohne zu sterben. Er habe seinen ganzen Besitz auf einen Wagen geladen, sei in das unbedeutende, namenlose Schtetl gefahren – das bald wegen des jährlichen Festes, dem Trachimtag, in ganz Ostpolen bekannt war und wie ein Waisenkind Trachims Namen trug (und nur auf Landkarten und in mormonischen Volkszählungsunterlagen als Sofiowka bezeichnet wurde) –, habe seinem namenlosen Pferd einen letzten Schlag aufs Hinterteil gegeben und es in den Fluss getrieben. War er auf der Flucht vor Schulden gewesen? Vor einer unerwünschten arrangierten Ehe? Vor Lügen, die ihn schließlich eingeholt hatten? War sein Tod ein unerlässliches Moment für die Fortsetzung seines Lebens?

Und das Baby? Meine Ur-ur-ur-ur-ur-Großmutter? Das war ein schwierigeres Problem, denn es ist relativ leicht zu verstehen, dass ein Leben im Fluss endet – aber dass ein Leben im Fluss beginnt?

Harry V., der Schtetl-Perverse und örtliche Meister-Logiker – der seit so vielen Jahren und mit so wenig Erfolg, wie man sich nur vorstellen kann, an seinem Opus magnum mit dem Titel »Der Herrscher der himmlischen Winden« gearbeitet hatte, das, wie er verhieß, den unwiderleglichsten logischen Beweis enthielt, dass Gott den unkritisch Liebenden unkritisch liebt –, präsentierte wortreich die These, es müsse auf dem verhängnisvollen Wagen noch jemanden gegeben haben: Trachims Frau. Vielleicht, argumentierte Harry, sei ihre Fruchtblase geplatzt, als die beiden auf einer Wiese zwischen zwei Schtetln

Die Schlote von Ardischt – jene Vereinigung rauchender Handwerker in Rowno, die so viel rauchten, dass sie sogar rauchten, wenn sie nicht rauchten, und aufgrund einer Schtetl-Proklamation gehalten waren, als Dachdecker und Schornsteinfeger zu arbeiten – glaubten, meine Ur-ur-ur-ur-ur-Großmutter sei der wiedergeborene Trachim. Als sein erschlaffender Körper vor dem Hüter des herrlichen und dornenbewehrten Himmelstors erschienen sei und man über ihn zu Gericht gesessen habe, sei etwas schief gegangen. Es habe noch etwas Unerledigtes gegeben. Seine Seele sei nicht bereit gewesen, ins Himmelreich einzugehen, und man habe sie zurückgeschickt und ihr Gelegenheit gegeben, ein Unrecht, das die vorangegangene Generation angerichtet habe, wieder gutzumachen. Selbstverständlich ergibt das keinen Sinn. Aber was ergibt schon einen Sinn?

Dem Hochgeachteten Rabbi war es mehr um die Zukunft als um die Vergangenheit des Kindes zu tun, und daher äußerte er weder gegenüber den Bewohnern des Schtetls noch im »Buch der Begebenheiten« eine offizielle Meinung zur Herkunft des Mädchens, sondern übernahm bis zur endgültigen

Seit mehr als zweihundert Jahren schrien die Gläubigen, die in die Aufrechte Synagoge gingen, ihre Gebete – seit jenem Tag, da der Ehrwürdige Rabbi erklärt hatte, dass unsere Gebete nichts anderes sind als die Hilfeschreie Ertrinkender, die um Rettung aus dem tiefen Meer der Spiritualität flehen. UND WENN UNSERE NOT SO GROSS IST, sagte er (er begann seine Sätze stets mit dem Wort »und«, als wären sie eine logische Fortsetzung seiner innersten Gedanken), SOLLTEN WIR DANN NICHT ENTSPRECHEND HANDELN? UND SOLLTEN WIR NICHT SCHREIEN WIE VERZWEIFELTE? Und so schrien sie denn, seit nunmehr über zweihundert Jahren. Und sie schrien auch jetzt, sodass das Baby kein Auge zutun konnte, und hingen – in der einen Hand das Gebetbuch, in der anderen das Seil – an den Flaschenzügen, die an ihren Gürteln befestigt waren, und die Kronen ihrer schwarzen Hüte streiften die Decke. UND WENN WIR DANACH STREBEN, GOTT NÄHER ZU SEIN, hatte der Ehrwürdige Rabbi geklärt, SOLLTEN WIR DANN NICHT ENTSPRECHEND HANDELN? UND SOLLTEN WIR NICHT ETWAS TUN, UM IHM NÄHER ZU SEIN? Das klang vernünftig. Am Vorabend von Jom Kippur, dem heiligsten Feiertag, kroch eine Fliege durch die Ritze unter der Synagogentür und begann die unter der Decke hängenden Gläubigen zu belästigen. Sie flog von einem Gesicht zum anderen,

Doch die Fliege gab keine Ruhe und kitzelte einige an den kitzligsten Stellen. UND SO WIE GOTT ZU ABRAHAM SAGTE, ER SOLLE ISAAK DAS MESSER ZEIGEN, SO SAGT ER JETZT ZU UNS, DASS WIR UNS NICHT AM HINTERN KRATZEN SOLLEN, UND WENN ES GANZ UND GAR UNUMGÄNGLICH IST, SO SOLLEN WIR AUF JEDEN FALL DIE LINKE HAND BENUTZEN! Die Hälfte der Gemeinde hielt sich an das, was der Rabbi erklärt hatte, und ließ lieber das Seil als das heilige Buch los. Dies waren die Vorfahren der Gemeinde der Aufrechten Synagoge. Zweihundert Jahre lang erkannte man ihre Mitglieder an einem vorgetäuschten Humpeln, mit dem sie sich selbst – oder vielmehr die anderen – daran erinnerten, wie sie die Prüfung bestanden hatten: indem sie dem geheiligten Wort den Vorzug gegeben hatten. (ENTSCHULDIGUNG, RABBI, ABER WELCHES WORT IST DAMIT DENN NUN EIGENTLICH GEMEINT? Der Ehrwürdige Rabbi zog seinem Schüler eins mit dem Thorastab über und sagte: UND WENN DU ES NÖTIG HAST ZU FRAGEN! …) Manche der Aufrechten gingen so weit, dass sie sich weigerten, überhaupt einen Fuß vor den anderen zu setzen, um so auf einen noch dramatischeren Sturz hinzuweisen. Was natürlich bedeutete, dass sie nicht zur Synagoge gehen konnten. WIR BETEN, INDEM WIR NICHT BETEN, sagten sie. WIR BEFOLGEN DAS GESETZ, INDEM WIR GEGEN ES VERSTOSSEN.

Diejenigen, die lieber das Gebetbuch als sich selbst fallen ließen, waren die Vorfahren der Gemeinde der Wankelnden

Sechs Tage lang standen die Einwohner des Schtetls, Aufrechte wie Wankler, vor der Aufrechten Synagoge Schlange, um einen Blick auf meine Ur-ur-ur-ur-ur-Großmutter zu werfen. Viele kamen viele Male. Die Männer durften das Baby untersuchen, es berühren, zu ihm sprechen, ja es sogar im Arm

1763 kam man zu einem Kompromiss, der allen recht vernünftig erschien: Den Frauen wurde erlaubt, in einem engen, feuchten Raum unter einem eigens eingebauten Glasboden zu beten. Es dauerte jedoch nicht lange, und die Männer wandten den Blick von dem geheiligten Buch und warfen ihn auf den Chor der Ausschnitte unter ihnen. Schwarze Hosen waren mit einem Mal körpernah geschnitten, und es gab mehr Gebaumel und Gerempel denn je, als jener andere Teil sich in Phantasien von ihr wisst schon was erging. HEILIG, HEILIG, HEILIG IST DER HERR DER HIMMLISCHEN HEERSCHAREN! DIE GANZE WELT IST ERFÜLLT VON SEINER HERRLICHKEIT!