Petra Oelker

Der Klosterwald

Roman

Denn Gutes erhoffte ich, und Böses kam;

ich harrte auf Licht, und es kam Finsternis.

 

Hiob 30, 26

PROLOG

An einem dieser späten Junitage, deren milde Wärme und üppige Schönheit vergessen lassen, dass die Welt bei genauerem Hinsehen noch immer das alte Jammertal ist, öffnete Dr. Andreas Mellert die Terrassentür seines Hauses und ging in den Garten hinaus. Es duftete nach Phlox und Rosen, in die friedvolle Stille mischten sich nichts als die behaglichen Geräusche eines späten Sonntagvormittags in einer ruhigen Wohnstraße. In einem der hinteren Gärten brummte ein Rasenmäher, jemand lachte verhalten. Im Nachbarhaus zur Linken übte ein Kind auf dem Klavier, und aus dem Garten zur Rechten zischelte ein sich rhythmisch drehender Rasensprenger. Die Schwalben flogen hoch, ein Kuckuck rief, und der Wind, nicht mehr als ein Hauch, streichelte tiefblaue Rittersporndolden und die leuchtenden Köpfe gelber Margeriten.

Dr. Mellert schlenderte über den Rasen und sah in die Krone der uralten Blutbuche hinauf. So berichtete es später einer seiner Patienten, der mit dem Fahrrad vorbeigefahren war, über die Hecke gesehen und seinem Arzt einen Gruß zugerufen hatte, der allerdings unerwidert blieb. In diesem Moment zerriss der Lärm des Rettungshubschraubers, der auf dem Weg zu einem Unfall an der Autobahnauffahrt über die Lilienstraße donnerte, die Stille der Gärten. Das Klavier spielende Kind im Gartenzimmer des Hauses Lilienstraße Nummer sechs begann vor Schreck zu weinen, und seine Mutter erließ ihm zum Trost und zur eigenen Erleichterung den Rest der Übung. Der Terrier in Nummer fünf gegenüber dem Mellert’schen Haus bellte hysterisch auf.

Dr. Mellert lauschte dem Lärm nach, dann kehrte er mit langen Schritten und ohne sich noch einmal umzusehen in sein Haus zurück. Er schloss die Terrassentür hinter sich und zog die Vorhänge zu, sorgsam, als wolle er für einige Zeit verreisen. Das beobachtete die Nachbarin von Nummer zwei, die, vom Lärm des Hubschraubers in ihrem Liegestuhl geweckt, aufgestanden war, um den Rasensprenger abzudrehen.

Was dann geschah, kann nur vermutet werden: Er stieg in den Keller hinunter, nahm dort eines seiner Gewehre und einige Patronen aus dem Waffentresor. Womöglich setzte er sich erst jetzt an den Sekretär im Wohnzimmer und schrieb die wenigen Zeilen, vielleicht hatte er das aber auch schon früher getan. Dann, es muss etwa 11 Uhr 30 gewesen sein, öffnete er die Garage, verstaute die Waffe auf dem Rücksitz des BMW und fuhr in das Waldgebiet nördlich der Stadt hinaus, das von alters her Klosterwald genannt wurde. Dort kletterte er die Leiter zu dem Hochsitz hinauf, von dem aus er am liebsten und an vielen Abenden das Wild beobachtet hatte, lud sein Gewehr und setzte seinem Leben ein Ende.

Vielleicht hatte er gezögert und seinen Entschluss noch einmal überdacht, vielleicht hatte er gleich abgedrückt. Das wusste niemand. Und niemand, der ihn gekannt hatte, verstand, warum er es getan hatte. Dr. Mellert war ein beliebter Arzt und angesehener Bürger, seine Ehe galt als gut, jedenfalls nicht schlechter als andere, seine beiden Kinder empfand jeder als wohlgeraten. Auch von Schulden oder Lastern jeglicher Art, die doch in einer kleinen Stadt wie Möldenburg kaum verborgen geblieben wären, war nichts bekannt. Das Gerücht, er sei an diesem Vormittag nicht alleine im Haus Lilienstraße Nummer vier gewesen, sondern habe einen Unbekannten zu Besuch gehabt und auch mit in den Wald genommen, blieb eines dieser Gerüchte, die stets auftauchen, wenn etwas Beunruhigendes, etwas Unerklärliches geschieht.