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Intime Geschichten
– 3 –

Die Villa in Florenz

Susan Perry

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-86377-088-4

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Du hast mich nie gewollt

von Thomas Tippner

Kapitel 1

Der Brief

Nancy war eine von vielen.

Eine, die Sebastian schnell wieder vergessen hatte. Eine der Frauen, die ihn sein ganzes Leben lang schon begleiteten. Sie tauchten auf, ähnlich einem Sonnenstrahl, der es schaffte, dunkle Wolken für einen kurzen Augenblick zu vertreiben. Dafür da, um einem das Gefühl zu geben, Wärme genießen zu können. Eine Abwechslung, die man wohlwollend in Kauf nahm.

Sebastian tat es … immer wieder.

Er liebte es, sich mit jungen attraktiven Frauen zu treffen, sie zu umgarnen, und ihnen einen kurzen Blick in das Leben zu gönnen, dass sie allein nicht erreichen würden. Ein Leben, das für sie alle Träume in sich trug, die aber sofort drohten zu zerplatzen, wenn sie nicht anfingen, selbst an sich zu arbeiten.

Das taten die wenigsten.

Zu Sebastians Glück.

Sie waren viel zu schnell von seinen charmanten Worten beeindruckt und von dem nach außen getragenen Wohlstand. Er wollte ihnen einen Blick in seine Welt gewähren und sie so hoffen lassen, selbst Teil seines Universums sein zu können.

Sie waren so blöd … so leichtgläubig und naiv.

Nancy hatte Glück gehabt, dass sie das ganze Pfingstwochenende mit ihm hatte verbringen dürfen. Auch wenn sie ihn bereits nach dem zweiten Abend massiv gelangweilt hatte, hatte er sie trotzdem nicht mit einem fadenscheinigen Argument wieder nach Hause geschickt.

Nancy war zu so viel mehr fähig als die anderen Frauen. Sie setzte, zu Sebastians Freude, eigene Ideen im Bett um. Sie hatte sich von ihm nicht den Schneid abkaufen lassen.

Jetzt, wo er müden Schrittes in das geräumige Wohnzimmer trat, an dessen Wand ein überdimensionaler Flachbildfernseher hing, sah er sie auf der Couch sitzen. Nichts weiter als ein weißes, langes Hemd über ihrer üppige Oberweite, das bis hinunter zu ihren Po reichte und den Ansatz ihrer langen Beine dadurch unterstrich.

Sie war äußerst nett anzusehen. Selbst am frühen Morgen umspielten ihre blonden Locken beinahe zärtlich ihr zart geschnittenes und weiches Gesicht, in dem Sebastian ohne philosophisch klingen zu wollen, immer etwas Kindliches erkannte. Sie war ausgesprochen schön, sie hatte weiche, porzellanweiße Haut und dazu einen roten, liebreizenden Mund, dessen Lippen schmal, aber nicht verkniffen waren. Wenn sie lachte, offenbarte sich ihre ganze Schönheit uneingeschränkt.

Das Einzige, was ihn an ihr störte, war der oft ins Leere gerichtete Blick.

Lukas, sein bester Freund, der gestern Abend kurz vorbeigekommen war, um mit ihm dem sonntäglichen Angelausflug zu besprechen, hatte spaßeshalber gesagt: „Licht ist an! Aber niemand ist zuhause.“

Beide hatten über den Scherz lange gelacht. Laut und ausgiebig. So gehässig und hinterhältig, dass Sebastian seinem besten Freund irgendwann auf die Schulter klopfen und sagte: „Der war gut. Der war wirklich richtig gut!“

„So bin ich halt“, hatte Lukas abwinkend gesagt, und dann der freundlich lächelnden Nancy zu gewinkt, die seinen Gruß freudestrahlend erwiderte. Beinahe so, als freue sie sich darüber, dass man sie wahrnahm.

Eben die Naivität war es, die Sebastian – zu seiner Verwunderung - an ihr faszinierte. Nancy wurde dadurch unberechenbar. Er, der immer alles ganz genau plante, sich alles stets zurechtlegte und das Talent besaß, seine ausgedachten Pläne wie Inspirationen aussehen zu lassen, war begeistert und erschrocken zugleich, wenn er Nancy reden hörte.

Begeistert deshalb, weil er genau wusste, was sie sich in ihren beschränkten Denkweisen ausmalte. Sie redete von banalen Dingen, als habe sie sich darüber ernsthafte und tief gehende Gedanken gemacht. Besonders dann, wenn sie mit Frau Hartmann zusammen war, um ihr bei der Dekoration der Räume zu helfen.

Erschrocken war Sebastian aus dem gleichen Grund. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Nancy das meinte, was sie sagte. Zum Beispiel, dass sie ernsthaft in Erwägung zog, nach Florida reisen zu wollen, weil es dort keine Insekten gab.

„Keine Insekten?“, hatte Sebastian verwirrt gefragt, während sie zusammen auf der schwarzen Ledercouch lagen, und auf dem Bildschirm die Komödie „Wir sind die Millers“ anschauten.

„Die werden doch sofort von den Krokodilen gefressen“, behauptete sie steif und fest und hatte dann nach einem weiteren Stück vegetarischer Pizza gegriffen. Sie ertrug es nicht, wie sie sagte, wenn Tiere ihretwegen geschlachtet werden mussten.

„Äh … ja“, war Sebastians ganze Antwort dazu gewesen.

Er hatte ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, sie nach der hirnrissigen Bemerkung abzuschieben. Ein kurzer Anruf bei Lukas, und alles wäre geritzt gewesen. Aber dann, als er sie ungläubig anstarrte und sich fragte, was wohl noch für verrückte Vorstellungen in dem schönen Köpfchen wohnen könnten, hatte sie angefangen ihm Welten zu zeigen, in denen er noch niemals zuvor gewesen war.

Ausgelaugt und ausgepumpt hatten sie auf der Couch gelegen, während Sebastian mit einer ins Fleisch und Blut übergegangenen Handbewegung unter den Tisch griff, und eine Flasche Sagrotan hervorholte. Ihm schwirrte noch immer der Kopf, von den Wogen des Glücks, der Geilheit und des in ihm kurz aufklingenden Gefühl des Schams. Nicht, weil er prüde war, sondern deshalb, weil er niemals damit gerechnet hätte, dass er es einmal sein würde der schrie: „Weiter! Mach weiter! So will ich es!“

Dass hatte er immer aus den Mündern der Frauen gehört. Er war darüber so verwundert, dass ihm der Griff zum Desinfektionsmittel wieder in seine gewohnten, seine ihn wohlbekannten Bahnen lenkte, in denen er der Herr war. Nancy hingegen war wieder sie selbst. Sie lächelte ihn an, beugte sich vor, während er sich die Hände abwischte und ihn fragte, während er noch immer die Wogen der Lust genoss, die durch seine Lenden tobten: „Was ist denn das für ein Brief?“

Sebastian zuckte mit den Schultern: „Keine Ahnung.“

„Briefe sind doch zum Lesen da“, meinte Nancy und störte sich nicht daran, dass Sebastian um sie herum die Ledercouch putze.

Allein der Gedanke daran, dass das gute, teure Leder von Körperflüssigkeiten beschmutzt, beziehungsweise beschädigt werden könnte, ließ Ekel und Abscheu in ihm emporsteigen.

Alles musste seine Ordnung haben.

„Liest du ihn nicht?“, hatte sie am Abend wissen wollen.

„Nein!“, sagte er. „Aber du könntest schon einmal nach oben gehen, und das Wasser einlaufen lassen. Wenn du verstehst, was ich meine!“

„Ich verstehe!“, sagte sie und nickte ihm verschwörerisch zu, während sie den Brief auf den Glastisch fallen ließ, der ebenso einsam in der Gegend herumstand, wie die in der Ecke auf einem kleinen Sekretär stehende Vase, die völlig leer war. Sie ging an der silbergehaltenen Vitrine vorbei, die von innen heraus leuchtete und nur sechs Gläsern Platz bot.

„Dann hoch mit dir!“

Sie kreischte, als er ihr in den Hintern kniff, und so tat, als wolle er ihr hinterherlaufen.

Sebastian aber hatte den Brief betrachtet, während Nancy lachend nach oben verschwand. Der Brief, der ihn schon seit Tagen immer wieder ins Auge fiel. Der Brief, den er nicht wie die übliche Post einfach wegwarf.

Etwas hinderte ihn daran, das eng beschriebene Stück Papier zu entsorgen.

Warum auch immer.

Bisher hatte er keine besonderen Skrupel gekannt, Briefe in den Müll zu befördern.

Im Büro tat er das am Tag Dutzende Male. Es war ein Leichtes für ihn, das Papier zu einer Kugel zusammenzuknüllen und in den Papierkorb zu werfen, als wäre er ein NBA Profi. Zu Hause ebenfalls. Den Großteil seiner Post machte er gar nicht erst auf.

Das da, was da vor ihm lag, konnte er nicht wegwerfen. Dafür gab es kein routiniertes Manöver, keine einstudierte Wurftechnik, die das Papierknäuel sicher in den Abfall beförderte.

Der Brief war anders.

Er war gestern Abend in Nancys Händen gewesen, und er war es auch heute Morgen, als sie bezaubernd aussehend auf der Couch saß, und das auseinander gefaltete Stück Papier aufmerksam las, während ihre Lippen jedes einzelne Wort zu buchstabieren schienen.

Sebastian hatte seit der achten Klasse zu so gut wie gar nichts mehr eine Beziehung aufgebaut.

Weder zu seinem Hause, das für ihn nichts weiter war, als ein Prestigeobjekt, noch zu seinen BMW noch zu dem Porsche, die beide in der Garage standen. Sie waren dafür da, um kurz im aufflackernden Lichtkegel der Garage aufzutauchen und bestaunt zu werden.

Ein weiterer Beweis seines Erfolges.

Ein Beweis dafür, was er erreicht und geschafft hatte.

Dinge waren dafür da, um besessen zu werden. Gegenstände dafür da, damit man sie benutzte. Reichtum für jene bestimmt, die wussten, wie man ihn mehrte.

Selbst die im Aquarium schwimmenden Fische, waren als Blickfang gedacht. Als kurze Impression seiner inneren Ruhe, um zu zeigen, wie liebevoll er war.

In Wirklichkeit war das blöde Ding nicht mehr und nicht weniger als ein Raumteiler, der dazu diente die geräumige und nie benutzte Küche vom Wohnzimmer zu trennen.

Die Fische waren teuer gewesen, das Aquarium sah stylish aus, und der Innenausstatter war so begeistert von seiner Arbeit gewesen, dass Sebastian ihn bereitwillig zugestand, eine kleine Klippenlandschaft in das riesige Wasserbecken zu bauen.

Wenn es geil aussah, war es gerade gut genug für ihn.

Aber der Brief … der hatte eine eigene, fremde Dynamik angenommen, die er nicht begreifen konnte.

Sebastian erinnerte sich, wie er ihn damals aus der Post gezogen hatte. Er wäre beinahe achtlos mit den anderen Postwerfsendungen im Papiermüll gewandert. Aber als wäre der Brief dazu bestimmt gewesen, seinen Empfänger ausgehändigt zu werden, hatte er zwischen den ganzen anderen Umschlägen herausgeragt.

Die abgeknickte, obere linke Ecke hatte wie ein kleiner Haken gewirkt, der verhinderte, dass der Brief unter die anderen rutschen konnte. Und so hatte er ihn schließlich hervorgezogen und die jugendliche, geschwungene Handschrift darauf gesehen, die den Brief an ihn adressiert hatte. Eine Handschrift, die er noch nie zuvor in seinem Leben gesehen hatte.

Bewerbungen, die er damals in der Personalabteilung bei Lother & Gabriel Investment Company gelesen hatte, als er seinen ersten Schritt auf der Karriereleiter gemacht hatte, waren allesamt maschinell erstellt worden. Nur die Unterschrift, hatten allesamt ähnlich ausgehen, wie die feinsäuberlich auf den Umschlag prangenden Buchstaben.

Es hatte ihn verwirrt, einen solchen Brief überhaupt zu bekommen. Noch dazu in so einem kitschigen und lächerlich wirkenden Briefumschlag.

Noch nie hatte er sich etwas aus Naturszenen gemacht. Er fand nichts langweiliger, als einen Blick auf eine sich vor ihm ausbreitende und bis zum Horizont erstreckende Wiese. Allein schon der Gedanke daran, dass er über eine solche gehen sollte, ließ ein Gähnen in ihm aufsteigen.

Der Umschlag zeigte ihm genau das.

Eine im Sonnenlicht daliegende Wiese, die auf einen sich als angedeutete Silhouette abzeichnenden Wald zulief. Am linken Rand sah man noch die wallende, vom Wind durchflutete Mähne eines Pferdes.

Ein Fuchs, wenn er sich recht erinnerte, da die Mähne, der Körper wie auch der Schweif des Tieres ganz braun waren. Ein bildschönes und in all seiner Eleganz eingefangenes Tier. Man erkannte die Kraft, den Willen und die unbremsbare Gier nach Leben, wenn man in das Gesicht des Tieres schaute.

Schade war nur, dass so ein Pferd dafür herhalten musste, auf einem Briefumschlag gebannt zu werden, dem man die vor Schmerz und Liebeskummer triefenden innen liegenden Briefe ansehen konnte. Ein Kummer, der nur von vierzehnjährigen naiven Mädchen geschrieben werden konnte, und so albern und aufgesetzt klang, dass es einem unwillkürlich dazu verleitete, die Augen zu verdrehen.

Himmel, der Briefumschlag war so kitschig, dass er nicht einen müden Cent für ihn ausgegeben hätte.

Was ihm als Nächstes aufgefallen war, als er den Umschlag aufriss, war das billige, nach penetranten Rosen riechende rosa Papier gewesen, und … weiter war er nicht gekommen.

Warum auch immer, irgendetwas hatte ihn daran gehindert, den Brief aus dem Umschlag zu nehmen, und ihn zu lesen. Etwas, dass ihm Magenschmerzen bereitete und seine spöttischen Gedanken negativ werden zu lassen.

Solch einen Abfall seiner inneren Zufriedenheit hatte er noch nicht erlebt.

Niemals.

Er war immer auf einer Welle der Euphorie und der ausgelassenen Selbstverliebtheit geschwommen. Es hatte für ihn keine andere Möglichkeit gegeben, als sich selbst zu lieben. Ob es seinen Mitmenschen gefiel oder nicht.

Der Brief hatte das geschafft, was er für unmöglich gehalten hatte.

Er musste seufzen, wenn er nur an das in ihm aufsteigende Gefühl der Unsicherheit dachte. Eine Unsicherheit, wie er sie nur einmal in sich hatte aufsteigen spürte. Und dass lag schon so lange zurück, dass er meinte, es gar nicht erlebt zu haben.

Es ist gar nicht echt, dachte er und blinzelte, als er begriff, dass die auf der Couch sitzende Nancy gerade damit begonnen hatte, in seinem Brief zu lesen, oder habe ich tatsächlich einmal zitternd und von Selbstzweifeln geplagt vor meinem Abteilungsleiter gestanden und Angst davor gehabt, meinen ersten Ausbildungstag in der Lother & Gabriel Investment Company zu beginnen?

Das Gefühl gab es nie wieder.

Und doch war es da.

Es hatte in ihm geruht und geschlummert, still und heimlich darauf gewartet, um sein explodierendes und überschäumendes Selbstbewusstsein in die Schranken zu weisen.

Seine Unsicherheit war vergessen – wie er angenommen hatte - genauso wie die vielen Frauen, mit denen er im Bett gewesen war. Es hatte gar nicht mehr in ihm existiert und war jetzt plötzlich mit so einer Wucht zu ihm zurückgeschleudert worden, dass es ihn beinahe von den Füßen riss.

Und jetzt las Nancy auf noch in dem Brief.

Scheiße Mann, sie saß einfach da mit ihren langen Beinen, ihrem blonden Wuschelkopf, den sich bewegenden Lippen, wenn sie die Buchstaben aneinanderreihte, auf der Couch, und las den verschissenen Brief.

Seinen Brief!

„Was machst du da?“, fragte er kurz angebunden, und griff, als er nahe genug an sie herangetreten war, nach dem Brief.

„Der ist ja toll“, sagte Nancy, machte aber keinerlei Anstalten, das handschriftlich beschriebene Stück Papier festzuhalten.

„Das geht dich aber nichts an.“

„Voll schöngeschrieben. Wer ist sie?“

„Pack deine Sachen“, sagte er kalt und war froh, dass er seine Bürostimme wiedergefunden hatte.

„Wir wollten doch noch zum Strand!“, hielt sie ihm wie ein Kleinkind vor, das nicht verstehen wollte, dass es eine plötzliche Planänderung im Tagesablauf gegeben hatte. „Das hast du mir versprochen. Und was man versprochen hat, das bricht man nicht.“

„Ich bezahl dir auch das Taxi!“

„Ich soll wirklich gehen?“, fragte Nancy verwundert und schob die Unterlippe vor, in der Absicht niedlich wirken zu wollen.

„Da ist die Tür.“

„Rufst du mich denn an?“

„Vielleicht.“

„Der Brief lag da einfach so herum, und ich dachte mir …“

„Ich ruf dir das Taxi schon!“, unterbrach er sie, weil er es nicht ertragen konnte, sie so dasitzen zu sehen. Er begriff, das ihre Dummheit, wie er es abfällig nannte, es geschafft hatte, einen Zusammenhang zwischen den in ihren Händen liegenden Brief und seinem verhalten herzustellen. Ihre Augen weiteten sich plötzlich, ihre Lippen zeigten ein überraschtes O und ihr Zeigefinger richtete sich langsam auf und ab wippend, auf ihn.

Ein Kompliment an das Gehirn, dachte Sebastian gehässig und faltete den Brief zusammen, um ihn in den auf dem Tisch liegenden Umschlag zu schieben.

Sie hatte nicht an seine Sachen zu gehen …

An keine einzigen.

Das was ihn verärgerte war, dass der Brief ihn nervös machte. So nervös, dass er schroff wurde und einer Frau den Laufpass gab, deren sexuellen Energien noch nicht erloschen waren.

Was würde sie noch alles mit ihm anstellen?

Die Aktion unter der Dusche war der Hammer gewesen, die Liebe auf der Couch berauschend. Was würde sie erst draußen am Strand mit ihm anstellen?

Ich Idiot werfe den Brief ja auch nicht weg, rissen seine Gedanken ihn zurück in die Wirklichkeit. Warum tue ich das nicht? Es wäre so einfach gewesen. Einmal zusammenknüllen, so tun, als wäre ich Michael Jordan und schwupps, weg ist er, im Mülleimer.

Aber mit Schwupps war es nicht getan.

Scheiße Mann, warum kann ich den gottverdammten Brief nicht einfach wegwerfen?

Während ihm der Gedanken durch den Kopf raste ärgerte er sich über sich selbst und rief das Taxi. Er gab Nancy zu verstehen, dass er keine Lust mehr auf sie hatte, indem er in die Küche ging und sich ein Müsli zusammenstellte.

Nancy, verunsichert und unschlüssig, versuchte ein Gespräch in Gang zu setzen, als er mit der bis zum rand gefüllten Schüssel an ihr vorbei ging. Sie verstummte wieder, als er an hinaus auf die Terrasse trat, und sich dort in einen seiner teuren und von einem stadtbekannten Designer hergestellten Liegestühle fallen ließ.

Erst als er das Klingeln an der Tür hörte und wahrnahm, dass Nancy auf ihren Stöckelschuhen über den Flur tippelte, ebbte seine Unsicherheit wieder ab.

Nicht, weil Nancy weg war, sondern deshalb, weil nur noch er den Brief lesen konnte. Ein Brief, der ihm die Kehle zu schnürte und mit den niederschmetternden Worten begann: Du hast mich nie gewollt, das weiß ich.

1

„Schau dir mal die Möpse an, Alter“, meinte Lukas lachend, während er mit Sebastian in der Mittagssonne in einem Café saß, um die kurze Pause zu genießen, die sie sich vom Büroalltag gönnten. „Die würde ich auch gerne mal kneten.“

„Die hat `nen Macker“, erinnerte Sebastian seinen Kumpel, während er den vor Kraft kaum laufen könnenden Kerl beobachtete, der lässig und unglaublich cool neben der attraktiven Frau herschlenderte.

„Als ob dich das stören würde“, antwortete Lukas grinsend.

Sebastian musste grinsen.

Natürlich störte ihn das nicht. So etwas hatte ihn noch nie gekümmert. Jede Frau war dafür da, einmal von Sebastian Freis beglückt zu werden. Das hatte er sich damals geschworen, als er betrunken auf einer Party beglückt worden war.

Er hatte sich an dem Abend ernsthaft eingebildet, dass er jede Frau bekommen könnte.

Frauen wie Nancy, meldete sich eine Stimme bei ihm, die er immer wieder mal hörte. Eine Stimme, die ihm nur in solchen Momenten heimsuchte, wie dem. Wenn er mit Lukas zusammen einen Espresso trank, ihre Blicke kurz schweifen ließen und Frauen entdeckten. Frauen, die vor knisternder Erotik zu brennen schienen. Frauen, die sie besitzen und flachlegen wollten. Frauen, die in ihm eine Stimme hervorriefen, die ihn verwirrte.

Dabei wussten sie wer sei waren.

Sie brauchten sich nicht verunsichern lassen.

Von niemanden.

Beide hatten sie eine schnelle Karriere gemacht. Sebastian noch schneller als Lukas. Was daran lag, dass Lukas bei Lother&Gabriel Investment Company angefangen hatte, als Sebastian ins 3. Lehrjahr wechselte.

Lukas aber war ebenso ehrgeizig, zielgerichtet und egoistisch, dass er ohne mit der Wimper zu zucken Schicksale ignorierte und bestehende Hierarchien aushöhlte und vernichtete. Ihm war es egal, ob jemand seit mehr als zwei Jahren auf eine Beförderung wartete. Ihm war es wichtig, so viel Geld wie möglich zu verdienen. Sprangen dabei noch Dividende dabei heraus … umso besser.

Wie Sebastian, liebte Lukas es, sich mit Frauen und schnellen Autos zu schmücken. Da war es ihm egal, ob die Frau einen Mann hatte oder nicht. Wenn er seine Beute ausgemacht hatte, dann stieß er auf sie zu, um sie in einem überraschenden Moment reißen zu können.

Gerade in solchen Momenten, wenn Sebastian mit allem zufrieden sein sollte, was er erreicht hatte, meldete sich in ihm eine Stimme, die ihm einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Eine Stimme die erschreckenderweise, wie die, seiner Mutter klang.

Frauen wie Nancy …

Ja, mit ihnen geben wir uns am liebsten ab. Schnell zu beeindrucken und ebenso schnell wieder zu entsorgen.

Du hast mich nie gewollt, das weiß ich.

„Ich sprech sie an“, meinte Lukas und stieß Sebastian gegen die Schulter, trank seinen Espresso und stand dann von seinem Platz auf, um der jungen Frau nachzueilen, die nun allein vor einem Schaufester stand. Lukas, der den Moment passgenau abgewartet hatte, war so schnell an die Frau herangetreten, dass sie sich gegen seine freundliche Kontaktaufnahme gar nicht wehren konnte.

Er stand plötzlich neben ihr, zeigte auf etwas, das Sebastian nicht sah und verwickelte sie dann in ein freundliches, zwangloses Gespräch. Dass sich ihr Freund nur zwei Häuser weiter befand, und vor einem EC-Bankautomaten stand, kümmerte Lukas nicht.

Es ist wie immer, dachte Sebastian und konnte den kalten Schauer nicht unterdrücken, der ihm nun über den Rücken jagte.

Du hast mich nie gewollt, das weiß ich.

Frauen wie Nancy …

Was sollte das jetzt plötzlich?

Mit solchen Gedanken hatte er sich bisher nicht beschäftigt, geschweige denn sich mit ihnen auseinandergesetzt. Alles war so gekommen, wie er es wollte.

Herr Walter und Frau Tram sei Dank, dachte er belustigt und wusste was er den beiden Lehrern zu verdanken hatte.

Alles.

Sie hatten Sebastian Freis erst geboren.

Sie hatten ihm zum Regisseur seines Lebens gemacht und ihn ein Drehbuch schreiben lassen, in dem er die Hauptrolle spielte. Er war der Mittelpunkt, alle anderen waren Statisten.

Er musste lächeln, als er seinem Freund dabei zusah, wie er die junge Frau umgarnte, sie zum Lachen brachte und in ihren ersten Zweifel emporsteigen ließ, ob das Leben, dass sie zurzeit lebte, erstrebenswert war.

Sebastian wusste, dass Lukas nun scherzeshalber über etwas redete. Das er ungezwungen lächelte, und erklärte, das er sie gesehen hatte und sich dachte, er müsse sie ansprechen. Tat er es nicht, wäre es eine vertane Chance, der er nicht hinterher trauern wollte.

Dabei zeigte, natürlich rein zufällig, dass er eine teure Uhr am Handgelenk trug. Sein Anzug war von Armani war – was ihm nicht wichtig war, weil die Frau ja zählte. Seine in Italien gefertigten Schuhe? Egal, nur die Augen der jungen Dame waren für ihn interessant.

Er machte das gut. Dabei ließ er sie die ganze Zeit nicht aus den Augen, schaute nicht einmal auf ihre voluminösen Brüste, noch auf die nackten Schultern, über die nur die Träger ihres Tops verliefen.

Alles im allem war sie ausgesprochen zierlich, sodass die großen Brüste so gar nicht zu ihr passen wollten. Sie wirkten fehl am Platz und ließen Sebastian nach einer unechten Form des Busens schauen, da er vermutete, dass sie künstlich gemacht worden waren.

Aber dann, als sie sich herumdrehte und ihre rot–blonden Haare mit einer spielerischen Handbewegung über die Schulter zurückwarf, sah er, dass ihre ganze Statur so angelegt war, dass sie „schwer“ tragen konnte.

Sie war durchtrainiert, ohne Frage. Dabei hatte sie das geschafft, was nur wenigen sportlichen Frauen gelang: Sie hatte die Weiblichkeit ihres Körpers erhalten können, ohne dass er sehnig geworden war oder in reinen Muskelmassen unterzugehen drohte.

Lukas hatte einen guten Geschmack …

Er hat eben beim Besten gelernt, lobte Sebastian sich selbst und erinnerte sich daran, wie er Lukas damals das erste Mal wahrgenommen hatte. Als der vor ihm gestanden hatte, in dem viel zu großen, von der Stange bei C&A gekauften Anzug. Wie er nervös mit seinen Händen gespielt hatte, und sich fragte, warum Sebastian ihn so offen musterte.

Er hatte ihn angeschaut, ihn betrachtet und sich dann dazu entschieden, Lukas in seine Geheimnisse einzuweihen. Und so waren sie nach gut einem halben Jahr eng befreundet und arbeiteten seitdem immer an den gleichen Projekten und stiegen nach und nach in der Firma auf.

Lukas, der zuerst gar nicht so gewirkt hatte, als würde er Karriere machen wollen, hatte sich schnell an den Erfolg gewöhnt. Er war an ihm gewachsen und er hatte seine Scheu abgelegt, als würde er aus einer Hose schlüpfen, die ihm zu eng geworden war.

Zusammen hatten sie alles erreicht.

Sie waren unzertrennlich.

Lukas war der Einzige, auf den Sebastian sich blind verlassen konnte.

Er war es auch, dem Sebastian es gönnte, eine heiße Frau abzuschleppen, die so bezaubernd aussah, wie die, die der gerade am Schaufenster angesprochen hatte. Lukas durfte bei ihm alles.

In dem Moment, als Sebastian sich den vor ihm liegenden Akten zuwenden wollte, die er bis zum Nachmittag in Reinschrift gebracht haben wollte, um sie morgen einen Kunden vorlegen zu können, geschah es. Erst dachte er, sich getäuscht zu haben. Dass ihm seine Augen nur einen Streich spielten, und seine in Aufruhr geratenen Gedanken ihm vorgaukelten, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen.

Aber als er blinzelte und über den Rand seiner rahmenlosen Sonnenbrille hinunter zu dem Hafenbecken schaute, an dem sich gerade unzählige Menschen niedergelassen hatten, um den beginnenden Sommer zu genießen, hatte er die blonde, drahtige Frau in der Menschenmasse auftauchen sehen. Einer Meeresschaumkrone gleich, die auf der obersten Wellenspitze tanzte, und das Sonnenlicht in sich brechen ließ. Es kam ihm so vor, als würde sie ihm geradewegs präsentiert werden. So, als würde die Menschenmenge sich vor ihm teilen, um ihm einen ungehinderten Blick auf die blonde, hochgewachsene Frau werfen zu lassen, dessen erneute Begegnung er stets gescheut hatte.

Sie war der Stachel in seinem Fleisch.

Sie war das, was er einen seelischen Schatten nannte. Eine Niederlage, die er nur schwer verdauen konnte.

Sie jetzt dort entlang Schlendern zu sehen, an der Hand zwei Kinder, die vielleicht sechs oder sieben Jahre alt waren, versetzte ihm einen Stich. Nicht, weil sie zwei Kinder hatte, sondern deshalb, weil sie ein offenes Kapitel in seinem Leben war.

Er erschauderte, als er mitbekam, wie sich eines der Kinder losriss, und zu einem der Schaufenster rannte, in dem es die neusten Star Wars Spielzeuge zu sehen waren. Es war Sebastian unmöglich, auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, wie es wohl gewesen wäre, wenn das da … nein, das konnte und wollte er nicht.

Hatte er ihr nicht den Tipp gegeben War er es nicht, der meinte, sie wäre ohne das alles da, besser dran?

Kinder waren nie sein Ziel gewesen.

Sie behinderten einen dabei, die selbstgesteckten Pläne zu verwirklichen. Kinder hinderten einen daran, sich im Leben zu positionieren. Wäre er Vater geworden – Himmel – er hätte weder einen BMW oder Porsche. Er würde einen Skoda Octavia fahren, Kindersitze kutschieren und Anzüge tragen, die er bei C&A hätte kaufen müssen.

Das konnte uns wollte er nicht. Allein der Gedanke daran ließ ihn einen kalten Schauer des Entsetzens spüren, der ihm vom Magen aus weit bis in den Brustkorb fächerte.

Was ihm nun aber einen Stich versetzte, war nicht das Kind, das sich von ihrer Hand losriss, sondern der Mann, der plötzlich aus der Menschenmenge geschossen kam, den Kleinen unter den Armen kitzelte und lachend rief: „Sollst du einfach weglaufen, Pirat?“

Sebastian lief es kalt den Rücken herunter.

Das hatte er nicht erwartet.

Sebastian war mit sich plötzlich uneins. Es dauerte etwas, bis er begriff, dass es auch nicht der Mann war, der ihn störte, der plötzlich im Szenario auftauchte. Es war ein Gedanke, ähnlich jenen, den er gehabt hatte, als Nancy den Brief las und er meinte, seine Schüchternheit wieder zu spüren. Jetzt, wo er Denise dastehen sah, ihren Mann neben sich, den Ruf auf den Lippen, dass der Kleine zu ihr kommen sollte, kam der Gedanke wieder. Heftiger, durchdringender, als er ihn bisher je gespürt hatte.

Sebastian versuchte sich wieder zu konzentrieren. Er wollte seine Blicke von Denise und ihren Mann losreißen. Wollte das: „Sollst du einfach weglaufen, Pirat?“, aus seinem Verstande bannen. Er schauderte.

Das da hätte er sein …

Frauen wie Nancy …

Er versuchte die Stimme seiner Mutter zu ignorieren. Er zwang sich dazu, den Blick wieder zu senken.

Die Papiere waren wichtig.

Ungeheuer wichtig.

Wenn er den Deal über die Bühne brachte, winkte nicht nur eine saftige Provision, sondern auch die Chance ins höhere Management aufsteigen zu können. Das, was er immer gewollt hatte. Das, was er brauchte, um sich selbst besser zu fühlen.

Der Erfolg gab ihm recht.

Alles andere war nur bitterer Beigeschmack.

Und doch …

… erwischte er sich dabei, wie er zu Denise hinüberschaute, die ihr zweites Kind noch immer an der Hand hielt. Die wiederum zu ihrem Manne schaute, der dem Jungen am Schaufenster zurief: „Kommt schon. Wir wollten doch ein Eis essen gehen!“

„Yeah!“, rief der Junge mit den haselnussbraunen Haaren und streckte wie ein Sieger die Faust in die Höhe. „Eis essen!“

„Dann mal los, Pirat. Dort entlang!“

„Yeah!“, rief der Bengel noch einmal und war dann, wie sein Vater und sein Geschwisterchen – das sich nun ebenfalls von ihrer Hand losgerissen hatte – in der Menschenmenge verschwunden.

Nur sie blieb noch einen Augenblick deutlich sichtbar für ihn auf der Promenade stehen. Beinahe so, als merkte sie, dass die Blicke der Vergangenheit, auf sie gerichtet waren.

Ich habe ihr den besten Rat ihres Lebens gegeben, sagte er sich selbst. Ich habe sie den am besten ausgehandelten Vertrag ihres Lebens vor die Nase gehalten. Ich habe ihr Leben bereichert. Es geradliniger gemacht.

Ich …

… war der maßlos und egoistisch gewesen war. Ich habe mich über alles und jeden gestellt. Ich meinte, der wichtigste Mensch auf Erden zu sein.

Sebastian verzog die Lippen zu einem freudlosen Lächeln.

Er versuchte sich einzureden, dass er damals richtig gehandelt hatte. Das all seine Entscheidungen, fehlerlose gewesen waren. Jetzt, wo er dasaß und sie noch immer wie angewurzelt dort stehen sah, beschlichen ihn Zweifel, ob damals wirklich alles korrekt gewesen war.

War es, nickte er sich zu, und schob die Sonnenbrille wieder die Nase hinauf. Wo würde ich denn sonst heute stehen?