Heike Holdinghausen

DREIMAL
ANZIEHEN,
WEG DAMIT

Was ist der wirkliche Preis für T-Shirts,
Jeans und Co?

eBook Edition

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ISBN 978-3-86489-592-0
© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2015
Satz: Publikations Atelier, Dreieich
Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany

Inhalt

Vorwort

1 Was soll ich bloß anziehen?

2 »Danke, ich schau’ mich nur um!« Warum es immer mehr Kleidung gibt, die niemand braucht

Schrei vor Schreck

Verwertung oder Fairwertung?

3 »Wo hast du das denn her?« Warum große Marken oft selbst nicht wissen, wer ihre Sachen näht

Teuer bedeutet nicht automatisch gut

Kommt der Wohlstand, geht der Schneider

Textilindustrie im Land der Ingenieure

Der Gesetzgeber als Kunden-Coach

Mit Recht gegen Unrecht

Auch in der Mode: Small is beautiful

4 »Das geht wieder raus?!« Die Textilindustrie oder der Schrecken der Flüsse

Der Gesundheit wird’s zu bunt

Fluorcarbone – eine Kette von Problemen

Chemiebaukasten statt Bügeleisen

Dann lieber nackt?

5 Marlon Brandos gefährliche Hosen. Warum wir neue Jeans brauchen

Die spinnen in Dietenheim

Die Naturfaser, die Natur zerstört

Der lange Weg vom Stängel zum Garn

Der Siegeszug von King Cotton

6 Klamotten aus der Düse. Chemiefasern erobern unsere Kleiderschränke

Die Kunst der Flaschenpullover

Neue Ideen für den Stoff von gestern

7 »Das kratzt mich nicht!« Vom Leid der Tiere für billigen Strick

Auf der Wollroute

Funktionskleidung – natürlich gut?

Das harte Geschäft mit weichem Kaschmir

Kampf um die Tiere

8 Skifahren auf Algen. Der Boom der technischen Textilien

Von schlauen Teppichen und Jacken-EKGs

Mehr Ökologie für technische Textilien

9 »Wir brauchen mal was Neues!« Höchste Zeit für den Durchbruch der Ökomarken

Welche Siegel taugen?

Ökokleidung braucht globale Standards

Teuer, uncool, schwer erhältlich?

»Die neue grüne Masche«

»Es ist das Internet, Dummchen«

»Bio« braucht Ladenfläche

Drei Gründe für »Bio«

10 Statt eines Schlusswortes: Einkaufen gehen

Dank

Anmerkungen

Literatur

Anhang

Hilfreiche Siegel

Empfehlenswerte Onlineshops und Websites

Informationsquellen über faire und ökologische Mode

Einkaufsführer für Städte und lokale Einkaufsinitiativen

Vorwort

Wenn Kleidungsstücke ihre Biographien erzählen könnten, würde sich uns ein unermesslich vielgestaltiges Kaleidoskop der Zivilisations- und Technikgeschichte, aber auch der Sozial- und Kulturgeschichte erschließen. Weil sich diese grandiose Geschichte aufgrund ihres Umfangs nicht umfassend darstellen lässt, ist es ein Glücksfall, dass Heike Holdinghausen in ihrem Buch Stoff- und Textilgeschichten aufgreift und so darauf aufmerksam macht, wie direkt wir alle mit diesen verknüpft und verwoben sind. Geschickt werden besonders informative, fröhliche, traurige und hoffnungsvolle Fäden aus dem Weltstoffgewebe herausgezupft und betrachtet.

So wird in anschaulicher und einprägsamer Art und Weise vermittelt, dass Textilien immer noch aus Weltkulturpflanzen gewonnen werden und so einige entscheidende Kapitel der Geschichte der globalen Landwirtschaft geprägt haben und immer noch prägen: King Cotton in Denim-Jeans als symbolträchtiger Anstifter der Industriellen Revolution, der Sklaverei, der Blues- und Jazz- Musik, des Siegeszugs der Insektizide und Farbstoffe sowie als Auslöser ökologischer Katastrophen. Dass der Baumwollfaser nicht schon der Geduldsfaden gerissen ist, spricht für sie und ihre Strapazierfähigkeit.

Aber auch die Geschichte der Kunstfasern beleuchtet komplizierte wirtschaftliche und technische Wechselwirkungen im Guten wie im Bösen, die vor allem eines verdeutlichen: Textilien, Kleidungsstücke sind nicht einfach mehr oder weniger kunstvolle, funktionale Gewebe aus natürlichen oder synthetischen Fasern. Vielmehr ist jedes Kleidungsstück ein kompliziert zusammengesetztes, symbolbehaftetes Kulturgut, ein Lebensstilindikator, Chemikalienpotpourri, persönliches Statement und der Entwurf eines global vernetzten Wirtschaftszweiges.

Bei all dieser mehrdimensionalen Bedeutung von Textilien für unser Leben nimmt es Wunder, dass wir diese unablässig konsumieren, ohne die alltäglichsten, wiewohl eindrücklichsten Geschichten zu kennen und bei Kaufentscheidungen kritisch wertend zu berücksichtigen. Heike Holdinghausen gewährt uns in ihrem facettenreichen, augenöffnenden Buch wundersame, überraschende und bedenkenswerte Einblicke in die Welt der Textilien. Dabei umwickelt sie uns nicht etwa mit Seemannsgarn, sondern gibt uns den Ariadnefaden in die Hand, mit dessen Hilfe wir den Weg aus dem Labyrinth der unangemessenen Nutzungsweisen in eine ressourcenschonende Zukunft finden können.

Prof. Armin Reller, Lehrstuhl für Ressourcenstrategie an der Universität Augsburg

1
Was soll ich bloß anziehen?

Es ist wohl eine der ganz alten Menschheitsfragen: »Was soll ich bloß anziehen?« Als der Steinzeitmann Ötzi vor 5 300 Jahren in den Südtiroler Alpen starb, trug er einen Patchworkmantel aus Fell. Der war nicht nur warm; kunstvoll waren die Felle von Schafen, Gämsen und Ziegen vernäht, sodass sie ein Streifenmuster ergaben. Vielleicht hatte Ötzi gerade keine anderen Felle zur Hand und hat das Beste aus Second-Hand-Ware gemacht. Oder aber er legte Wert auf eine schicke Erscheinung. Mit seiner Kleidung könnte er seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe bekundet oder seinen Rang innerhalb dieser betont haben; vielleicht hatte das Muster auch praktische Gründe (Insektenschutz, wie bei einem Zebra) oder war schlicht Ausdruck seines persönlichen Geschmacks.

Die Funktionen von Kleidung sind vielfältig: Sie soll den Träger oder die Trägerin umhüllen und bedecken, soll wärmen oder vor Sonne und Regen schützen. Kleidung betont, nach dem Soziologen Pierre Bourdieu, den »kleinen Unterschied« und damit die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Milieu. Sie kann Statussymbol sein oder Haltungen ausdrücken – zum Beispiel die, keinen Wert auf Kleidung zu legen. Zudem sollen Kleider schmücken und für Wohlbefinden, Selbstsicherheit und Spaß sorgen. Nach einer anderen Lesart definieren sich Menschen mit ihrer Kleidung als Frau oder Mann, oder, mit Vivienne Westwood gesprochen: »Fashion is always about sex.«

In der Frage »Was soll ich bloß anziehen?« schwingen all diese Funktionen von Bekleidung mit, ob uns das bewusst ist oder nicht; also ist die Antwort darauf notwendigerweise kompliziert. Auch deshalb hat sich, quasi fast sofort nach Erfindung des Buchdrucks, ein umfangreiches Zeitschriftenwesen entwickelt, um den Fragestellern Antworten zu liefern. Das Journal des Luxus und der Moden aus Weimar oder die Londoner Gallery of Fashion lieferten den Damen des Adels und des Bürgertums schon vor dreihundert Jahren Informationen darüber, was in dieser und in der nächsten Saison zu tragen sei, beschrieben die Outfits von Prinzessinnen und Königinnen und nahmen sich dabei vor allem das modische Geschehen in London und Paris zum Vorbild. Vogue, Brigitte und Co. funktionieren noch immer nach diesem alten Muster.

Und noch etwas ist gleich: Die Männer und Frauen, die ihre Leserinnen vor dreihundert Jahren über die Hüte der Saison informierten, waren Zeugen der Industriellen Revolution, in der sich die Struktur der Gesellschaft, Geschwindigkeit, Mobilität, Arbeit, Konsum und Alltag grundlegend änderten. Seinen Ausgang nahm diese epochale Umwälzung in der Herstellung zunächst von Garnen, dann von Stoffen. Die Zeitgenossen nahmen diesen Umbruch selbstverständlich war und diskutierten ihn intensiv – aber nicht in den Journalen, die sich mit Kleidung befassten.

Ebenso heute: Die Herstellung der Kleidung oder gar die Erzeugung ihrer Rohstoffe spielt auch in den aufwändig produzierten Modestrecken kaum eine bis überhaupt keine Rolle, in den regelmäßigen Rezensionen der Modeschauen in Tageszeitungen (endlich mal eine Gelegenheit, Bilder schöner, junger Frauen zu drucken!) kommen diese Themen ebenfalls nicht vor. Auf den Gesellschaftsseiten geht es um Mode als kultureller Faktor, die Produktionsbedingungen finden hinten im Wirtschaftsteil statt, bebildert mit gebückten Näherinnen in Saris. Als vor wenigen Jahren die Globalisierung die gesamte Textilindustrie aus West- und Mitteleuropa fegte, entfachte dies zwar intensive Debatten. Nur nicht in den Zeitschriften, die über Kleidung berichteten. Weder Elle noch www.themandarinegirl.com interessiert es, woher das »dunkle Denim«, der »edle Lederblouson« oder die »herbstliche Bluse« stammen, wer sie wo und wie gewebt, gefärbt und genäht hat. Auch darum kann der Regisseur eines Films über die Modeindustrie in einem Interview sagen, er habe bis zu den Recherchen für seine Dokumentation nicht darüber nachgedacht, woher seine Klamotten eigentlich kommen. »Wenn ich ganz ehrlich bin, hatte ich die Vorstellung, diese Kleidung wird von irgendwelchen Maschinen hergestellt oder wächst auf Bäumen«, sagte Andrew Morgan der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.1 Damit ist er ganz sicher nicht alleine.

Zwar geben Verbraucher bei Umfragen regelmäßig an, dass ihnen die Herstellungsbedingungen ihrer Kleidung wichtig seien. In einer Umfrage im Sommer 2014 sagte sogar ein Drittel der Befragten, keinesfalls würden sie ein Kleidungsstück kaufen, das unter unmenschlichen Produktionsbedingungen hergestellt worden sei.2

Aber für Konsumenten ist es schwer, einigermaßen verantwortungsbewusste Firmen von den ganz schwarzen Schafen zu unterscheiden. Preis und Herkunft eines Kleidungsstücks geben keine Auskunft darüber, wie es produziert wurde. Dutzende von verschiedenen Labeln über eine (angeblich) nachhaltige Herstellung verwirren die Kunden eher, als ihnen den Weg zu guten Sachen zu weisen. Der Siegelwirrwarr im Klamottenladen ist seit zwanzig Jahren umstritten, aufgelöst hat ihn noch niemand. Langsam beginnen sich einige wenige Siegel durchzusetzen; im Bereich der sozialen Lage der Arbeiterinnen etwa die »Fair Wear Foundation«, die konstruktiv zusammen mit Unternehmen an einer fairen Lieferkette arbeitet, und auf dem Feld der Ökologie der GOTS, der »Global Organic Textile Standard«. Zum Teil ist es überraschend, welche Marken sich auf den Weg gemacht haben. Neben bekannten Öko-Versandhändlern wie Hess Natur oder Waschbär arbeitet auch der Billiganbieter Takko mit der »Fair Wear Foundation« zusammen. Es lohnt sich für die Verbraucher also, genau hinzuschauen – auch in ihrer Umgebung. In vielen Städten finden sich Schneiderinnen oder Designer, die kleine Kollektionen mit nachvollziehbarer Lieferkette anbieten. Zwar sind deren Kleider meist nicht ganz billig, aber weniger ist bekanntlich mehr.

Über eine Milliarde noch tragbarer Kleidungsstücke werfen die Deutschen Jahr für Jahr aus ihren Schränken, um Platz für neue zu schaffen. Die ausgemusterten Stücke landen im Altkleidercontainer – und irgendwann auf einem Markt in Osteuropa oder Afrika. Noch immer gehen die Meinungen darüber auseinander, ob gute Gebrauchtkleidung in armen Ländern ein wichtiges Angebot für die dortigen Konsumenten darstellt, mit einer eigenen Wertschöpfung aus Reparatur und Handel – oder ob die Altkleiderschwemme aus dem reichen Norden die örtliche Textilindustrie zerstört und die Entwicklung behindert. Auf jeden Fall beruhigt sie das Gewissen der Verbraucher in den Industrienationen; sie können weitershoppen – ihre alten Kleider tun ja Gutes, fasst es eine Entwicklungsorganisation zusammen.

Die Sache hat nur einen Haken: Der Ressourcenverbrauch der »Fast Fashion« ist zu hoch. Zwischen zwei und drei Milliarden Jeanshosen werden weltweit jedes Jahr verkauft, und damit Unmengen von Baumwolle. Sie wächst auf um die zwei Prozent der weltweiten Ackerfläche, verbraucht aber ein Viertel aller in der Landwirtschaft eingesetzten Insektengifte. Die durstige Pflanze lässt Flüsse und Seen vertrocknen, Ackerboden wird versalzen und unfruchtbar. Für beinahe jedes T-Shirt aus »reiner Baumwolle« wurde ein bisschen wertvoller Boden vernichtet und eine Frau, womöglich sogar ein Kind ausgebeutet. Das gute Gefühl auf der Haut schwindet bei dem Verbraucher, der um den Giftcocktail darauf weiß. Damit ein Kleidungsstück aus Pflanzenfasern seine Form behält, sich problemlos waschen und bügeln lässt und kunterbunt oder gar schwarz gefärbt werden kann, sind Dutzende teils hochgiftiger Chemikalien notwendig. Einst hat die Kleiderproduktion die Flüsse in Europa orange gefärbt und ihr Wasser ungenießbar gemacht, heute schillern die Flüsse in China in den Farben der Saison.

Obwohl das einer breiten Öffentlichkeit bekannt ist, haben die traditionellen Faserpflanzen wie Flachs und Hanf gegen die billige und leicht zu verarbeitende Baumwolle keine Chance. In den Faserstatistiken sind sie kaum sichtbar, so gering sind ihre Produktionsmengen. Chemiefasern aus Erdöl aber haben der Baumwolle inzwischen den Rang abgelaufen, jährlich steigen ihre Produktionsraten. Sogar Ökodesigner interessieren sich für Kunstfasern, allerdings aus Recyclingmaterial. Die Ökobilanz von Recyclingpolyester ist gar nicht schlecht, trotzdem ist ihr massenhafter Einsatz in Kleidung ein zweischneidiges Schwert. Wolle hingegen ist einer der ältesten Bekleidungsrohstoffe der Welt, lange Zeit war sie der bedeutendste. Heute spielt auch sie nur noch eine kleine Rolle; das ist einerseits schade, besitzt das Fell der Schafe doch wunderbare Eigenschaften. Doch massenhaft gehalten, geht es ihnen wie allen Tieren, die für einen auf schnelles Wachstum gepolten Markt gehalten werden: schlecht. Überweidete und überdüngte Gebiete, in denen zu viele Herden gehalten werden, gehören auch zur Bilanz von »reiner Schurwolle«.

»Was soll ich bloß anziehen?« Diese Frage bekommt einen ganz neuen Klang, wenn der Alltag der Arbeiter in den Textilfabriken in die Antwort mit einfließt, die Masse der Chemikalien, die für die billigen und bunten Kleider nötig sind, die unglaubliche Menge an Wasser und Boden, die für »noch mal eben schnell was shoppen gehen« verbraucht werden.

Die Bilanz unseres massenhaften Kleiderkonsums kennen die meisten Verbraucher relativ genau – doch sie handeln nicht danach. Jugendliche wissen laut einer Umfrage von Greenpeace gut darüber Bescheid, dass viele der begehrenswerten Kleidungsstücke im Laden oder Onlineshop mit hochgiftigen Chemikalien behandelt wurden. Mit 96 Prozent ist eigentlich auch allen Befragten klar, dass die Arbeiter in der Modeindustrie zum Teil unter miesen Bedingungen schuften. Doch anders shoppen sie deshalb nicht; ökologische oder faire Mode bewegt sich noch immer in einer winzigen Marktnische. Anders als bei ökologischen Lebensmitteln ist der Begriff »Bio« in Bezug auf Kleidung nicht geschützt, es gibt jede Menge Definitionen. Darum ist auch eine exakte Statistik darüber nicht erhältlich, doch dürfte der Anteil von fair und ökologisch hergestellter Kleidung am Gesamtmarkt etwa ein Prozent betragen – wenn überhaupt. Den Jugendlichen, die Greenpeace befragt hatte, sind Ökoklamotten zu teuer, sie finden sie schwer erhältlich oder halten sie für hässlich – der Jutesack der Ökogrün-dergeneration wirkt nach. Das Image einer Marke ist für ihren Erfolg ungemein wichtig, nicht umsonst geben große Hersteller und Ketten zum Teil die Hälfte ihres Umsatzes für Marketing aus. Geld, das kleinen Bio-Brands fehlt.

Im Spiel mit Mode ist Image ein wichtiger Aspekt; ein weiterer ist die Trägerin, der Träger selbst. Ein vernähtes Stück Stoff entfaltet sich eben erst dann zum Kleid, zur Hose oder zur Bluse, wenn der Kunde oder die Käuferin es angezogen hat, wenn es sich an ihm bewegt und sich nach seinem Körper formt oder ihn formt. Kleidung wird erst interessant, wenn sie getragen wird, wenn Haltung, Figur und Erscheinung der Person hinzukommen. In Kleidung gehüllt (so spärlich sie auch sein mag) treten wir der Welt gegenüber; diese soziale Funktion wirkt schwer.

Allerdings, es ist etwas in Bewegung gekommen. Dutzende von Designern entwerfen Kleidung aller Stilrichtungen, für Skater und Surferinnen, für Geschäftsfrauen und Modefreaks, für Sportreporter und Lateinlehrer (die es erfahrungsgemäß bequem mögen) – und achten auf nachhaltige Produktion. Sie arbeiten mit der »Fair Wear Foundation« zusammen oder führen das GOTS-Siegel. Auch wenn sich die Bewegung der Branche (noch?) nicht in Marktanteilen zeigt: Just in dem Augenblick, in dem die Käufer die Übersicht über die Herstellung von Kleidung vollkommen verloren haben, beginnen sie, sich für sie zu interessieren. Das zeigen nicht nur die erwähnten Umfragen, sondern auch die großen Handelsketten und Hersteller selbst, die ihre Kunden und deren Wünsche genau im Blick haben. Zumindest oberflächlich geben sie sich auf einmal »nachhaltig«; sie arbeiten vordergründig an politischen Initiativen mit, um die Situation in der Lieferkette zu verbessern, und verwenden ökologische Rohstoffe wie Biobaumwolle. Outdoorhersteller arbeiten mit an runden Tischen, um den Einsatz giftiger Chemikalien in ihren Jacken zu reduzieren; und ein großer Konzern nach dem anderen knickt vor der »Detox-Kampagne« von Greenpeace ein, mit der die Umweltorganisation die Kleiderschränke entgiften will.

Veränderungen beginnen zum Teil auch in Bereichen, die nur wenig öffentliche Aufmerksamkeit erfahren (und auch in diesem Buch sträflich vernachlässigt werden). Da ist zum Beispiel der milliardenschwere Markt der öffentlichen Beschaffung. Die öffentliche Hand ist einer der wichtigsten Kunden für Textilien; die gesetzlichen Grundlagen für staatliche Käufe werden derzeit überarbeitet. Umwelt- und Entwicklungsverbände lobbyieren intensiv dafür, dass Kommunen, Länder und der Bund ihr Geld für sozial und ökologisch hergestellte Krankenhausbettwäsche, Uniformen oder Sitzpolster ausgeben. Auch das interessante Thema »technische Textilien« wird nur angerissen. Kleidung mit besonderen Funktionen, etwa extrem hitzebeständige Uniformen für Feuerwehrmänner oder Gewebe, die allen möglichen Zwecken dienen (als Sitzbezug, als Unterlage für Skihänge oder kommunizierender Teppich), bilden einen Markt, auf dem die europäischen Anbieter international noch wettbewerbsfähig sind. Webereien und Spinnereien arbeiten für Branchen wie die Automobilindustrie; hier findet Forschung und Entwicklung statt und es entstehen Arbeitsplätze, hier haben sich die Reste der heimischen Textilindustrie erhalten.

Seit Kleidung industriell hergestellt wird, klagen Näherinnen über die erbärmlichen Zustände an ihren Arbeitsplätzen. Die Textilindustrie war eine der ersten, die exzessiv giftige Chemikalien einsetzte, um Stoffe zu färben oder ihnen bestimmte Eigenschaften zu verleihen. Doch scheint die Branche inzwischen selbst zu erkennen, dass sie in dieser Tradition nicht weitermachen kann. Will sie das Vertrauen der Kunden erhalten, muss sie nachhaltiger produzieren, langsamer, weniger. Und auch die Kunden können entschleunigen, weniger, seltener, dafür Besseres kaufen. Denn egal, ob der Kleiderschrank aus allen Nähten platzt oder nur ein einziger Mantel aus Ziegenfell darin hängt: Die uralte Menschheitsfrage »Was soll ich bloß anziehen?«, die bleibt.

P.S.: Im Anhang finden Sie eine Liste mit Links; Tauschbörsen und Second-Hand-Läden im Internet, faire Shoppingführer für verschiedene Städte, Anbieter grüner oder fairer Mode sowie eine kleine Übersicht empfehlenswerter Siegel. Es liegt in der Natur des Netzes, dass diese Liste nicht vollständig ist, sondern eher einen Einstieg bietet zu eigener Recherche … Viel Vergnügen!