Wolfgang Büscher

Deutschland, eine Reise

Inhaltsverzeichnis

Karte

Widmung

Eines Tages sprang ich in den kalten Rhein

AM BLAUEN MEER

Eine Stadt in meinem Alter

Sister Swan aus Missouri

Sonntag in den Siebzigern

Minima Westfalia

Der Spuksammler von Leer

Wind

Der Arzt von Helgoland

Im Anflug

Hippies in Klanxbüll

Timmendorfer Schnitten

Et in utopia ego

Die Insel sieht dich

Das Karma der V2

Die Fischbude am Ende der Welt

PENSION DEUTSCHLAND

Pommern brûlé

Songs aus dem Niemandswinkel

Karlchen der Große

Das Wirtshaus an der Neiße

Frontstadt. Traumstadt

BÖHMISCHE WÄLDER

Der Amateur

Das Mädchen im Rucksack

Dresden, das Ding

Die Nacktheit der Göttinnen von Dubí

Licht

Hänsel und Gretel in Chemnitz

Zita und Karl

Der Baron besucht sich selbst in den Wäldern

Gedächtnisallee 5 bis 7

Bayerisch-Sibirien

In den Girgl fährt der holde Wahn

Die Waldfreiheit

Im Schnee

GEHEN IM GEBIRGE

Ein Leben in Passau

Tee in Braunau

Maria hat geholfen

Die Eiskönigin

In Ludwigs Land

Orlando

Nacht der Masken

MELANCHOLIE DES WESTENS

Reiches Mädchen aus Westdeutschland

Ein Garten im Süden

Ein Meister in Meersburg

Rheintöchter

Memory Hotel

Bordell zur Heimat

Die sechzigste Stadt

Ramstein

Café Meteor

Der letzte Gast

Stille Nacht

 

Für Fedor

Eines Tages sprang ich in den kalten Rhein

Man sagt, über dem Niederrhein liege ein mystisches Licht. So ein Dunst, zart bläulich, und der Nebel leuchte von innen her, sogar an einem Herbsttag wie diesem, aus dem der Himmel alle Farben sog, als seien sie Gift. Der Horizont, die Rheinwiesen, die Frachtkähne auf dem Fluss – alles schwamm in diesem milchigen Antilicht. Die hohe Brücke stromabwärts war eine vage Idee im Dunst, die Stadt am anderen Ufer eine Bleistiftskizze aus einem vergessenen Buch.

Ich war wohl eingedöst. Ich schlug die Augen auf. Ich saß am Ufer kurz vor Holland, bei Rheinkilometer 852, auf einem Stein und sah dem Fluss zu und den Kähnen, die vorüberzogen, lang und flach in dichter Folge, schon den ganzen Tag saß ich hier und wartete auf mein Zeichen – dass der Konvoi endlich riss. Es war der erste Tag meiner Reise.

Ich war allein in den Wiesen, nur ein paar Kühe standen da. Die mutigste entfernte sich jetzt von den anderen, um aus dem Rhein zu saufen. Er ließ sie gewähren. Er verlor das Interesse an den Dingen an seinem Ufer, er strömte seiner Auflösung entgegen und wurde darüber weit wie ein See.

Endlich – der Konvoi riss. Kein Schiff mehr nach diesem. Meine Lücke war da, groß genug, um nicht fürchten zu müssen, unter den nächsten Kahn gepflügt zu werden, der unweigerlich kommen würde. Zwanzig Minuten gab mir der Rhein, vielleicht etwas mehr.

Ich zog mich hastig aus, Hemd, Hose, Schuhe, und als ich über Kies und Muschelbruch lief, sah ich im Augenwinkel, wie die Kuh, die aus dem Rhein getrunken hatte, erschreckt auffuhr und in einem grotesken Galopp zurück zu den anderen rannte.

Es nahm mir den Atem. Noch nie war ich in solcher Eiseskälte geschwommen, in einem so großen Fluss. Ich spürte seine Gewalt. Nicht die Maschinengewalt des Meeres, das Welle um Welle auswirft mit der Sturheit einer Fabrik – es war ein gurgelndes Ziehen, leise, aber unerbittlich.

Ich schwamm nicht, ich ruderte, so steif war ich. Ich ruderte, um warm zu werden. Hundert schöne Züge, die brauchst du jetzt. Zug und Nachgleiten und Zug. Und noch einmal hundert und nochmal, dann bist du durch.

Ich trieb ab. Ich trieb auf dem Wasser. Eisige Wellen trugen mich fort, als läge ich auf den Rücken kleiner, glatter Tiere in vollem Lauf. Sie witterten schon das Salz. Sie konnten es nicht erwarten. Ich befahl mir, keine Angst zu haben. Nein, nicht stromab – da hinüber!

Ich suchte mir einen Punkt am Ufer, auf den ich zuhalten konnte, der mich zog. Einen der drei Türme der kleinen Stadt: den achteckigen Kirchturm rechts, den stumpfen vor mir oder den hohen, dünnen Schlot ganz links. «Oelwerke Germania» stand darauf.

Bei jedem Zug merkte ich’s in den Armen, wie schwer sie mir wurden: wie wenn im Traum ein unheimlicher Magnet die Glieder lähmt. Die Zeit läuft ab, schoss es mir durch den Kopf, die Lücke schließt sich wieder, die Strömung wird dich unter den nächsten Frachter schieben. Ende.

Ich weiß nicht, wie lange ich so ruderte und trieb und immer kälter und steifer wurde. Vielleicht war es nur eine Minute. Mir kam es viel länger vor.

Auf einmal wurde mir warm. Nein, heiß. Der furchtbare Magnet ließ von mir ab. Die Kälte war noch da, aber sie war nicht mehr in mir. Geschmeidig war jetzt der Rhein, fast ölig, er griff sich gut. Zug um Zug tauchte ich ein, glitt nach, drang wieder ein – ich schwamm. Die Türme am Ufer waren ein gutes Stück nach rechts gerückt, stromaufwärts, die beiden Kirchtürme schon unerreichbar. Nur die Germania konnte ich noch ansteuern.

Sie erglühte in diesem Moment von der Spitze her. Das Licht kam wieder, es entzündete sie, bald brannte der ganze Schlot. Der Himmel brannte. Vom Delta her zog noch einmal das Licht herauf, von den großen Hollandhäfen am Meer – ein ungewisses, westliches Abendlicht unter feuerroten Wolkenfahnen. Und den Rhein herab kam die Nacht, ein pechschwarzes Segel. Es füllte den anderen Horizont.

Jetzt brannten auch die anderen Türme, die ganze Stadt brannte. Jetzt glühte der Fluss.

Ich trieb in purem Gold.

AM BLAUEN MEER

Eine Stadt in meinem Alter

Ich schlief ein paar Stunden in einem Hotel, dann ging ich in die Stadt. Es dauerte eine Weile, bis ich bemerkte: Mit Emmerich stimmt etwas nicht.

Eine kleine Stadt, an den großen Fluss geschmiegt, die Melodie ihrer Gassen und Giebel, die Rheinpromenade – ich lief sie ab und dann die Fußgängerzone hinter den Häusern. Ich schlenderte hin und her durch alte Tore mit alten Namen, bis ich begriff: Die sind ja gar nicht alt. So gut wie nichts hier ist alt. Die Promenade nicht und nicht die Häuser an ihr. Auch die Giebel nicht in den krummen Gassen. Die sind alle neu. Nicht älter als du. Viele jünger.

Das Porzellangeschäft am Platz hatte sich festlich geschmückt zur Feier seines hundertjährigen Bestehens, aber das Haus, in dem es lag, war keine fünfzig. Und am backsteinernen Stufengiebel wenige Schritte weiter stand eine Jahreszahl aus einem fernen Jahrhundert: 1650. Darunter noch eine, die echte: 1957. Der Giebel aus der niederrheinischen Spätrenaissance war so alt wie meine westdeutsche Schultüte.

Plötzlich kam mir ein Lied in den Kopf, ein Schlager, der zu meiner Kinderzeit populär gewesen war.

Heißer Sand

und ein verlorenes Land

und ein Leben in Gefahr.

Und ein Bild: ein Junge vor dem Radio. Das Lied quält ihn mit seinem Rätsel. Am helllichten Tag trällert es von einem Geheimnis, das die Erwachsenen nicht mit ihm teilen. Sie kennen etwas, das er nicht mehr kennt und nie kennen wird.

Heißer Sand

und die Erinnerung daran,

dass es einmal schöner war.

Etwas war, bevor ich da war. Etwas war verloren. Etwas war schön. Das Rätsel ist: was denn? Sand und Gefahr, diese Wörter erregten eine Unruhe in dem Jungen, und bei der Stelle mit dem verlorenen Land hätte er hineinkriechen mögen in das verdammte Radio, um es endlich zu sehen.

In Emmerich sah ich nun Leute durch die abendliche Fußgängerzone eilen, sie strebten ins Stadtmuseum. Vorhin war mir der Aushang aufgefallen: Emmerich gedenkt des sechzigsten Jahrestags seiner Zerstörung. Ich folgte ihnen in den voll besetzten Saal. Das Licht ging aus, ein Film wurde gezeigt, grobkörnige Bilder, aufgenommen aus der Sicht der Bombenschächte oder im Schlamm dort unten. Sie flackerten über die weiße Wand, alles saß still da, wer keinen Platz gefunden hatte, stand. Andächtig blickten die Leute auf das Flackern an der Wand, ab und zu einen Namen mitmurmelnd, hinterhermurmelnd wie eine Gebetsformel, ein Amen. Den Namen eines Generals, einer Straße, eines Flugzeugtyps, einer Stadt – den niederrheinischen Rosenkranz. Kleve verschwunden. Wesel pulverisiert. Rees eingeäschert, das mittelalterliche Rees. Hat es Goch je gegeben? Wo ist Emmerich? Hat jemand Emmerich gesehen?

Es war, was es schien – eine Messe. Die Stadt beging ihren höchsten, schwärzesten Feiertag mit einer Messe in Schwarzweiß. Ich zog mich leise zurück und stand wieder am Fluss.

Ein festlich erleuchtetes Schiff glitt vorüber, es kam heim von der Ausflugsarbeit. Rote Sessel, in denen niemand mehr saß, weiß gedeckte, eben verlassene Tische. Ein leerer Tanzsaal, in dem die letzten Töne eines letzten Bossa nova hingen.

Dann war es so still, dass ich eine panische Sekunde lang dachte, ich sei taub. Nicht einmal ein spätes Auto hörte ich. Ich rieb meine Ohren, da ist Wasser drin, sagte ich mir, es ist nur das Wasser, du kommst aus dem Fluss.

Aber die Stille blieb. Sie war in den Dingen, in den Gassen, im Land – echolos, traumlos. Es war eine Stille wie nach dem Einschlag eines ungeheuren Meteoriten. Taube Glieder, taube Bewegungen, immer noch. Noch immer setzt sich der Staub, langsam, langsam, der Staub braucht hundert Jahre und hundert Messen und hundert Schlager. Er braucht zweihundert Jahre, allein der Staub weiß, was er braucht. Der Einschlag ist immer noch in der Luft. Er löscht alles, was vorher war. Er dringt durch alles, durch die Haut, die Gedanken, durch das ganze verlorene Land, durch dich und mich.

 

Am zweiten Tag meiner Reise war der Nebel fort, und Emmerich war eine sonnige Stadt am Rhein nahe der holländischen Grenze. Es roch schon nach Holland. Nach Koffie und Calvinismus. Es gab Broodjes und kleine Teppiche auf den Bistrotischen, gelbe Nummernschilder und kaum noch Vorhänge in den Fenstern.

Ich kam an einem steinernen Kreuz vorbei. Vor fünfhundert Jahren war hier einer erschlagen worden auf seiner Reise, das Kreuz bat um Fürbitte für seine arme Seele. Ich hätte nicht sagen können, was mich mehr verwunderte – dass es eine Zeit gegeben hatte, die einem Unbekannten einen Wegstein setzte, einem einzigen totgeschlagenen Mann. Oder dass sein Kreuz am Anfang einer Reise stand, die kein Ziel hatte.

Sister Swan aus Missouri

Ungeduld drängte mich nordwärts. Ich wollte mich an die Grenze halten, aber ich wollte auch vorankommen, und so nahm ich den Zug. Aber jeder Zug fuhr von der Grenze weg. Niemand reiste an ihr entlang. Sie folgte ja keiner berühmten Bergkette, keiner Küste, keinem Tal, nicht einmal einer Straße. Sie war ein unsichtbarer Strich durch die Felder. Irgendwo dahinten im flachen Land verlor sich Deutschland.

Ich geriet auf einen wirren Zickzackkurs. Wie einen Käfer, der zur Kante will und den die Hand des spielenden Kindes immer wieder mitten auf den Tisch setzt, brachte mich irgendein Zug immer wieder von der Grenze weg und setzte mich tief im Landesinneren aus, an Orten wie Duisburg und Münster. Bahnhofshallen. Stunden in einem Bordbistro bei lauwarmem Beuteltee. Auf dem Boden rollt eine leere Bierflasche hin und her, hin und her.

Auf einer dieser Fahrten sah ich plötzlich auf und blickte in die Augen von Sister Swan. Sister Swan aus Missouri und die jungen Heiligen, die bei ihr waren, die Heiligen der Letzten Tage. Sister Swan und ihre Mission bei den Deutschen und ihr langes, braunes Haar. Es fiel und fiel wie in einem langsamen Lied. It curls and falls all down her breast.

Ihr Haar fiel auf ihre hochgeschlossene weiße Bluse, und ihr fußlanger Rock war aus einem zu festen, zu keuschen Stoff, als dass er Sister Swans Körper hätte umspielen können. Der Welt gönnte sie nur ihr blasses Farmerstochtergesicht, ihre blauen Augen. Manchmal schloss sie sie für einen Moment, dann erschien ein Lächeln, und ihr Atem wehte eine dünne Strähne beiseite. Oder sie öffnete die ineinander gelegten Hände und schrieb einen Gedanken in ihr schwarzes Journal mit dem Gekreuzigten darauf, errötend wie eine Verliebte. Sie merkte es, schlug das Buch zu und die Augen nieder.

Die Heiligen kamen aus Missouri, Utah, Idaho. Nach Xanten waren sie gegangen, wie Sister Swan berichtete, denn sie hatte mich angesprochen, und von dort nach Kleve und von Kleve nach Wesel, wo sie alle zusammen gebetet hatten. Im Gebet war der Entschluss auf sie gekommen, weiter nach Duisburg zu gehen. Da saßen wir nun, im Zug nach Duisburg.

Sie trugen auffällig glänzende Namensschilder. Auf ihren Gesichtern blühten noch Pickel. Es waren Gesichter von alten Fotografien. Scheu schauten sie einen an, um im nächsten Moment den Blick zu senken, als hätten sie sich bei etwas ertappt.

Wenig musste ich mir wegdenken, um eine Auswandererschar zur Zeit meiner Urgroßeltern in ihnen zu sehen. Nur dass es umgekehrt war, die Urgroßenkel der Auswanderer kamen wieder. Sie waren hier, um zurückzubringen, was diese über den Ozean getragen hatten. Die alten, strengen Worte, die strenge, alte Art. Ich sah sie an, die jungen Gottessoldaten, und wusste nicht, ob ich staunen oder zornig sein sollte über den heiligen Ernst, die kindliche Unverfrorenheit ihres Feldzugs.

Was ist nur los, sagte ich mir, was wollen die bloß alle hier mit ihren Blättchen, ihren Offenbarungen, ihren Göttern, was glauben die, wo sie gelandet sind, bei einem erst kürzlich entdeckten Stamm? Denn ich hatte noch mehr Missionare gesehen. An einem anderen Bahnhof hatte ein Kopftuchmütterchen aus Kasachstan gestanden und mir sein Erweckungsblatt hingehalten. Geh nach Hause, Mütterchen, koch dir Tee, hatte ich im Vorübergehen gemurmelt, auf Russisch, damit sie mich auch verstand. Und sie hatte nicht gewusst, ob es Barmherzigkeit war, die aus mir sprach, oder Zorn, und hatte sich bekreuzigt. Es war aber Zorn gewesen.

Um sich im Deutschen zu üben, gebrauchten Sister Swan und ihre Heiligen die fremde Sprache sogar untereinander, es klang, als ob sie mit verteilten Rollen aus dem Schulbuch läsen.

«Wir kaufen immer große Mengen Brot», sagte Elder Ernest, eine Tüte geschnittenen Brotes unterm Arm.

«O ja?», antwortete Sister Swan.

«Und einmal die Woche essen wir Reis mit Fleisch.»

«Oh, wirklich?»

Ich saß Sister Swan gegenüber, und dann sagte ich etwas in ihrer Sprache zu ihr, etwas über Kleve und einen Kahn, den Schwäne zogen, und über einen Ritter.

Sie sagte: «Wow, Sie sprechen Englisch?»

«Ein bisschen.»

«O nein. Sehr gut. Waren Sie schon einmal in Amerika?»

«Ja, in der Wüste. In Tucson.»

«Wow. Tucson, Arizona.»

Sister Swan sagte, sie liebe Deutschland, es sei so grün, und die Leute seien wunderbar. Ob ich es auch liebte? Die Frage verwirrte mich. Vielleicht verwirrte mich auch Sister Swan. Ich sagte: «I liked Arizona, the deserts.»

Dann erzählte sie mir von den golden plates, den goldenen Schrifttafeln ihrer Religion, und dass sie Gottes amerikanische Offenbarung enthielten, o ja, es habe eine zweite gegeben, zur Zeit Jesu in Amerika, und die Männer, denen das Wort überliefert worden sei, hätten es auf diese goldenen Tafeln geschrieben, welche die ganzen Jahrhunderte im Verborgenen lagen, bis der Gründervater der Mormonen sie vor bald zweihundert Jahren wieder fand.

Sie fuhr fort, von Propheten und Wundern zu sprechen, und konnte sich für jedes unbedeutende Wort begeistern, das ich zum Gespräch beitrug und das doch nichts war gegen ihre goldenen Tafeln. Dann erinnerte sie sich an ihre Mission. Das Buch, das sie dafür parat hielt, zog sie mit schnellem Griff hervor, um es mir zu schenken. Ich wies es zurück.

«Sehen Sie, ich reise. Ich habe nur leichtes Gepäck, euer Buch ist zu schwer für mich.»

Ich zeigte ihr meinen kleinen Rucksack, das wollte sie aber nicht gelten lassen, sie drang in mich, wie es um meinen Glauben bestellt sei.

«You must believe in something!»

In diesem Moment fuhr der Zug in den Bahnhof ein. Ich stand auf. Sie sah mich unverwandt an, sie wollte eine Antwort. Bevor ich ging, sagte ich: «Madam, ich bin nur ein ganz normaler deutscher Ritter.»

Sonntag in den Siebzigern

Ich kam nach Gronau und ging in das Hotel, das mir das westfälischste schien. Der Wirt nannte den Preis, er war so niedrig, dass ich die Summe fragend wiederholte, aber er gab mir nur den Schlüssel und deutete zur Treppe.

Ich schloss auf, trat hinein und stand in einer Welt, die ich vor langer Zeit verlassen hatte. Alte, abgelegte Empfindungen krochen in mir hoch. Vor einer Minute hätte ich es nicht für möglich gehalten, dass es so ein Zimmer überhaupt noch gab. Und solche Empfindungen.

Es war einmal gediegen gewesen. Nun war es praktisch. Ein helles Sperrholzbett. Ein Waschbecken, so schlicht und weiß wie möglich. Ein unauffälliger Schrank. Ein Teppich, an den man sich beim besten Willen nicht würde erinnern können. Das einzige Möbel von gewissem Charakter war der grüne Cocktailsessel. Nach süßem Sekt schmeckte das Zimmer.

Es war für den Mastbauern gemacht. Er bekommt immer dieses und die Flasche Sekt auf den Nachttisch, zweimal im Jahr reist er in die Stadt, am Tag nach Himmelfahrt und am Freitag vor Totensonntag. Jedes Mal isst er erst mit dem Bankdirektor zu Mittag und bespricht das Halbjahr, einmal das Schlachtvieh, einmal die Mast, und danach trifft er seine kleine Freundin. Sie geht durch die Straßen, bleibt hier und da vor einem Schaufenster stehen, grüßt, wartet, bis Licht angeht hinter den Gardinen, schaut sich ein letztes Mal um, dann huscht sie hoch.

Für den ledigen Junglehrer war das Zimmer gemacht, der sich jeden Abend eine Flasche Herva mit Mosel bringen lässt, weil er heimlich homosexuell ist und die Eheanbahnungsversuche im Lehrerzimmer nicht erträgt, die Anzüglichkeiten der Kollegen nicht und die zufälligen Berührungen der Kolleginnen auch nicht – die Herva-mit-Mosel-Feier ist seine Art, sich allabendlich davon zu reinigen.

Für den schmächtigen Schlagzeuger der holländischen Rockgruppe war das Zimmer gemacht. In der Nacht nach dem Konzert in der Aula des Stadtgymnasiums hat er es zertrümmert, nur, weil er in den Zeitschriften gelesen hatte, dass Schlagzeuger von Rockgruppen das tun. Er stand ein bisschen neben sich, wie er sich so sah im Waschbeckenspiegel, das lange Haar klebrig, glasige Augen, aber dann nahm er doch den Cocktailsessel und rammte ihn hinein, dass der Spiegel splitterte und nur noch Ausschnitte von ihm zeigte. Starschnitte.

Meinen ersten Starschnitt hatte ich an der Zimmerwand meines Freundes Achim gesehen, im Internat. Achim trug enge weiße Hosen und das Geld lose in der Tasche, sodass es sich abzeichnete. Die Angewohnheit gefiel mir so gut, dass ich sie übernahm. Und wer weiß, vielleicht hat auch Achim in diesem Hotelzimmer gewohnt, nachdem er aus dem Internat geflogen war. Bevor das mit seinem Bekannten passierte, der hatte irgendwelche Drogen genommen und Achim stranguliert.

Es war für sie alle gemacht, für die vertrauten Gespenster meiner Jugend. Sie hatten alle darin gewohnt. Zu seinen Fenstern hatte ich aufgeschaut, wenn ich am Hotel meiner kleinen Stadt vorbeikam. Jetzt betrat ich es zum ersten Mal, und es war genau so, wie ich es mir ausgemalt hatte.

Neben dem federleichten Sperrholzbett, auf dem ich saß und dem nicht zu trauen war, stand auf dem Nachttisch der Glasaschenbecher. Auch ihm war nicht zu trauen. Er war so wuchtig, dass man damit einen Mann hätte erschlagen können. Und im grünen Cocktailsesselchen mit den kokett gespreizten Beinchen hatte eine junge Frau gesessen und geraucht und sich dabei ihre Strümpfe aus- oder angezogen, so hatte sie es im Kino gesehen.

Es war mein Fluchtzimmer. Vor allem, was darin war, war ich geflohen. Vor den klammen Freuden und Nöten in diesem Bett. Vor dem trüben Licht der kleinen Stadt, das auf die nackten Beine des Mädchens im grünen Cocktailsessel fällt. Vor der Aussicht, irgendwann auf irgendeine Weise in diesem Zimmer zu landen. Wenn ich mich leicht vorbeugte, erschien mein Gesicht in der linken unteren Ecke des Waschbeckenspiegels.

 

Der Tag war erst halb herum und die Grenze nahe, ich ging hinüber nach Enschede. Als ich Holland betrat, fiel mir auf, dass ein Grenzübertritt zugleich ein Lichtwechsel sein kann. Ein paar hundert Meter nur, und plötzlich steht in ganz und gar holländischem Licht, was eben noch in einem deutschen Licht stand. Sah ich in Gronau Asiaten, sah ich Fremde. Sah ich welche in Enschede, kamen mir Wörter wie «Java» und «Batavia» in den Sinn, eine ganze ostindische Kompanie von Aromen. Bidis, Poffertjes, Marihuana.

Ein Ring aus Haste-mal-Feuer und Rock ’n’ Roll schloss sich um die romanische Grote Kerk – ein Ring aus Musikcafés und Discos, die «Lunatic» hießen und «Crash». Die Glocken der Groten Kerk mochten bimmeln, was sie wollten, sie brachten nicht mehr zustande als den dünnen Klang einer Triangel bei einem Rockfestival, denn das fand gerade statt.

Ich erkannte alles wieder. Die lärmenden Bands, die dunkle Kneipenhöhle, in der sie spielten, die engen Jeans, das Publikum dicht vor den Boxen, wie es in motion geriet und sich wiegte und wippte, ein Bier in der Hand oder einen krummen Joint. Nur mit den Gesichtern war etwas nicht in Ordnung. Sie waren eine Generation älter als die der jungen Musiker, die auf der Bühne sangen und trommelten und mit den schmalen Hüften wackelten.

Der Rauch der verqualmten Spielstätte hatte etwas von einem Brandopfer. Er stieg den Alten wohlgefällig in die Nasen. Mütter mit Sonderangeboten in den Augen und Graubärte mit Piratengold im Ohr sogen es noch einmal gierig ein. Etwas flackerte auf, etwas, das einmal war. Eine wilde Geste, ein Schrei, dann verschwand es wieder, und hungrige Kajalaugen suchten aufs Neue nach dem, was die Sänger und Trommler und Gitarristen ihnen hinwarfen. Noch einmal, noch einmal. Wild thing, you make my heart sing … I think you move me.

Und wie es oft geschieht an aufgeladenen Orten, trieb auch dieser sein Zeichen hervor, seine Tarotkarte. Hier war es ein Herr in schwarzem Frack und Zylinder, die Lippen blutrot im weiß geschminkten Gesicht, mit weißen Handschuhen. Sanft und freundlich war er zu den Kindern auf dem Platz – ein hübscher Einfall der Veranstalter des Festivals, sie hatten auch an die Kleinen gedacht.

Ein Vater reichte ihm seinen kleinen Sohn. Der weiße Tod nahm ihn auf den Arm, bemühte sich, ihn zum Lachen zu bringen, kitzelte ihn und spielte ihm virtuos einige kurze Szenen vor, seine Finger wirbelten dabei durch die Luft. Aber der Junge traute ihm nicht, er wich vor ihm zurück, nun selbst ganz weiß im Gesicht, und presste sich an den Vater, er hatte gerade ein Gespenst gesehen.

Spätabends kam ich in das Hotel zurück. Aus der Gaststube wehte der krautige Geruch von Bauernzigarren. Und Männergesang, Trinklieder aus einer Zeit, in der mein ernster, schweigsamer Großvater ein junger Mann war. «Ach wie schön ist doch die Welt,/​wenn man zusammenhält.» An der Theke standen katholische Männer bei Bier und Korn und redeten über den Papst. Ja, sie redeten über den Papst, erwähnten Namen und Details aus dem Vatikan, von denen ich nie gehört hatte. Der stoische Wirt, der mir das Zimmer gegeben hatte, erwies sich als eidechsenhafter Zapfer: Er griff ein leeres Glas und stellte ein volles auf den Tresen, in einer raschen Art, die Dinge zu tun, die getan werden müssen.

Beim Hinausgehen sah ich den Sämann auf der bemalten, von innen beleuchteten Scheibe der Gaststube. Oder war es der Sensenmann? Seine Geste war die eines Gitarristen. Der Tod ist ein Musikant.

Minima Westfalia

Es war noch immer spätsommerlich in diesem Oktober. Der Sommer zögerte zu gehen, er hielt das Pendel an und linderte meine Ungeduld. Ich ließ die Züge fahren und verlegte mich auf Busse. Oft lärmte und rangelte der mittags gutmütige, abends hitzige Grobianismus der Landjugend darin, der bei Gelegenheit und Bier in blutige Szenen umschlägt. Davon war gern die Rede.

«Um die Weibsen ham se sich gekloppt!»

Burg Bentheim tauchte auf, mit ihren Zinnen und Türmen. Es war ein üppiges Land mit samtigen braunen Pferden in der Sonne und schönen Höfen. Zur gelösten Stimmung trug der westfälische Backstein bei, der hellrot ist, nicht dunkel wie am Niederrhein.

Der Busfahrer hörte Radio, und bei Georgsdorf kam die Nachricht, ein Bulle sei ausgebrochen, ein Polizeiaufgebot aus drei Landkreisen jage ihn, die Bevölkerung wurde zur Vorsicht aufgerufen.

Mit jedem Bus war ich näher ans Emsland herangekommen. Jetzt stieg ich aus und ging zu Fuß weiter. Die Wege wurden mooriger, die Höfe bescheidener, die Leute, wie mir schien, katholischer. Ihre Siedlungen waren viel jünger als in Westfalen, allzu lange war es noch nicht her, dass Menschen sich hier im Moor niedergelassen hatten. Ich lief am alten Torfkanal entlang nach Adorf und weiter nach Twist, ein Dorf an der Grenze. Groß stand das Kruzifix vor jedem Hof, oft von einem Blumenbeet umgeben. Einmal kniete eine bäuerliche Magdalena mit praktischem Kurzhaarschnitt vor dem Erlöser und ersetzte die welken Sommerblumen, aus denen sein Kreuz wuchs, durch Astern.

In der Vitrine des Bäckers von Twist lag ein letztes Käsebrötchen, in der Kühlvitrine stand ein rosa Getränk mit Erdbeergeschmack, das sicher sehr süß war. Der Laden war still wie das Dorf. Diese Stille hatte ich einmal gekannt, diese nachmittägliche Verlorenheit. Sonntage auf dem Land, die so heiter erwachen, mit Glockengeläut, und sich so träge verlieren. Das Rad der Jahreszeiten. Ferien, blassblaue Himmel, die sich gegen Unendlich dehnen. Der stumme Treck der Winterwochen. Ewig, ewig ist die Stille der Provinz. Sorgfältig aufgeräumt und gefegt wie das Zimmer einer alten Frau. Die Luft steht, Staub wirbelt im schräg stehenden Licht, niemand spricht, halb gesenkte Augenlider, das offene Buch im Schoß, das wollene Lesezeichen. Stundenschlag, Sekunden ticken, als ginge das immer so weiter und hörte niemals auf, und die Wahrheit ist, es hört niemals auf.

Ich trat aus dem Bäckerladen, aß mein Käsebrötchen auf einem Findling und trank den Rest Rosa. In der Luft war ein Aroma von faulenden Blättern, von Herbst und Moor. Ich kam in eines. Es zog sich an der Grenze hin mit Wassergräben und Wäldern, mit Eichen und Rhododendren. Irgendwann stand ich vor weiten Torffeldern, auf denen sich die Ernte türmte. Als sei das Moor ein Tier, dem man das dicke, tiefbraune Fell abgezogen und es auf riesige Haufen geworfen habe. Und was von fern wie nickende Pferdeköpfe aussah, erwies sich als Ansammlung von Pumpen. Das Ölfieber war vorbei, aber die Ölgäule nickten noch, als könnten sie’s nicht glauben.

Es wurde dunkler. Sobald der Wind nachließ, würde es regnen. Und noch etwas war in der Luft, ein scharfes, technisches Geräusch: wie ferne Züge, die durch den Halbschlaf rasen. Nein, schärfer. Von weiter oben auch. Windräder, jetzt sah ich sie. Siegzeichen, ins Moor gerammt. Viele – der Sieg über die Stille wurde gefeiert.

Als es dämmerte, stand ich ohne Aussicht, fortzukommen oder eine Unterkunft zu finden, in einem Straßendorf, dessen wenige Läden gerade geschlossen wurden. Ich stellte mich ans Ortsschild und versuchte es mit dem Daumen, und als ich sah, dass daraus nichts werden würde, lief ich aus dem Dorf hinaus zur Auffahrt der Schnellstraße und hielt dort den Daumen in den Abendwind. So lange, bis ich merkte, dass auch das vergeblich war. Ich ging zurück ins Dorf.

Die Tankstelle hatte noch offen, und ich bat den Tankwart, mir ein Taxi zu rufen. Und dann saß ich auf dem Rücksitz und schwor mir, das nie mehr zu tun, bis ich wieder am Rhein stehen würde, an derselben Stelle, bei demselben Stein.

Der Spuksammler von Leer

Das Meer lag in der Luft, als ich nach Leer kam. Die Stadt troff vor Nässe, die Laternen in ihren Gassen hatten Höfe wie der Mond in einer dampfenden Nacht, das Meer musste ganz nah sein.

Sobald ich die Hauptstraße mit ihren wenigen Passanten und ihren Lichtern verließ, löste sich die Gewissheit auf, dass ich an einem Tag eines bestimmten Jahres durch diese Gassen irrte. Viel anders hätte ein später Gast zur Eichendorffzeit auch nicht in der Stille dunkler Backsteinkirchen gestanden. Ab und zu hörte ich Stimmen, Schritte. Am Hafen lärmten ein paar Männer bei ihrem Boot. Ein heller Glockenschlag über mir schreckte mich auf. Es hätte mich nicht überrascht, wäre mir aus einer Nische der scharfe Priem-Atem eines untoten Seemanns entgegengeschlagen, der keine Ruhe findet und nun umgehen muss.

Er wäre nicht allein gewesen. Leer schien bevölkert von Gestalten wie ihm. Wiedergängern. Unglückseligen Frauen, vor denen man sich hüten sollte, wenn man sie nachts am Wege trifft. Rachsüchtige, boshafte oder solche, die einen warnen wollen und doch zu Tode erschrecken mit ihrer nassen, bleichen, sonderbaren Erscheinung. Diese Wesen und die Erzählungen von ihnen gehörten hierher wie der Nebel und das Salz auf den Lippen.

Eine Bauerstochter verliebte sich Ende des 19. Jahrhunderts in den Großknecht. Ihr Vater sagte nein. Er versuchte, sie bei ihrem Stolz zu packen: Soll sich denn eines Tages der Knecht als Bauer aufspielen? Es war ihr egal. Die Mutter appellierte an ihre Eitelkeit: Ob sie denn das Gerede der Leute nicht störe? Es störte sie nicht. Die Mutter arrangierte Besuche von geeigneten Freiern, Bauernsöhnen. Ohne Erfolg. Ihre Tochter erklärte, sie habe sich dem Knecht versprochen und wolle nicht von ihm lassen.

Sie überredete ihn, mit ihr nach Amerika zu gehen und dort ein neues Leben zu beginnen. Heimlich verließ das Liebespaar den Hof. Der Anfang in Amerika war hart. Aber die beiden waren tüchtig, und bald gehörte ihnen eine Farm.

In den ersten Jahren hatte sie kaum an daheim gedacht, alles war Arbeit gewesen. Nun sehnte sich die ostfriesische Bauerstochter nach den Eltern, sie schrieb immer wieder Briefe, erhielt jedoch nie eine Antwort. Als die Sehnsucht übermächtig wurde, sagte sie ihrem Mann, sie wolle ihre Eltern noch einmal sehen, und fuhr über den Ozean. Sie ging an Land, stieg in den Zug, der sie in ihre Heimat bringen sollte, lief das letzte Stück zu Fuß. Nebel zog auf. Da vorn lag die vertraute Brücke, und eine schlohweiße alte Frau kam ihr entgegen. Sie erschrak.

«Mutter?»

Die Erscheinung deutete stumm zum Haus. Die Bauerstochter eilte darauf zu, doch es gelang ihr nicht, durch den dichten Nebel zu dringen, es war, als pralle sie gegen eine Wand. Sie ging zurück zur Brücke, wo noch immer die Weißhaarige stand. Erst als sie sie begleitete, erreichte die Tochter den Hof.

Vater und Mutter fand sie tot. Vor einer Stunde, sagte man ihr, seien sie gestorben. Sie beerdigte ihre Eltern und fuhr zurück nach Amerika, aber in den folgenden Jahren kam sie immer wieder. Bei ihrem letzten Besuch machte sie einen Spaziergang im Wald und wurde nie mehr gesehen.

«An manchen Tagen soll man sie heulen und klagen hören da draußen.»

Der Mann, der das gesagt hatte, saß mir gegenüber. Er hatte mir die Sage erzählt. Oder die Begebenheit berichtet? Das war am nächsten Morgen, bei schönstem Tageslicht, in einer Wohnung in der Hauptgasse von Leer. Im Arbeitszimmer, würde man denken, eines Privatgelehrten. Das war er auch. Ein freundlicher, gebildeter, älterer Herr, eine ganz und gar bürgerliche Erscheinung, mit einem Einschlag allerdings ins Schliemanneske. Wir tranken Tee und plauderten über Spuk und Vorspuk, über die ostfriesische Bauerstochter aus Amerika.

Er hatte von ihr erzählt wie ein Arzt von einem interessanten Fall. Und wie ein Arzt hatte er es mit obskuren, unheilen Dingen zu tun, nur dass er sie in Büchern konservierte statt in Formalin – Theo Schuster, Buchhändler und Verleger in Leer. Er hat Standardwerke verfasst über diese Dinge.

Sein Arbeitszimmer war mit Büchern und Manuskripten zugestapelt. Überall standen bequeme, viel benutzte Sessel und Leselampen. Er sammelte Sagen, aber die Schliemann’sche Unrast ging bei ihm nicht nach Kleinasien, sie ging aufs Allernächste: als habe Schliemann sich auf seine mecklenburgische Heimat geworfen und dort gegraben.

Theo Schuster grub Friesenkönige aus, Figuren aus dem Grenzland von Traum und Geschichte, Hexen, Wiedergänger, magische Tiere, reinigte sie, verglich und beschriftete sie und sammelte sie alle in seinen voluminösen Bänden. Oft spielten die Sagen an konkreten Orten und zu einer bestimmten Zeit, Personen tauchten darin auf, die jeder kannte. Das Land hatte ein zweites Gesicht, eine zweite Atmosphäre aus Legenden, die geatmet, weitererzählt wurden. Bis an den Rand der Gegenwart, versicherte er, seien Spukdinge in ostfriesischen Stuben ein beherrschendes Thema gewesen.

Weil aber der Besuch bei einem so innigen Sammler undenkbar ist, ohne dass dieser den Gast irgendwann einen Blick auf seine wirklichen Schätze tun lässt, zeigte er mir nun seinen schönsten und wertvollsten Fund: das verborgene Märchen.

Er hatte entdeckt, dass ausgerechnet die Ostfriesen nicht nur Gut und Geld vererbten, sondern manchmal auch ein Stück Privatliteratur. Das Märchen, das er mir präsentierte, war als Familiengeheimnis durch die Jahrhunderte gereicht worden, von Generation zu Generation. «Darum haben die Brüder Grimm es nicht gefunden, obwohl es eine alte Variante von ‹Hänsel und Gretel› ist.»

Und das ging so. Jan Manntje, also der kleine Jan, wohnt im ärmlichsten Haus, das man sich denken kann, in einem Haus aus Papier. Mehr besitzt er nicht. Es ist Sonntag, und er schaut aus seinem papiernen Fenster. Da geht die Hexe vorbei und verlockt den neugierigen Jan, ihr die Tür einen Spalt weit zu öffnen: Sie habe ein Geschenk für ihn, die silberne Pfeife, die sie ihm zeigt.

Er tut ihr auf, sie schnappt ihn, steckt ihn in einen Sack und trägt ihn heim. Unterwegs fällt ihr ein, Pflaumen zum Nachtisch zu kaufen – natürlich will sie Jan kochen und essen. Sie bittet einige Männer, die einen Kanal graben, auf ihren Sack aufzupassen. Jan macht sich bemerkbar und berichtet von seinem Unglück. Die Männer lassen ihn frei und füllen den Sack mit Schlick.

Die Hexe ärgert sich, als sie daheim in den Sack greift und ihre Hand dreckig und stinkend wieder herauszieht, aber sie gibt nicht auf. Auch an den folgenden Sonntagen versucht sie, Jan zu verlocken. Erst mit einer goldenen Pfeife, dann mit einer diamantenen. Jedes Mal wird der Türspalt, den sie dafür fordert, kleiner, jedes Mal wird Jan schwach. Jedes Mal landet er im Sack.

Beim dritten Mal endlich gelingt es der Hexe, ihren Fang heimzubringen. Sie übergibt Jan ihrer Gehilfin mit den Worten: «Du weißt, was zu tun ist.» Die nimmt das Beil, holt Jan aus dem Sack, geht mit ihm hinters Haus und fordert ihn auf, seinen Kopf auf den Hackklotz zu legen. Jan stellt sich dumm und fragt, wie er denn seinen Kopf abnehmen und dort hinlegen solle.

Er bittet die Alte, es ihm vorzumachen. Und die tut es wirklich. Jan ergreift das Beil, haut ihr den Kopf ab, wirft die Alte in den Kochtopf, der schon brodelt, und versteckt sich. Die Hexe kommt heim, riecht das Menschenmahl, und als sie gierig zum Kochtopf eilt und den Deckel hebt, stößt Jan auch sie hinein. Dann vergräbt er den ganzen Topf mitsamt den beiden im Garten.

Nun, da er der Hexe ein hexengemäßes Ende bereitet hat, zieht er aus seinem papiernen Häuschen in das schöne Hexenhaus und hat ausgesorgt. Fortan sieht man ihn dort wochentags die silberne Pfeife rauchen, sonntags die goldene, und an besonderen Feiertagen raucht er die diamantene.

 

Jetzt wollte ich nur noch eines wissen: Was der freundliche Herr im Sessel gegenüber wirklich über diese Dinge dachte.

«Darf ich mit einer letzten Geschichte antworten», sagte er, «einer ganz kurzen?»

«Gern.»

«Ein auswärtiger Richter sitzt mit Kollegen an deren Stammtisch und bringt das Gespräch auf diese Dinge. Alle schütteln den Kopf. Spuk? Nein, so etwas haben wir hier nicht. Die Runde löst sich auf, das Zimmermädchen zeigt dem Richter seine Kammer. Bevor sie geht, sagt sie: ‹Herr Doktor, so was haben wir hier sehr wohl. Wir sprechen aber nicht darüber zu Fremden.›»

Wind

Endlich am Meer. Jetzt begriff ich, was mir gefehlt hatte – die Unruhe der ersten Tage war die Ungeduld nach dem Meer gewesen. Nach dem Wind, der verbrauchte Gedanken wegbläst.

Bei ruhiger See und fast ganz blauem Himmel fuhr ich mit der Fähre von Emden zur Insel Borkum, die See war morastgrün. Um die Hotels am Strand fegte der Wind und kehrte letzte Urlauber zusammen. Ich mochte die Stimmung der Nachsaison. Das Poröse der Orte am Meer trat nun erst recht hervor.

Ich ging in ein leeres Strandcafé, es musste einmal vornehm gewesen sein, jetzt lief dort Scorpions-Musik. An der Bar saß der einzige Gast, ein nicht mehr junger Mann mit schütterem Pferdeschwanz, der manchmal durch die Zähne pfiff wie ein Vampir in alten Filmen seinen Ratten und manchmal leise jaulte. Er reckte sich, breitete die Arme aus, atmete tief ein und wieder aus, rief: «Jetzt ist es angekommen. Aah!»

Die Kellnerin, die das offenbar kannte, fragte: «Die Energie?»

«Deine Energie ist gekommen. Aah, das ist so gut.»

Er fixierte mich, als wolle er nun seine Possen mit diesem Fremden treiben, aber ich konnte ihn beim besten Willen nicht unheimlich finden, mein Appetit darauf war vollauf befriedigt. Ich zahlte und ging an den Borkumer Strand.

Man lebt nicht am Meer mit dem Rücken zum Meer. Man senkt nicht den Blick unter so einem Himmel. Ich hatte nur Augen für das, was sich über mir abspielte. Es begann damit, dass der Wind von See her eine lang gezogene weiße Wolke heranwehte, sie dehnte sich bald von Horizont zu Horizont, ein kühner japanischer Pinselstrich über ein riesiges, zartblaues Blatt. Es war nur das erste einer rasanten Schau. Ununterbrochen änderte das Schriftzeichen seine Farbe und Gestalt.

Die Sonne sank und hinterließ eine glühende Abschiedszeile dicht über dem Meer. Dann entzündete sie von ihrem Versteck hinter dem Horizont aus das Wolkenzeichen zu einem reinen Feuer. In Sekunden verwandelte es sich in eine rote, himmelweit brennende Lohe.

Jetzt folgte Wolke auf Wolke, immer noch eine und noch eine. Jede brannte sofort, der ganze südliche Himmel stand in Flammen, das ganze südliche Meer. Und die Fenster der Strandhotels, eben noch aus gewöhnlichem Glas, waren jetzt roséfarbene Rechtecke.

Später, auf dem Weg zum Hotel – die Vorstellung am Himmel war lange beendet, es war Nacht –, stand plötzlich der Energetiker aus dem Strandcafé vor mir. Er wirkte ganz vernünftig und klar. «Oh, Herr Pfarrer», sagte er, «gut, dass ich Sie treffe, Sie müssen mir die Beichte abnehmen, denn ich habe gesündigt.»