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Ebook Edition

Albrecht Müller

Wolfgang Lieb

Nachdenken

über Deutschland

Das kritische Jahrbuch

2011/ 2012

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Inhalt

Warum die Nachdenkseiten wichtig sind

Es ist fünf vor zwölf – Zeit zum Aufstehen

1   Im Hamsterrad der »Sachzwänge«:

Die grundsätzlichen Fehler in der Wirtschaftspolitik

2   Adieu, ihr Millionen:

Was die Finanzkrise uns kostet – und warum

3   Malen nach Zahlen:

Wie mit Statistiken manipuliert wird

4   Keine Heimat, nirgends?

Wo finden politisch Unzufriedene ein Zuhause?

5   Deutschland, deine Elite:

Denkfaulheit trifft Korruption

6   Medien, Mythen, Manipulationen:

Es ist nicht nur die Bild-Zeitung

7   Konsequent inkompetent:

Peer Steinbrück und Angela Merkel

8   Neoliberale Erfolgsgeschichte:

Arm bleibt arm, reich wird reicher

9   Planlos unterwegs:

Das Elend der deutschen Außenpolitik

10 Viel Lärm um nichts:

Dauerbaustelle Bildung

Wer sind und was wollen die NachDenkSeiten?

Warum die NachDenkSeiten wichtig sind

Von Peter Bofinger

Als ich vor 38 Jahren mit dem Studium der Nationalökonomie begann, war diese Wissenschaft noch einigermaßen vielfältig. Es gab verschiedene Meinungen und unterschiedliche Vorschläge zur Lösung von volkswirtschaftlichen Problemen. Es gab Wissenschaftler, die stark von den Lehren des britischen Ökonomen Keynes geprägt waren oder solche, die den Lehren der Chicagoer Schule zuneigten. Und es gab einiges dazwischen. Das hat sich inzwischen sehr geändert. Analyse und Therapie werden von einer Schule, der deutschen Variante der Chicagoer Schule, beherrscht. Steuern senken, Löhne runter, sparen, privatisieren, deregulieren, die Märkte werden es richten – das sind die gängigen Empfehlungen.

Diese dogmatische Einseitigkeit und Verkrustung meiner Wissenschaft spiegelt sich auch in den Kommentaren und in der Berichterstattung fast sämtlicher Medien wider. Auch dort beherrscht das geschlossene Weltbild vom allein selig machenden Wirken des Marktes die Szene. Dies hat weitreichende Folgen für die politischen Entscheidungen. Die geballte Meinungsmacht von Wissenschaft, sogenannten Experten, wirtschaftlich mächtigen Interessengruppen und Medien beeindruckt die politisch Verantwortlichen. Sie sind nicht mehr frei, sachbezogen und je nach Problemlage aus miteinander streitenden wirtschaftswissenschaftlichen Thesen die politisch vernünftigsten Vorschläge abzuwägen und zwischen den durchaus verschiedenen möglichen Therapien zu wählen. Immer mehr gilt deshalb das Glaubensbekenntnis aus Margaret Thatchers Zeiten: »There is no alternative!« – TINA. Die Wirtschaftswissenschaften sind aber keine Naturwissenschaft mit naturgesetzlichen Erklärungsmustern. Es gibt immer Alternativen und es gibt vor allem immer unterschiedliche Prioritäten oder Ziele, die man politisch verfolgen kann oder möchte. TINA, das ist nicht nur falsch, sondern wird auch zusehends teurer.

Wir haben deshalb alle ein Interesse daran, dass nicht einzelne ökonomische Schulen zur herrschenden und alles beherrschenden Lehre aufsteigen, sondern die pragmatische Prüfung von immer möglichen Alternativen die Politik beherrscht.

Anstöße und Anregungen zu alternativen Denkansätzen bieten – anders als die etablierten Medien – die NachDenkSeiten. Ich schätze diese Website als belebendes Element nicht nur der wirtschaftspolitischen Debatte. Deshalb begrüße ich die Herausgabe wichtiger Texte in Buchform.

Die NachDenkSeiten sind eine tägliche Quelle der Information für alle, die sich noch eigene Gedanken machen wollen und nach guten Lösungen unserer nun wirklich großen Probleme suchen. Das Jahrbuch mit dem anspruchsvollen Titel Nachdenken über Deutschland erreicht auch Menschen ohne Zugang zum Netz oder diejenigen, die Texte lieber schwarz auf weiß in ihrem Bücherschrank stehen haben wollen. Es ist immer gut, sich aus verschiedenen Quellen und damit umfassender zu informieren. Vielfältige Information und kontroverse Denkansätze machen freier im Denken und schützen vor Einäugigkeit. Pluralität ist ein Wesensmerkmal von Demokratien, sie ist ein wichtiger Garant für die Herrschaft der Vernunft im politischen Meinungsbildungsprozess. Dogmatismus und die absolute Vorherrschaft von wissenschaftlichen Schulen sind das Gegenteil.

Die Leser der Jahrbücher und der NachDenkSeiten wissen, dass sie sich darauf verlassen können, mit ihrer Hilfe immer wieder einen neugierigen, kritischen Blick hinter die gängigen Denkmuster werfen zu können. Die Leser dieses nun zum fünften Mal erscheinenden Jahrbuches werden wieder einmal erstaunt sein, bei wie vielen Problemen ihnen die Lektüre die Augen öffnet:

Sie werden zum Beispiel erfahren, wie früh man schon wissen konnte, dass die Aufforderung an Griechenland, vor allem nur zu sparen, in der nunmehr eingetretenen Lage keine Lösung bringt, weil sich dieses Land auf diese Weise kaputtspart und noch weniger in der Lage sein wird, seine Schulden zurückzuzahlen.

Sie werden zum Beispiel bemerken, wie wir allein schon mit dem Begriff »Schuldenkrise« auf eine falsche Fährte gelockt wurden. Damit wird verschleiert, dass wir eigentlich eine Krise der Finanzwirtschaft und der Banken haben, weil diese sich in Spekulationen statt in solider Kreditfinanzierung verausgabt haben. Sie werden die für ihre Meinungsbildung wichtigen Fakten finden – etwa dass schon 2010 die öffentlichen Garantien für die ehedem private Bank HRE genau der Hälfte des Bundeshaushalts im Jahr 2008 entsprachen. Ein beängstigendes Verhältnis!

Sie werden nach der Lektüre dieses Buches beispielsweise besser nachvollziehen können, warum ich den Politikern dringend rate, sich aus der Abhängigkeit von den Finanz»märkten« zu befreien. Ich spreche von »neurotischen Investoren«. In diesem Jahrbuch werden Sie viel Material finden, das diese Beobachtung untermauert.

Wirtschaftliche Probleme beherrschen zwar die öffentliche Debatte über weite Strecken. Aber Ökonomie ist nicht das ganze Leben. In diesem Jahrbuch werden zu Recht auch andere Fragen erörtert: etwa Probleme der Außen- und Sicherheitspolitik, der Bildungs- und der Medienpolitik, vor allem aber auch die uns alle umtreibende Frage, was aus der fortschreitenden Spaltung unserer Gesellschaft in Reich und Arm, in Oben und Unten für das gesellschaftliche Zusammenleben und für eine funktionierende Demokratie noch an negativen Entwicklungen resultieren können.

Krisen wie heute sind Hochzeiten für Glaubensgemeinschaften mit ihren einfachen Erklärungsmustern und Ratschlägen: »Hätten wir ein bedingungsloses Grundeinkommen, dann wären viele Probleme gelöst.« Oder: »Der Euro ist an allem schuld, und wenn wir ihn wieder los wären, dann wären auch die Probleme gelöst.« Das sind nur zwei von mehreren heute gängigen Glaubensbekenntnissen. Die Autoren dieses Buches lassen sich von solchen schön klingenden Heilslehren nicht mitreißen. Sie halten mit rationalen Argumenten und mit Vernunft dagegen. Kurz: Sie klären auf. Insofern ist dieses Buch im besten Sinne aufklärerisch.

Sie werden in diesem Buch entdecken, dass auch kritische Geister in der gemeinsamen europäischen Währung durchaus etwas Positives und Erhaltenswertes sehen und dafür werben. Kritik am Bestehenden zu üben heißt ja nicht, destruktiv zu sein, sondern einen konstruktiven Beitrag zum Besseren zu leisten. Kritik zu üben kann durchaus auch heißen, das gemeinsam Errungene zu verteidigen, auch wenn es Mode geworden ist, solche Errungenschaften auf den Misthaufen der Geschichte zu werfen.

Die Autoren wenden sich gegen den zerstörerischen Zynismus, mit dem heute einige einflussreiche Meinungsführer operieren. Ein Lob auf Sarrazin werden Sie in diesem Buch nicht finden.

Im Jahrbuch und in den NachDenkSeiten ist also kritisches Denken mit positivem, konstruktivem Denken verbunden: Die Schuldenlast unseres Staates zum Beispiel ist groß. Aber mit den Autoren bin ich einig, dass wir dieses Problem lösen können – wenn man will und alle möglichen Instrumente klug einsetzt. Der demografische Wandel ist beachtlich. Aber die Probleme unserer sozialen Sicherungssysteme sind lösbar – wenn man will und wenn man nicht durch eine einseitige Sichtweise blockiert ist. Die Verteilung zwischen Arm und Reich ist in den letzten Jahrzehnten immer ungerechter geworden. Man könnte das ändern, wenn man wollte. Es müssen keineswegs revolutionär neue Wege sein. Manchmal reicht es, sich erprobter und bewährter Politiken zu erinnern – zum Beispiel der umverteilenden Wirkung einer gerechten Steuerpolitik.

In diesem Buch werden keine Hymnen auf unsere gesellschaftlichen und politischen Eliten gesungen. Im Gegenteil: Es wird der Finger in die Wunden gelegt. Es werden Inkompetenz oder auch vielfache politische Korruption offen angesprochen.

Man muss nicht alle Ansichten der Autoren teilen, das tue ich nicht. Man muss auch nicht ihre politischen Grundauffassungen teilen. Doch selbst wenn man anderer Meinung ist, wird man erfahren: Das Buch zu lesen lohnt sich. Es regt zum eigenen Denken an. Und was ist in einer Welt voller Probleme wichtiger, als immer wieder neu nachzudenken, statt dem Herdentrieb zu folgen?

Professor Dr. Peter Bofinger lehrt Volkswirtschaftslehre an der Universität Würzburg. Er ist Mitglied es Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.

Es ist fünf vor zwölf – Zeit zum Aufstehen

Der Stein kommt allmählich ins Rollen: In vielen Ländern Europas, ja, der ganzen Welt wehren sich immer mehr Menschen gegen eine Politik, die zu Massenarbeitslosigkeit führte, auf Sozialabbau, Sparen auf Kosten der »kleinen Leute«, kurz, auf Umverteilung von unten nach oben zielt. Eine Politik, die die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer macht. In Frankreich landet der 93-jährige Résistance-Veteran Stéphane Hessel mit der kleinen Schrift Empört Euch! einen Bestseller. In Spanien gehen die sogenannten »Indignados« zu Zehntausenden auf die Straße, um gegen eine abgehobene politische Elite und ihre unsoziale Politik zu protestieren. In Chiles Hauptstadt Santiago demonstrieren 150 000 Menschen für bessere Bildung, in Israel 300 000 für soziale Gerechtigkeit. In der arabischen Welt befreit sich Land um Land von seinen despotischen Regimen. Und in Großbritannien entladen sich die Spätfolgen der gesellschaftsfeindlichen Politik der »eisernen Lady« Maggie Thatcher in blutigen Krawallen. Die Ausgegrenzten rauben sich Konsumgüter, deren Besitz in einer durch und durch materialistisch gewordenen Ellbogengesellschaft das Höchste zu sein scheint.

Nur in Deutschland bleibt es (noch) ruhig. Hier ist die Enttäuschung in einem großen Maße in Aggression auf Minderheiten, in Politikverdrossenheit oder in Apathie umgeschlagen. Die Wahlbeteiligung geht stetig zurück. Nur vereinzelt zeigt sich in den Protesten gegen Großprojekte bürgerschaftlicher Unmut. Die Bundesregierung, aber auch große Teile der Opposition scheinen sich gar keine Gedanken mehr darüber zu machen, wie es gelingen könnte, in unserem Land für ausreichend soziale Gerechtigkeit zu sorgen. Die Ludwig Erhardschen Versprechen einer »sozialen Marktwirtschaft« oder eines »Wohlstands für alle« haben sich in ihr Gegenteil verkehrt. Und die sogenannte »veröffentlichte Meinung« ist in weiten Teilen zum Sprachrohr der »gierigen Wenigen« (Charles Moore) verkommen oder plappert nur nach, was Lobbyisten oder die Spekulanten der Finanzwirtschaft vorsagen. Presse und Rundfunk sind längst Teil einer Industrie, die eher an Ruhigstellung als an Aufklärung interessiert ist. Dazu gehört, dass angebliche Wahrheiten unwidersprochen so lange wiederholt werden, bis sie niemand mehr infrage stellt. Das gilt vor allem für die Ökonomie. Die unter anderem daraus resultierende Wirtschaftspolitik ist nicht nur sozial ungerecht, sondern grundsätzlich falsch und ineffizient. Sie schadet unserem Land und ganz Europa und wird für uns alle immer teurer.

Sogar im bürgerlichen Lager beklagt man inzwischen die »Selbstdesillusionierung des bürgerlichen Denkens« und es kommen »Zweifel an der Rationalität des Ganzen« (Frank Schirrmacher) auf. Nicht nur die NachDenkSeiten, auch die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung zitieren den »erzkonservativen« britischen Publizisten Charles Moore mit der Aussage: »Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat.«

Die öffentliche Debatte ist irreführend, die politischen Entscheidungen sind widersprüchlich und über weite Strecken unvernünftig. Die Bürgerinnen und Bürger scheinen machtlos zu sein.

Wir Macher der NachDenkSeiten wollen das nicht hinnehmen. Was falsch ist, bleibt falsch, auch wenn es noch so oft wiedergekäut wird. Es ist uns bewusst, dass wir gegen einen mächtigen Meinungsstrom schwimmen. Doch wir tun das nicht aus der puren Lust am Widerstreit, wir sind angetrieben von der Sorge, dass die Spaltung unserer Gesellschaft in unten und oben ein gefährliches Ausmaß erreicht hat. Wir halten den Rückzug aus dem politischen Geschehen für noch gefährlicher. Deshalb machen wir weiter. Deshalb immer wieder der Versuch, hinter die Kulissen zu leuchten und aufzuklären. Wir glauben an die Kraft der Vernunft und daran, dass der stete Tropfen den Stein dann letzten Endes doch höhlt.

Deshalb dieses neue Jahrbuch. Dieses Buch ist ein Auszug aus unserer täglichen Arbeit, die wir unentgeltlich leisten. Es enthält (teils gekürzte) Artikel von August 2010 bis August 2011. Wir sind frei von finanziellen und sonstigen Interessen, wir sind niemandem verpflichtet, weder politisch noch ökonomisch. Wir wollen einfach nur unseren Beitrag dazu leisten, dass die Willensbildung in unserem Land wieder demokratischer abläuft.

Deutschland braucht eine von Sachkenntnis getragene Debatte und keine von neoliberaler Ideologie und vermeintlichen Sachzwängen getriebene Politik, die keine Alternativen kennt und will. Wir wollen die zunehmend gleiche Ausrichtung der Medien durchbrechen, Meinungsmache und interessengeleitete Stimmungsmache aufdecken und die oft undurchsichtigen Netzwerke mächtiger Interessengruppen sichtbarer machen.

In dem Zeitraum, den dieses Buch abdeckt, ist uns besonders aufgefallen, wie gut es gelungen ist, die breite Öffentlichkeit von den eigentlichen Auslösern der Finanzkrise abzulenken, ja, den größten Finanzcrash aus dem kollektiven Gedächtnis zu verdrängen. Gerade so, als hätten wir die Ursachen und die Folgen schon längst überwunden! Stattdessen wurde der »Sündenbock« Griechenland gefunden; bald werden Italien, vielleicht sogar Frankreich und andere Länder dazu kommen. Die Bundesregierung lädt die Schuld in chauvinistischer Manier auf die »faulen Südländer« ab und versucht, ganz Europa den deutschen fatalen Medikamentencocktail zu verabreichen: Sparen, Sozialabbau, Privatisierung, Liberalisierung. Am deutschen Wesen soll Europa genesen. Dabei ist Deutschland – wie der britische Guardian Anfang August 2011 zu Recht anklagt – »the No 1 problem« für die Finanz- und Wirtschaftskrise in Europa.

Hilf- und ratlos gibt die Bundesregierung dem ordnungspolitisch völlig aus dem Ruder gelaufenen Druck der »Märkte« nach. Sie folgt der eindimensionalen Logik der Exportwirtschaft und lässt sich unter dem massiven Einfluss interessierter neoliberaler Kreise nur noch von deren Denkfehlern und Vorurteilen leiten.

Über zahlreiche dieser Denkfehler werden Sie auch in diesem Jahrbuch wieder lesen können. Ein Beispiel: Die »schwäbische Hausfrau«, von Angela Merkel zur Erläuterung ihres »Sparpakets« zum Vorbild genommen, mag ein auf den ersten Blick einleuchtendes Bild abgeben. Natürlich: Eine sparsame Hausfrau weiß, dass man nicht mehr ausgeben kann, als man einnimmt. Wenn eine Familie Schulden hat, muss sie eben sparen. Mit diesem Bild will die Kanzlerin uns (und vermutlich auch sich selbst) einreden, dass eine Volkswirtschaft genauso wirtschaften muss wie ein privater Einzelhaushalt. Diese Betrachtungsweise blendet aber bewusst aus, dass ein Großteil der staatlichen Verschuldung erst durch den »Steuersenkungswahn« der letzten Jahre entstanden ist. Sie unterschlägt darüber hinaus, dass »der bedeutendste Treiber des Defizitwachstums niedrige Steuereinnahmen aufgrund einer schwachen Wirtschaftsentwicklung (sind) und das beste Mittel dagegen wäre, Arbeitsplätze zu schaffen« (so der Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz). Sparabsicht und Sparerfolg sind – gesamtwirtschaftlich betrachtet – eben zwei Paar Stiefel.

Ein weiteres Beispiel: Offenbar halten viele Mitbürgerinnen und Mitbürger und selbst Intellektuelle – wie etwa Martin Walser – den früheren Finanzminister Peer Steinbrück für den »Retter« aus der Bankenkrise. Die Medien schreiben ihn schon zum künftigen Kanzlerkandidaten hoch. Wird jedoch in der öffentlichen Diskussion irgendwo nachgehalten, dass Steinbrück mit seiner Deregulierungspolitik auf dem »Finanzplatz Deutschland« den »Heuschrecken« und den Spekulanten geradezu Tür und Tor geöffnet hat? Wird problematisiert, dass er und die Kanzlerin uns dadurch letztlich Milliarden an Lasten für die anschließend notwendig gewordenen »Rettungsschirme« aufgebürdet haben? Über diese und weitere Fragen, die Steinbrücks damaliges Handeln aufwerfen müssten, lesen Sie bei uns auf den NachDenkSeiten und in diesem Jahrbuch.

Die Kanzlerin hat in ihrer Neujahrsansprache auch Ihnen ins Gewissen geredet: »Wir« hätten »über unsere Verhältnisse gelebt«! Das wurde millionenfach in den Medien nachgeplappert. Haben etwa Sie über Ihre Verhältnisse gelebt? Haben schon gar die Niedriglöhner, die über fünf Millionen Arbeitslosen und Hartz-IV-Leistungsempfänger oder haben die Rentner, deren Rente durch »Riestertreppe« und »Nachhaltigkeitsfaktoren« seit der Jahrtausendwende um ein Fünftel gesenkt worden ist, über ihre Verhältnisse gelebt? Wer vom »Wir« spricht, lenkt ganz bewusst davon ab, dass die Einkommensverteilung in unserem Land einer Schere gleicht, die immer weiter auseinander geht.

Alle reden über »Staatsverschuldung«, aber kaum jemand spricht darüber, dass die Verarmung des Staates systematisch vorangetrieben wurde. So wurden etwa der Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer und eine Unternehmensteuer nach der anderen gesenkt. Deutschland ist ein Steuerparadies für Millionäre. Selbst die Reichsten sind weit davon entfernt, den Spitzensteuersatz zu entrichten. Geringverdiener tragen die höchste Abgabenlast. Für Spitzenverdiener sinkt der Steueranteil, je mehr sie verdienen. Mit dem Ausbluten der öffentlichen Hand wurden gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen: privaten Interessen wurden neue Geschäftsfelder eröffnet, es wurde ein Zwang zur Privatisierung öffentlicher Unternehmen der Daseinsvorsorge und zum Streichen sozialer Leistungen ausgelöst.

Haben Sie sich einmal Gedanken darüber gemacht, warum sich die europäischen Peripherieländer immer mehr bei deutschen Anlegern verschuldet haben? Und warum es zu den außenwirtschaftlichen Ungleichgewichten zwischen Deutschland und den meisten seiner europäischen Nachbarn gekommen ist? Das lag nicht nur daran, dass wir in Deutschland die besseren Produkte hatten, sondern das lag im Kern daran, dass gleichzeitig mit Lohn-, Sozial- und Steuerdumping in den letzten zwei Jahrzehnten die anderen Länder ökonomisch niederkonkurriert wurden. Die meisten Deutschen haben gerade nicht »über ihre Verhältnisse gelebt« – im Gegenteil. Doch die deutschen Arbeitnehmer sind nun doppelt gekniffen: Zuerst haben sie zwanzig Jahre lang stagnierende Löhne hingenommen und immer mehr geschuftet, damit die deutsche Exportwirtschaft den anderen Ländern davoneilen konnte – und jetzt werden die abhängig Beschäftigten für die dadurch notwendig gewordenen Rettungsschirme noch einmal zur Kasse gebeten.

Da wird uns in der täglichen Börsenberichterstattung zur besten Sendezeit vor der Tagesschau oder in allen Wirtschaftsnachrichten eingeredet, die Börse sei der Seismograf der wirtschaftlichen Entwicklung. Wenn die Kurse steigen, wird gejubelt. Wenn sie sinken, wird Trübsal geblasen. Einmal davon abgesehen, dass neunzig Prozent der Fernsehzuschauer gar keine Aktien besitzen, also jedenfalls nicht unmittelbar betroffen sind – mit einer Berichterstattung, die an die Ziehung der Lottozahlen erinnert, wird völlig vergessen gemacht, dass die Auf- und Abwärtsbewegungen vor allem durch Spekulation und den Herdentrieb der »Analysten« ausgelöst werden.

Es gab einmal Zeiten, da wurden Spekulanten als unseriös geächtet, heute werden sie bewundert und die Politik tanzt nach ihrer Pfeife, statt dem Spekulantentum endlich das Handwerk zu legen.

Statistiken sind das am häufigsten eingesetzte Mittel, um uns zu überzeugen. »Experten« werfen nur so mit Zahlen um sich. Es herrscht zum Beispiel bei den Arbeitsmarktdaten geradezu ein Zahlenfetischismus, mit dem verdeckt werden soll, welche Qualität (und welcher Lohn) der Arbeit hinter der Quantität der Arbeitsplätze steht. Die schlimmsten Schreckensbilder lassen sich aber mit »Modellrechnungen« in eine möglichst ferne Zukunft malen. Die renommiertesten Wirtschaftsforschungsinstitute liegen zwar mit steter Regelmäßigkeit bei den Prognosen konjunktureller Daten selbst für das nächste Vierteljahr daneben. Aber in den Medien meist sogar noch als »Sachverständige« vorgestellte Kaffeesatzleser können bis auf die Stelle hinterm Komma zum Beispiel die Erwerbsquote, die Produktivität unserer Volkswirtschaft, die Wirtschaftskraft oder sogar das Verhältnis von Pflegefällen zur Erwerbsbevölkerung in fünfzig (!) Jahren prognostizieren – und damit Angst und Schrecken auslösen.

Dass hinter der Kaffeesatzleserei meist Interessen und damit politische Ziele stecken, wird uns bei der Veröffentlichung dieser »Studien« in den meisten Fällen verschwiegen. Vielleicht haben Sie es selbst gemerkt: In aller Regel kommen solche oft von der Finanzwirtschaft gesponserten »Prognosen« zum Ergebnis, dass der Staat die Sozialleistungen drastisch kürzen müsse. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht irgendeine wissenschaftliche Studie der erstaunten Öffentlichkeit präsentiert wird. Wir sind geradezu umzingelt von Think-Tanks, die meist nur die verlängerten »wissenschaftlichen« Schreibtische von mächtigen Interessengruppen oder – wie etwa die »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft« – ganz offen Public-Relations-Agenturen von Arbeitgeberverbänden sind.

Wir können die vielen Beispiele für diese halben Wahrheiten und ganzen Lügen, die Ihnen in diesem Buch vor Augen geführt werden, hier nur anreißen. Nahezu alle Texte, die wir aus den NachDenkSeiten ausgewählt haben, belegen mit Fakten und begründeten Argumenten, dass mit allen Mitteln der Meinungsmache die Welt anders wahrgenommen werden soll, als sie tatsächlich ist. Wir hoffen, dass Sie nach der Lektüre dieses Buches die Wirklichkeit, die politische Praxis und ihre mediale Darstellung mit anderen, mit kritischeren Augen sehen. Wir wünschen uns, dass Sie die Mechanismen unserer Medienwelt durchschauen, die immer häufiger verdeckte PR verbreitet und unter anderem durch zu große Nähe zu den Reichen und Einflussreichen korrumpiert ist und deshalb ihre eigentliche Wächterrolle immer mehr vernachlässigt.

Wir wollen Sie animieren, dass Sie sich nicht mehr länger nur vom täglichen Meinungsmainstream überfluten lassen, sondern öfter einmal in die NachDenkSeiten schauen oder auch in andere alternative politische Blogs.

Wir möchten, dass alle Staatsgewalt wieder vom Volk ausgeht und nicht dahin geht, wo viel Geld und publizistische Macht existieren.

Wir möchten Ihr Ethos gegenüber dem allgemeinen Werteverlust und dem Abhandenkommen von gemeinwohlorientiertem Denken oder gegen die Flüchtigkeit von schlichtem Anstand stärken. Kurz: Wir wollen Sie zum Nachdenken über Deutschland anregen und wir setzen darauf, dass Sie sich von Ohnmachtsgefühlen frei machen und sich einmischen. Gerade auch dann, wenn Sie sich mit Ihren ökologischen, wirtschaftspolitischen oder sozialen Ansichten derzeit politisch heimatlos fühlen. Die Wende in der Atompolitik hat bewiesen, dass sich das Einmischen lohnt, wenn auch leider erst nach langen Jahren. Die Proteste um Stuttgart 21 haben immerhin gezeigt, dass Bürgerengagement auch zur Abwahl von Parteien führen kann, die sich über ein halbes Jahrhundert fest im Sattel wähnten.

Ihr kritisches Engagement ist vor allem aber auch deshalb notwendig, damit »rechtspopulistische« Parolen mit ihrem Rassismus und ihrer Ausgrenzung von Minderheiten und damit der aufkeimende Chauvinismus als primitive Gegenreaktionen gegen weitverbreitete Ängste vor dem eigenen Absturz nicht noch mehr Gehör finden. Das gesellschaftliche Klima ist durch die »Tabubrüche« à la Sarrazin und Broder schon vergiftet genug, die Verschiebung nach »rechts« ist bei allen etablierten Parteien schon weit genug vorangeschritten.

Es ist ein »kritisches Jahrbuch«, und es kann auch nicht anders als kritisch sein. Unsere Kritik ist nicht besserwisserisch, wir wollen im Gegenteil Denkanstöße für besseres Wissen geben. Schon gar nicht ist unsere Kritik destruktiv. Das wäre sie, wenn wir milder urteilen würden, denn dann hätten wir schon die Hoffnung auf eine Besserung aufgegeben. Mit dem Wissen wächst der Zweifel und mit dem Zweifel wächst die Chance für neues Denken und damit auch für politische Alternativen.

Diesem Ziel, Denkanstöße zu geben, zum Zweifeln und zum eigenen Nachdenken über die Zustände in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft anzuregen, sehen sich dieses Buch wie auch unsere Internetplattform www.nachdenkseiten.de verpflichtet. Wir wollen unsere Leserinnen und Leser ermutigen, hinter die Kulissen der interessengeleiteten Meinungsmache von Lobbyisten, »Experten«, von Medien und natürlich von Parteien und der regierungsamtlichen Öffentlichkeitsdarstellung zu schauen. Wir sind der Überzeugung, dass sich gegen die dominante Meinungsmacht von oben und gegen die dichten Netzwerke der selbsternannten Eliten eine demokratische Gegenöffentlichkeit von unten entwickeln muss, um unsere Demokratie wieder lebendiger zu gestalten: nämlich als eine Staatsform, in der es sich lohnt, sich in die öffentlichen Angelegenheiten einzumischen.

Ihr Albrecht Müller und Ihr Wolfgang Lieb

1 Im Hamsterrad der »Sachzwänge«: Die grundsätzlichen Fehler in der Wirtschaftspolitik

Man muss kein Ökonom sein, um zu ahnen, dass in Deutschland und Europa vieles falsch läuft. Mit ihrem eindimensionalen Denken und Handeln haben die Verantwortlichen die schiefe Ebene selbst gezimmert, auf der die Europäische Union nun nach unten rutscht. Die Kosten tragen die einfachen Bürger. Es profitieren die nationale Exportwirtschaft und die internationalen Spekulanten.

Verbarrikadierte Demokratie – Politik schafft sich ab

29. Oktober 2010 / Rubrik: Das kritische Tagebuch / Von Wolfgang Lieb

Stabilitätspakt, Dienst- und Niederlassungsfreiheit, Unabhängigkeit der Bundesbank und Europäischen Zentralbank, Schuldenbremse, automatischer Sanktionsmechanismus bei Verstößen gegen verschärfte Stabilitätsregeln – die Politik verschanzt sich hinter unumstößlichen Prinzipien, unbeeinflussbaren Verfahren oder zwingend umzusetzenden Gesetzen. Unpopuläre Entscheidungen müssen dadurch nicht mehr begründet werden und man schützt sich vor einer politischen Auseinandersetzung.

Der Euro-Stabilitätspakt wurde mit dem Ziel begründet, für einen »stabilen Euro« zu sorgen. Wer könnte sich schon gegen eine stabile Währung aussprechen? Dass damit eine souveräne und vor allem aktive Finanzpolitik der Staaten eingeschränkt, ja, sogar unmöglich wird, wurde nicht gesagt. Der Maastricht-Vertrag hat ganz Europa einen Verzicht auf makroökonomische Politikinstrumente auferlegt und auf eine Sparpolitik festgelegt, mit der dann Einschnitte in den Wohlfahrtsstaat als unumgänglich erklärt werden konnten. In nahezu jeder Haushaltsdebatte seit 1992 wurde die Einhaltung des Maastricht-Vertrages dafür herangezogen, um die Kürzung von staatlichen Leistungen (vor allem im Sozialbereich) zu begründen.

Wäre der Stabilitätspakt in der Finanz- und Wirtschaftskrise eingehalten worden, wären keine durch Defizite finanzierten Konjunkturprogramme aufgestellt, keine Kurzarbeiterzuschüsse bezahlt oder keine Schulden für Rettungsschirme gemacht worden – kurz: Wir wären in einer Katastrophe gelandet.

Die sogenannte »Schuldenbremse« folgt der gleichen Logik wie der Euro-Stabilitätspakt. Mit ihr wird die staatliche Neuverschuldung nicht nur wie im Maastricht-Vertrag auf die Höhe von 3,0 Prozent, sondern auf 0,35 Prozent des Bruttosozialprodukts beschränkt. Die Länder sollen sogar zum Ausgleich von Defiziten keinerlei Kredite mehr in ihre Haushalte einstellen dürfen. Auch bei Einführung der »Schuldenbremse« wurde mit den weitverbreiteten Ängsten vor einer weiteren Staatsverschuldung Stimmung gemacht. Ergänzt wurden sie mit dem dramatisierenden Argument, dass wir nicht auf Kosten der Zukunft »unserer Kinder« leben dürften. Mit dem ziemlich schlichten Bild der »schwäbischen Hausfrau«, die nicht mehr ausgeben könne, als sie einnehme, wurde ein eindimensional auf staatliche Einsparpolitik ausgerichtetes finanzpolitisches Konzept durchgesetzt. Es wird so nirgendwo in der Welt praktiziert. Und dort, wo es eingeführt wurde, wie in der Schweiz im Jahre 2003, wurde es bei der ersten größeren Belastung de facto wieder außer Kraft gesetzt.

Mit dem Verbot einer Kreditfinanzierung wird einer aktiven makroökonomischen Wirtschaftspolitik und einer aktiven Zukunftsvorsorge eine verfassungsrechtliche Barriere vorgeschoben. Wenn noch eine in der Bevölkerung stets populäre Politik der Steuersenkungen dazukommt, werden damit nicht nur die wirtschaftspolitischen Handlungsspielräume auf die Arbeitsmarktpolitik eingeengt, sondern gleichzeitig auch der Sozialstaat und staatliche Daseinsvorsorge zurückgedrängt. Das unsoziale Sparpaket wurde beispielsweise vor allem mit den verfassungsrechtlichen Zwängen der »Schuldenbremse« begründet. Albrecht Müller hat in den NachDenkSeiten immer wieder belegt, dass mit einer eindimensionalen Sparpolitik einzelwirtschaftliche Betrachtungen auf gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge übertragen werden. Die Erfahrung aber zeigt: Schuldenzuwächse können nicht mit Sparabsichten reduziert werden, sondern in erster Linie mit der Verbesserung der Konjunktur.

Nun überträgt die Bundesregierung auch noch die Strangulierung wirtschafts- und finanzpolitischer Handlungsfähigkeit in verschärfter Form auf die europäische Ebene. Am liebsten wäre es Merkel und Westerwelle, wenn es einen »Automatismus« gäbe von (Geld-)Strafen und der Kürzung von Förderprogrammen, einem Stimmrechtsentzug für einzelne Mitgliedstaaten oder der Einleitung von Insolvenzverfahren für verschuldete Staaten, ohne dass es dazu noch einer politischen Entscheidung der Regierungschefs bedarf.

Auch die Begründung für die »politische Unabhängigkeit« der Europäischen Zentralbank folgte diesem Muster. Gerade in Deutschland mit seinem kollektiven Trauma der ersten Weltwirtschaftskrise ist die Angst vor einer Inflation besonders verbreitet und Geldwertstabilität geradezu ein Selbstzweck. Wer sollte sich also dagegen aussprechen können? 1967 war das noch anders. Über eine sogenannte »konzertierte Aktion« zwischen Regierung, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und der Bundesbank sollte in Deutschland ein Konsens über die gesamtwirtschaftlichen Ziele angestrebt werden – also ein Ausgleich zwischen Preisniveaustabilität, hohem Beschäftigungsstand, außenwirtschaftlichem Gleichgewicht und angemessenem Wirtschaftswachstum gesucht werden. Doch die Europäische Zentralbank wurde institutionell auf das Primat der Preisstabilität festgelegt. Und damit bloß kein Staat politischen Druck ausüben kann, wurde die EZB für politisch sakrosankt erklärt. Anders als das Zentralbankensystem in den USA ist die EZB mit ihrer auf das Primat der Preisstabilität beschränkten Handlungsfähigkeit nicht mehr in der Lage und auch nicht mehr Willens, für eine gesamtwirtschaftliche Balance zu sorgen.

De facto wurde mit der politischen Unabhängigkeit der EZB und ihrer auf die Geld- und Zinspolitik ausgerichteten Handlungsbeschränkung eine ökonomische Doktrin institutionalisiert, nämlich der sogenannte Monetarismus. Dieser vor allem von Milton Friedman und seinen Chicago Boys begründete Ansatz, der die Geldpolitik ins Zentrum stellt, folgt dem Glauben an die Selbstregulierung des privaten Sektors und sieht staatliche Interventionen in das Wirtschaftsgeschehen immer als schädlich an. Auch der Arbeitsmarkt ist für den Monetarismus nichts anderes als ein Kartoffelmarkt. Danach beseitigt sich die Arbeitslosigkeit von selbst, wenn nur der Preis für die Arbeit (= der Lohn) niedrig genug ist, damit er noch ein passendes Arbeitsangebot findet.

Mehrfach hat die EZB mit ihrer Hochzinspolitik wegen angeblicher Inflationsgefahren konjunkturelle Phasen des Aufschwungs abgewürgt, sie ist mitverantwortlich für die relativ schwachen Wachstumsraten der letzten zwei Jahrzehnte und damit auch Mitverursacher der wachsenden Arbeitslosigkeit.

Auch die im europäischen Vertragsrecht festgeschriebene Niederlassungsfreiheit und die Dienstleistungsfreiheit wurden mit der Freiheit von Unternehmen und gewerblich Selbständigen und mit der Freizügigkeit der Arbeitnehmer begründet. Wer wollte diesem Pathos der Freiheit schon etwas entgegensetzen? Freiheit ist ja immer gut.

Es ging aber eigentlich nur um die Dominanz und vertragliche Verankerung liberaler Wirtschafts(freiheits)rechte. Mit ihnen konnte die nationale Politik auch mit Hilfe des Europäischen Gerichtshofs gezwungen werden, nationale Standards abzubauen, beispielsweise bei Qualifikations- und Sozialvorschriften oder bei Sicherheitsstandards am Arbeitsplatz, bei Gesundheits- und Umweltschutzbestimmungen.

Nun kann man der Politik nicht vorwerfen, dass sie Glaubensbekenntnissen folgt. Ein Problem für die Demokratie entsteht dadurch, dass solche Festschreibungen (wie etwa Verfassungsänderungen oder vertragliche Bindungen auf EU-Ebene) nicht nur schwer rückholbar sind, sondern vor allem, dass sie demokratische Gestaltungsoptionen und Handlungsmöglichkeiten über eine ganze Epoche einengen, ja, sogar ausschließen. Alle Vorschläge, die etwa gegen den EU-Stabilitätspakt oder gegen die nun im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse gemacht werden, können so von vornherein als undurchführbar und damit als unrealistisch, ja, sogar als »gegen das Gesetz« diskriminiert werden. Sogar wenn diejenigen, die solche Festlegungen eigenhändig festgeschrieben haben, selbst erkennen, dass es zu Fehlentwicklungen kommt – wie etwa bei der bildungspolitischen Kleinstaaterei durch die Föderalismusreform –, können sie diese nicht wieder korrigieren.

Es bleibt also nur eine Fortsetzung des einmal festgelegten Kurses und damit eine Lähmung des politischen Systems der Demokratie. Denn auch Wahlen ändern daran nichts mehr. Die schönen Parteiprogramme sind in der Regierungsverantwortung kaum noch das Papier wert, auf das sie gedruckt wurden. Das politische System hat sich hinter den selbst aufgebauten Barrikaden eingesperrt. Das spüren die Menschen, wenn laut Umfragen die Hälfte der Deutschen mit der Art und Weise, wie die Demokratie in Deutschland funktioniert, unzufrieden sind. Dass es immer weniger zu entscheiden gibt, führt dazu, dass immer weniger Menschen von ihrem demokratischen Stimmrecht Gebrauch machen. Dass sich die Politik selbst eingemauert hat, führt zu allgemeiner Politik- und Politikerverdrossenheit. Kein Wunder, dass sich immer mehr Menschen nach einer starken Führerfigur sehnen, die diese Mauern einfach umwirft.

Der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch hat den Begriff »Postdemokratie« geprägt. Er beschreibt damit die formale Fortexistenz demokratischer Institutionen, hinter deren Fassade eine weitreichende Selbstaufgabe der Politik stattgefunden hat.

In einer Gesellschaft gibt es aber kein Vakuum der Macht. In dem Maße, in dem die Politik ihre Macht selbst aufgegeben hat, hat sie den Einfluss der ökonomischen Eliten gestärkt. Die mächtigen Oligopole haben sich mit ihrer einzelbetrieblichen Unternehmenslogik gegen gesamtwirtschaftliche ökonomische Ansätze durchgesetzt. Die Eindimensionalität der ökonomischen Denkwelt, wie sie sich etwa beim europäischen Stabilitätspakt oder bei der »Schuldenbremse« durchgesetzt hat, entspricht dem Weltbild der ökonomischen Eliten. Sie haben es mit Hilfe der Mehrheit der Ökonomen, mit Unterstützung unkritischer Medien und mit politischer Korruption geschafft, das neoliberale Leitbild zur Staatsräson zu machen.

Die Klientelpolitik der derzeitigen Bundesregierung zugunsten von Energiekonzernen, der Pharmaindustrie, der Versicherungswirtschaft oder der Banken ist nur ein Abbild dieser Staatsräson.

Wer das Volk finanziell bluten lässt, wird es auch real bluten lassen

15. August 2011 / Rubrik: Demokratie in Gefahr / Von Albrecht Müller

Die Erkenntnis, dass die Politik in den Fängen der Finanzwirtschaft ist, verbreitet sich. Ich verweise auf den aufsehenerregenden Beitrag von Frank Schirrmacher in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 15. August und das dortige Forum, auf den Basisartikel des konservativen Publizisten Charles Moore im britischen Telegraph vom 22. Juli und auf einen Kommentar von Michael Spreng, früher einmal Berater von Stoiber, vom 13. August (siehe Anlage). Offenbar setzt sich die Erkenntnis durch, dass die Finanzwirtschaft die Politik bestimmt und auf diese Weise weltweit uns Steuerzahler für ihre Abenteuer bezahlen lässt. In den NachDenkSeiten konnten Sie das, wie Frank Schirrmacher freundlicherweise vermerkt, schon lange lesen.

Michael Sprengs letzter Absatz lautet: »Die neue Weltfinanzkrise und die drohende Rezession haben für ganz kurze Zeit das Fenster geöffnet, der Finanzindustrie die Weltherrschaft noch zu entreißen. Wenn die Regierungen, wenn die Politik von der EU, über G8 bis zu G20 diese Chance verstreichen lassen und jetzt immer noch keine radikalen Konsequenzen ziehen, dann beschwören sie eine Weltkrise der Demokratien herauf. Dann werden ›Die Empörten‹ vor jedem Regierungssitz stehen und nicht nur in London die Straßen brennen. Es ist fünf Sekunden vor zwölf.«

Dass die Empörten vor die Regierungssitze ziehen, dass es angesichts der Abhängigkeit der Politik von sehr großen Interessen und angesichts der Ausbeutung der Mehrheit durch die finanzstarke und politisch starke Minderheit zur Empörung, zu Protesten, zum Widerstand und sogar zu Aufständen kommt, ist die Hoffnung vieler auf der linken Seite der politischen Szene. Das Grundgesetz gibt sogar das Recht zum Widerstand, wenn die Grundrechte bedroht sind, auch wenn die Sozialstaatlichkeit bedroht ist, was nun partout nicht zu leugnen ist.

Es ist eine spannende und zugleich sehr ernste Frage, wie die herrschenden Kreise auf den Widerstand reagieren werden. Wer an die Gültigkeit von guten konservativen Werten glaubt, wer auf das rechtsstaatliche Gewissen der herrschenden Kreise und auf einen wirksamen Rest an demokratischem Bewusstsein vertraut, wird darauf bauen, dass die herrschenden Kreise im Ernstfall rechtsstaatlich und nicht andeutungsweise so reagieren wie der syrische Präsident. Ich bin dessen nicht sicher. Wer so zulangt, wie die Finanzwirtschaft beim Steuerzahler zugelangt hat, wer so viel zu verlieren hat wie die Superreichen, wird auch bei uns bereit sein, seine Privilegien mit allen Mitteln zu verteidigen. Wie das geht, konnten wir und können wir in Großbritannien sehen:

   Der Protest wird kriminalisiert. Dafür gibt es immer berechtigten Anlass, weil sich unter die Demokraten, die empört sind und Widerstand leisten, immer auch solche Menschen, die man als kriminell bezeichnen könnte, mischen.

   Der Protest wird gespalten. Auch das ist relativ leicht, wie man in Großbritannien sehen konnte und kann. Es ist nicht schwierig, jene, denen es ganz miserabel geht, gegen Ladenbesitzer und Mittelständler in Stellung zu bringen.

   Mithilfe der verfügbaren Medien wird Stimmung gegen den Protest gemacht. Hart durchzugreifen wird populär. In Großbritannien können wir mit Spannung beobachten, ob der Bruch der herrschenden Kreise mit dem Medienunternehmer Murdoch bestehen bleibt oder angesichts des Aufstands der Straße gekittet wird. Bei uns werden die Bild-Zeitung und das Fernsehen und der Spiegel und viele Medien mehr sich gegen jene wenden, die »fünf Sekunden vor zwölf« vor dem Kanzleramt oder dem Reichstag protestieren. Den riesigen Einfluss der Finanzwirtschaft können wir zur Zeit jeden Abend in den Fernsehsendungen bestaunen. Da wird, so als sei nichts geschehen, Stimmung für Spekulation und Aktienmärkte gemacht. Ein untrügliches Indiz für die Verwobenheit dieser Medien mit den Interessen der Finanzwirtschaft.

   Das polizeiliche Potenzial wird ausgebaut und steht zur Verfügung. Der Angriff mit den Wasserwerfern in Stuttgart und die Weigerung der politisch Verantwortlichen, sich für die Verletzung eines älteren Menschen zu entschuldigen, sind Zeichen für die zu erwartende Brutalität.

Mit diesen pessimistischen Bemerkungen soll nicht gegen den Protest Stimmung gemacht, sondern für eine realistische Einschätzung geworben werden:

Es ist wichtig, die vermutliche Reaktion der herrschenden Kreise vorherzusagen, auch um die Spaltungstendenz zu unterlaufen.

Es ist wichtig, die Rolle der sich gegen den Protest engagierenden Medien genau zu sehen und vorherzusagen, was sie im Ernstfall zur Verteidigung der Privilegien der herrschenden Finanzwirtschaft tun werden.

Es ist auch wichtig, Brücken zu schlagen zwischen den empörten fortschrittlichen Kreisen und den empörten wertkonservativ orientierten Kreisen. Sie haben ein großes gemeinsames Interesse. Und es geht um so viel, nämlich um die Erhaltung eines Restes von Demokratie, Sozialstaatlichkeit und Rechtsstaatlichkeit, dass sonstige ideologische Differenzen an Bedeutung verlieren.

Anlage

Michael Spreng, sprengsatz.de, 13. August 2011

»Die Politik und das Monster

Horst Köhler, ein des Linksradikalismus unverdächtiger Mann, hat als Bundespräsident die Finanzwirtschaft schon vor der Lehman-Pleite als »Monster« bezeichnet. Franz Müntefering, ein konservativer Sozialdemokrat, nannte schon 2005 Hedgefonds und Private-Equity-Fonds »Heuschrecken«. Bei beiden aber blieben die mahnenden Worte folgenlos. Sie wurden eher belächelt. Das Monster konnte ungehindert im September 2008 die Welt an den Abgrund treiben.

Im Gegenteil. Die Politik auf der ganzen Welt fütterte jahrelang das Monster. Und dann versäumte sie es, das Monster zu zähmen. Die Politik hatte ein Dinosaurierei ausgebrütet und wunderte sich dann darüber, dass die Dinosaurier die Welt beherrschen wollten. (…)«

Lolek und Bolek ante portas

28. April 2011 / Rubrik: Europäische Union / Von Jens Berger

Am 1. Mai 2011 endet die siebenjährige Übergangsfrist, mit der Deutschland und Österreich ihren Arbeitsmarkt vor potenziellen Migranten aus acht mittel- und osteuropäischen Ländern abgeschottet haben. Dann können Staatsbürger der Slowakei, Polens, Tschechiens, Ungarns, Sloweniens, Estlands, Lettlands und Litauens ihre Arbeitskraft ohne bürokratische Einschränkungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt anbieten. Während die Arbeitgeberverbände sich über den erhofften Zuzug von Fachkräften freuen, befürchten die Gewerkschaften eine Ausweitung des systematischen Lohndumpings zulasten der Arbeitnehmer. Schon bald wird sich zeigen, ob es sich Deutschland leisten kann, weiterhin auf einen flächendeckenden Mindestlohn zu verzichten.

Für den Ökonomen Michael Hüther des von den Arbeitgebern finanzierten Instituts der deutschen Wirtschaft beginnt mit dem 1. Mai 2011 eine schöne neue Zeit. Der Wirtschaftslobbyist und Dauergast in deutschen Talkshows prognostiziert, dass in den nächsten beiden Jahren bis zu 800 000 Bürger der acht 2004 der EU beigetretenen osteuropäischen Staaten (NMS8) nach Deutschland kommen und hier den sagenumwobenen »Fachkräftemangel« beseitigen werden. Sein Kollege Hans-Werner Sinn ist da ganz bei ihm – der Pulsfühler der Wirtschaft spricht gar nebulös von »Millionen« Einwanderern in der nächsten Dekade. Andere Schätzungen gehen eher von 100 000 (IAB und EU-Kommission) bis 140 000 Zuwanderern (Bundesagentur für Arbeit) aus. Diese Zahlen relativieren sich aber, wenn man sich nicht vom alten Trick, die Bruttozuwanderung mit dem Wanderungssaldo zu verwechseln, ins Bockshorn jagen lässt.

Schon vor dem EU-Beitritt der NMS8 verzeichnete Deutschland eine Zuwanderung von mehr als 100 000 Menschen pro Jahr aus diesen Ländern. Nach dem EU-Beitritt stieg diese Zahl sogar auf 200 000 jährlich, ging in den letzten beiden Jahren aber wieder