Kira Gembri

Wenn du dich traust

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Für meine Eltern und M.
Weil ihr mich immer wieder rettet.

 

 

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1. Auflage 2015
© 2015 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Cornelia Niere
unter der Verwendung eines Bildes von
© KENG MERRY MIKEY MELODY
Dieses Buch wurde von der Literaturagentur erzähl:perspektive

(www.erzaehlperspektive.de) vermittelt.
ISBN 978-3-401-80514-6

www.arena-verlag.de
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Jay

Über einen ziemlich lahmen Abend

»Du bist doch verrückt!«

Flockes Stimme wird von massiven Beats zerhackt und klingt nur undeutlich zu mir herüber. Ich lasse meinen Blick über die Menschenmenge wandern, bis er am verschwitzten Gesicht meines Kumpels hängen bleibt.

»Der ganze Laden ist voll scharfer Weiber, und du gammelst an der Bar rum?« Er macht ein paar federnde Schritte in meine Richtung und fuchtelt mit den Armen durch die Luft, was er vermutlich für geile Moves hält. Mit seinem wippenden Mini-Irokesen erinnert er mich an ein dürres Hähnchen. Schade, dass ich meine Cam nicht dabeihabe, um dieses Bild für die Ewigkeit festzuhalten. Ich verkneife mir ein Grinsen, während ich einen Schluck aus meiner Bierflasche nehme.

»Hey!« Flocke hat mich nun erreicht und rammt mir den Ellenbogen in die Seite. Ich kann gerade noch die Flasche senken, sonst hätte ich mir die Lippe aufgeschlagen.

»Schon gut, komm wieder runter«, knurre ich ihn an. »Ich hab heute keinen Bock, okay? Das hier ist der erste Freitagabend ohne Auftrag seit verdammten zwei Wochen, also will ich einfach nur relaxen.«

»Weißt du, wo ich am besten relaxen kann?« Flocke wackelt anzüglich mit den Augenbrauen. »Zwischen den Beinen von ’ner heißen Frau.«

»Kein Wunder, dass du immer so verspannt bist.«

Alex, mein anderer WG-Kumpel, ist inzwischen neben uns aufgetaucht und hat meine letzte Bemerkung gehört. Feixend legt er Flocke einen Arm um die Schultern. »Ja, Flöckchen, stehst du nicht schon kurz vor einem Burnout?«

»Nicht cool, Mann, nicht cool«, protestiert Flocke in unser Gelächter hinein und verschränkt die dünnen Arme vor der Brust. Trotz seiner zwanzig Jahre wirkt er immer noch wie ein Teenager mitten in der Pubertät. Außerdem ist er chronisch untervögelt und hält diesen Umstand für ein absolutes Rätsel. »Der Tag wird kommen, an dem die Ladys endlich kapieren, was sie an mir haben. Dann seid ihr zwei so was von out!«

Wie als Antwort darauf drängeln sich im nächsten Moment ein paar Mädels in voller Schlampenmontur an Alex und mir vorbei und werfen uns eindeutige Blicke zu. Obwohl Alex mit seinen blonden Locken und dem Surferboy-Lächeln das totale Gegenteil von mir ist, ziehen wir immer denselben Typ Frau an. Darum bilden wir auch ein perfektes Team, wenn wir einen Auftrag auszuführen haben.

Der nächste Song ist von Flo Rida, und die Mädchen schmeißen allesamt kreischend die Arme hoch, als hätten sie noch nie etwas Vergleichbares gehört. Dann beginnen sie, sich körperlich zu verausgaben, immer schön darauf bedacht, in unserer Sichtweite zu bleiben. Ich stelle meine Flasche auf die Theke und drehe mich um.

»Mal kurz raus an die Luft«, signalisiere ich den anderen über den Lärm hinweg. Flocke trennt sich nur ungern vom Anblick der arschwackelnden Tänzerinnen, aber trotzdem folgen mir meine beiden Mitbewohner in den Vorraum und die paar Treppenstufen zum Ausgang hinauf.

Obwohl wir erst Mai haben, ist es draußen auch nachts schon ziemlich warm. Entsprechend viele Leute stehen auf dem Bürgersteig vor dem legendären Wiener U4 herum, rauchen oder drücken sich fummelnd an die Hauswand. Wir gehen bis zur nächsten Straßenecke, wo Alex seine Zigaretten hervorkramt. Wie immer, wenn wir zusammen Party machen, gibt er mir eine ab.

»Nichts für dich dabei diesmal?«, fragt er, während Flocke ein sehr beschäftigtes Pärchen in unserer Nähe anstiert wie ein Hund den Knochen. Fehlt nur noch, dass er sabbert.

Mit einem Achselzucken lehne ich mich gegen die Mauer. »Keine Ahnung. Die sehen heute alle irgendwie gleich aus. Kommt mir fast so vor, als hätte ich ein paar von denen schon gehabt.«

Alex lacht auf. »Weißt du, was? Ich glaube, die Rothaarige hast du echt mal zu uns mitgebracht.«

»Ah ja. Die ist übrigens gefärbt.«

»Jetzt bleib mal aufm Teppich«, schaltet sich Flocke unvermittelt ein. Seine Stimme ist einen Tick zu laut, was wohl daran liegt, dass er einen Tick zu viel Tequila intus hat. »Du tust ja so, als wär es für dich überhaupt keine Herausforderung mehr. Als könntest du jede haben! Voll arrogant, Mann!«

Ich blase ihm den Rauch ins Gesicht. »Wie lange kennen wir uns jetzt schon?«

Das bringt ihn nur kurz aus dem Konzept. »Ja gut, du hast vielleicht einen Lauf bei den Frauen, aber das heißt nicht, dass du bei absolut jeder landen kannst. Wetten, dass nicht?«

»Wie jetzt? Suchst du ihm eine aus, an der er seine Fähigkeiten beweisen soll?«, fragt Alex interessiert.

Flocke schiebt kämpferisch sein Kinn vor. »Genau das mach ich. Worum wetten wir?«

»Um Ruhm und Ehre.« Ich lasse die Kippe fallen und grinse ihn an. »Okay, wer soll’s sein?«

Er antwortet nicht, sondern beäugt stumm die Mädchen in unserer Nähe. Wahrscheinlich wird ihm gerade klar, dass ich recht gehabt habe – von den geglätteten Haaren bis zu den Killer-High-Heels wirken sie alle wie aus derselben Produktion. Jede von ihnen könnte er schon mal dabei beobachtet haben, wie sie barfuß und mit zerstörter Frisur frühmorgens aus meinem Zimmer gestolpert ist. Nach einer Weile hellt sich sein Gesicht jedoch auf, und er zeigt zur gegenüberliegenden Straßenseite.

»Wie wär’s mit der da?«

Stirnrunzelnd nehme ich seine Auserwählte unter die Lupe. Sie ist klapperdürr und bestimmt flach wie ein Brett. Genau kann man das allerdings nicht erkennen, weil sie einen viel zu weiten Sweater zu ihren Skinny Jeans trägt. Die dunkelbraunen Haare hat sie zu einem seitlichen Zopf geflochten, und ihre Füße stecken in ausgebleichten Chucks.

»Dein Ernst?«

»Du hast doch nur Schiss, dass ein Mädel mit Niveau zu hoch für dich ist!«

Obwohl Flockes Manipulationsversuch so subtil ist wie ein rostiger Nagel im Auge, steige ich darauf ein. Schließlich kann dieser Abend kaum noch lahmer werden. Gemächlich schlendere ich also auf Miss Underdressed zu, während Alex hinter mir verkündet: »Sehen Sie jetzt bei Experimente, die die Welt nicht braucht: Jay testet seine unschlagbare Wirkung auf die Damenwelt!«

Zum Glück scheint sie das nicht mitgekriegt zu haben, denn sie bleibt vollkommen unbewegt. Kurz entschlossen trete ich in ihr Blickfeld und lege den Kopf schief.

»Sag mir nicht, du wartest hier auf deinen Freund.«

Sie reagiert mit einigen Sekunden Verzögerung, indem sie die Augen auf mich richtet. Ihr Blick ist verschwommen, wahrscheinlich hat sie schon was getrunken. Umso besser für mich.

Als sie nicht antwortet, beuge ich mich noch ein Stück zu ihr hinunter. »Hm?«

Von Nahem sieht sie gar nicht so übel aus. Nicht unbedingt mein Stil, aber sei’s drum. Nur ihr stilles Glotzen macht mir allmählich Sorgen. Wenn sie keinen graden Satz mehr herausbringt, war es das für mich. Betrunkene Mädchen, ja – aber mit lebenden Leichen fange ich nichts an. Irgendwo hat jeder seine Grenze, und meine liegt eben bei Zombiesex.

Endlich lässt sie sich dazu herab, mir zu antworten. »Ich … Hallo.«

»Na so was, hey!« Ich knipse ein Strahlen in meinem Gesicht an, als hätte ich heute nur darauf gewartet, sie zu treffen. Darüber denke ich nicht einmal mehr nach, es ist reine Routine für mich. »Du wirkst, als wärst du durstig, und das kann ich einfach nicht mit ansehen. Komm doch an die Bar, damit wir …«

»Tut mir leid, ich kann nicht«, fällt sie mir ins Wort. Davon bin ich dermaßen irritiert, dass mir der Mund offen stehen bleibt. Verdammt, wahrscheinlich mache ich gerade keinen besseren Eindruck als Flocke.

»Ähm, soll das heißen«, frage ich endlich, »du hast heute noch was vor oder so?«

Sie nickt. »Ja, etwas Wichtiges.«

Okay, das ist Pech, aber zu akzeptieren. Flocke wird eine neue Kandidatin für mich suchen müssen. »Tja, dann«, sage ich zu ihr, und sie nickt noch einmal, ehe sie sich abwendet. Mit einer So-what?- Geste steuere ich auf Alex und Flocke zu, die das Gespräch aus einigen Schritten Entfernung verfolgt haben. Zu meiner Verwirrung brechen die beiden Sekunden später in schallendes Gelächter aus. Im ersten Moment glaube ich, dass sie die Wette für verloren halten – haben sie nicht kapiert, dass das Mädel nach Hause muss und keine Zeit für einen Drink hat?! Aber dann werfe ich einen Blick über die Schulter, und meine Augen ploppen mir fast aus den Höhlen. Ich habe damit gerechnet, dass Miss Underdressed sich inzwischen auf den Weg gemacht hat, ein Taxi herangewinkt, ihr Handy gezückt hat, irgendwas … doch sie steht einfach nur da und starrt in die Luft. Fuck.

Alex ballt eine Faust vor dem Mund, als würde er in ein Mikrofon sprechen. »Meine Damen und Herren, gerade konnten Sie sehen, wie Jonathan Jay Levin bei hundert Prozent der Testpersonen auf Ablehnung gestoßen ist!«

»Die hat dich echt sauber verarscht, Alter«, japst Flocke und presst beide Hände auf seinen Bauch. Ich habe nicht übel Lust, ihm einen kleinen Tritt zu verpassen, damit er sich noch aus einem anderen Grund krümmt. Stattdessen versuche ich zu überspielen, wie sehr mich meine Niederlage nervt. Ich lasse mir meinen freien Abend ganz bestimmt nicht von einem Mädchen versauen, schon gar nicht von einem abgewrackten Indie-Girl mit ’nem Knoten im Höschen.

»Ausnahmen bestätigen die Regel«, sage ich möglichst unbeeindruckt und nicke in Richtung des Clubeingangs. »Jetzt lasst uns wieder reingehen, okay? Flocke, ich mach dich mit der Rothaarigen bekannt.«

Mehr braucht es nicht, um ihn von der verlorenen Wette abzulenken. Wir kehren an die Bar zurück, und als ich mit Alex etwas später erneut ins Freie trete – zwei Mädels und einen beleidigten Flocke im Schlepptau –, ist die dünne Gestalt von der anderen Straßenseite verschwunden.

Lea

600 Sekunden …

… liegen zwischen meinem Abschied von Dr. Wolff und neun Uhr abends. Ich habe das nicht nur ausgerechnet, sondern auch gezählt, wieder und wieder, bis mir das Ticken der Sekunden in Fleisch und Blut übergegangen ist. Natürlich muss ich niemals die gesamte Zeit warten. Es dauert etwa drei Minuten, um von der Praxis bis zur U-Bahn-Station zu kommen, neben der sich diese riesige Uhr befindet. Hoch oben auf einem Pfahl wacht sie über die Menschen, die auf die nahe gelegene Disco zusteuern. Mich hingegen verhöhnen die Zeiger nur, wenn sie um sieben vor neun einen spitzen Winkel bilden. Spitz genug, um jemanden zu durchbohren. Zu spitz, um daran vorbeizugehen.

Sieben Mal habe ich Dr. Wolff schon erklärt, wie schwachsinnig ich den Ausdruck Therapiestunde finde. Eine Stunde hat sechzig Minuten, das weiß sogar mein dreijähriger Bruder, und selbst eine Frau mit Doktorabschluss von einer renommierten Universität sollte sich über so grundlegende Tatsachen des Lebens nicht hinwegsetzen dürfen. Ich sage das immer mit einem überdeutlichen Blick auf ihr Diplom, das ironischerweise gleich neben der Uhr in ihrer Praxis hängt. Leider lässt sie sich trotzdem nicht davon abbringen, mich nach exakt fünfzig Minuten vor die Tür zu setzen.

Hastig blinzle ich, um den Schleier vor meinen Augen zu vertreiben. Heute geht mein Herzschlag noch schneller als normalerweise, wenn ich die Uhr fixiere. Die Panik, die wegen der kurzen Unterbrechung in mir hochgekocht ist, brennt immer noch in meinen Adern. Ich versuche, mir einzureden, dass alles gut ist – schließlich habe ich den Moment nicht verpasst, in dem die Zeiger einen beruhigenden rechten Winkel bilden. Andernfalls hätte ich bis Viertel nach neun warten müssen, also hundertachtzig Grad, und mein kompletter Zeitplan wäre durcheinandergeraten. Diese Vorstellung zieht meinen Magen schmerzhaft zusammen. Ich muss sie beiseiteschieben, muss all meine Konzentration auf das grellweiße Ziffernblatt richten … Aber sobald ich das versuche, drängt sich die Erinnerung an diesen Typen in meine Gedanken. Graue Augen unter den braunen Haarsträhnen und ein Dreitagebart, der seine Narbe allerdings nicht verstecken konnte. Sie reichte quer über seine rechte Wange, als hätte jemand sein Gesicht auf ein Stück Papier gezeichnet und dann energisch durchgestrichen. Merkwürdig, dass mir dieses Detail so gut im Gedächtnis geblieben ist. Zum Glück habe ich es geschafft, ihn rechtzeitig abzuwimmeln, bevor er eine Katastrophe ausgelöst hätte.

Fünfhundertachtundneunzig, fünfhundertneunundneunzig, sechshundert. Im selben Moment, in dem der kurze Zeiger auf die Neun springt, hebe ich meinen rechten Fuß und gehe los.

Als ich zu Hause eintreffe, sitzt meine Familie wie erwartet noch am Esstisch. Ihre Stimmen schallen mir entgegen, während ich in den Flur trete und die Tür sorgfältig hinter mir abschließe. Vor allem Tommys quietschendes Lachen ist nicht zu überhören. Wegen seines ausgiebigen Mittagsschlafs ist er vor halb zehn nicht ins Bett zu kriegen, und so bekommt er meistens gerade seine Gutenachtgeschichte vorgelesen, wenn ich von der Therapie zurückkehre. Leise ziehe ich mir die Schuhe aus und schleiche über den weißen Fliesenboden. Bei uns gibt es fast nur glatte helle Flächen, wie in einer Reklame für Putzmittel. Vielleicht hat das etwas damit zu tun, dass mein Vater der Leiter einer Werbeagentur ist, in der meine Mutter seit einigen Wochen wieder halbtags mitarbeitet. Aber nicht nur das Haus, sondern auch meine Eltern wirken, als wären sie einem TV-Spot entsprungen. Ich lehne mich an den Türrahmen der großen, blitzblanken Wohnküche und beobachte, wie die beiden mit Tommy herumalbern. Tatsächlich ähnelt meine Mutter mit ihrem wohlfrisierten Haar einer dieser Werbespot-Frauen, die sich von ihren Kindern Ketchup auf die pastellfarbene Bluse schmieren lassen. Oh nein, das kriege ich doch nie wieder raus! Mein Vater könnte dann wie aus dem Boden gewachsen hinter ihr stehen: Nicht verzagen, versuchen Sie es mit einem Spritzer Superwasch! Und niemand würde sich wundern, wo er so plötzlich mit seiner bunten Flasche hergekommen ist. Das Einzige, was nicht ins Bild passen würde, wäre ich.

Inzwischen hat meine Mutter mich entdeckt und schenkt mir ein strahlendes Lächeln. »Na, wie war’s?« Sie lässt es so positiv klingen, dass ich mich jedes Mal zurückhalten muss, um nicht automatisch und völlig sinnentleert »Schön« zu antworten.

»Ganz gut, glaube ich. Wir machen Fortschritte.«

»Bestimmt macht ihr das. – Tommy, Schlafenszeit!« Damit ist das Thema auch schon wieder erledigt, im Sinne aller Beteiligten. Mein Bruder rutscht vom Schoß meines Vaters und stellt sich vor dem Regal neben der Tür auf die Zehenspitzen, um das Gutenachtgeschichtenbuch wegzuräumen. Ich bin nur einen Schritt von ihm entfernt und könnte ihn leicht hochheben, aber natürlich erwartet das niemand von mir. Schon ist meine Mutter aufgesprungen und kümmert sich selbst darum.

»Sslaf gut, Lea«, sagt Tommy zu mir, sobald er wieder festen Boden unter den Füßen hat. Er ist einfach unheimlich süß mit seinem kleinen Sprachfehler und dem geringelten Pyjama. Automatisch weiche ich zurück, als er an mir vorbei durch den Türrahmen geht, und winke ihm kurz zu. Mein Vater hat unterdessen die Teller vom Abendessen in den Geschirrspüler verfrachtet und folgt Tommy und meiner Mutter aus dem Raum. Schon vor einer ganzen Weile haben sich meine Eltern angewöhnt, die Stunde vor dem Zubettgehen lesend in ihrem Schlafzimmer zu verbringen – so habe ich freie Bahn.

»Mach nicht so lange, ja?«, sagt mein Vater noch zum Abschied. Wie jeden Abend reagiere ich mit einem Nicken, als hätte ich Einfluss darauf. Stocksteif bleibe ich stehen und warte auf das Plätschern des Wassers im Badezimmer, auf das Gemurmel meiner Mutter an Tommys Bett. Dann das Klappen zweier Türen, ehe es ganz still wird.

Sofort bin ich am Herd und lege meine Hände auf die Platten. Kalt. Ich beuge mich hinunter und betrachte die Drehknöpfe aus der Nähe. Die Striche für die verschiedenen Temperaturstufen verschwimmen vor meinen Augen. Vorsichtig ruckle ich am ersten Griff, spüre den leichten Widerstand, den man überwinden muss, um den Herd anzuschalten. Ich warte darauf, dass sich irgendein Gefühl bei mir einstellt – wie ein Klicken oder Einrasten – damit ich weiß, dass alles in Ordnung ist. Stattdessen ist da nur eine glühende Angst, die meine Eingeweide zu verbrennen scheint. Genau das würde tatsächlich passieren, wenn ich nun einfach ins Bett ginge und den Herd unabsichtlich eingeschaltet ließe. Der Rauch würde uns alle betäuben, und die Flammen würden unsere Körper deformieren wie klebriges Wachs. Ich stelle mir vor, was die Feuerwehrmänner in den Überresten unserer Betten fänden. In Tommys Gitterbett. Die Hitze drückt mir gegen die Kehle, und ich muss krampfhaft schlucken.

»So ist es an – so ist es aus«, flüstere ich probehalber vor mich hin. Dr. Wolff hat mir geraten, meine Handlungen »verbal zu begleiten«, um sie abschließen zu können. Es nützt allerdings nicht viel, und außerdem schäme ich mich, so mit mir selbst zu reden. (Ja, genau: Das Mädchen, das mitten in der Nacht schwitzend und zitternd am Herd herumwerkelt, kommt sich bei Selbstgesprächen blöd vor. Der Witz geht auf mich.) Lieber verlasse ich mich da aufs Zählen, weil jede Wiederholung mehr Sicherheit bedeutet. Doppelt hält besser, das weiß man doch. Nur, dass doppelt bei mir nicht ausreicht. Meine Schutzzahlen sind meistens Zehnerblöcke, rund und gleichmäßig. Wie hoch sie sein müssen, kann ich vorher nie genau sagen, aber ich weiß, dass ich heute müde und fahrig bin. Das bedeutet: besonders anfällig für Fehler.

Schlussendlich habe ich ganze hundert Mal an den sechs Drehknöpfen gerüttelt, bis meine Angst ein wenig abflaut und ich mich vom Herd lösen kann. Danach beginne ich auf leisen Sohlen meinen üblichen Rundgang durchs Haus, von einem Elektrogerät zum nächsten. Vierzehn sind es insgesamt, abzüglich derer, die im Schlafzimmer von Tommy und meinen Eltern stehen – dort ist die Tür abgeschlossen. Ich weiß das, weil ich wie jeden Abend mit pochendem Herzen die Klinke herunterdrücke und so lautlos wie möglich daran ziehe. Manchmal sagt meine Mutter dann etwas Beruhigendes, aber heute schläft sie anscheinend zu fest.

Alle Stecker, an die ich herankomme, zerre ich aus den Steckdosen und lege sie mit genügend Abstand daneben. Nach neun weiteren Rundgängen bin ich mir sicher, dass ich es wirklich getan habe. Bei der hundertvierzigsten Stecker-Überprüfung spüre ich schon ein Stechen im Kreuz vom vielen Bücken, und ein kalter Schweißfilm bedeckt meine Stirn, aber dafür macht meine Nervosität endlich einer bleiernen Müdigkeit Platz. Mein Blick fällt auf die Küchenuhr, obwohl diese normalerweise auf meinem Kontrollgang keine Rolle spielt. Zwanzig nach eins, ein spitzer Winkel.

Ich ringe nach Luft und sehe mich um. Habe ich eigentlich den Herd ausgemacht?

Zwei Monate später

Jay

Über den Haufen Scheiße, der sich mein Leben nennt

Wenn dein Rechtsbeistand schon vor der Anhörung zu schwitzen beginnt, ist das wahrscheinlich kein gutes Zeichen. Ich versuche, den nervösen kleinen Typen im Anzug mit einem Lächeln zu beruhigen, doch die Wirkung ist gleich null. Schmitt war ehrenamtlich in der betreuten WG tätig, in der ich mit siebzehn Jahren gewohnt habe. Inzwischen ist aus ihm ein richtiger Anwalt geworden, obwohl er immer noch genauso aussieht wie der überkorrekte Streber von damals. Klar bin ich froh, dass er mir in dieser Sache einen Gefallen tut, aber allmählich geht mir sein Rumgehampel auf den Zeiger.

»Du meine Güte«, murmelt er immer wieder vor sich hin, als wäre er eine siebzigjährige Lady. Gleichzeitig rennt er vor mir auf und ab, sodass seine Schritte durch den Flur hallen. »Wieso musstest du das tun, Jay? Und wieso musstest du dich dabei erwischen lassen?«

»Keine Ahnung. Ich hab gedacht, das wär zur Abwechslung mal ganz witzig«, sage ich augenrollend. Gleich wirft mir Schmitt noch vor, ich hätte das Gras den zwei Polizisten mit voller Absicht präsentiert. Dabei rechnet doch niemand um drei Uhr morgens am Donaukanal mit Bullen in Zivil! Ich meine, ein Viertel der Leute, die sich um diese Zeit zwischen Schottenring und Schwedenplatz herumtreiben, ist auf irgendwas drauf. Die ganze Sache ist einfach scheiße gelaufen, und ich frage mich, wie ich das alles Mike erklären soll: Nicht nur, dass ein Teil seiner Ware weg ist, sondern auch, dass ich womöglich für eine Weile aus dem Verkehr gezogen werde. In Wirklichkeit geht mir der Arsch ganz schön auf Grundeis, aber das versuche ich mir nicht anmerken zu lassen.

Als hätte Schmitt meine Gedanken gelesen, fragt er: »Bist du dir darüber im Klaren, dass du bis zu drei Jahre einsitzen könntest, wenn du Suchtmittel an Minderjährige verkaufst?«

»Tu ich nicht«, sage ich schnell. »Die Clubs, in denen wir arbeiten, sind immer ab achtzehn.«

»Wir?«, wiederholt Schmitt und zerrt an seiner Krawatte. »Bist du dir darüber im Klaren, dass du bis zu drei Jahre einsitzen könntest, wenn du Mitglied einer kriminellen Vereinigung bist?!«

»Hab ich wir gesagt?«, frage ich und blinzle unschuldig. »Ach Gottchen, was bin ich heute verwirrt!«

Schmitt sieht aus, als wollte er mir jeden Moment an die Gurgel fahren. Ich kenne diesen Blick nur allzu gut – genau so hat er schon früher diejenigen aus der betreuten WG angeschaut, die Mist gebaut haben. Meistens waren das Alex, Flocke und ich. Kein Wunder, dass wir uns zusammen eine Wohnung gesucht haben, nachdem wir alle volljährig geworden waren.

Jetzt atmet Schmitt einmal tief durch, um sich wieder einzukriegen. »Du hast gesagt, es waren zweihundert Gramm Blüten?«, fragt er mit etwas ruhigerer Stimme.

»Jep.«

»Damit schrammst du wahrscheinlich knapp an der Grenze des Eigenbedarfs vorbei! Ich will ehrlich sein, Jay, dein Fall steht auf Messers Schneide. Es kommt jetzt ganz darauf an, ob dich die Richterin als Dealer einstuft oder nicht. Darum ist es wichtig, dass du dich ihr als harmloser Teenie mit ein paar Flausen im Kopf präsentierst.«

»Und das bedeutet …?«

»Dass du dein gottgegebenes Kapital einsetzen sollst!«

Ich ziehe den Reißverschluss meines Hoodies auf und werfe Schmitt einen vielsagenden Blick zu. »Wie gefällt dir das?«

Die Krawatte muss seinen Sinn für Humor abgeschnürt haben, denn er gibt ein genervtes Schnauben von sich. »Jay, ich meine es ernst«, schimpft er dann. »Die Richterin ist auch nur eine Frau, also versuch einfach, nett auszusehen! Kannst du – kannst du das hier vielleicht irgendwie abdecken?« Er spielt auf meine Nabe an, indem er mit den Fingern vor seinem eigenen Gesicht herumwedelt.

»Klar, wenn du mir mal eben dein Make-up leihst?«

Frustriert lässt er den Arm nach unten sacken. »Wie auch immer«, knurrt er im selben Moment, als über einen Lautsprecher die Strafsache gegen Jonathan Levin angekündigt wird. »Los, komm mit.«

Ich schiebe meine Hände in die Bauchtasche meines Hoodies und folge Schmitt in den Verhandlungssaal. Gemessen an dem, was man im Fernsehen gezeigt bekommt, hätte ich mir den Raum größer vorgestellt. Es gibt nur drei Sitzreihen für Publikum, und vorne steht ein quadratischer Tisch mit Mikro. Der ist dann wohl für mich bestimmt. Ich lasse mich auf den Stuhl fallen, während Schmitt auf einen freien Platz seitlich neben dem Richterpult zuwieselt. Ihm gegenüber sitzt ein Typ, der eine schwarze Robe mit rotem Kragen trägt und keine Miene verzieht, als Schmitt ihn wie ein übereifriger Fanboy anstrahlt. Die Richterin ist ebenfalls schwarz gekleidet, obenrum allerdings violett. Kein Hammer, keine Perücke, dafür eine Frisur wie meine alte Vorschullehrerin. Diese Sache ist wirklich nur halb so gruselig, wie ich befürchtet hatte. Ich entspanne mich immer mehr, während die Richterin meine Personalien checkt und dann schnell zur Sache kommt: »Bei der Vernehmung durch die Polizei haben Sie ausgesagt, dass die von Ihnen mitgeführte Menge Cannabis nur zum Eigengebrauch bestimmt war. Sie wollten also nichts davon verkaufen?«

»Negativ. Ich bin schrecklich knausrig mit meinen Sachen.«

Auf mein Lächeln reagiert die Richterin ebenso wenig wie vorhin Schmitt. Völlig unbeeindruckt fragt sie weiter: »Konsumieren Sie häufig Drogen?«

»Nein.« Hier bin ich sogar ehrlich, denn seit ich das Zeug verticken muss, ist mir die Lust darauf gründlich vergangen.

»Und woher hatten Sie das Cannabis?«

Ich schiele zu Schmitt, der inzwischen so stark schwitzt, dass er bald nur noch eine Pfütze unter seinem Stuhl sein wird. Achselzuckend drehe ich mich wieder nach vorne. »Das hab ich dort in der Nähe gekauft. Keine Ahnung, wer der Typ war.«

Damit bringe ich die Richterin dazu, ihre geschäftsmäßige Haltung aufzugeben. Ein paar Sekunden lang mustert sie mich über ihre Brillengläser hinweg, und die Nervosität kriecht wieder in mir hoch, als ich den Zweifel in ihrem Blick bemerke. Sie glaubt mir nicht, das kann ich spüren. Glücklicherweise reitet sie aber nicht weiter darauf herum. Stattdessen blättert sie ein wenig in ihren Unterlagen, ehe sie fortfährt: »Sind Sie sich dessen bewusst, welchen Schaden Sie nicht nur sich selbst, sondern auch der Gesellschaft mit Ihrem Drogenmissbrauch zufügen?«

Schön langsam beginnt mich dieses Kreuzverhör anzukotzen. Gibt es keine Mörder, um die sich die Frau kümmern muss? »Drogen sind schlecht, ist notiert«, sage ich. »Hätte man uns das bloß mal in der Schule erzählt.«

Aus Schmitts Richtung ertönt ein fiepsiges Keuchen, so als wäre jemand auf eine Ratte getreten. Gleichzeitig wandern die Augenbrauen der Richterin ungefähr bis zu ihrem Haaransatz. »Ich gewinne den Eindruck, dass Sie diese Angelegenheit nicht mit dem gebührenden Ernst behandeln, Herr Levin. Angesichts dieses Mangels an Reue kann ich unmöglich dem Vorschlag der Verteidigung nachkommen, das Verfahren wegen Geringfügigkeit einzustellen. Sie müssen lernen, für Ihr Fehlverhalten geradezustehen und bei Ihrem Tun auf die möglichen Konsequenzen zu achten. Ich könnte Sie jetzt verurteilen, aber ich will Ihnen auch nicht Ihre Zukunft verbauen. Daher werde ich Ihnen einen Vorschlag machen.« Mit einem Seitenblick zu dem Typen mit dem roten Kragen fragt sie: »Herr Staatsanwalt, was sagen Sie zur Möglichkeit der Diversion?«

Was zur Hölle …? Ich habe keinen Schimmer, wovon sie da redet. Deshalb weiß ich auch nicht, ob ich mich freuen soll, als der Staatsanwalt zustimmt – aber nach der selbstzufriedenen Miene zu urteilen, mit der sich die Richterin wieder an mich wendet, kann es nichts allzu Gutes bedeuten.

»Passen Sie auf, Herr Levin«, sagt sie und klingt jetzt sogar wie meine Vorschullehrerin, als die mir erklärt hat, dass ich keinen Klebstoff auf die Sitzplätze der Mädchen schmieren darf. »Sie erhalten hiermit die Chance, einer Vorstrafe zu entgehen, indem Sie eine gemeinnützige Leistung erbringen. Diese besteht darin, dass Sie innerhalb von höchstens sechs Wochen zweiundsiebzig Sozialstunden in einer psychiatrischen Anstalt erledigen. Halten Sie diese Vereinbarung nicht ein, setze ich das Verfahren fort und verurteile Sie zu einer Haftstrafe. Sind Sie damit einverstanden?«

Die Frage hallt in meinem Kopf nach, und mit jeder Wiederholung wirkt sie mehr wie ein kranker Scherz. Es kann ja wohl nicht ihr Ernst sein, mich zur Sklavenarbeit in einer Klapsmühle zu verdonnern? Ungläubig schaue ich zu Schmitt, der nickt wie ein Wackeldackel auf Speed. Offenbar will er mir signalisieren, dass Sozialstunden immer noch besser sind als Knast. In diesem Moment bin ich so überfordert, dass sich mein Mund einfach selbstständig macht:

»Einverstanden«, höre ich mich sagen, ohne zu kapieren, worauf ich mich da überhaupt einlasse.

Das Folgende zieht wie in einem Nebel an mir vorbei. Die Richterin wirft mit irgendwelchen großen Worten und Paragrafen um sich, verkündet das Ergebnis der Anhörung und schließt dann energisch den Aktendeckel. Als sie mit der flachen Hand draufschlägt, klingt es für mich wie ein Genickschuss. Was bin ich nur für ein Idiot.

Lea

71 Bücher …

… stehen im Regal hinter Dr. Berners Schreibtisch. Während ich sie zum dritten Mal zähle, bilde ich mir ein, dadurch eine Art von Kontrolle zurückzugewinnen, obwohl mir diese Situation längst entglitten ist. Meine Eltern diskutieren mit dem Doktor über die Möglichkeit, mich abzuschieben, und ich kann nur an eines denken: wie es mir gelingt, dieses überschüssige Buch aus dem Regal zu entfernen.

»Sie war also bereits ein Jahr in Therapie«, fasst Dr. Berner zusammen. Seine Stimme klingt ähnlich dezent wie das leise Summen des Deckenventilators. Ich versuche, ihn komplett auszublenden, doch der angespannte Tonfall meiner Mutter holt mich wieder zurück.

»Ja, das ist richtig. Trotzdem sind diese … diese Kontrollzwänge in letzter Zeit immer stärker geworden.«

»Nehmen Sie Antidepressiva?«

Ich bin mir zu neunundneunzig Prozent sicher, dass diese Frage mir gilt, doch erneut antwortet meine Mutter. »Ihre Therapeutin hat es vorgeschlagen, aber wir wollten das gerne vermeiden. Sie hat ja auch gar keine Depressionen …«

»Dennoch halte ich eine medikamentöse Behandlung für sinnvoll. So können ihre Ängste auf ein Niveau herabgesenkt werden, das es ihr erlaubt, eine effektive Verhaltenstherapie zu starten.«

Einige Sekunden lang herrscht Schweigen, während vermutlich jeder darüber nachdenkt, wie uneffektiv alle bisherigen Maßnahmen gewesen sind. Na ja, jeder abgesehen von mir. Ich bin immer noch mit dem einundsiebzigsten Buch beschäftigt.

Schließlich räuspert sich Dr. Berner und reibt einmal kurz über sein graubärtiges Kinn. »Können Sie mir sagen, was Sie gerade jetzt dazu bewogen hat, eine stationäre Behandlung vorzuziehen?«

Das ist die erste Frage, auf die meine Mutter nicht bereitwillig antwortet. Die Atmosphäre im Raum hat sich spürbar verändert, und plötzlich erscheint das Brummen des Ventilators penetrant. Bevor es wieder zu einer peinlichen Unterbrechung kommt, springt mein Vater ein. Seine Stimme ist ein wenig belegt, vielleicht, weil er bisher nur geschwiegen hat.

»Es gab einen Zwischenfall, der uns vor Augen geführt hat, dass es so nicht weitergehen darf. Unser Sohn Thomas konnte letzte Woche wegen Bauchschmerzen nicht in den Kindergarten. Der Babysitter war nicht zu erreichen, also haben wir den Kleinen eine Stunde bei Lea gelassen, um an einer wichtigen Besprechung teilzunehmen. Lea hat normalerweise gut auf ihn geachtet, auch wenn sie ihn nicht … auch wenn ihre Interaktion nicht so ist wie sonst zwischen Geschwistern üblich. Aber während wir weg waren, wurden Thomas’ Schmerzen schlimmer. Wir haben ihn bei unserer Heimkehr fast bewusstlos in seinem Erbrochenen gefunden und konnten ihn gerade noch rechtzeitig ins Krankenhaus bringen, wo ihm der Blinddarm entfernt wurde. Und die ganze Zeit, während er geschrien haben muss, stand Lea in der Küche und …« Mein Vater sieht zu mir herüber und dann schnell wieder weg. »… Also, sie hat nichts getan.«

Ich weiß, dass das nicht seine Absicht ist, doch es wirkt wie eine Anklage. Trotzdem hat er unrecht. Ich habe nicht nichts getan, sondern versucht, meinem kleinen Bruder das Leben zu retten. Auf meine Weise. Zumindest habe ich krampfhaft dafür gesorgt, dass er nicht in Flammen aufging, aber es hat keinen Sinn, das irgendjemandem erklären zu wollen.

Dr. Berner lehnt sich zurück. »Ich verstehe. Nun, wie es der Zufall will, haben wir gerade einen Platz frei. Aber, Herr und Frau Moll, Ihre Tochter ist neunzehn Jahre alt, und soweit ich das ermessen kann, liegt keine akut bedrohliche Situation von Selbst- oder Fremdgefährdung vor. Wenn wir sie also hier aufnehmen sollen, muss es mit ihrem Einverständnis geschehen.«

Ich spüre die Blicke wie ein Brennen auf meiner Haut. Einundsiebzig. Wieder gellt mir Tommys verzweifeltes Weinen in den Ohren, und ich denke daran, wie ich am Herd festhing, zitternd die Knöpfe kontrolliert habe und unfähig war, mich zu lösen. Das entsetzte Aufkeuchen meiner Eltern und ihre Enttäuschung mir gegenüber. EINundsiebzig.

Abrupt hebe ich den Arm und zeige nach vorne. »Dieses Buch dort, am Ende der dritten Reihe. Könnten Sie mir das leihen?«

Dr. Berner reicht es mir schweigend und ohne merkliche Verwirrung. Ich glaube, er hat mich durchschaut. »Danke«, murmle ich und drücke es an meine Brust. »Dann habe ich während der ersten Tage hier was zu lesen.«

Ich sehe nicht hoch, um mich von der Erleichterung meiner Eltern zu überzeugen. Auch so weiß ich, dass ich mit meinem Entschluss weit mehr in Ordnung gebracht habe als nur Dr. Berners Bücherregal.

Jay

Über einen, der wirklich lieber nicht übers Kuckucksnest fliegen würde

Vergitterte Fenster – Scheiße. Darauf hätte ich wohl vorbereitet sein müssen, aber der Anblick lässt meine Laune trotzdem in den Keller rasseln. Viel lieber wäre es mir gewesen, wenn man mich in ein Altersheim geschickt hätte, wo die Omas und Opas friedlich sabbernd vor dem Fernseher hocken. Hier muss man ja Angst haben, hinterrücks eine Axt in den Schädel gerammt zu kriegen.

Als ein dumpfer Schrei zu hören ist, zucke ich leicht zusammen. Ich will mich echt nicht wie ein Weichei benehmen, aber diese Sache ist einfach nur mies.

Die pummelige Krankenschwester, die mich am Eingangstor abgeholt hat, runzelt die Stirn. »Das kommt von der Geschlossenen im oberen Stockwerk, dort haben Sie nichts zu suchen. Ihr Arbeitsbereich sind die offene Station und die Therapieräume, alles klar?«

Schon seit unserer Begrüßung redet sie mit mir, als wäre sie eine Gefängniswärterin und ich ein Schwerverbrecher. Allmählich beginne ich mich zu fragen, ob ich nicht doch in den Knast hätte gehen sollen – dann wäre ich auch fürs Erste meine Geldsorgen los. Nachdem das mit den Sozialstunden rauskam, hat man mir meinen Teilzeitjob in der Bäckerei schneller gekündigt, als ich Sonnenblumenkernbrot sagen konnte, und dass ich mir jetzt von Mike neue Ware hole, ist ausgeschlossen. Genau genommen würde ich an Mike lieber überhaupt nicht denken.

Schwester Heidrun bremst ab und öffnet schwungvoll eine Tür zu ihrer Rechten. »Hier finden Sie den Putzwagen und alle anderen nötigen Utensilien. Ich möchte, dass Sie im gesamten unteren Stockwerk die Böden, Fenster und Sanitäranlagen gründlichst reinigen«, kommandiert sie. »Aber benutzen Sie beim Fensterputzen bitte auf keinen Fall die raue Seite des Schwamms, sonst zerkratzen Sie die Scheibe.«

»Ach nee. Ich hab tatsächlich schon mal geputzt, wissen Sie?«

Ihr Blick macht deutlich, dass sie da so ihre Zweifel hat.

»Doch, im Ernst«, rede ich weiter, weil zumindest einer von uns für bessere Stimmung sorgen sollte. »Erst mal das ganze Blut natürlich, und beim Meth-Kochen gibt es auch immer fiese Flecken …«

Anstatt zu antworten, drückt sie mir bloß den Griff des Putzwagens in die Hand und marschiert wieder los. Seufzend folge ich ihr durch eine Glastür, hinter der sich die offene Station befindet. Erst vor einer Art Gemeinschaftszimmer bleibt Heidrun stehen und macht eine ausladende Armbewegung, die mir wohl sagen soll, dass ich mich jetzt mit dem Wischmopp austoben darf. Ich spähe an ihr vorbei zu den etwa fünfzehn Personen, die Karten spielen, lesen oder reglos in die Glotze starren. Also doch ein bisschen wie im Altersheim.

»Welcher von denen ist Jesus?«, flüstere ich.

Die Schwester gafft mich an, als hätte ich ihr ein unmoralisches Angebot gemacht. »Wie bitte?!«

»Na, es gibt doch in jeder Klapse mindestens einen Typen, der sich für Jesus hält.«

Ihre Augenbrauen kriechen immer weiter aufeinander zu.

»Oder Elvis vielleicht …?«, räume ich ein.

»Herr Levin«, unterbricht sie mich scharf. »Diese Menschen leiden an Depressionen, Zwangsstörungen, Psychosen oder Süchten. Etwas, das Ihnen auch passieren könnte, wenn Sie weiterhin Drogen konsumieren. Auf jeden Fall verdienen es unsere Patienten nicht, dass man sich über sie lustig macht, haben Sie verstanden?«

Ich mache einen Schritt rückwärts und hebe die Hände. »Woah, kein Stress, ich hab’s nicht so gemeint!«

»Das will ich auch hoffen. Nun gehen Sie endlich an die Arbeit!« Sie funkelt mich an, bis ich gehorsam den Wischmopp in den Eimer tunke. »Auf der Geschlossenen haben wir einen Jimi Hendrix«, fügt sie dann aus heiterem Himmel hinzu – und rauscht ab.

Lea

68 Blätter …

… hat der Gummibaum vor Dr. Berners Büro. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob es ein Gummibaum ist – mit Pflanzen kenne ich mich nicht aus. Trotzdem bilde ich mir ein, besser über ihn Bescheid zu wissen als jeder andere Mensch, seitdem ich ihn in ein Zahlenkorsett gepresst habe. Das gibt mir ein seltsames Gefühl von Macht und zumindest so etwas Ähnliches wie Sicherheit. An diesem Baum vorbei hat mich mein Weg in die Klinik geführt, und er steht auch zwischen mir und einer Entlassung. Wenn ich es schaffe, jedes Detail an ihm zu kontrollieren, habe ich wenigstens einen Bruchteil von diesem ganzen Irrsinn hier im Griff. Vorsichtig lasse ich meine Finger über die künstlich wirkenden Blätter gleiten. Später werde ich die Summe in meinem Notizbuch vermerken, das bereits zur Hälfte mit Zahlen und Listen gefüllt ist.

Sobald mich eine Schwester neben dem Gummibaum erwischt, setzt sie alles daran, mich zu stören. »Wollen wir nicht zur Ergotherapie gehen und einen hübschen Korb flechten?«, fragt sie mich dann zum Beispiel. Natürlich meint sie damit nicht uns beide, sondern nur mich. Kein vernünftiger Mensch würde freiwillig seine Zeit damit verbringen, einen hübschen Korb zu flechten. Trotzdem muss irgendjemand mal auf die glorreiche Idee gekommen sein: Hey! Wie wäre es, alle Verrückten zusammenzusperren? Dann subtrahiere man jegliche Art von sinnvoller Beschäftigung und ersetze sie durch absolut tödliche Langeweile. Davon muss man doch einfach geistig gesund werden, oder?

Jedenfalls ist es so ein Spleen der Krankenschwestern, fast jeden Satz an uns Patienten mit »Wollen wir« zu beginnen. Aber das ist noch um Längen besser als Dr. Berners allmorgendliche Frage bei der Visite: »Na, wie geht es uns heute?«

»Blendend«, antworte ich anderthalb Wochen nach meinem Einzug. »Wie meiner Urgroßmutter an einem etwas faulen Tag.« Die Medis, die sie mir zu schlucken geben, haben meinen Körper gefühlsmäßig mit Zement vollgepumpt. Ich bin so träge, dass ich nur mühsam vom Bett hochkomme.

»Aber immerhin werden die Zwänge weniger, nicht wahr?«, fragt mich der Doktor ernsthaft. Nur gut, dass er kein Chirurg ist. Er brächte es fertig, seinem Patienten den Kopf abzusäbeln und dann zu sagen: »Aber immerhin ist die Migräne weg, nicht wahr?«

»Geben Sie Ihrem Körper Zeit, sich an die Medikamente zu gewöhnen«, meint er jetzt, und ich nicke nur, weil ich keine Lust habe, mit ihm zu diskutieren. Überhaupt habe ich hier selten auf irgendetwas Lust, schon gar nicht auf das Formen einer Schale aus Ton, worin mein heutiges Vormittagsprogramm besteht.

Beim Mittagessen sitze ich an einem Tisch ganz vorne, zusammen mit zwei anderen Mädchen, die die Krankenschwestern im Blick behalten wollen. Wir flüstern uns gegenseitig Zahlen zu, und ein Unbeteiligter könnte vielleicht glauben, dass wir uns über Lotto oder Börsenkurse unterhalten. Dabei geht es der magersüchtigen Fiona um den Kaloriengehalt ihrer Portion, Keimphobikerin Emma spricht über Krankheitserreger und ich über die Erbsen auf meinem Teller. Selbstverständlich handelt es sich nur in meinem Fall um die korrekte Zahl.

Anschließend ist Mittagsruhe, und dann wird es auch schon Zeit für das, wovor ich mich hier am meisten fürchte: das Einzelgespräch. Wie es der Zufall will, ist Dr. Berner mein zuständiger Therapeut. Ich sitze also in seinem Büro mit den siebzig Büchern und versuche, mich gegen seine bohrenden Fragen zu wappnen. Bei meiner alten Therapeutin, Dr. Wolff, durfte ich einfach über alles reden, was mir durch den Kopf ging, aber Dr. Berner hat offensichtlich etwas anderes mit mir vor.

»Lea«, beginnt er heute und verschränkt seine langen Finger auf der Schreibtischplatte, »mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie sich nur höchst widerwillig an den Beschäftigungstherapien beteiligen, und im Gruppengespräch melden Sie sich niemals zu Wort. Deshalb möchte ich gerne von Ihnen wissen, ob Ihnen überhaupt klar ist, weshalb Sie hier sind.«

»Sie haben doch die Geschichte gehört«, sage ich verunsichert. »Die Sache mit meinem kleinen Bruder. Es ist für meine ganze Familie besser, mich aus dem Haus zu haben.«

Natürlich tappe ich damit direkt in seine Falle. »Sehen Sie – Sie verstecken sich in einer Opferrolle. Nicht Ihre Familie ist schuld, dass Sie eine Therapie benötigen. Sie sollten dies als Chance betrachten, wirklich an sich zu arbeiten.«

Bei seinen Worten beschleunigt sich mein Herzschlag. Ich zähle die Stifte auf dem Schreibtisch (sieben), um mich wieder ein bisschen zu sammeln. Etwa eine halbe Minute lang lässt mich Dr. Berner schweigen, ehe er weiterforscht: »Was geht Ihnen gerade durch den Kopf?«

Zum Glück bin ich in diesem Moment zum zehnten Mal mit den Stiften durch und kann den Blick heben. »Bei der U-Bahn-Station in der Nähe von unserem Haus gibt es … so eine alte Frau. Sie hat einen Teewärmer auf dem Kopf und redet permanent mit sich selbst.«

»Und Sie fragen sich, ob Sie einmal so werden könnten wie diese Dame?«, ergänzt er mit seiner gleichbleibend sanften Stimme, die mich allmählich rasend macht.

»Nein, ich bin eben nicht wie sie«, sage ich heftiger als beabsichtigt. »Ich frage mich, warum ich hier bin, während da draußen Menschen mit Teewärmern auf dem Kopf herumlaufen! Dann zähle ich eben etwas häufiger und bin gewissenhafter als andere Leute, na und? Ich gebe zu, dass es bei der Sache mit Tommy aus dem Ruder gelaufen ist, und meine Eltern haben einen guten Grund, mich loswerden zu wollen. Aber ansonsten komme ich schon zurecht!«

»Sie sind wütend«, stellt er fest, und das ist der Moment, in dem mir endlich der Kragen platzt.

»Ach nein, tatsächlich? Bin ich so leicht zu durchschauen? Ich will Ihnen mal was sagen: Sie wären auch wütend, wenn man Sie Medikamente schlucken und Topflappen häkeln lassen würde, nur weil Sie gerne wissen möchten, von welcher Anzahl an Gegenständen Sie umgeben sind!« Ich springe auf und stürme zur Tür – in Wahrheit ist es wohl kein Sturm, sondern eher ein laues Lüftchen. Die Medikamente scheinen mich vergessen zu lassen, wie man anständig läuft.

»Wo wollen Sie denn hin?«, höre ich ihn hinter mir rufen. Trotz meines übersprudelnden Zorns fühle ich eine gewisse Genugtuung, weil er zum ersten Mal die Stimme erhoben hat.

»Mir einen Teewärmer besorgen«, schieße ich zurück, dann bin ich aus seinem Büro draußen.

Jay

Über rekordverdächtiges Pech

»Hey, haben sie dich endlich rausgelassen!«, johlt Flocke, sobald ich aus der Klapse komme. Er hüpft winkend auf und ab, und die ersten Passanten drehen sich nach uns um. Obwohl mir der ganze Körper wehtut vom stundenlangen Putzen, freue ich mich irgendwie über den Anblick seines lächerlichen Iros. Ich gehe auf ihn zu und verpasse ihm einen Stoß in die Seite.

»Halt’s Maul, Flöckchen.«

»Mein Kumpel wurde soeben aus der Psychiatrie entlassen«, wendet sich Flocke strahlend an eine vorbeigehende Frau, bevor ich ihn in den Schwitzkasten nehme. Die Frau sieht uns mit großen Augen an und läuft schnell weiter.

»Was machst du eigentlich hier?«, will ich von Flocke wissen, der sich bereits aus meinem Griff gewunden hat.

Er nickt grinsend zu seinem Auto hinüber. »Ich war gerade in der Gegend und dachte, du könntest vielleicht ’ne Mitfahrgelegenheit brauchen.«

Flocke arbeitet seit anderthalb Jahren in einem Blumenladen, was er von Alex und mir immer wieder aufs Brot geschmiert bekommt. Es ist vielleicht der lächerlichste Job auf Erden, aber die Bezahlung ist zumindest gut genug, dass er sich diesen Gebrauchtwagen leisten konnte. Ich klettere hinein, lasse mich gegen die Sitzlehne fallen und strecke stöhnend meine Wirbelsäule durch.

»Und«, sagt Flocke, während er den Motor startet, »gibt’s was Neues bei den Psychos?«

»Nicht wirklich, die sind jeden Tag gleich verrückt. Ich schwör dir, manche von den Mädels dort sind so dürr, dass sogar Heidi Klum das Grausen bekommen würde. Außerdem hab ich heute einen kleinen vernarbten Typen gesehen, der immer eine Hundeleine hinter sich herschleift, und ein Mädchen, das meistens bei einem Gummibaum im Flur steht und jedes Blatt einzeln poliert.«

Flocke prustet los. Er liebt meine Psychogeschichten und hat mich in den vergangenen zwei Wochen fast täglich deswegen ausgequetscht. Auch während der gesamten Heimfahrt geht er mir mit Fragen nach Details auf den Sack. Beim Einparken rammt er vor lauter Begeisterung sogar fast einen schwarzen BMW X6, der sich vor unserem Wohnhaus breitmacht. Oh Mann, dieser Vogel bringt es noch fertig, dass wir Ärger mit dem Zuhälter bekommen, dem die fette Karre vermutlich gehört. Etwas genervt betrete ich den dämmrigen Hausflur und krame gerade meinen Schlüssel aus der Hosentasche, als es unter meinen Schuhsohlen knirscht.

Scherben.

Dann sehe ich unseren Fernseher, der zertrümmert vor unserer Wohnung liegt. Die Tür hängt aufgebrochen in den Angeln.

Ich bin zu langsam, um Flocke zurückzuhalten. Er schießt an mir vorbei ins Apartment, und das Nächste, was ich höre, ist ein dumpfer Schlag. Sofort gewinnt das Adrenalin die Kontrolle über meinen Körper. Noch ehe ich die Situation richtig erfasst habe, stehe ich mitten in unserem verwüsteten Wohnzimmer und lasse meine Faust in das Gesicht des erstbesten Mannes krachen. Der Typ taumelt rückwärts, und ich nutze die Chance, um mir einen Überblick zu verschaffen. Aus dem Augenwinkel erspähe ich Flocke, der von einem zweiten Mann zu Boden gedrückt wird. Ein Dritter bemerkt meinen Moment der Unachtsamkeit und boxt mir in den Magen, sodass ich mich vornüberkrümme. Als ich wieder hochkomme, sehe ich direkt in den Lauf einer Waffe – und da erst wird mir klar, mit wem ich es zu tun habe. Wie konnte ich nur so bescheuert sein, die Zuhälterkarre vor dem Haus nicht zu erkennen?

»Caesar«, keuche ich. »Was zur Hölle soll das? Weiß Mike, welchen Scheiß ihr hier abzieht?«

»Glaub mir, das ist ganz in Mikes Interesse«, schnauzt er mich an. Sein fettes Gesicht hat sich dunkelrot verfärbt, und die schwarzen Haare kleben ihm an der Stirn. »Was wir hier wollen, solltest du dir eigentlich zusammenreimen können, wenn du nur halb so clever bist wie dein Alter. Der hat das schon ganz schlau gemacht, erst die Großzügigkeit von seinem Kumpel Mike auszunutzen und dann zu krepieren. Aber wenn du nicht dasselbe vorhast, würde ich dir raten, demnächst den fehlenden Riesen abzuliefern!«

Ich schließe kurz die Augen, während ich ausatme. Dass es noch so viel ist, hätte ich nicht gedacht. »Würde … ihm vielleicht auch eine Anzahlung genügen?«

»Was denn für ’ne Anzahlung? Sieht es hier vielleicht so aus, als wäre irgendwas da, was für eine verschissene Anzahlung reicht?« Caesar breitet die Arme aus, um den Schrotthaufen zu präsentieren, der mal unser Wohnzimmer war. Jedes Möbelstück in meinem Blickfeld ist umgeworfen, und dazwischen verteilt sich zerbrochenes Geschirr. Während die Pistole für wenige Sekunden nicht auf mich gerichtet ist, versuche ich, wieder einen kühlen Kopf zu bekommen.