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Impressum

Dieses Buch entstand mit der Unterstützung eines Autorenstipendiums für Kinder- und Jugendliteratur der Stiftung Preußische Seehandlung, Berlin

© Querverlag, Berlin 2012 (überarbeitete Neuausgabe)

Die Erstausgabe erschien im Jahre 2001 im Verlag Friedrich Oetinger, Hamburg

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung eines Fotos mit freundlicher Genehmigung des Verlags Friedrich Oettinger.

ISBN 978-3-89656-531-0

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Querverlag GmbH und Salzgeber & Co. Medien GmbH

Akazienstraße 25, 10823 Berlin

www.querverlag.de - www.salzgeber.de

Anfang

Zu Anfang konnte ich meiner Mutter lange Zeit nicht verzeihen, dass sie mir nichts davon erzählt hatte. Sie hat mir erst dann davon erzählt, als es zu spät war. Das konnte ich ihr einfach nicht verzeihen.

»Zu spät?«, hat mich Wanda, meine Tante, neulich wieder gefragt. »Zu spät wofür? Was hättest du denn dagegen machen können?«

Nichts, das ist es ja. Ich hätte nicht das Geringste dagegen machen können. Niemand konnte was dagegen machen, nicht meine Mutter, nicht die Ärzte, niemand. Und ich schon gar nicht. Trotzdem – wenn ich eine Tochter hätte, würde ich ihr von der Krankheit erzählen, und zwar gleich oder jedenfalls ziemlich schnell. Dann hätte sie Zeit, sich daran zu gewöhnen.

Ich weiß zwar nicht, ob man sich wirklich an so eine Sache gewöhnen kann, aber ich glaube, mir wäre es besser gegangen, wenn ich schon viel früher davon gewusst hätte. Ich würde meine Tochter jedenfalls nicht so lange im Ungewissen lassen.

»Ach ja?«, sagt Wanda jedes Mal, wenn ich wieder davon anfange. »Aha. Also los, Leontine, gehen wir das mal durch. Setz dich hin.«

Sie setzt sich mir gegenüber, verschränkt die Hände vor der Brust und sieht mich mit ihren blauen Augen herausfordernd an. Also setze ich mich ebenfalls hin, und Wanda sagt: »Okay. Ich bin du, und du bist deine Mutter. Und jetzt erzähl mir mal, dass du eine unheilbare Krankheit hast: nicht Krebs, nicht irgendetwas anderes, sondern AIDS, A-I-D-S, und dass du schwer krank bist und nicht mehr lange zu leben hast. Na los, fang an.«

Ich sitze dann da und gucke sie an und kriege kein Wort heraus. Jedes Mal geht das so, und meistens werde ich dann unheimlich wütend, so wütend, dass ich aufspringen und rausrennen muss. Und wenn ich dann draußen bin, könnte ich alles zu Kleinholz schlagen, alles – die verrosteten Fahrräder am Schuppen, den Schuppen selber, die dicken Blumentöpfe davor – oder einfach nur heulen.

Und genau das mache ich dann meistens auch. Ich setze mich irgendwohin, für gewöhnlich auf den großen Findling neben der Einfahrt, und heule, bis keine Tränen mehr kommen. Und danach geht es mir immer ein bisschen besser. Eines Tages, so stelle ich mir das vor, habe ich vielleicht genug geheult, dann sind einfach keine Tränen mehr da. Aber bis dahin dauert es bestimmt noch eine Weile. Wenn es überhaupt jemals so weit sein wird.

Wanda sagt, ich sei im Grunde gar nicht wütend auf sie oder mich oder die Tatsache, dass ich kein Wort rauskriege. Sondern auf meine Mutter. Und das sei gut so, weil die Wut eben rausmüsse.

Ich kann es zwar nicht leiden, wenn Wanda dermaßen tiefsinnig daherredet, so ähnlich wie dieser dämliche Schulpsychologe, bei dem ich früher mal war, aber kann sein, dass sie Recht hat. Denn in letzter Zeit macht es mich nicht mehr ganz so fuchsig, wenn sie mit diesem »Ach ja? Setz dich hin«-Kram anfängt. Jedes Mal wird mir klarer, dass es verdammt schwierig gewesen sein muss für meine Mutter, mir reinen Wein einzuschenken, und dass sie es vielleicht ja auch schon früher gewollt hat, aber nicht konnte. Vielleicht hat sie einfach nichts rausgekriegt. So wie ich, wenn ich meiner Tante gegenübersitze.

Und ich weiß auch gar nicht, wie ich eigentlich reagiert hätte. Vielleicht wäre ich einfach nur total wütend geworden und hätte tatsächlich irgendwas kurz und klein geschlagen. Das habe ich früher nämlich öfters getan, wenn ich sauer war. Jetzt mache ich das kaum noch. Aber jetzt ist ja sowieso alles anders.

Na ja, nicht alles, aber so ziemlich das meiste.

Ich komme aus einer ziemlich kaputten Familie, aus so genannten »zerrütteten Familienverhältnissen« – asozial nennt man das auch. Heiratsurkunden oder Trauringe waren bei uns seit jeher Mangelware. Fast meine gesamte Verwandtschaft ist unehelich zur Welt gekommen, genauso wie meine Mutter, meine Tante und natürlich auch ich. Der Unterschied zwischen mir und den anderen ist nur, dass ich ein Einzelkind bin. Aber das liegt vermutlich daran, dass mein Vater kurz nach meiner Geburt vom Alkohol auf härtere Drogen umgestiegen ist und meine Mutter von da an genug damit zu tun hatte, Geld aufzutreiben und über die Runden zu kommen. Und ein paar Jahre später ist mein Vater abgehauen. Aber da war meine Mutter selber schon auf Heroin, und das war’s dann. Wie sie mich überhaupt großgekriegt hat, ist mir manchmal ein Rätsel.

Aber hier bin ich: fünfzehn Jahre alt, eins fünfundsiebzig groß und ziemlich kräftig – kräftig, nicht dick! –, blaue Augen, eine unmöglich große Nase mitten im Gesicht, Halbwaise, Hartz-IV-Empfängerin und schlecht in der Schule.

Aber ansonsten gut drauf. Finde ich jedenfalls. Allerdings erst, seit ich hier bei Wanda lebe.

Klar, früher war nicht nur alles beschissen und schlecht und so weiter. Bestimmt nicht. Aber irgendwie habe ich vorher nie so richtig in mein eigenes Leben hineingepasst. Es hat nie richtig hingehauen. Erst jetzt fühlt sich das anders an.

Vielleicht bin ich ja tatsächlich irgendwie »angekommen«, wie Wanda das nennt. Jedes Mal, wenn sie das sagt, guckt sie so bedeutungsschwanger, dass ich einfach nicht anders kann, als die Augen zu verdrehen. Aber Wanda nimmt mir das nicht übel.

»Verdreh du nur ruhig deine Augen zum Himmel, Leontine Fricke«, sagt sie und grinst. »Eines Tages wirst du schon sehen, dass was dran ist.«

Logisch ist da was dran, das weiß ich auch jetzt schon. Aber vor fünf Monaten sah das noch längst nicht so aus.

Kapitel I

»Und das ist also unser Neuzugang aus Berlin, Leonie Fricke.« Dr. Bode, mein neuer Klassenlehrer, lächelt mich breit an. »Wir hoffen, dass du dich schnell eingewöhnst, Leonie, hier in der 8b und überhaupt.«

»Leontine!«, sage ich laut. »Ich heiße Leontine, nicht Leonie.«

Irgendwo hinter mir prustet einer von diesen Vollpfosten, und der Klassenlehrer, Dr. Bode, sieht tadelnd in den Raum. Dann wendet er sich wieder zu mir.

»Entschuldige, Leontine. Da habe ich anscheinend einen … nein, gleich zwei Buchstaben übersehen. Wird nicht wieder vorkommen, einverstanden?«

Er sieht mich verschwörerisch an, und ich weiß spätestens jetzt, dass ich ihn nicht leiden kann. Das liegt an der Art, wie er spricht: so sanft und ernst, als hätte er in einer Broschüre gelesen, dass man Jugendliche am besten auf seine Seite zieht, indem man so tut, als nähme man sie ernst.

»Aber klar doch, sicher«, antworte ich so cool wie möglich. Das fällt mir nicht schwer: Ich bin gut darin, keine Miene zu verziehen. Dann sehe ich mich in der Klasse um. Bis auf meine Banknachbarin Tinka erwidert keiner von meinen neuen Mitschülern meinen Blick. Tinka ist sehr groß und sehr dünn und hat eine Unmenge Sommersprossen im Gesicht, aber ansonsten unterscheidet sie sich in nichts von den anderen Mädchen, die alle aussehen wie kleine, ökig angehauchte Landpomeranzen. Und die Jungs … Vollpfosten eben, unreif und doof und noch dazu durch die Bank weg einen Kopf kleiner als ich.

Aber das war mir ja klar gewesen. Erstens ist Braunschweig nun mal Provinz – na ja, jedenfalls im Vergleich zu Berlin. Zweitens drehe ich gerade ’ne Ehrenrunde und bin den anderen hier damit ein Jahr voraus, und drittens hat Wanda mich vorgewarnt: »Eine völlig andere Welt, Leo, vergiss das nicht. Die kommen aus einer heilen Welt und du aus ’ner kaputten. Capito?«

»Gut, Leontine. Schauen wir mal, wie du dich zurechtfindest«, sagt Dr. Bode und lächelt mich überaus sanft an. Wahrscheinlich hat er den Bericht des Berliner Schulpsychologen über mich ein bisschen zu oft gelesen, vor allem den Abschnitt über meine Neigung zu Aggressionen. »Wenn du Fragen hast, wende dich ruhig an mich. Nur keine Angst. Du bist ja in einer nicht ganz leichten Situation.«

Wieder prustet einer der Jungs in den hinteren Bänken, und Dr. Bode fügt hastig hinzu: »So mitten im Schuljahr.«

Das Prusten wird lauter, und ich drehe mich langsam um und sehe nach, welcher der Heinis glaubt, mich nerven zu müssen. Es ist ein Blonder mit Stoppelschnitt, und als er mein Gesicht sieht, hört er schlagartig mit dem Gepruste auf.

»Benimm dich, du Brot«, sage ich und drehe mich wieder nach vorne, und diesmal bleibt es hinter mir still. Und auch sonst ist es auf einmal sehr ruhig. Mir ist klar, dass ich schon wieder mal weit davon entfernt bin, mir Freunde zu machen, aber ich konnte nicht anders.

»Gut«, sagt Dr. Bode noch einmal, diesmal mit vorsichtiger Stimme. »Bis hierhin und nicht weiter, in Ordnung?« Er lacht gekünstelt. »Also dann. Let’s talk about the weekend.«

Die NGN, die Neue Gesamtschule Nussberg, ist erst vor vier Jahren gegründet worden. Wanda hat sie unter anderem deshalb für mich ausgesucht, weil sie als besonders fortschrittlich gilt und angeblich Schüler aus allen sozialen Schichten zu gleichen Anteilen aufnimmt. Aber ob das wirklich stimmt, daran habe ich so meine Zweifel.

Auf den ersten Blick kann ich sehen, dass fast alle meine neuen Klassenkameraden aus gutem Hause stammen. Die meisten sind wahrscheinlich verwöhnte Einzelkinder, krönende Frucht ihrer in die Jahre gekommenen Akademiker-Eltern.

Einzelkind bin ich zwar auch, aber als ich geboren wurde, waren meine Eltern beide selber noch Teenies. Aber das ist ja egal. Und es ist mir auch ziemlich egal, ob ich es mir gleich am ersten Tag mit meiner neuen Klasse verscherze. Ich habe sowieso nicht vor, mich groß zu integrieren, geschweige denn mit irgendwem anzufreunden. Ich will meine Ruhe. Die Schule hinter mich bringen, mich bei Wanda ein bisschen erholen und dann … Mal sehen, was kommt.

Ich brauche ungefähr zehn Minuten um festzustellen, dass mir meine Ehrenrunde unglücklicherweise nicht den geringsten Vorsprung verschafft hat, jedenfalls, was Englisch angeht. Leider trifft das auch auf Mathe und Biologie zu, wie ich in den nächsten Stunden feststellen muss, und als es zur Mittagspause gongt, bin ich ziemlich ernüchtert. Nicht, dass ich irgendeinen Wert auf gute Noten lege, aber frustrierend ist es irgendwie doch.

Entnervt schmeiße ich mein Bioheft in den Rucksack und sehe meine Sitznachbarin an. »Hier gibt es doch ’ne Mensa, oder? Wo ist die denn?«

Tinka sieht erstaunt zu mir auf. Wahrscheinlich hatte sie schon vergessen, wie meine Stimme eigentlich klingt. Den Rest des Vormittags habe ich nämlich verbissen geschwiegen.

»Rechts runter und dann die Treppe rauf«, erklärt sie. »Aber wenn du willst, gehen wir zusammen.«

Normalerweise würde ich ablehnen. Ich suche mir meinen Weg grundsätzlich lieber allein, aber diesmal bin ich einfach zu müde dafür. »Okay«, sage ich so freundlich, wie ich es gerade noch hinkriege, und dann folge ich Tinka.

Die NGN ist in einer riesigen ehemaligen Kaserne direkt am Rande des Nussbergs untergebracht, von dem sie ihren Namen hat. Die Gebäude sind dreistöckig und T-förmig angelegt, und der Pausenhof wird auf der rechten Seite von einer reichlich schäbigen Turnhalle begrenzt. Um zur Mensa zu kommen, müssen wir endlose Gänge entlanglaufen und drei Treppen steigen.

Tinka schweigt während des ganzen Weges, wofür ich ihr einigermaßen dankbar bin. Sie scheint sowieso eher der ruhige Typ zu sein, das ist mir schon aufgefallen. Eigentlich finde ich sie ganz sympathisch. Jedenfalls netter als die andern Mädchen, die gackernd und kichernd hinter uns herlatschen, aber jedes Mal verstummen, wenn ich mich umdrehe.

Je näher wir den Essensgerüchen kommen, desto mehr Schüler biegen in den Gang ein. Und alle sehen sie irgendwie gleich aus – die Mädchen haben lange Haare und tragen selbst geflochtene Perlenarmbänder und H&M-Klamotten, die Jungs haben Marken-Sportschuhe an, Baggys und fast alle irgendein Basecap auf dem Schädel. ’ne Mischung aus ökig und stilish. Gar nicht mal so anders als in Berlin. Nur dass die Klamotten auf meinen alten Schulen billiger gewirkt haben. Und wenn nicht, dann waren sie meistens geklaut.

»Wirst du eigentlich immer Leontine genannt?«, fragt mich Tinka, als die Mensa in Sicht kommt.

»Nee. Die meisten nennen mich Leo.«

»Leo? Ehrlich?«

Ich habe so oft blöde Sprüche über meinen Spitznamen gehört, dass ich nicht einen einzigen mehr ertrage. Ich gehe zum Frontalangriff über. »Ja, genau, Leo. Wie der Schauspieler, den ihr Tussen immer so toll findet. Ein Männername, da hast du schon richtig gehört. Und wenn du glaubst, dein Spitzname ist origineller, dann irrst du dich aber gewaltig. Jede Katharina in ganz Deutschland nennt sich vermutlich Tinka. Für mich klingt das allerdings wie ’n Pferdename.«

Tinka läuft knallrot an, und ich reiße die Tür zur Mensa auf und stürme hinein.

Die Mensa ist riesengroß. Durch die Fenster an der Stirnwand kann man den Nussberg sehen, auf dessen sanft abfallendem Hang ein paar Hunde herumtollen. Ihre Besitzer stehen daneben und unterhalten sich, und oben, auf der Kuppe, schiebt eine alte Frau langsam einen Kinderwagen über den Weg. Die Sonne scheint, und alles sieht so verdammt friedlich aus, dass mir die Kehle eng wird.

»Willst du auch was essen? Dann musst du dir ein Tablett nehmen«, erklärt mir Tinka, die hinter mir geblieben ist.

»Klar will ich was essen«, blaffe ich sie an. »Meinst du, ich bin nur zum Gucken hier?«

»Mann, bist du drauf«, murmelt Tinka und schüttelt den Kopf. Ich greife mir ein Tablett und stelle mich in die Schlange, ohne sie weiter zu beachten.

Als ich kurz darauf mit einem Salat und ’ner Coke durch die voll besetzten Tischreihen latsche auf der Suche nach einem freien Platz, fühle ich mich noch schlechter als sowieso schon. Die Mensa fasst bestimmt ein paar hundert Schüler, und ich habe das dumpfe Gefühl, dass jeder einzelne von ihnen mich anstarrt.

Immerhin gibt es ja auch was zu gucken. Zum einen, weil ich nicht gerade den Braunschweiger Alternativ-Chic trage, sondern schwere Arbeitsstiefel, meine zerrissene Lieblingsjeans, einen Kapuzenpulli und eine viel zu große Lederjacke, die mal irgendeinem von den Junkiefreunden meiner Mutter gehört hat. Und zum anderen leuchten meine kurzen Haare in grellem Orange. Das war allerdings keine Absicht – eigentlich hatten sie gelb werden sollen, aber Wanda hat sich beim Haarfarbemischen vertan.

»Guck mal, ein Punk«, flüstert ein Knirps, als ich an seinem Tisch vorbeikomme. Seine Klassenkameraden kichern albern. Dabei bin ich mir ziemlich sicher, dass sie noch nie im Leben ’n Original-Punk gesehen haben. Sonst wüssten sie, dass ich keiner bin. Ich bin einfach nur ich und sonst nichts.

Hinten an der Wand entdecke ich eine Gruppe von Mädchen aus meiner Klasse, die ihre Köpfe zusammenstecken und über mich tuscheln. Ich recke das Kinn und gehe ungerührt weiter. Aber wohin ich auch sehe, es ist einfach nichts frei. Langsam komme ich mir völlig bescheuert vor, wie ich da rumeiere mit dem Tablett in der Hand.

Auf einmal ist der Typ mit dem Stoppelschnitt vor mir, der aus meiner Klasse. Er versperrt mir den Weg.

»Wen haben wir denn da? Den Neuzugang aus Berlin. Die mit der schwierigen Situation.« Er lacht gehässig. Ich spüre, wie mir das Blut ins Gesicht steigt.

Er zählt genau zu der Sorte Jungs, die ich nicht abkann. Frech, eingebildet wie sonst was und ständig dabei, den großen Macker zu markieren. Abgesehen von dem Gepruste zu Anfang ist mir sein aufgedrehtes Gehabe den ganzen Vormittag auf die Nerven gegangen, aber ich hatte beschlossen, mich nicht weiter darum zu kümmern. Nur, das geht jetzt nicht mehr.

»Na, hat’s dir die Sprache verschlagen? Ich dachte, ihr Berliner habt so eine große Schnauze?« Er hält eine Hand geöffnet vor seinen Hosenlatz und die andere über den Kopf, und bei der schmutzigen Geste biegen sich seine Kumpels am Tisch nebenan vor Lachen.

Ich sehe mich nach einem Platz um, wo ich mein Tablett abstellen kann. Der Kerl hat wirklich ein handfestes Kontra verdient.

»Mensch, Tim, du nervst. Geh mal aus dem Weg. Meine Nudeln werden sonst kalt.« Plötzlich ist Tinka hinter mir und schiebt mich sanft vorwärts. Stoppelkopf guckt zwar blöd, aber er tritt folgsam zur Seite und setzt sich zu seinen Freunden. Sie stecken die Köpfe zusammen und lachen.

Ich bin platt. In Berlin wäre eine Szene wie diese niemals so glimpflich verlaufen. Aber anscheinend ist das hier völlig normal.

»Mach dir nichts draus. Tim ist vielleicht ein bisschen stulle, aber sonst eigentlich ganz in Ordnung«, sagt Tinka gleichmütig. »Guck mal, dahinten am Fenster, da ist noch Platz.«

Ich steuere wortlos auf den Tisch zu, der gerade frei geworden ist, und setze mich hin. Tinka stellt ihr Tablett mir gegenüber ab.

»Hab ich dich immer noch nicht verschreckt?«, frage ich. Das kommt mal wieder gröber heraus, als ich beabsichtigt habe, und zur Ablenkung trinke ich einen Schluck Cola.

Tinka schüttelt den Kopf und fängt an, ihre Nudeln zu essen.

»Nö«, sagt sie undeutlich. »Schließlich hab ich ja nichts gegen dich, auch wenn du es anscheinend drauf anlegst.« Im nächsten Moment sieht sie auf. »Aber eins muss ich mal klarstellen: Ich stehe nicht auf Leonardo di Caprio.« Sie lächelt verschmitzt.

Ich betrachte sie misstrauisch. Sie lächelt mich immer noch an. Und dann gebe ich mir einen Ruck und lächle langsam zurück.

Klingt vielleicht ein bisschen komisch – so, als hätte ich mich anstrengen müssen, um freundlich zu Tinka zu sein. Aber so war es tatsächlich. Ich musste mich sogar verdammt anstrengen, um freundlich zu sein. Und das nicht nur bei Tinka, sondern bei jedem.

Das war eigentlich schon immer so. Es ist mir nie leicht gefallen, freundlich zu sein oder zu lächeln. Nie, schon als Kind nicht. Egal, wer mich angelächelt hat – ich habe keine Miene verzogen. Als wenn bei mir da, wo bei anderen Leuten Freundlichkeit einprogrammiert ist, gähnende Leere herrscht.

Wanda meint, ich sei ein bisschen so wie ein misstrauischer Hund. Erst ausdruckslos gucken, dann die Zähne fletschen und knurren, so lange wie möglich. Zur Not auch mal schnappen, wenn einer zu nah kommt. Aber wenn jemand sich Mühe gibt und ausreichend Zeit nimmt, dann wedeln und vielleicht sogar sich streicheln lassen.

Wanda liegt eventuell gar nicht so falsch. Das Problem ist nur: Wer hat schon Lust, einen knurrenden Köter zu streicheln?

Das habe ich bereits als kleines Kind kapiert: Wer selber nicht lächelt, kriegt auch kein Lächeln geschenkt. Wer nicht fröhlich ist, kriegt noch eins drauf. Wer nichts zu lachen hat, soll sich lieber verdrücken. So jemanden will keiner haben.

Aber genau so jemand war ich nun mal. Und deshalb war ich am liebsten allein.

Ich hatte immer schon mächtig viel Ärger deswegen. Im Kindergarten beschwerten sich die Erzieherinnen, dass ich nicht mitspielen wollte und immer nur still in der Ecke saß. Aber als ich dann anfing mitzumachen, war es auch wieder nicht recht. Ich würde anderen Kindern das Spielzeug klauen und die Sandburgen zertrampeln, steckten sie meiner Mutter. Und außerdem immer nur finster gucken.

Meiner Mutter war das allerdings schnurzpiepegal. »Hauptsache, Leo setzt sich durch«, sagte sie müde, und das war’s. Kein Wunder, damals war sie schließlich schon heftig auf Drogen und froh, wenn ich mal weg war.

Tja, mich durchzusetzen, das habe ich gelernt. Aber allmählich begreife ich, dass andere Sachen genauso wichtig sind. Und da habe ich noch einiges nachzuholen. In punkto Lächeln zum Beispiel.

Als ich an diesem ersten Tag von der Schule nach Hause komme, sitzt Wanda auf dem Findling vor der Einfahrt und sieht mir erwartungsvoll entgegen.

»Wie war’s denn?«

»Geht so. Okay.« Ich schlendere auf die Haustür zu, aber bei Wanda kommt man selten so leicht davon.

»He, warte mal! Jetzt wird erst mal Kaffee getrunken und Kuchen gegessen und ordentlich berichtet, my darling.« Sie legt ihren Arm um meine Schultern und dreht mich von der Tür weg, und ich kann nicht anders, ich muss ihr folgen. Vielleicht, weil ich es einfach mag, von Wanda so angefasst zu werden. Oder vielleicht auch, weil ich es manchmal mag, bemuttert zu werden.

Hinterm Schuppen, in dem Wanda ihre Schuhmacherwerkstatt eingerichtet hat, liegt der Garten – wenn man diese verwilderte Wiese mit den paar Gemüsebeeten am Rande als Garten bezeichnen will. Früher gab es auch mal eine Hecke drum rum, aber Wanda hat sie eigenhändig abgeholzt, und jetzt hat man freie Sicht auf Wiesen und Felder und den Wald, der dahinter beginnt.

Eigentlich finde ich die Aussicht wunderschön, aber an diesem Tag habe ich keinen Blick dafür übrig. Mir fällt was anderes auf: Wanda hat den Tisch festlich gedeckt und geschmückt. Eine richtige Torte steht in der Mitte, mit ’ner ganzen Batterie brennender Kerzen, und zwischen den Tellern und Tassen liegen Unmengen von Wildblumen.

Wanda drückt mich auf einen Stuhl, setzt sich ebenfalls hin und gießt mir Kaffee ein. »Es ist vielleicht noch ein bisschen kalt hier draußen«, sagt sie vergnügt. »Aber ich dachte, das muss jetzt mal sein.«

»Gibt’s was zu feiern?«, frage ich und ziehe die Nase kraus. Wahrscheinlich hat Wanda Geburtstag und ich hab’s verschwitzt. Das wär typisch für mich.

»Klar«, sagt Wanda. »Dass du endlich hier bist. Das haben wir noch gar nicht richtig gefeiert! Auf dich, Leontine!« Sie hebt ihre Tasse.

Ich tue es ihr gleich. Wanda beugt sich vor und stößt mit ihrer Tasse so heftig gegen meine, dass der Kaffee über den Rand schwappt und auf die Wildblumen tropft.

»Prost!«, brüllt sie fröhlich.

»Prost!«, sage ich auch.

Und dann breche ich in Tränen aus.