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Für Mama

© Querverlag, Berlin 2014

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale
unter Verwendung eines Fotos von Gaby Ahnert

ISBN 978-3-89656-564-8

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Querverlag GmbH

Akazienstraße 25, 10823 Berlin

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Der Hirsch starrte mich misstrauisch an, dann legte er den Kopf schief, zog die Oberlippe zurück und entblößte eine Reihe gelber Zähne.

Ich starrte zurück.

Seine Pupillen waren oval. Und noch während ich hinsah, hatte ich den Eindruck, dass sie sich ein wenig weiter zusammenzogen.

„Rüdiger ist heute ein bisschen schlecht gelaunt, glaube ich“, sagte Hermann und wischte sich einen Erdklumpen vom Ärmel. „Aber eigentlich ist er sehr nett. Ein äußerst netter Hirsch.“

„Aha?“ Ich trat vorsichtshalber einen Schritt zurück. Wenn Rüdiger heute schlechte Laune hatte, dann wollte ich ihm dabei nicht zu nahe kommen. „Und was habt ihr sonst noch für Neuzugänge?“

„Willst du mal gucken?“ Hermann wartete meine Antwort nicht ab, sondern schlurfte in seinen schmutzigen Gummistiefeln voran. Mit Heu durchsetzter Matsch quoll unter seinen Sohlen hervor, und ich bemühte mich, Schritt zu halten, ohne auf dem unebenen Boden auszurutschen. Als Kind war ich einmal im Watt gewandert, so ähnlich fühlte es sich jetzt auch an. Nur dass nun keine Muscheln und Krebse aus dem Schlick hervorquollen, sondern Futterreste und Kot unterschiedlichster Konsistenz.

„Wir haben ein neues Schwein, das von einem Viehtransporter gefallen ist, eine übergewichtige Katze, einen Schwan, der nicht mehr fliegen kann, und einen dreibeinigen Hund“, erklärte Hermann und bahnte sich zielstrebig den Weg durch eine Schar gackernder Hühner.

„Den Hund hattet ihr letztes Mal aber auch schon!“, sagte ich und wich einem Hahn aus, der mitten auf dem Weg stehen geblieben war und mich vorwurfsvoll anstarrte.

„Nein, das ist noch ein neuer. Wir haben jetzt zwei dreibeinige Hunde“, sagte Hermann und stieß die Gittertür auf. Ein paar Hühner flogen flügelschlagend auf, und der Hahn hinter mir stieß ein triumphierendes Krähen aus. Als ich die Tür hinter mir ins Schloss drückte und mich noch einmal umdrehte, sah ich, dass Rüdiger und der Hahn mich weiterhin anstarrten. Rüdiger trat von einem Bein aufs andere, und der Hahn reckte den Hals.

Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sie mich nicht mochten.

„Schön, dass du mal wieder vorbei kommst“, sagte Hermann und schob mit der Hacke die Haustür hinter sich zu. Draußen quiekte empört ein Ferkel auf, das sich mit neugieriger Schnauze herangewagt hatte. Hermann wies mit einer galanten Geste zur Wohnküche, aus der gleich mehrere fröhlich wedelnde Kleinhunde herbeigerannt kamen. Einer davon, ein schwarz-weiß gefleckter mit derart riesigen Ohren, dass sie fast bis auf den Boden hingen, zog eine Art zweirädrige Kutsche hinter sich her, in der sein eigenes Hinterteil lagerte. Ihm fehlten beide Hinterläufe, aber das tat seiner guten Laune keinen Abbruch, denn er stupste mich mit feuchter Schnauze an und kläffte munter los.

„Still, Apollo“, sagte Hermann gutmütig, stieg aus seinen dreckigen Stiefeln und behände über Apollo und dessen Kollegen hinweg. Ich streifte ebenfalls meine Schuhe ab, ging zaghaft durch die wild durcheinanderspringende Hundeschar und ließ mich schwer atmend auf einen der Holzstühle sinken, die um den großen Tisch herum standen.

Der Tisch war – wie die gesamte Küche – blitzsauber, nur ein Zuckerstreuer und eine Blumenvase mit drei frisch erblühten Pfingstrosen standen darauf.

„Wer ist denn von euch beiden eigentlich die Hausfrau?“, erkundigte ich mich, und Hermann warf mir einen amüsierten Blick zu.

„Na, Gert natürlich, was denkst du denn?“, sagte er zufrieden und schaltete die Kaffeemaschine ein. „Es gibt übrigens frisch gebackenen Rhabarberkuchen nach original niederländischem Hausfrauenrezept. Willst du mal kosten?“

„Och, nein, danke, ich muss ein bisschen … Ich hab zugenommen, glaube ich“, sagte ich unglücklich und zog automatisch den Bauch ein.

Hermann grinste in sich hinein und öffnete die Backofenklappe, um ein Blech mit köstlich duftendem Kuchen herauszuholen. Das Wasser lief mir im Mund zusammen. „Na, vielleicht doch ein kleines Stückchen?“

„Aber nur ein klitzekleines!“, sagte ich und streichelte Apollo den flachen Schädel. Zum Dank leckte er mir mit seiner winzigen rosa Zunge die Hand, bevor sich einer seiner Kumpel, ein gelblich-struppiger Dackelverschnitt mit nur einem Auge, an seine Stelle vorkämpfte. Ich tätschelte auch ihm den Kopf und spürte, wie sich in meinem Herzen etwas bewegte.

Ich war mit Hunden aufgewachsen, aber mein Großstadtleben ließ mir keine Zeit für einen eigenen Hund. Meistens schob ich den Gedanken daran erfolgreich beiseite – immerhin war ich praktisch veranlagt, und es war ganz sicher höchst unpraktisch, als Single mit Vollzeitjob einen Hund zu halten. Aber trotzdem, insgeheim sehnte ich mich nach einem vierbeinigen Begleiter. Meinetwegen auch einem Einäugigen mit dermaßen widerwärtigem Mundgeruch, dass es mir den Atem verschlug, so wie jetzt. Ich tätschelte Einauge noch einmal und richtete mich dann wieder auf.

Hermann schnitt gerade ein großes Stück Kuchen ab, schob es auf einen abgestoßenen Porzellanteller und stellte diesen vor mich hin, um dann Becher und Besteck aus dem Küchenschrank zu holen. Die Hunde hatten sich – bis auf Einauge, der hoffnungsvoll unter dem Tisch Platz genommen hatte – wieder auf ihre verschiedenen Ruheplätze begeben, und ich betrachtete meinen alten Schulfreund nachdenklich, während ich den köstlichen Geruch, der vom Kuchen aufstieg und sich mit dem frischen Kaffeeduft mischte, zu ignorieren versuchte.

Hermann hatte sich gut gehalten, und trotz seiner verschmutzten Kleidung wirkte er gepflegt und sauber. Wir waren zusammen zur Schule gegangen, aber während ich nach der Fachhochschulreife Reißaus genommen und mich aus der flachen Moorlandschaft zu einem Lungerjahr in die Bezirkshauptstadt Osnabrück und von dort über ein abgebrochenes Sozialpädagogikstudium in Dortmund und ein abgeschlossenes Ingenieursstudium in Dresden bis zu meiner Festanstellung im öffentlichen Dienst, Abteilung Bauaufsicht, nach Oldenburg durchgekämpft hatte, war Hermann im Emsland geblieben und hatte sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten, bis er seiner großen Liebe Gert begegnet war.

Mit dem Geld, das Gert von seinem kurz zuvor verstorbenen Großvater geerbt hatte, hatten die beiden Männer einen Gnadenhof eröffnet, auf dem sie misshandelte, ausgesetzte und sterbenskranke Tiere betreuten, die anderswo keine Aufnahme mehr fanden. Hermann hatte seine wahre Bestimmung gefunden – ganz im Gegensatz zu mir; aber das gestand ich mir nur ungern ein.

Ich seufzte auf, und Hermann warf mir einen forschenden Blick zu, während er die volle Kaffeekanne zusammen mit zwei Bechern zum Tisch brachte.

„Was führt dich eigentlich her?“, fragte er und goss mir ein. „Nun los, iss schon, du hast doch Appetit, das sehe ich!“

Ich zog den Kuchen zu mir heran und stach die Gabel hinein. „Ich bin auf dem Weg zu meiner Mutter“, sagte ich und schob mir ein großes Kuchenstück in den Mund. „Oh, köstlich!“ Plötzlich wurde mir bewusst, dass mich ein halbes Dutzend Augenpaare äußerst aufmerksam beobachtete, und ich verschluckte mich fast.

„Wie geht es ihr denn?“, erkundigte sich Hermann angelegentlich und schob sich selbst ein großes Kuchenstück in den Mund.

Hermann kannte meine Mutter schon seit unserer Jugendzeit. Und wie alle anderen hatte er meine Mutter grandios gefunden. Sie war, wenn man das so nennen wollte, ein Original – rau, herzlich, laut, fröhlich – und ungemein taktlos dazu.

„Gut“, sagte ich und kaute schneller. „Mittlerweile läuft sie nicht mehr ganz so flott, aber auf dem Fahrrad ist sie immer noch mit Schwung unterwegs.“

„Wie alt ist sie denn?“, fragte Hermann und nahm einen Schluck Kaffee.

„Sie ist jetzt 73.“ Ich bemühte mich, die vorwurfsvollen Blicke der Hundeschar um mich herum zu ignorieren. Besonders bei Apollo fiel es mir schwer, denn er legte die Stirn in so viele Falten, dass er fast wie ein Welpe aussah.

„Ach? 73? Alte Schachtel! Kompliment!“ Hermann aß zwei weitere Stücke Kuchen hintereinander und tätschelte Einauge, der sich jetzt ganz dicht vor seinen Füßen platziert hatte, den Kopf. „Und was macht Millie?“

„Der geht es blendend.“ Ich stach die Gabel wieder in mein Kuchenstück, das schon merklich geschrumpft war.

„Das ist schön. Und der Hund?“

„Zorro? Ach, Zorro ist im November gestorben.“ Ich schaufelte mir noch ein großes Stück Kuchen in den Mund. Meine Güte, schmeckte der köstlich! Es musste toll sein, mit jemandem zusammen zu sein, der so gut kochen und backen konnte wie Gert.

„Aber er war ja auch schon alt, oder?“, fragte Hermann mitfühlend.

„Ja, fünfzehn. Er ist friedlich eingeschlafen, in seinem Körbchen. Wie man es sich nur wünschen kann.“

Hermann nickte zufrieden und schob sich das letzte Kuchenstück in den Mund, um mit einem ordentlichen Schluck Kaffee nachzuspülen. Dann sah er zu mir auf. „Ist deine Mutter jetzt sehr traurig, so ganz ohne Hund?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Ich glaube eigentlich, dass sie gut damit klarkommt. Zorro war ja nun wirklich schon sehr alt. Sie sagt, sie sei ganz zufrieden so. Außerdem hat sie ja noch Millie.“ Ich grinste in mich hinein, aber Hermann grinste nicht mit. Stattdessen legte er den Kopf schief.

„Sag mal, Britt, alte Frauen lieben doch kleine Hunde, oder?“

„Kann sein“, sagte ich und warf einen Blick zum Herd hinüber. Die Klappe war wieder geschlossen. „Wieso?“

Hermann sah mich listig an. Dann schob er seinen Stuhl zurück und stand auf. „Warte mal.“ Er ging zur Hintertür, riss sie auf und pfiff durchdringend auf zwei Fingern. „Bronko!“, rief er. „Bronko, komm mal her!“

Durch die offenstehende Tür konnte ich sehen, wie hinten bei den Hühnerställen etwas aufstob, dann war vielstimmiges Gebell zu hören, und ein Fellknäuel kam in die Küche geflitzt. Ein kleines, helles Fellknäuel, das an Hermann hochsprang und sich dann artig zu seinen Füßen setzte, dicht neben Einauge, um anschließend Hermanns Hand mit der Kuchengabel darin zu hypnotisieren. Ich erkannte zwei braune Knopfaugen, eine schwarze Nase und eine Reihe schiefer, durch einen erstaunlichen Unterbiss unvorteilhaft zur Geltung gebrachter Zähne. Mit Sicherheit war dies einer der hässlichsten Hunde, die ich je gesehen hatte. Und einer der kleinsten noch dazu; auf jeden Fall bedeutend kleiner als ein gewöhnlicher Hauskater.

„Das ist Bronko“, sagte Hermann und lächelte Bronko an. „Süß, oder?“

Bronko lächelte zurück. Jedenfalls sah es so aus, denn er schob seinen Unterbiss noch weiter nach vorn.

„Oder, Britt?“

„Na ja“, sagte ich. „Na, doch, ja. Eigentlich sind ja alle Hunde süß. Aber dieser ist …“ Mir fehlten die Worte.

Hermann bückte sich und streichelte Bronko, der freudig mit dem Schwanz wedelte. Es war ein Ringelschwanz, genauso einer, wie ihn eigentlich Ferkel trugen, nur mit Fell drauf. Dichtem, blondem Fell.

„Was ist denn da eigentlich drin?“, fragte ich erstaunt. Bronko sah mich erwartungsvoll an, bevor er zu mir herüberstürmte und aufgeregt an mir hochsprang. „Ist ja gut“, sagte ich und streichelte ihm vorsichtig den Kopf. Was für ein grauenhafter Unterbiss! Ob er das Maul überhaupt schließen konnte? Mitleid regte sich in mir.

„Was bei Bronko drin ist? Keine Ahnung. Ich vermute mal, ein Yorkshireterrier und ein französisches Landschwein, irgendwie so was“, sagte Hermann. „Nimmst du ihn für deine Mutter mit?“

„Was?“ Ich starrte ihn entgeistert an. „Für meine Mutter?“

„Na ja“, Hermann zuckte mit den Schultern und rieb sich die Hände an seiner schmutzigen Hose, „du kannst ihn ja auch selbst nehmen. Ich glaube, er mag dich.“

Ich sah zu Bronko hinunter, der hoffnungsvoll zu mir aufsah, während er zaghaft mit seinem Ringelschwanz wedelte. Mir wurde ganz flau im Magen.

„Ich kann keinen Hund nehmen“, sagte ich mit fester Stimme. „Ich muss jeden Tag arbeiten. Das geht nicht.“ Bronko setzte sich auf die Hinterbeine, aber ich konnte sehen, dass er immer noch wedelte. „Und meine Mutter, die will bestimmt keinen Hund mehr.“ Bronko stand wieder auf und wedelte noch wilder. „Das geht nicht, Hermann, wirklich nicht.“

„Nein?“, fragte Hermann.

„Nein. Das geht nicht. Tut mir leid.“

Bronko legte sich hin und ließ den Kopf entmutigt auf die Vorderpfoten fallen. Seine dunklen Augen beobachteten mich aufmerksam.

„Und überhaupt“, sagte ich. „Dieser Hund … ich weiß nicht. Das geht einfach nicht.“