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HENRI BERGSON

DENKEN UND
SCHÖPFERISCHES WERDEN

AUFSÄTZE UND VORTRÄGE

Mit einer Einführung
herausgegeben von Friedrich Kottje

CEP Europäische Verlagsanstalt

© e-book Ausgabe CEP Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2015

eISBN 978-3-86393-528-3

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Bergson deutet die gesamte Wirklichkeit aus der metaphysischen Einheit des Lebens und entwirft auf dieser Grundlage eine neue intuitive Erkenntnistheorie, Psychologie, Naturphilosophie, Ethik und Religionsphilosophie.
Bergsons Einfluss reicht über die Philosophie hinaus auf die Existenzphilosophie und die Literatur (u.a. Marcel Proust).

»Um den Wandel zu denken und um ihn zu sehen, muß man ein ganzes Gespinst aus Vorurteilen beiseite schieben, von denen die einen künstliche Ereignisse sind, Erzeugnisse der philosophischen Spekulationen, und die anderen natürliche im allgemein verbreiteten Menschenverstand.«
Dieser Satz Bergsons könnte das Motto seiner Wiederentdeckung sein. Denken und schöpferisches Werden erschien französisch zuerst 1939, auf Deutsch 1946. Es ist das letzte Buch, eine Bilanz seiner philosophischen Lebensarbeit, eine ausführliche Rechtfertigung seiner philosophischen Methode, ein Werk, das auch als eine – vielfach vermisste – Einführung in Bergsons Denken gelten kann.

Henri Bergson, geboren 1859 in Paris und dort 1941 gestorben, war französischer Philosoph polnisch-englischer Herkunft. Er lehrte als Professor am Collège de France in Paris und wurde 1914 Mitglied der Académie Française. 1928 erhielt er den Nobelpreis für Literatur.
Hauptwerke: Materie und Gedächtnis (1896); Die schöpferische Entwicklung (1907); Die geistige Energie (1919); Die beiden Quellen der Moral und der Religion (1932), als eva-Taschenbuch erschienen: Zeit und Freiheit (1911).

INHALT

Zur Einführung

Vorwort

Einleitung (Erster Teil)

Einleitung (Zweiter Teil)

Das Mögliche und das Wirkliche

Die philosophische Intuition

Die Wahrnehmung der Veränderung

Einführung in die Metaphysik

Die Philosophie von Claude Bernard

Über den Pragmatismus von William James — Wahrheit und Wirklichkeit

Das Leben und das Werk von Ravaisson

ZUR EINFÜHRUNG

Wenn wir es für angebracht halten, das letzte Werk des berühmten französischen Philosophen aus dem Jahre 1934, in dessen beiden ersten Kapiteln er eine Art Bilanz seiner philosophischen Lebensarbeit zieht, der deutschen Öffentlichkeit zugänglich zu machen, so geschieht dies aus der Überzeugung heraus, daß der Zeitpunkt gekommen ist, wo eine allseitig gerechte Würdigung der treibenden Denkmotive dieses originellsten Philosophen der jüngst vergangenen Epoche und seine Einordnung in den geistesgeschichtlichen Zusammenhang unserer Zeitwende möglich geworden ist. Eine solche umfassende Würdigung des Lebenswerkes eines philosophischen Klassikers ist natürlich nicht möglich in dem engen Rahmen einer kurzen Einführung, wie sie hier geboten werden kann. Ich beschränke mich daher auf die Herausstellung einiger wesentlicher und zugleich neuer Gesichtspunkte, die geeignet sind, den Ertrag der Bergsonschen Denkarbeit in seiner Bedeutung für unsere Zeit in eine ganz neue Beleuchtung zu rücken.

Grundlegend für das Verständnis der Bergsonschen Philosophie ist zunächst der enge geistesgeschichtliche Zusammenhang, der zwischen der zentralen Problematik der Bergsonschen Philosophie und der revolutionären Entwicklung der exakten Naturwissenschaften seit der Jahrhundertwende bis zum Ausbau der Atomphysik unserer Tage besteht. Dieser Zusammenhang ist bisher noch nicht genügend erkannt worden und kann vielleicht auch erst richtig vom jetzigen Stadium der Entwicklung der exakten Wissenschaft aus richtig gesehen werden. Hat man ihn einmal klar erkannt, so fallen damit zahllose Mißverständnisse und Mißdeutungen der Bergsonschen Philosophie von selbst in sich zusammen. Versuchen wir, bei der Enge des hier gebotenen Rahmens, diesen Zusammenhang in stichwortartiger Kürze anzudeuten:

Bergsons Philosophie, die im Grunde nur die organische Entfaltung und immer neue Anwendung einer fruchtbaren und tiefen Intuition darstellt, entsteht in einer Zeit (sein erstes grundlegendes Werk ”Essai sur les données immédiates de la conscience” erschien im Jahre 1889), wo gerade ein revolutionärer Umbruch in den Grundlagen der exakten Wissenschaft sich in der elektromagnetischen Theorie von Maxwell angebahnt hatte. Diese Theorie der elektromagnetischen Kraftfelder mit deren Verselbständigung gegenüber einem substantiellen Träger (Magnetfelder ohne Magnet und elektrische Felder ohne Elektron) war die Einleitung zu einer weiteren Entwicklung der Elektrodynamik, die zu einer völligen energetischen Auflösung des in der alten Mechanik grundlegenden Begriffes einer raumerfüllenden und raumbehauptenden Masse führte. Gleichzeitig fiel der „Äther“ als atomistisch konstituiertes Medium und „Träger“ der dynamischen Spannungsfelder des Raumes, bis ihm von der Relativitätstheorie der völlige Garaus gemacht wurde. Masse wurde gleich Energie, und die Grenzen zwischen korpuskularem Zustand, Kraftfeld und „Welle“ verwischten sich schließlich völlig, bis sie in der Quantenphysik zu bloß verschiedenen Gesichtspunkten bei der Deutung experimenteller Daten wurden. Raum und Zeit verloren endgültig ihren bloß formalen Charakter und wurden dynamisiert; sie verschmolzen miteinander zu einer vierdimensionalen Funktionalität. Damit verschwindet der Begriff der materiellen Substanz aus der Physik; diese kennt nur noch relativ stationäre Spannungszustände des Raumes, stehende Wellen oder fortschreitende Wellen von rein dynamischem Charakter. Die Bewegung bedarf hier keines substantiellen Trägers mehr, die Kraft ist nicht mehr etwas, was sich der materiellen Substanz gleichsam von außen hinzufügte und anziehend oder abstoßend zwischen starren Massepunkten spielte — ja, die Vorstellung von starren, sich kontinuierlich bewegenden Massepunkten beginnt in der Quantenphysik völlig zu versagen und damit auch die kontinuierliche Raum-Zeit-Beschreibung der Newtonschen Mechanik. Im Bereich der Quantenvorgänge versagt so notwendig die punktanalytische Betrachtungsweise unserer rein abstrakten Raumanschauung. Es gibt in diesem Bereich eben keine Zeit-Punkte, sondern nur Zeit-Minima von unteilbarer dynamischer Spannweite. Damit hört zugleich die strenge Kausalität, die eindeutige Determinierbarkeit im Bereich der quantenenergetischen Vorgänge auf. Diese, können nur einer statistischen Methode unter worfen werden. Im besonderen sind die Bedingungen für Stabilität oder Labilität in diesem Bereich undurchschaubar. Damit dringt etwas von Spontaneität und Kontingenz in die Grundlagen des physikalischen Geschehens ein, etwas, das durch die Maschen mathematischer Notwendigkeit hindurchgeht.

Wenn man sich diese in Stichworten angedeutete revolutionäre Entwicklung der modernen Physik seit Maxwell vor Augen hält, wohl die folgenschwerste in der ganzen bisherigen Entwicklung der exakten Wissenschaften, so gewinnt man damit erst den richtigen Gesichtspunkt für das Verständnis einiger fundamentaler, zunächst paradox anmutender Bergsonscher Thesen, die er von seinem ersten Werk an mit unentwegter Konsequenz und Unbeirrbarkeit vertrat, und in denen er im Grunde genommen die Entwicklung der modernen Physik in ihren philosophischen Konsequenzen vorwegnahm. Schon im ersten Essai bezeichnete er die physikalische Zeit als eine vierte Dimension des Raumes. Was aber vor allem zunächst als paradox empfunden wurde, seine radikale Ablehnung jedes statischen Substanzbegriffes als eines „Trägers“ von Spannung und Bewegung, das erhielt durch jene Entwicklung der Physik eine glänzende Rechtfertigung. Mit seinem durch und durch dynamischen Denken war Bergson in dieser Beziehung seiner Zeit vorausgeeilt. Wenn man bedenkt, daß selbst die an äußerste Abstraktionen gewöhnten modernen Physiker doch immer wieder gelegentlich in das unserer sinnlichen Vorstellung so verhaftete korpuskulare Denken unbewußt zurückverfallen, so ist es nicht verwunderlich, daß dieser radikale „Mobilismus“ Bergsons als Ausgeburt modernen Bewegungsrausches im Zeitalter der Motorisierung hingestellt wurde.

Mit diesem reinen Dynamismus aber erschöpft sich noch nicht die geniale Antizipation der Bergsonschen Intuition. Sie führt zu einer Vertiefung des Raum-Zeit-Begriffes, die als eine notwendige qualitative Ergänzung zu der revolutionären mathematisch-physikalischen Raum-Zeit-Theorie angesehen werden muß. Auch das ist bisher noch kaum erkannt und nicht richtig gewürdigt worden.

Dabei hätte die wachsende Diskrepanz, die sich in der modernen theoretischen Physik zwischen unserer durch und durch statischen Raumanschauung und der mit dieser Anschauung in keiner Weise mehr vorstellbaren Realität des physikalischen Raum-Zeit-Kontinuums ergibt, längst die Augen dafür öffnen müssen, daß diese Diskrepanz nur durch eine erkenntnistheoretische Besinnung zu überbrücken ist. In der Tatsache, daß die Darstellungsmittel der modernen theoretischen Physik immer fiktionaler und symbolischer werden, sieht Bergson den Ausdruck der Unfähigkeit des rein abstrakten Raumdenkens der Mathematik, den tiefsten dynamischen Grund der Wirklichkeit zu erfassen. Dieses rein abstrakte Raumdenken, das sich in einem völlig qualitätslosen, homogenen, beliebig teilbaren Milieu, dem Bereich der reinen Zahl, bewegt, tritt bei ihm in einen polaren Gegensatz zum eigentlich schöpferischen Grunde der Wirklichkeit. Der wirkliche Raum ist ein dynamisches Kontinuum und keine homogene Leere, die einem Nichts gleichkäme. Die Unstetigkeit der Energiequanten ist eingebettet in dieses dynamische Kontinuum, das von ihnen erzeugt wird, in dem sich alle durchdringen und in das sie sich auflösen können. Mit der Entstehung der Energiequanten entsteht der Raum und vermag mit ihnen dauernd zu wachsen (vgl. die Theorie der kosmischen Evolution bei Pascual Jordan); in ihm durchdringen sich alle zur Einheit eines kosmischen Prozesses. Selbst die physikalischen Konstanten scheinen zu einer Funktion der Zeit zu werden. Die naive Vorstellung von starren unveränderlichen Elementarteilchen, die in einem indifferenten leeren Raum von Ewigkeit her bestehend herumschwirren, ist durch die moderne Dynamik vollständig überwunden, weshalb auch die moderne Atomtheorie nichts mehr gemein hat mit der alten demokritischen Atomtheorie, die bis weit ins 19. Jahrhundert hinein die frühere physikalische Mechanik beherrschte. Damit tritt das rein Dynamische in eine eigentümlich polare Spannung zur abstrakten Raumanschauung der reinen Mathematik. In der Tatsache, daß die physikalische Wirklichkeit sich weitgehend ihrem abstrakten Rahmen einfügt, ohne aber je ganz damit zur Deckung zu kommen, sieht Bergson eine Degradation des Wirklichen, die ihren charakteristischen Ausdruck im Entropiegesetz findet. In den tiefsten Grundlagen der Materie, in der Quantenphysik, geht das ursprüngliche Dynamische aber durch die Maschen der abstrakten Zahlenbeziehungen hindurch. In ihren dynamischen Quellpunkten entzieht sich selbst die materielle Wirklichkeit dem statischen Raumdenken des Intellekts.

Das räumlich-quantitativ bestimmte Geschehen der mechanisierten Materie wird so Ausdruck einer metaphysischen Polarität der Wirklichkeit. Es steht in metaphysischer Spannung zur rein qualitativen Differenzierung individualisierender und ganzheitlicher Prozesse der vitalen und seelischen Evolution, auf die die Kategorien des räumlich quantitativen und diskontinuierlichen Denkens in keiner Weise mehr anwendbar sind. Hier verliert vor allem auch die Kategorie der Kausalität ihre Anwendbarkeit in ihrem ursprünglichen Sinne; hier bricht eine wahrhaft spontane und schöpferische Bewegung in die Wirklichkeit ein; hier wird jede Isolierung starrer, amorpher Elemente unmöglich, weil sich alle Momente in intimer Organisation durchdringen zu einer rein qualitativ sich differenzierenden Entwicklungsbewegung — hier hört jedes eigentliche Messen und Zählen auf — vor allem aber: hier verliert die Zeit jeden bloß formalen Charakter und wird zu einem konstitutiven schöpferischen Prinzip der Wirklichkeit. Zählbar ist nur eine homogene Zeit, jene vierte Dimension des Raumes, die in Teile zerlegbar, die miteinander identisch und austauschbar sind, eine Zeit, die reine Wiederholung desselben Vorgangs bedeutet, die durch Festlegung von Zeit-Punkten gemessen wird und damit eigentlich aus Zeitlosigkeiten besteht, eine durch und durch widersprüchliche Zeit; diese Zeit ist im Grunde nur eine Projektion ihrer selbst in den Raum und entspricht einem indifferenten, gedächtnislosen, mechanisierten Geschehen, als welches die Materie sich darstellt. Die wahre schöpferische Zeit des seelischen und geistigen Geschehens ist dagegen eine Zeit, die nie den Zusammenhang mit sich selber verliert, wo die Vergangenheit sich automatisch in kontinuierlicher Durchdringung mit der Gegenwart erhält und je nach der Spannweite des Bewußtseins, die nie zu der diskontinuierlichen Augenblicklichkeit eines bloßen Zeitpunktes zusammenschrumpfen kann, einen mehr oder weniger großen Teil der Vergangenheit in die Zukunft entfalten läßt. Nur in dieser wahren Dauer ist Gedächtnis möglich und zugleich selbstverständlich und braucht nicht besonders erklärt zu werden. Und hier gewinnt nun auch der Begriff der Substanz einen neuen, vertieften und vergeistigten Sinn: je weniger wir uns an ein peripherisches Augenblicksdasein in bloß praktischem Reagieren verlieren, je mehr wir den wertvollsten Ertrag unserer vergangenen Entwicklung zusammenzuschauen und so innerlich zusammenzuhalten verstehen, je größer also die Spannweite und Tiefe unseres Bewußtseins ist, um so mehr Substanz hat unser Wesen, eine Substanz, die sich in dauerndem Wachstum, in fortschreitender Reifung bereichert und in geistigen schöpferischen Tiefen gründet, die von qualitativer Unendlichkeit und damit Unerschöpflichkeit sind.

Ohne diese wahre Dauer gäbe es auch kein Erkennen, das geistige Durchdringung der Wirklichkeit bedeutet, und das so die wahre Freiheit vom Strom der mechanisierten, verfallenden Zeit der Materie zur Voraussetzung hat. Nur die Fähigkeit, auf sich selbst in vertiefender Schau zurückzukommen, in der Spannung des Bewußtseins den Strom des bloß verfließenden Geschehens gleichsam zum Stillstand zu bringen, macht Erkennen möglich. So ist Bewußtsein, Erkennen, gleichbedeutend mit dem Maß von echter Freiheit dem mechanisierten Geschehen gegenüber. Je mehr daher unser Bewußtsein sich verliert in den Reaktionsmechanismen, die in einer ganz nach außen gerichteten Tätigkeit aufgebaut werden, um so mehr wird unser Bewußtsein automatisiert und verliert seine innere Freiheit und Schöpferkraft, eine Gefahr, die in unserer Zeit mit ihrer ständigen Multiplikation versachlichter Beziehungen sehr groß geworden ist. Auch in der Entwicklung des organischen Lebens steht die Spannweite und Intensität des Bewußtseins in genauem Verhältnis zu dem Maß von Freiheit, das auf der betreffenden Organisationsstufe gegenüber der Materie gewonnen worden ist.

So gewinnt mit dem Begriff der wahren Dauer, der schöpferischen Zeit, der Freiheitsgedanke eine zentrale fundamentale Bedeutung in dieser Philosophie, der unabtrennbar ist von der Besinnung auf die wahre transzendentale Würde des Menschen.

In sehr feinsinniger und fruchtbarer Weise hat Bergson diese Gedanken auf das erkenntnistheoretische Gebiet der Sinneswahrnehmungen angewandt. Auch dies ist meist unverstanden geblieben, bzw. in seiner außerordentlichen Tragweite nicht erkannt worden. Ich würde seinen diesbezüglichen Ausführungen folgende schematisierte Form geben: als in sich geschlossenes und dadurch individualisiertes System vermag ein Organismus sich im Fluß der Weltmechanik nur durch ständige Regulationen zu behaupten (für ein mechanisches System gäbe es kein selbständiges Reagieren im Interesse der Selbsterhaltung, denn ein solches System hätte keinen Selbsterhaltungstrieb, wie es überhaupt kein Ganzes, sondern nur eine willkürlich herausgeschnittene Summe rein mechanischen Geschehens sein könnte). Das heißt aber nichts anderes, als daß die Einwirkungen von außen sich in diesem System nicht in mechanischer Kausalität verlieren und zerstreuen, sondern in eigenartiger Weise gebrochen und aufgefangen werden (in eigens dafür konstruierten Sinnesapparaten), um sie dann in einer für die Erhaltung des Organismus zweckmäßigen Weise zu kanalisieren in einer sensomotorischen Reaktion. Wir machen uns selten klar, daß es in der anorganischen Natur überhaupt kein eigentliches Wirken gibt, sondern eine reine Funktionalität des Geschehens. Erst in der Spontaneität einer ganzheitlichen Reaktion des Organismus entsteht ein echtes Wirken, und das bedeutet, der übermechanischen Natur dieses Wirkens nach, nicht eine bloße Stauung, eine Bremsung des mechanischen Verlaufs in einer Zone der Indeterminiertheit, sondern zugleich eine qualitative Umformung dieser äußeren Einwirkung, ihre innere Durchdringung im Sinne einer qualitativen Formung und Fixierung. Damit leuchtet im gleichgültigen Fluß der Weltmechanik ein kleiner Ausschnitt als Sinneswahrnehmung auf in einer einzigartigen magischen Bezogenheit des Objektes auf das Subjekt des Erkennens. Es ist das buchstäblich eine geistige Erfassung einer gegenständlichen Wirklichkeit, die allerdings zur metaphysischen Voraussetzung hat, daß die Wirklichkeit auf geistigem Grunde ruht und auf ein solches Erfaßtwerden angelegt ist. Ohne die eigentümlichen Ausdruckswerte, die die Materie in solchen Sinnesqualitäten in untrennbarer Verbindung mit den räumlichen Gestaltqualitäten gewinnt, wäre überhaupt kein gegenständliches Vorstellen und Denken der Materie möglich. In seiner zeitbedingten Gebundenheit an eine rein mechanistische Naturwissenschaft hat Kant noch völlig übersehen, daß diese Sinnesqualitäten die erste und grundlegende Synthesis der „Erfahrung“ im Bewußtsein darstellen. Indem Bergson dann weiter den innigen grundlegenden Zusammenhang zwischen der Sinneswahrnehmung und dem Reagieren des Organismus auf dessen äußere Einwirkungen erkannte, bezeichnete er mit Recht die Sinneswahrnehmung als eine virtuelle Handlung; denn jene qualitative Synthetis ist bereits eine unsichtbare Handlung des Organismus, das Vorspiel zu dem dann möglicherweise folgenden äußeren Erfassen und Begreifen. Und indem Bergson diesen engen Zusammenhang zwischen Erkennen und Handeln dann weiter verfolgt in der Entfaltung und den synthetischen Akten der Raumintelligenz, die sich in derselben Richtung wie die Materie entfalten, ja, in der schon erwähnten Polarität dieser Richtung bis zu einer äußersten Grenze zu gehen vermag, die von der Materie nicht erreicht werden kann, gelingt es ihm erstmalig, den ausgesprochen technischen Charakter der Raumintelligenz, ihrer Kategorien und Denkmethoden bloßzulegen. Nach dieser Seite seines Erkennens hin erscheint der homo sapiens ursprünglich als ein homo faber. So wird zum ersten Male der offenbar enge Zusammenhang zwischen exakter Naturwissenschaft, die ja bereits selbst an eine riesige technische Apparatur gebunden ist, und der reinen Technik erkenntnistheoretisch befriedigend aufgezeigt und begründet.

Keiner hat bisher die Wurzeln des mechanistischen Denkens in all seinen feinen Verästelungen so aufgedeckt wie er, — keiner hat dieses Denken so als die Hauptquelle aller falschen Problemstellungen auf metaphysischem wie auch wissenschaftlichem Gebiet aufgezeigt, hat es so gründlich demaskiert und seine begrenzte Bedeutung so klar abgesteckt. In dieser Beziehung hat er eine außerordentlich fruchtbare Arbeit geleistet, die zu den wenigen wirklich bedeutenden Errungenschaften philosophischer Selbstbesinnung des menschlichen Geistes gehört.

Aber diese Kritik des mechanistischen Denkens enthält bei Bergson Keime und Ansatzpunkte zu einer noch grundsätzlicheren erkenntnistheoretischen Besinnung. Der von ihm aufgezeigte instrumentale Charakter der menschlichen Intelligenz als einer Funktion des Lebens nimmt ihr zunächst den naiven Anspruch auf Absolutheit, den der Intellekt unbewußt in jeder noch unkritischen Wissenschaft erhebt, indem er glaubt, sich wie ein geheimnisvoller Weltspiegel der Gesamtheit eines fertigen Seins gegenüberstellen zu können. Grotesk wirkt dieser Anspruch bei einer rein mechanistischen Wissenschaft, in deren Weltbild schlechterdings kein Platz mehr bleibt für eine souveräne Intelligenz, wie sich ja überhaupt aus keinem gegenständlich objektiven Sein das Erkennen, das stets Urvoraussetzung bleibt, ableiten läßt. Man kann übrigens Bergson, wie es eine oberflächliche Kritik vielfach getan hat, nicht den Vorwurf machen, er sei in den Fehler eines unkritischen Biologismus verfallen, der sich über seine eigenen Voraussetzungen nicht im klaren ist. Das Erkennen leitet sich bei ihm aus den metaphysischen Ursprüngen des Seins her, als dessen wesentliche integrierende Funktion. Die absolute Unmittelbarkeit des Zusammenhanges von Wirklichkeit und Erkenntnis wurzelt nach ihm in all ihren Formen, ob Intelligenz oder Intuition, im schöpferischen Urquell der Dinge, als dessen Urfunktion und Urtatsache; nur ist sie beim Menschen seiner Geschöpflichkeit gemäß nicht mehr rein primärer, sondern sekundärer Natur, und in seiner intelligenten Form nur auf das Gewordene nachbildend bezogen. Dadurch unterscheidet sich Bergson ganz wesentlich von Kant. In dessen Erkenntniskritik wird die Transzendentalität der Erkenntnis derartig überspannt, daß sie jede unmittelbare Verbindung mit dem Wirklichen verliert und damit jede sinnvolle Beziehung zum metaphysischen Urgrund des Wirklichen vermissen läßt. Es ist hier nicht mehr ersichtlich, welche Funktion dem Erkennen in der Wirklichkeit zukommt. Fichtes Versuch, vom Primat der praktischen Vernunft ausgehend, der theoretischen Vernunft eine sinnvolle Funktion zuzuweisen, war insofern eine durchaus konsequente Fortführung der kantischen Erkenntniskritik, in der aber der Fehler im Uransatz der kantischen Kritik nur um so offenbarer wurde.

Andererseits aber ist in einem sehr wesentlichen Punkte die kantische Kritik, zum mindesten ihrer Tendenz nach, tiefer als die Bergsonsche. So sehr Kant Wesen und Bedeutung der intuitiven Erkenntnis, die Bergson ganz richtig in engsten Zusammenhang mit dem von der Intelligenz sich wesenhaft unterscheidenden Instinkt bringt, verkannt hat und von seiner rationalistischen Grundlage aus verkennen mußte, so leitet ihn doch unbewußt ein tiefer metaphysischer Instinkt, wenn er dem menschlichen Erkenntnisvermögen grundsätzlich die Fähigkeit abspricht, die tiefsten metaphysischen Voraussetzungen des Seins zu durchdringen. Wenn Bergson der menschlichen Intuition eine progressive, unbegrenzte Durchdringungskraft zutraut, so verfällt er der Gefahr einer naturalistischen Verflachung des Metaphysischen, was man ihm nicht zu Unrecht häufig zum Vorwurf gemacht hat. In dieser Beziehung ist Bergson noch ein echtes Kind des positivistischen Zeitalters geblieben. Das kommt uns heute besonders deutlich zum Bewußtsein, nachdem wir, wie kaum eine Generation vor uns, die abgrundtiefe Fragwürdigkeit aller Existenz erlebt haben. Wir vermögen den Optimismus jener Zeit, in der Bergson groß geworden ist, nicht mehr zu teilen. Das Schöpferische in der Natur und in uns ist wieder zu einem tiefen ehrfurchtgebietenden Geheimnis geworden; die Nichtigkeit unserer ephemeren Existenz, die tragische Situation des Lebens in diesem Kosmos, die tiefe Irrationalität des Leidens und des Todes, spotten jeder Durchleuchtung unseres Wachbewußtseins, sie liegen unterhalb seiner Schwelle, wie auch alle eigentlichen Wachstumsvorgänge. Sie bringen uns aber immer wieder zum Bewußtsein, daß diese durch und durch bruchstückhafte, zwiespältige und provisorische Ebene des Daseins, in der wir leben, nicht die einzige und endgültige ist.

Daß das Fundament der Bergsonschen Metaphysik zu schmal ist für die Behandlung der tiefsten moralischen und religiösen Wertprobleme, wird offenbar in seinem Alterswerk „Les deux sources de la morale et de la religion”. So feinsinnig und wertvoll auch die in wunderbarer Konsequenz aus den innersten Antrieben seines Denkens entwickelten Gesichtspunkte sind, sie bleiben doch im Vorfeld der eigentlich brennenden metaphysischen Fragen, sie vermögen sich nicht ganz über die Ebene eines vergeistigten Naturalismus zu erheben. Und doch wird man auch hier wieder in den Bann dieses energiegeladenen Denkens gezogen, und aus der absolut lauteren intellektuellen Redlichkeit eines ganz in der Sache aufgehenden Denkens ergibt sich wertvollste Einsicht, sogar zum Teil über die Absicht des Autors hinaus: die an höchsten transzendenten Wertmaßstäben gemessene fragwürdige Natur aller in unbewußten sozialen Instinkten wurzelnden juridischen Moral und Religion, von der sich die aus wirklich transzendenten Tiefen hervorbrechenden echten moralischen und religiösen Impulse unterscheiden wie Jesu Bergpredigt von dem Moralkodex der Pharisäer.

Und so verstummt schließlich alle Kritik in Ehrfurcht vor seinem Werk und dem Geist, der es geschaffen hat, denn auch da, wo er irrt, oder die Aufgabe über die Grenze seines Wesens und seiner ihm eigenen Begabung hinausgeht, zwingt er höchste Achtung ab, ja, in der Kunst seiner Formulierungen, in dem Glanz seiner aus letzter organischer Ausreifung seiner Gedanken hervorgehenden Lucidität, zu höchster Bewunderung. Es ist bezeichnend, daß die Veröffentlichungen Bergsons in verhältnismäßig großen Zeitabständen erfolgt sind. Er ist kein Vielschreiber gewesen, der glaubte, zu allem etwas Maßgebliches sagen zu müssen. Auch der Erfolg und der Ruhm haben an dieser weisen Selbstbeschränkung und intellektuellen Redlichkeit, die frei war von jeder Eitelkeit, nichts ändern können. Ein außergewöhnlich starker, für die exakten Wissenschaften begabter Intellekt verband sich bei ihm mit einem seltenen intuitiven Spür- und Feinsinn auf psychologischem und biologischem Gebiet, während sein Denken die stärksten Antriebe von einem bohrenden philosophischen Grübelsinn empfing. Aber so stark war die geistige Zucht dieses Denkens und das Bedürfnis nach echt französischer Klarheit und Präzision, daß er sich in seiner Darstellung nie in Dunkelheiten verliert, sondern sich nicht genug tun kann, paradox anmutende Gedanken durch immer wieder neue originelle Formulierungen plausibel zu machen. Nirgends findet man bei ihm geistige Schaumschlägerei, oder ein eitles Haschen nach geistreichen Effekten, er zwingt den Leser zum gespanntesten Mitdenken, und an den Philosophen hat er die größten Anforderungen gestellt: die Fähigkeit, mit dem Fachwissenschaftler an entscheidenden Punkten Probleme zu diskutieren unter Beherrschung aller in Betracht kommenden fachwissenschaftlichen Details, um die Begriffsbildung der Fachwissenschaft in ihren Schnittpunkten mit philosophischen Problemen aufs genaueste zu überwachen. Welch sorgfältiges Studium aller einschlägigen Tatsachen steckt allein in seinem Werk „Matière et mémoire”! Auf diesem Wege vermag ihm nur eine gleich starke Begabung zu folgen, und so ist es kein Wunder, daß er keine Schule gegründet hat.

Die letzte Gewähr aber findet die Lauterkeit und Echtheit seines leidenschaftlichen tiefen Wahrheitsstrebens in dem Adel und der absoluten Integrität seines Charakters. Nach den furchtbaren moralischen Zusammenbrüchen, die wir in den Zeiten der schweren Prüfung in der deutschen und europäischen Geistigkeit erlebt haben, sind wir besonders empfindlich geworden für eine windige Intellektualität, wie man sie bei der heutigen fachwissenschaftlichen Verkrüppelung so häufig antrifft, hinter der keine menschliche Substanz mehr steht. Wir können vor allem dem Philosophen kein Vertrauen mehr schenken, und mag er noch so geistreich sein, der die Echtheit seines geistigen Strebens nicht mit der Echtheit und Ganzheit seines Charakters besiegelt. Mit schlichter Selbstverständlichkeit, allem Demonstrativen abhold, hat Bergson die Charakterprobe bestanden, als in den Jahren der fürchterlichen Geistes- und Gewissensknechtschaft die große Versuchung und gefährliche Drohung an ihn herantrat. „Als im ,Etat français‘ (ich zitiere hier eine Stelle aus einem Artikel aus dem Rheinischen Merkur vom 15. November 1946) das Judenstatut verkündet war, bot die Regierung seines Landes dem großen Bürger jüdischer Abkunft und jüdischen Glaubens, dessen Ruhm in den hohen Schulen und Studierstuben der ganzen Erde seine Heimat hatte, in einer Art verlegener Scham, wie sie unseren deutschen Herren leider fremd gewesen ist, eine Ausnahmebehandlung an. Aber Bergson weigerte sich, aus solcher Hand ein solches Geschenk zu empfangen. Er, der seit Jahrzehnten gewohnt war, vor dem Forum des geistigen Frankreich und der Welt zu lehren, er legte sein Lehramt am Collège de France nieder. Er entäußerte sich aller Ämter, die ihm zu seiner eigenen und zu seiner Nation Ehre anvertraut waren. Und als kranker Greis in seinem 80. Jahr ging er hin — im Schlafrock und in den Pantoffeln, wie man berichtet, und von einem Diener geführt, um als Jude eingetragen zu werden in die Liste der Entrechteten, der Ausgestoßenen, der Ehrlosen, Wehrlosen, Schutzlosen.“

In der Wahl zwischen Sicherheit seiner Existenz und der Schändung und Lebensbedrohung zögerte er keinen Augenblick, auf die Seite des Leids und der Verfolgung zu treten. Und in seinem Testamente schrieb er: „Meine Überlegungen haben mich immer näher zum Katholizismus geführt .... Ich wäre übergetreten, wenn ich nicht seit Jahren eine furchtbare antisemitische Welle sich hätte vorbereiten sehen, ... ich wollte mich nicht von denen trennen, die schon morgen die Verfolgten sein werden, aber ich hoffe, daß ein katholischer Priester .... die Gebete an meinem Grabe verrichten möge“.

Diese wundervolle sittliche Haltung gibt ihm neben seinem genialen Werk einen Ehrenplatz unter den größten und vorbildlichen Persönlichkeiten der europäischen Geistesgeschichte.

Friedrich Kottje.

VORWORT

Die vorliegende Sammlung umfaßt zunächst zwei Abhandlungen, die wir ausdrücklich zu diesem Zweck geschrieben haben, und die also bisher noch nicht veröffentlicht wurden. Sie nehmen ein Drittel des Bandes ein. Die übrigen Abhandlungen sind Aufsätze und Vorträge, die meist nicht mehr auffindbar und in Frankreich oder im Ausland erschienen sind. Alle datieren aus der Periode zwischen 1903 und 1923. Sie beschäftigen sich in der Hauptsache mit der Methode, die wir dem Philosophen glauben empfehlen zu müssen. Die beiden Abhandlungen, die die Einleitung ausmachen, haben es sich insbesondere zur Aufgabe gesetzt, den Urprung dieser Methode bloßzulegen, und die Richtung zu bezeichnen, die sie der Forschung aufprägt.

In einem 1919 unter dem Titel „Die geistige Energie“ (de l’Energie spirituelle) erschienenen Buch hatten wir „Abhandlungen und Vorträge“ vereinigt, die sich mit den Ergebnissen einiger unserer Arbeiten befassen. Unsere vorliegende Sammlung, in der „Abhandlungen und Vorträge“ zusammengefaßt sind, die sich diesmal auf die Forschungsarbeit selbst beziehen, soll die Ergänzung der ersteren sein.

Die Delegates of the Clarendon Press von Oxford haben uns gerne erlaubt, die beiden Vorträge, die wir 1911 an der Universität in Oxford gehalten haben, und die sie so sorgfältig herausgegeben haben, wieder abzudrucken. Wir sprechen ihnen dafür unseren verbindlichen Dank aus.

Henri Bergson.

EINLEITUNG
(Erster Teil)

Wachstum der Wahrheit - Rückläufige Bewegung des Wahren

Von der Präzision in der Philosophie — Die philosophischen Systeme — Warum sie das Problem der Zeit vernachlässigt haben — Was aus der Erkenntnis wird, wenn sie die wirkliche Zeit in sich aufnimmt — Rückwirkende Kraft des wahren Urteils — Spiegelung der Gegenwart in die Vergangenheit — Über Geschichte und geschichtliche Erklärung — Logik der Retrospektion

Was der Philosophie am meisten gefehlt hat, ist die Präzision. Die philosophischen Systeme sind nicht auf die Wirklichkeit, in der wir leben, zugeschnitten. Sie sind zu weit für sie. Man prüfe nur irgend ein passend ausgewähltes unter ihnen, so wird man sehen, daß es ebensogut auf eine Welt passen würde, in der es weder Pflanzen noch Tiere, in der es nichts als Menschen gäbe, und in der sich die Menschen des Essens und Trinkens enthielten, in der sie weder schliefen noch träumten, noch ihre Gedanken ziellos schweifen ließen, in der sie altersschwach geboren würden, um als Säuglinge zu enden, in der sich die Energie nicht zerstreute, sondern konzentrierte, kurzum auf eine Welt, in der alles gegen den Strich ginge und sich ins Gegenteil verkehrte. Ein richtiges System ist eben eine Gesamtheit von so abstrakten und infolgedessen unbestimmten Begriffen, daß man hierin neben dem Wirklichen alles Mögliche und selbst Unmögliches unterbringen kann. Eine Erklärung, die uns befriedigen soll, muß mit ihrem Gegenstand fest verwachsen sein: bei ihr besteht sozusagen keine Leere zwischen Gegenstand und Erklärung, kein Zwischenraum, in den eine andere Erklärung sich ebensogut einfügen ließe. Sie paßt nur für das eine bestimmte Objekt, dem sie einzig und allein angemessen ist. Von dieser Art kann die wissenschaftliche Erklärung sein. Mit ihr gehen absolute Genauigkeit und eine vollständige oder wachsende Evidenz Hand in Hand. Kann man das auch von den philosophischen Theorien sagen?

Eine philosophische Lehre schien uns früher hierin eine Ausnahme zu machen, und wahrscheinlich wurden wir dadurch in unserer frühesten Jugend besonders von ihr angezogen. Die Philosophie von Spencer zielte daraufhin, einen genauen Abdruck der Dinge zu nehmen, und sich dem Detail der Tatsachen anzuschmiegen. Zweifellos suchte auch sie sich auf unbestimmte Allgemeinbegriffe zu stützen. Wir fühlten wohl die Schwäche der „First Principles. Aber diese Schwäche schien uns darin zu liegen, daß der ungenügend vorbereitende Vf. die grundlegenden Begriffe der Mechanik nicht hatte vertiefen können. Wir hätten diesen Teil seines Werkes gerne wieder aufgenommen, um ihn zu vervollständigen und tiefer zu begründen. Wir versuchten uns daran, unseren Kräften entsprechend. So stießen wir auf das Problem der Zeit. Hier erwartete uns eine Überraschung.

Wir waren tatsächlich höchst erstaunt, als wir sahen, wie die wirkliche Zeit, die die erste Rolle in jeder Entwicklungsphilosophie spielt, der Mathematik entgleitet. Da ihr Wesen im ständigen Vorübergehen besteht, so ist keiner ihrer Teile mehr da, wenn ein nächster folgt. Kein Teil läßt sich mit dem anderen zur Deckung bringen. Somit ist ein Messen unmöglich, unvorstellbar, undenkbar. Zweifellos enthält jeder Maßstab ein Moment willkürlicher Festsetzung, und es ist selten, daß zwei Größen, die gleich genannt werden, sich vollständig decken. Auch hier muß die Deckung für eine ihrer Erscheinungsformen oder ihrer Wirkungen möglich sein, die etwas von diesen Größen festhält: jedoch mißt man dann diese Wirkung oder jene Erscheinungsform. Aber angewendet auf die Zeit würde der Begriff der Deckungsgleichheit eine Absurdität in sich einschließen. Denn jede Wirkung der Dauer, die sich mit sich selbst zur Deckung bringen ließe und folglich meßbar wäre, würde ihrem Wesen nach nicht mehr eine Dauer sein. Wir wußten wohl seit unserer Schulzeit, daß die Dauer sich mißt durch die Bahn eines beweglichen Körpers, und daß die mathematische Zeit eine Linie ist. Aber wir hatten noch nicht bemerkt, daß diese Operation sich radikal von allen anderen Messungsoperationen unterscheidet, denn sie vollzieht sich nicht an einem Aspekt oder einer Wirkung, die symbolisch ist für das, was man messen will, sondern an einem Etwas, das jede Meinung ausschließt: die Linie, die man mißt, ist unbeweglich, die Zeit dagegen ist Bewegung; die Linie ist etwas endgültig Fertiges, die Zeit dagegen ist ein Werdendes und sogar der Grund von allem übrigen Werden. Das Zeitmaß bezieht sich niemals auf die Dauer als solche, soweit sie wirklich Dauer ist. Man zählt allein eine gewisse Anzahl von Endpunkten von Zeitintervallen oder von sogenannten Momenten, d. h. im Grunde von virtuellen Ruhepunkten der Zeit. Behaupten, daß ein Ereignis nach Ablauf einer Zeit stattfinden wird, besagt einfach, daß man von jetzt bis dahin eine Anzahl von Gleichzeitigkeiten einer gewissen Art gezählt haben wird. Zwischen den Gleichzeitigkeiten kann sich alles Beliebige abspielen. Die Zeit könnte sich ungeheuer, selbst unendlich beschleunigen: Für den Mathematiker, Physiker und Astronomen wäre damit nichts geändert. Der Unterschied für das Bewußtsein wäre jedoch tiefgreifend (ich will natürlich sagen, eines Bewußtseins, das nicht mit Molekularbewegungen innerhalb des Gehirns solidarisch wäre). Für ein solches Bewußtsein bedeutete es nicht mehr die gleiche Anspannung des Wartens von heute auf morgen, von Stunde zu Stunde. Dieser bestimmten Erwartung und ihrer äußeren Ursache kann die Wissenschaft nicht Rechnung tragen: Selbst wenn sie sich auf die Zeit bezieht, die abläuft oder ablaufen wird, so behandelt sie sie so, als ob sie abgelaufen wäre. Das ist im übrigen ganz natürlich. Ihre Rolle ist es, vorauszusehen. Sie zieht aus der materiellen Welt all das heraus, was der Wiederholung und Berechenbarkeit fähig ist und was infolgedessen nicht dauert. Sie bewegt sich damit in derselben Richtung, nur nachdrücklicher, wie der gesunde Menschenverstand, der schon eine Vorstufe von Wissenschaftlichkeit ist: Wenn wir in der Umgangssprache von Zeit reden, denken wir für gewöhnlich an das Maß der Dauer und nicht an die Dauer selbst. Aber man fühlt und erlebt diese Dauer, die die Wissenschaft eliminiert, die so schwierig zu erfassen und auszudrücken ist. Sollen wir nicht einmal untersuchen, was sie wirklich ist? Wie würde sie einem Bewußtsein erscheinen, das sie nur erleben wollte, ohne sie zu messen, das sie erfassen würde, ohne sie zu fixieren, das sich selbst schließlich als Objekt nähme, und das, Zuschauer und Akteur, spontan und reflektierend zugleich, die fixierende Aufmerksamkeit und die fliehende Zeit verschmelzen lassen würde?

Dies war die Frage. Damit drangen wir ein in das Gebiet des inneren Lebens, für das wir uns bis dahin nicht interessiert hatten. Sehr schnell erkannten wir die Unzulänglichkeit jeder Assoziationspsychologie. Die damals bei der Mehrzahl der Psychologen und Philosophen verbreitete Art psychologischer Auffassung war das Ergebnis einer künstlichen Konstruktion des bewußten Lebens. Was würde die direkte unmittelbare Schau ohne dazwischen geschaltete Vorurteile ergeben? Eine lange Reihe von Überlegungen und Analysen ließ uns diese Vorurteile einzeln beiseiteschieben, ließ uns viele Begriffe aufgeben, die wir kritiklos übernommen hatten. Schließlich glaubten wir ganz rein die innere Dauer wiederzufinden, eine Kontinuität, die weder Einheit noch Vielheit ist und in keine unserer Denkschablonen eingeht. Wir hielten es für sehr natürlich, daß die positive Wissenschaft sich nicht für diese Dauer interessiert hatte: Vielleicht ist es gerade ihre Aufgabe, uns eine Welt zu schaffen, in der wir um der Bequemlichkeit der Handlung willen die Wirkungen der Zeit zum Verschwinden bringen. Wie konnte aber die Philosophie Spencers, eine Entwicklungslehre, die geschaffen ist, um der Wirklichkeit in ihrer inneren Bewegung, ihrem Fortschritt, ihrer inneren Reifung zu folgen, die Augen vor dem verschließen, was die ständige Veränderung selbst ist?

Diese Frage sollte uns später dazu bringen, das Problem des Lebens wieder aufzunehmen, wobei der wirklichen Zeit Rechnung zu tragen war: Wir sollten dabei finden, daß Spencers „Evolutionismus“ fast vollständig zu erneuern war; zunächst aber fesselte uns die Vision der Dauer. Bei der Durchsicht der verschiedenen Systeme stellten wir fest, daß die Philosophen sich kaum mit ihr beschäftigt hatten. Durch die ganze Geschichte der Philosophie hindurch sind Zeit und Raum auf die gleiche Ebene gestellt und wie Dinge derselben Art behandelt worden. Man untersucht dann eben nur den Raum, bestimmt seine Natur und seine Funktion und überträgt die gefundenen Ergebnisse auf die Zeit. Die Theorie der Zeit wird so ein Seitenstück zur Theorie des Raumes: um von der einen zur anderen zu gelangen genügt es, ein Wort zu ändern: man hat „Nebeneinanderstellung“ durch „Aufeinanderfolge“ ersetzt. Von der wirklichen Dauer hat man sich systematisch abgewandt. Warum? Die Wissenschaft hat ihre Gründe, es zu tun. Aber schon die Metaphysik, die der Wissenschaft vorausging, ging auf diese Weise vor, obwohl sie nicht die gleichen Gründe hatte. Beim Überprüfen der Lehren schien es, als ob die Sprache dabei bereits eine große Rolle gespielt hätte. Die Dauer drückt sie immer als Ausdehnung aus. Die Ausdrücke, die die Zeit bezeichnen, sind der Sprache des Raumes entlehnt. Wenn wir die Vorstellung der Zeit bilden wollen, so ist es in Wirklichkeit der Raum, der sich uns darstellt. Die Metaphysik hat sich den Denkgewohnheiten der Sprache anpassen müssen, und diese richteten sich nach dem Denken des gesunden Menschenverstandes.

Aber wenn die Wissenschaft und der gesunde Menschenverstand hier übereinstimmen, wenn die Intelligenz, möge sie nun spontan oder reflektierend sein, die wirkliche Zeit beiseiteschiebt, sollte das denn nicht mit der ursprünglichen Bestimmung unseres Verstandes zusammenhängen? Gerade das glaubten wir zu bemerken, als wir die Struktur des menschlichen Verstandes untersuchten. Es schien uns, daß gerade eine seiner Funktionen darin bestand, die Dauer zu verschleiern, sowohl bei dem Begriff der Bewegung wie auch bei dem der Veränderung.

Handelt es sich um Bewegung, so behält die Intelligenz davon nur eine Reihe von Positionen zurück: einen zuerst erreichten Punkt, einen weiteren und dann noch einen weiteren. Wenn man dem Verstand entgegenhält, daß zwischen diesen Punkten etwas vor sich geht, so schiebt er schnell neue Positionen dazwischen und immer so weiter, bis ins Unendliche. Von dem eigentlichen Übergang von Punkt zu Punkt wendet er seinen Blick ab. Wenn wir darauf bestehen, so sucht er die Beweglichkeit in immer kleinere Zwischenräume zurückzuschieben, entsprechend einer immer größeren Zahl eingeschobener Positionen, bis sie immer weiter zurückweicht und schließlich im unendlich Kleinen zu verschwinden scheint. Nichts ist natürlicher, wenn die Intelligenz dazu besonders bestimmt ist, unser praktisches Wirken auf die Dinge vorzubereiten und zu klären. Wir gewinnen eine Handhabe für die Wirkung auf die Dinge nur durch die Fixierung von festen Punkten; unsere Intelligenz trachtet also nach Festigkeit. Sie fragt sich, wo das Bewegliche ist, wo das Bewegliche sein wird, wo es vorübergeht. Selbst wenn sie den Moment des Überganges beachtet, selbst, wenn sie sich dann also für die Dauer zu interessieren scheint, so beschränkt sie sich dabei nur darauf, die Gleichzeitigkeit von zwei virtuellen Punkten zu konstatieren: den Punkt, in dem die betrachtete Bewegung fixiert wird, und den möglichen Ruhepunkt einer anderen Bewegung, deren Verlauf als diejenige der Zeit angesehen wird. Aber immer handelt es sich dabei um wirkliche oder mögliche Unbeweglichkeiten. Überspringen wir einmal die intellektuelle Vorstellung der Bewegung, die sie als eine Reihe von Positionen symbolisiert, erfassen wir sie unmittelbar ohne den dazwischen geschobenen Begriff: dann finden wir sie als eine unteilbare Ganzheit. Gehen wir noch weiter: lassen wir sie zusammenfallen mit einer jener unbestreitbar wirklichen, absoluten Bewegungen, die wir selbst hervorbringen, dann erfassen wir die Bewegung in ihrem innersten Wesen, und wir fühlen, daß sie eins ist mit einer Anstrengung, deren Dauer eine unteilbare Kontinuität darstellt. Aber da dabei ein gewisser Raum durchmessen sein wird, nimmt unsere Intelligenz, die überall nach einem festen Halt sucht, nachträglich an, daß die Bewegung mit diesem Raum verschmilzt (als ob das Bewegliche mit etwas Unbeweglichem eins sein könnte!), und daß das bewegliche Ding nacheinander in jedem Punkte der Linie, die es durcheilt, auch wirklich ist. Im Höchstfall kann man sagen, daß es dort gewesen wäre, wenn es früher angehalten worden wäre, wenn wir, um eine viel kürzere Bewegung zu erzielen, eine ganz andersartige Anstrengung gemacht hätten. Von da an bis zu der Ansicht, daß die Bewegung nur eine durchlaufene Reihe von Zeitpunkten wäre, ist nur ein Schritt: die Dauer der Bewegung wird sich dann in „fixe Zeitpunkte“ zerlegen, von denen jeder einer bestimmten Position im Raume entspricht. Aber die Zeitpunkte und die Raumpositionen des bewegten Dings sind nur gleichsam Momentaufnahmen, die unser Verstand von der Kontinuität der Bewegung und der Dauer aufnimmt. Mit diesen nebeneinandergesetzten Momentaufnahmen hat man einen praktischen Ersatz der Zeit und der Bewegung, der sich den Erfordernissen der Sprache anpaßt, um später sich der Berechnung darzubieten, aber das ist nur eine künstliche Rekonstruktion: die Zeit und die Bewegung sind in Wirklichkeit etwas anderes.1)

Dasselbe können wir vom Begriff der Veränderung im allgemeinen sagen. Der Verstand zerlegt sie in aufeinanderfolgende und distinkte Zustände, die als unveränderlich angesehen werden. Betrachtet man jeden dieser Zustände genauer, beobachtet man dann, daß er sich dauernd ändert, fragt man, wie er dauern könnte, wenn er sich nicht dauernd änderte, so schiebt der Verstand schnell eine Reihe von weiteren Zuständen ein, die sich nötigenfalls ihrerseits weiter zerlegen lassen, usw. bis ins Unendliche. Wie sollte man aber nicht sehen, daß das Wesen der Dauer in einem ununterbrochenen Fluß besteht, und daß etwas Statisches, das mit anderem Statischen aneinandergereiht wird, niemals eine wirkliche Dauer ergibt? Was also wirklich ist, das sind nicht die in Momentaufnahmen fixierten „Zustände“, die wir im Verlauf der Veränderung aufnehmen, sondern das ist im Gegenteil der Fluß, das ist die Kontinuität des Übergangs, das ist die Veränderung selbst. Diese Veränderung ist unteilbar, sie ist sogar substantiell. Wenn unser Verstand sich darauf versteift, sie als unsubstantiell zu beurteilen, ihr, ich weiß nicht, welchen festen Träger unterzuschieben, so liegt das daran, daß er sie durch eine Reihe von nebeneinander gesetzten Zuständen ersetzt hat; aber diese Vielzahl ist künstlich; künstlich ist auch die Einheit, die man nachträglich wiederherzustellen sucht. Es gibt hier nur eine ununterbrochene Dynamik der Veränderung — einer Veränderung, die niemals ihren Zusammenhang in einer Dauer verliert, die sich endlos aus sich selber weiter gebiert.