Martin Kolozs

Bischof
Reinhold Stecher

Leben und Werk

INHALT ___

Cover

Titel

Vorwort
Gedanken über die biografische Würdigung

1. „Mein kleines Paradies der Kindheit“:
Aus den Wurzeln leben

2. „Nur apokalyptischer Schrecken“:
Nationalsozialismus in Tirol und der Zweite Weltkrieg

3. „Die Botschaft Jesu Christi ist unüberholbar“:
Lernen und lehren – Reinhold Stecher als Seelsorger und Religionspädagoge

4. Einflüsse auf Reinhold Stecher

Paulus Rusch und die Kirche im Gebirge

Das Zweite Vatikanische Konzil

5. „Ich werde niemals eine ‚Exzellenz‘ sein, aber ‚Herr Bischof‘ klingt doch auch recht gut“:
Der (Volks)Bischof von Innsbruck

„Wenn ihr standhaft bleibt, werdet ihr das Leben gewinnen“:
Die Seligsprechung von Pfarrer Otto Neururer

„Es gibt immer wieder die Entfremdung vom Zentralen des Christentums …“:
Der Streit um das „Handbuch der Engel“

„Der einzige Zwang, dem ich mich gegenübersehe, besteht in der Verpflichtung zur Wahrheit und zum Geist des Konzils“:
Der Fall Judenstein

„Ich wehre mich gegen eine Persönlichkeitszentrierung“:
Kein Bischof des Einheitsformats

„Rom hat seine Barmherzigkeit verloren“:
Reinhold Stechers kritischer Brief an Papst Johannes Paul II

6. „So wird das Altern ein pastoraler Dienst“:
Der Bischof im (Un)Ruhestand

7. In memoriam:
Ein fiktives Interview mit Bischof Reinhold Stecher

Anhang

Anmerkungen

Zeittafel

Personenverzeichnis

Quellenverzeichnis

Bildnachweis

Dank des Autors

Weitere Bücher

Impressum

Klappentext

VORWORT ___

Gedanken über die biografische Würdigung

Zweifelsohne gehörte Bischof Dr. Reinhold Stecher zu den charismatischsten Persönlichkeiten der römisch-katholischen Kirche von Österreich und wird auch noch lange nach seinem Tod für sein vielfältiges Wirken und Schaffen über die Landesgrenzen Tirols hinaus aufrichtig verehrt werden. Er selbst beschrieb in seinem letzten Buch „Spätlese“ das Leben als ein Geschenk, das er in seiner ganzen Fülle von Gott ebenso demütig angenommen, als auch der Verehrung seines Erlösers Jesus Christus über neun Jahrzehnte hindurch gewidmet hat: „Der strahlende Unendliche, der bei mir, der bei uns ankommt, das ist das Ewige Wort, der Sohn. In Ihm wird der Ewige der nahe Gott, der Gott bei uns. […] Dass uns in Jesus Christus die unendliche Liebe so nahe rückt, sozusagen solidarisch bis zu unserer Armseligkeit als sterbliche und brüchige Wesen – das ist das tröstliche Geheimnis des Christentums.“1

Dieser Überzeugung seines Herzens folgend wurde Reinhold Stecher zu einem Volksbischof im ursprünglichsten Wortsinn und außerdem zu einem der meistgelesenen spirituellen Schriftsteller der Gegenwart, dessen Erfolg nicht ihm allein gereichte, sondern für zahlreiche karitative Zwecke im In- und Ausland verwendet wurde: „Diesen Traum [in einem Land leben zu dürfen, das anderen helfen kann] hat Gottes Vorsehnung mir in meinem Leben in ungeahnter Weise er füllt. Denn die Lawine des Segens rollt und rollt bis in diese Stunde.“2 Dadurch und durch vieles andere mehr, das in dieser Biografie zur Sprache kommen soll, ist Bischof Reinhold Stecher ein Theologe und Geistlicher geworden, der den Menschen seiner Diözese und überall sonst auf der Welt auf Augenhöhe begegnet ist, der es für wichtiger hielt, verstanden zu werden, als von der Kanzel herab zu dozieren, und der zeitlebens seinem Wahlspruch treu blieb: „Servire et confidere – dienen und vertrauen“.

Demnach gibt es unzählige Zeugnisse der persönlichen Begegnungen, der privaten Erlebnisse und einzigartigen Erinnerungen in Zusammenhang mit Bischof Reinhold Stecher sowie ein Vielfaches von Verschüttetem und Vergessenem, das nicht mehr erzählt werden kann und in dieser Darstellung darum fehlen muss. Denn: „Jeder Mensch bleibt ein Rätsel, und es sei mir gestattet zu sagen: ein Kreuzworträtsel – in dem das eine Wort das andere ausbaut und ergänzt, aber es gelingt wahrscheinlich nicht, alle Kästchen auszufüllen.“3 Dessen eingedenk und im Selbstverständnis, dass ein Leben nur dann vollkommen wiedergegeben werden kann, wenn man dafür ein Leben lang Zeit hat, hat der Verfasser alle ihm zugänglichen Quellen nach eingehendem Studium und im besten Wissen und Gewissen in seine Arbeit einfließen lassen, um diese erste biografische Würdigung von Bischof Dr. Reinhold Stecher vorlegen zu können.

Martin Kolozs

KAPITEL 1 ___

„Mein kleines Paradies der Kindheit“ 4
Aus den Wurzeln leben

Oft hat Bischof Reinhold Stecher den Baum als Sinnbild beschrieben und auf die entsprechenden Stellen in der Bibel verwiesen: „Eines hat der Herr vom Baum wie vom Weinstock betont: dass die Vielfalt eine geheimnisvolle Einheit bildet, dass sich alles aus einem Stamm verzweigt, und sein Leben aus Wurzeln erhält, die in der Tiefe verborgen liegen.“5

Im Leben von Reinhold Stecher war mit Gewissheit die eigene Familie eine dieser kraftspendenden Wurzeln, welche ihm ebenso Halt und Sicherheit in seinen Kindheitstagen gab, wie sie auch eine Inspirationsquelle in den späteren Jahren seines vielfachen Wirkens geblieben ist.

Vor allem seine Mutter Rosa (geb. Harpf), eine Bäckerstochter aus Innsbruck-Wilten, wusste, wie mit dem manchmal recht ungestümen Reinhold umzugehen war, und hatte im richtigen Moment stets das passende Wort der Ermahnung parat – eine Notwendigkeit, war der kleine Bub doch der Zweitgeborene von insgesamt drei einander ziemlich ähnlichen Brüdern, die untereinander ebenso rauften wie mit den Kindern der Nachbarschaft und die wohl ihre Grenzen nach allen Richtungen hin ausgetestet haben. „Wenn ich den kleinen Zornbinggl in die Ecke gestellt und nach einiger Zeit gefragt hab, ob er wieder raus möchte“, erzählte Rosa Stecher bei mancher Gelegenheit, „war die dickschädlige Antwort meistens: ‚Noch nicht!‘“, womit nicht nur eine launige Anekdote aus Kindheitstagen wiedergegeben war, sondern auch ein markanter Charakterzug von Reinhold Stecher aufgezeigt wurde, den Freunde von ihm „als durchaus ernst zu nehmende Lebensenergie, fallweise wohl auch als Hindernis, wo sich Trotz dazumischt“,6 beschrieben haben.

Ansicht von Mühlau, 1920er-Jahre

Der Vater, Heinz Stecher, entstammte einer Südtiroler Bergbauernfamilie aus St. Valentin auf der Haide7 und war Landesschulinspektor mit einer Kanzlei in der Innsbrucker Hofburg geworden. Zudem galt er als ein leidenschaftlicher Germanist, der zu Hause eine große Bibliothek eingerichtet hatte und dadurch vor allem die musische Erziehung seiner Söhne vorantrieb: „So wurde das Lesen in meiner Kinder- und Gymnasialzeit zu einer wichtigen Beschäftigung“8, erinnerte Reinhold Stecher sich noch später. Auch gemeinsame Gesangsabende und Theateraufführungen fanden im Hause Engergasse 108 (heute: Anton-Rauch-Straße 33) in Mühlau9 /10 regelmäßig statt: „Das Haus hat mein Großvater 1908 gebaut, und wir haben ebenerdig gewohnt. Da vorne im Erker wurde ich am 22. Dezember 1921 geboren. Im ersten Stock war die Familie Diesner, und die Gerhild Diesner wurde die später berühmte Malerin. Wir haben miteinander gespielt.“11

In Mühlau, das erst 1938 im Zuge der Bildung von Großgemeinden unter der NS-Herrschaft der Stadt Innsbruck eingemeindet wurde, verbrachte Reinhold Stecher die ersten zwölf Lebensjahre – hier ging er in den Kindergarten und spielte auf dem Dorfplatz, der damals noch keinen modernen Umbau hatte: „Es war überall viel Natur, von den weiten Innauen hinauf über die Hügel zu den schlafenden Wäldern am Eingang der Mühlauer Klamm, wo wir als Kinder auf der Teufelskanzel, die dort herausragt, herumgeklettert sind.“12

Bereits mit fünf Jahren kam Reinhold Stecher in die Volksschule in der Fallmerayerstraße 7 nach Innsbruck, deren Besuch ihn auf wenigstens zwei Arten nachhaltig prägte: „Als der erste Schulbesuch näher rückte, kam es zu folgender kleinen Episode, an die ich mich noch so oft erinnern sollte. … Die Mutter sagte zu mir: ‚Du kommst jetzt in die Schule. Und du wirst in deiner Klasse eine Menge Schulkameraden haben, die einen etwas anderen Glauben haben als wir. Aber merk dir eines: Man darf nie etwas sagen, was den anderen wehtut. …‘ Wenn man mich heute fragen wollte, welche Erfahrungen in meinem Leben am meisten Einfluss zu Gunsten einer Haltung der Toleranz gehabt hätten, käme mir vieles in den Sinn: Persönlichkeiten mit einer Weite des Geistes, Bücher und theologische Vorlesungen, abstoßende Negativbeispiele von Intoleranz, primitive Vorurteile mit historisch verheerenden Folgen, die leuchtende Gestalt eines gütigen Papstes wie Johannes XXIII. – aber ich glaube, dass nichts so wichtig war wie dieses kleine Wort an einen Fünfjährigen. … Für mich ist dieses unvergessliche Wort meiner Mutter ein Hinweis, dass jede echte Toleranz (und jede echte Gläubigkeit) eigentlich mit dem beginnt, was man Herzensbildung nennt, mit einem Fühlen für andere, einem Gespür für Rücksichtsvolles und Verletzendes. Wenn diese emotionale Grundlegung nicht da ist, nützt unter Umständen ein noch so intensiver intellektueller Überbau nicht viel.“13

Einen zumindest ebenso tiefen Eindruck machte die dortige Begegnung mit dem später seliggesprochenen Märtyrerpfarrer Otto Neururer, der Anton Müller, den man seinerzeit besser als Schriftsteller Bruder Willram kannte, als Katechet an der Volksschule nachgefolgt war: „Er hatte mich als Sechsjähriger zur Erstkommunion geführt“, erzählte Reinhold Stecher immer wieder in seinen Büchern. „Ich hatte ihn im Religionsunterricht zur Vorbereitung auf die Erstkommunion. Mir ist vom damaligen Religionsunterricht nicht viel in Erinnerung geblieben. Aber eines vergesse ich nie mehr. Er hat uns die heilige Wandlung in der Messe erklärt. Man hat einfach gespürt, dass er selbst ganz ergriffen war. ‚Kinder‘, hat er gesagt, ‚vor der heiligen Wandlung wird alles still, ganz still. Da singt niemand mehr und die Orgel hört auf zu spielen, nur im Turm droben beginnt eine einsame Glocke zu läuten. Und in dieses Schweigen hinein kommt Jesus. …‘“14

Diese lebendige Begeisterung für die Gestalt Jesus Christus ist auf Reinhold Stecher wie ein Funke übergesprungen und hat über die folgenden Jahrzehnte an Kraft und Gestalt zugenommen: Beginnend mit dem schlichten Kirchenlied „Jesus, dir leb’ ich/​Jesus, dir sterb’ ich/​Jesus, dein bin ich/​im Leben und im Tod … “, das Otto Neururer ihm als Volksschüler beigebracht hatte, über seine frühe Verehrung des heiligen Franz von Assisi, der selbst nach dem Vorbild Jesu lebte und mit dem Stecher zeitlebens die Verbundenheit zur Natur teilte, sowie seine spätere Faszination für die jesuitische Tradition, die ihn als Student erstmals gefangen nahm und deren tragende Christozentrik ihm im Collegium Canisianum vorgelebt worden war, bis zu seinem eigenen Bekenntnissen in Büchern und zahllosen Predigten. „Man kann sich als Christ nie genug mit Christus befassen. … Ein Christ sein – das heißt, von Christus erfasst sein, an Ihn glauben, nach ihm sich entscheiden und mit ihm im Leben stehen, von Ihm begeistert sein, allerdings ohne große Phrase. … Er hat gesagt, dass Er der Weg sei. Das heißt, dass wir auf ihn persönlich angewiesen sind. Wir müssen auf Ihn vertrauen, auf Ihn schauen, mit ihm verbunden sein. Christ sein heißt, nicht nur eine Lehre annehmen, Gebote und Gesetze für richtig und weise halten, Christ sein heißt, mit Christus verbunden sein – natürlich, ihn auch zum Vor bild nehmen. Er muss mich am Seil haben, ich muss mich ihm anvertrauen, auch wenn es hinauf ins Unbekannte geht. [Wir] wissen, wie sich das persönliche Vertrauen zu Ihm ausdrückt: im tiefen gläubigen Gebet. [Wir] wissen, wo [wir] auf Ihn schauen: in der Schrift, im Wort Gottes. [Wir] wissen, wie wir mit Ihm verbunden bleiben: im Sakrament.“15

Überhaupt waren der christliche Glaube und dessen Ausübung zwei wesentliche Bestandteile des alltäglichen Lebens von Familie Stecher. So gehörte in diesem Zusammenhang die Mitgliedschaft bei der „Katholischen Jugend“ ebenso selbstverständlich dazu wie das gemeinsame Tischgebet oder der Ministrantendienst der drei Brüder Helmut, Reinhold und Gottfried in der Innsbrucker Altstadt: „Wir haben jeden Wochentag um 6 Uhr morgens und sonntags um 7 Uhr in der Hofkirche ministriert, aber alles freiwillig.“16

Diese Freiwilligkeit war wohl auch ein Grund dafür, dass sich der Glaube bei Reinhold Stecher und seinen beiden Brüdern in Kindheit und Jugend voll entfalten und entwickeln konnte und dadurch an Weite der Einsicht und Tiefe der Frömmigkeit gewann, wodurch sich ganz natürlich Werte der Menschlichkeit verfestigten und damit ein Rucksack geschnürt werden konnte, der für den langen Lebensweg die Nahrung für Geist und Seele barg. Wie gefestigt und ehrlich dieser Glaube schon in frühen Jahren gewesen sein muss, zeigte sich vor allem während des ersten schweren Schicksalsschlags, welchen der kleine Reinhold zu verwinden hatte, als sein Vater 1928 plötzlich starb und seine Familie in erheblicher finanzieller Enge zurückließ, da er es verabsäumt hatte, seine eigene Gehaltserhöhung als Schulinspektor zu beantragen, weswegen auch die Witwenpension sehr klein ausfiel. Zudem hatte Rosa Stecher, eine als äußerst friedliebend geltende Frau, auf den Großteil ihres eigenen Familienerbteils verzichtet,17 was die Situation noch zusätzlich verschärfte und 1933 wahrscheinlich den Umzug aus dem Haus in Mühlau nach Innsbruck, in die Adamgasse 17, in eine kleinere Wohnung unausweichlich machte.

Die Brüder Gottfried, Reinhold und Helmut Stecher (von links nach rechts), um 1939

Reinhold Stecher seinerseits tat als junger Gymnasiast damals sein Möglichstes, um die erschwerten Umstände erträglicher zu gestalten: „Ich war in der Schule ziemlich brav, einschließlich guter Noten. Aber das hatte weniger mit hoch entwickelten Tugenden zu tun als mit unserer Situation, das heißt der Situation meiner Mutter. Sie war mit 37 Jahren [sic!] Witwe geworden und bezog für sich und uns drei Kinder eine sehr kleine Pension. Da ich schon der Zweite war, der aufs Gymnasium ging, hieß es sparen. Ich musste unbedingt ein Stipendium zu ergattern versuchen. Es gelang auch. Es betrug ganze 50 Schilling pro Jahr. Für dieses Stipendium, das im Herbst bei den Anschaffungen viel bedeutete, musste man in der Betragensnote eine Eins und ein Vorzugszeugnis haben. Dasselbe galt unter denselben Voraussetzungen für die Schulgeldermäßigung, die pro Semester von 56 Schilling auf 5 Schilling herunterging.“18 Schließlich besuchte er von 1931 bis 1938 das Innsbrucker Gymnasium in der Angerzellgasse 14, wo sich heute das Akademische Gymnasium befindet, und legte dort am 23. März 1938 seine Matura ab – nur zehn Tage nach der De-facto-Annexion Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich.

Noch bis an sein Lebensende sollte sich Reinhold Stecher an die Worte seines ehemaligen Geschichtelehrers Dr. Alois Böhm erinnern, der den bevorstehenden Zusammenbruch Österreichs und dessen Aufgehen im „Altreich“ am Ende einer Unterrichtsstunde kritisch kommentierte: „In diesen Tagen entscheidet sich, ob Österreich unabhängig bleibt oder nicht. Wenn es nicht unabhängig bleibt, prophezeie ich Folgendes: Dann gibt es in Mitteleuropa eine Machtzusammenballung, die sich die anderen auf Dauer nicht gefallen lassen werden. Wir werden innerhalb von zwei Jahren einen zweiten Weltkrieg haben. Den werden wir genauso verlieren wie den ersten.“19

Wie recht der Historiker damit behalten sollte und wie schrecklich die Konsequenzen daraus für Abermillionen unschuldiger Menschen auf der ganzen Welt sein würden, konnte Reinhold Stecher damals freilich nur erahnen. In einem konnte er sich hingegen von Haus aus völlig sicher sein: „Mit dem 13. März 1938 wurde jeder, der nicht mitmarschierte, ein Staatsbürger dritter Klasse. Und wir konnten, im Glauben von Elternhaus und Jugendbewegung geprägt, nicht mitmarschieren. Wir haben auch nie daran geglaubt, dass es zwischen Christentum und Nationalsozialismus je einen Kompromiss geben konnte.“20 /21

KAPITEL 2 ___

„Nur apokalyptischer Schrecken“ 22
Nationalsozialismus in Tirol und der Zweite Weltkrieg

Drei Tage nach seiner Matura wurde Reinhold Stecher zum „Reichsarbeitsdienst“ eingezogen, eine dem Wehrdienst vorangehende Arbeitspflicht, die im nationalsozialistischen Deutschen Reich seit Juni 1935 jeder junge Mann und ab Beginn des Zweiten Weltkrieges auch jede junge Frau zu absolvieren hatte: „Man nannte dieses erdbraune, mit blinkenden Spaten exerzierende Heer hochtrabend die ‚Schule der Nation‘. Ich war siebzehn Jahre alt und ging neun Monate23 durch diese Schule, die im Wesentlichen darin bestand, mit Schleiferei und Drill das Denken möglichst auszuschalten. Alles eigene Denken wurde mit ‚Stillgestanden!‘, ‚Marsch-Marsch!‘, Spatengriffen, Paradeschrittklopfen und Liedergebrüll, mit Bettenbau und Stiefelkult, mit Schinderei bei der Schwerarbeit der Entsumpfung [des Gebiets um Ehrenwald] und Herumjagen auf dem Exerzierplatz bis zum Todmüdewerden [abgetötet]. Man schluckt die Sprüche und die Propaganda wie die undefinierbaren Bestandteile des Eintopfs. Irgendetwas bleibt bei den meisten weit unter der Bewusstseinsschwelle hängen. Für uns gab es eine einzige Abwehrkraft gegen diesen Wahnsinn: den Glauben. Er hatte auf einmal einen ganz anderen Stellenwert als in der Kinder- und Jugendzeit, die auf einmal so weit weg war wie ein fernes Märchen.“24

Die Erfahrung, von einem zutiefst unmenschlichen System verpflichtet und auf eine gänzlich wesensfremde Ideologie eingeschworen zu werden,25 ließ in Reinhold Stecher, der eigentlich in die Fußstapfen seines verstorbenen Vaters treten und Germanistik studieren wollte, den Entschluss reifen, auf Theologie umzusteigen: „Da hat das Erlebnis des Nationalsozialismus mitgespielt.“ So trat er gleich nach seiner Entlassung aus dem Reichsarbeitsdienst im Jahr 1939 ins Priesterseminar in St. Michael am Brenner ein, wohin es der erst kurz zuvor eingesetzte Bischof Paulus Rusch verlegt hatte. An der ursprünglichen Heimstatt in Innsbruck war die theologische Ausbildung von den Nationalsozialisten erheblich behindert worden, wie auch schon unter ihrem Druck das erste Ausweichquartier in der Gemeinde Volders aufgegeben werden musste. Allerdings dauerte es nicht lange und die Gestapo vertrieb die jungen Theologen auch aus dem Wipptal, weswegen Reinhold Stecher und seine Kommilitonen schließlich ihr Studium in St. Georgen am Längsee in Kärnten fortsetzten.

Diese ständigen Repressionen gingen nachweislich auf einen Mann zurück, der es sich nicht nur in den Kopf gesetzt hatte, die Priesterausbildung in Tirol und Vorarlberg zu erschweren beziehungsweise zu verunmöglichen – „Ich dulde kein Priesterseminar in meinem Land!“ –, sondern ebenso das perverse Ziel verfolgte, Adolf Hitler zu dessen 50. Geburtstag am 20. April 1939 einen „klosterfreien Gau“ zu übergeben: Franz Hofer, der seit dem 24. Mai 1938 unnachgiebig und mit schier grenzenloser Brutalität als Gauleiter herrschte.

Mangels einer größeren Anzahl von Juden in der Bevölkerung sowie kaum vorhandener kommunistischer und marxistischer Gegner26 nahm der politisch ehrgeizige und äußerst selbstgefällige Hofer daher von Anbeginn die katholische Kirche ins Visier: „Man kann sich die Kirchenverfolgung nicht vorstellen, wie brutal diese in Tirol war.“27 Nach Auffassung der nationalsozialistischen Regierung waren die Orden und ihre Mitglieder nämlich der militante Arm der katholischen Kirche, die im Weltbild der neuen Herrscher keine Zukunft haben durfte und die es deshalb mit Stumpf und Stiel auszurotten galt.

So setzte im ganzen Land bald die sukzessive Aufhebung und Beschlagnahmung der Klöster und sämtlicher anderer katholischer Einrichtungen ein, wie am Beispiel der Schließung der Theologischen Fakultät und des von den Jesuiten geführten Canisianums eindrücklich gezeigt werden kann:

Wenige Wochen nach dem „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich, am 12. März 1938, erfolgte die Aufhebung der Katholisch-Theologischen Fakultät in Innsbruck und im August 1939 wurde über den gesamten Jesuitenorden das Gauverbot für Tirol verhängt. Dies wurde unter anderem mit der „Neuregelung des österreichischen Hochschulwesens“ beziehungsweise der „Angleichung des österreichischen Hochschulwesens an das Altreich anlässlich der Rückgliederung der Ostmark“ begründet und führte als erste Maßnahme am 20. Juli 1938 zur Schließung der Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck durch das Ministerium für innere und kulturelle Angelegenheiten in Wien mit Zustellung folgenden Dokuments:

„Zl. 13543/​Ia Wien, 20. Juli 1938

Auflassung der theologischen Fakultät Innsbruck

An das Dekanat der theologischen Fakultät,

zu Handen des Herrn Dekans oder

seines Stellvertreters, Innsbruck

Im Zuge der Neuregelung des österreichischen Hochschulwesens wird die theologische Fakultät der Universität Innsbruck mit dem Tage der Zustellung dieses Erlasses aufgelöst. Über die dienstrechtliche Behandlung der Professoren werden gesondert Weisungen ergehen.

Der Staatskommissar:
Plattner (D fol 333)“

Hugo Rahner, der seit März 1938 das Amt des Vizerektors des Jesuitenkollegs bekleidete, weil sich dessen Rektor Florian Schlagenhaufen nach dem „Anschluss“ Österreichs an Hitlerdeutschland seiner Aufgabe nicht mehr gewachsen fühlte, skizzierte die Geschehnisse von damals wie folgt: „Am gleichen Abend des 22. Juli wurden die Bestände der Seminarbibliotheken aufgenommen, die Fakultätsräume blieben unter Polizeiaufsicht, und am 4./​5. August fand die Übergabe der ehemaligen Fakultät an die Leitung der Universität statt. Das schien das Ende zu sein.“

Ein symbolträchtiges – wenn letzten Endes auch hoffnungsloses – Ankämpfen gegen die neuen Umstände war ein Placet des Vatikans, welches erlaubte, im Konvikt Canisianum den Lehrbetrieb weiterzuführen, da es durch Papst Pius XI. zur „Pontificia Facultas Theologica“ mit dem Recht, akademische Grade zu erteilen, erhoben wurde. Dennoch wurde „das Internat für Weltpriestertheologen, das Canisianum, das wir geleitet haben, enteignet“. Aufgrund des „Gesetzes über die Unterbringung von öffentlichen Dienststellen“ exekutierte Gauleiter Franz Hofer die vom Reichsstatthalter in Österreich erlassene Order vom 22. November 1938, das Gebäude des Canisianums mit den dazugehörigen Grundstücken dem Oberfinanzpräsidenten von Tirol zur Nutzung auf unbestimmte Zeit zu übergeben. Bis Jahresende hatten die Innsbrucker Jesuiten sämtliche Zimmer des Konvikts zu räumen, und letztlich nützte ihnen auch aller Widerstand und alles kompromissbereite Taktieren nichts mehr; sie hatten lediglich etwas Zeit gewonnen. Bereits am 1. März 1939 erfolgte die Übergabe des gesamten Canisianums, in dem auch jeglicher Lehrbetrieb eingestellt wurde. Unterdessen hatten die neuen Machthaber die Maske von Gesprächs- und Verhandlungsbereitschaft fallengelassen, fanden offene politische Repressionen gegen die Societas Jesu und ihre Niederlassungen in ganz Österreich statt, und es wurde den Jesuiten generell verboten, an Schulen zu unterrichten.28

Derartiges und noch Schlimmeres stand an der Tagesordnung und provozierte aufseiten des katholischen Widerstandes unterschiedlichste Reaktionen: „Ich muss gestehen, dass ich als 18-Jähriger ein Feindbild hatte“, erinnerte sich Reinhold Stecher an diese Jahre, weil für ihn, wie für viele andere seiner Generation, Christentum und Nationalsozialismus fundamental unvereinbar waren. „Die Verfolgung hatte ein Schwarz-Weiß-Denken hervorgebracht: ‚Wer nicht für mich ist, ist wider mich.‘ Es gab so etwas wie eine Schlachtreihenmentalität. Es hat die Reife der späteren Jahre gebraucht, von diesem einseitigen Schema abzukommen, mildere Urteile zu fällen und Gemeinsamkeiten neu aufzubauen. Es gilt für jede Epoche die Bitte nach der heiligen Wandlung: Herr, lass deine Kirche wachsen in der Liebe!“29

Dieses Zitat ist menschlich umso beeindruckender zu lesen, führt man sich die weiteren Geschehnisse und das traumatisierende Durchlebenmüssen der folgenden Kriegsjahre vor Augen, die Reinhold Stecher folgendermaßen wiedergibt: „Meine Familie gehörte zu jenem Teil der österreichischen Bevölkerung, der dieses Regime von der ersten Stunde an als Schrecken erlebt hat.“30 So kamen alle drei Brüder hintereinander in Gestapo-Haft und wurden anschließend in den Kampfeinsatz geschickt.

Helmut Stecher, der Älteste, der 1938 als junger Franziskaner in Salzburg war und sich am sogenannten „Salzburger Fenstersturz“31 beteiligt hatte, schreibt darüber in seinen Erinnerungen: „Der Salzburger Fenstersturz, der uns vier Wochen Exerzitien in der Polizeikaserne und im Landesgericht kostet, leitet diese bewegte Zeit ein. Trauer, Langeweile und andere Gefangenenhauspflanzen überwinden wir dank unserer Jugend und der erblichen Belastung franziskanischen Frohsinns.“ Später wird er nach Frankfurt an der Oder verlegt: „Zwei Wochen treibe ich in Sonderausbildung Bodenkultur. Dann tauche ich in der Masse der RAD-Männer unter, eine Nummer von den vielen. Manches wird mir am Anfang recht hart. Ausgang gibt es lange keinen und später einige Male am Sonntagabend. Zweimal gelingt es uns wenigen, einen Gottesdienst im kleinen Diasporakirchlein des Preußenstädtchens besuchen zu dürfen. Wir exerzieren mehr, als wir arbeiten … Ja, unsere Waffe ist weniger der Spaten, mehr die Hoffnung, dass es auch vorübergeht, ein guter Humor, wenn es nicht gar zu sinnlos, seelenlos und brutal zugeht und man mit dem Verbeißen und Hinunterschlucken nicht mehr nachkommt. … Am 2. November 1938 heißt es Einrücken zum Gebirgs-Pionier-Ersatzbataillon 82 in Salzburg, Lager Alpenstraße. Später ging es dann in die Steiermark, und dann kam der Einsatz an der Front in Finnland und im hohen Norden.“32

Adolf Hitler, vermutlich gezeichnet von Gottfried Stecher

Gottfried Stecher, der jüngere und kongeniale Bruder von Reinhold, der wie dieser künstlerisch begabt war und gerne zeichnete, wurde 1941 verhaftet: „Er ist noch nicht sechzehn. Aber er hat eine Führerstelle in der ‚Pflicht-HJ‘ aus weltanschaulichen Gründen abgelehnt, und er hat die Ministrantengruppe in Wilten geführt. Und außerdem fand die Gestapo einige seiner wenig schmeichelhaften Karikaturen von Adolf dem Großartigen … Und darum ist er jetzt im Gefängnis und wird von vier Gestapoleuten mit Stock auf dem Tisch die halbe Nacht verhört.“33

Am 4. April 1945 fällt Gottfried Stecher, erst zwanzigjährig, bei einem Gefecht „irgendwo in der Gegend zwischen Oberschlesien und der Tschechei“, kurz nachdem er seiner Mutter eine ermutigende Karte aus dem Kampfgebiet geschrieben hatte, die Reinhold Stecher über alle Jahre hinweg aufgehoben hat:

„2. April 1945. Liebe Mama, mach’ dir ja keine Sorgen um mich. Eben habe ich bei der heiligen Messe, die ein Divisionspfarrer feierte, ministriert und vorgebetet wie daheim. Ich war auch bei der heiligen Kommunion. Wir sind in Gottes Hand. Es kann kommen was will. Mit herzlichem Gruß, dein Gottfried … “34

Derselbe Geist erfüllte wohl auch den Seminaristen Reinhold Stecher, dessen Glaube damals ebenfalls einen eindeutigen Hang zur Eschatologie hatte: „Man hatte auf weiten Strecken kaum eine Hoffnung, dass sich das Blatt wenden würde. Wer in der Sache Jesu Christi stehen wollte, musste den Blick auf die Ewigkeit richten und darauf, dass Jesus der Herr der Geschichte ist … “35

Vielleicht wurde dieser endzeitliche Eindruck auch durch den gewaltsamen Tod des Pfarrers von Götzens, Otto Neururer, am 30. Mai 1940 im KZ Buchenwald verstärkt, der seiner priesterlichen Pflicht gehorchend das Martyrium unter der Nazidiktatur erlitten hatte – wie nach seinem christlichen Vorbild die Tiroler Priester Jakob Gapp und Franz Reinisch sowie der Provikar der Apostolischen Administratur Innsbruck-Feldkirch, Carl Lampert – und unmittelbar danach bereits in der Heimat als Seliger verehrt wurde. Reinhold Stecher, der die Beisetzung der Asche seines ehemaligen Volksschulkatecheten in Götzens, unter der Beteiligung von zahlreichen Beamten der Geheimen Staatspolizei, mitverfolgt hat36 und der sich unter anderem später für dessen Seligsprechung bei Papst Johannes Paul II. verwendete, verspürte dabei sehr wahrscheinlich das Anwachsen seines eigenen inneren Widerstandes, der ihn dazu drängte, selbst ein Zeichen nach außen hin zu setzen, auch wenn er von sich nie behauptete, ein Held gewesen zu sein: „In Wirklichkeit [kann man sich] nicht vorstellen, in welcher Lage ein ‚Dissident‘ in einem tödlich totalitären Staat ist. Man kann sich nicht vorstellen, mit welcher Urgewalt der Nationalsozialismus über die Menschen hereingebrochen ist, zum Teil mit imponierenden Veränderungen für das Elend der Arbeitslosen, mit neuen Machtgefühlen, ja Großmachtgefühlen in der Erinnerung an die dümmlichen Friedensdiktate von Versailles und St. Germain, die letztlich dem nationalen Fanatismus nur auf die Beine geholfen haben. Man kann sich nicht vorstellen, wie allein man in der Rolle des Nicht-Mitlaufens, des Menschen im Untergrund ist. Nur wenigen kann man trauen – und selbst denen, denen man trauen kann, darf man manches nicht sagen, damit sie nicht in den brutalen Verhörmethoden der Gestapo sich das herausholen lassen. Mein kleiner Bruder, der auch gefallen ist, war in der Gruppe der Prof. [Franz] Mayr [sic!], der bei Kriegsende vor dem Landhaus noch erschossen wurde. Mein Bruder hat davon weder uns Brüdern noch der Mutter etwas gesagt, weil wir alle schon in den Händen der Gestapo gewesen waren und darum sofort ins KZ gekommen wären. Die da heute ihre Vorwürfe an die Nicht-Nazis von damals schreiben, haben keine Ahnung, wie die Situation war. Polittyrannen muss man Widerstand leisten, bevor sie im Sattel sitzen. Und das war damals schon vorbei. Es gab nur noch eine einzige Macht, die effizient hätte auftreten können: die Wehrmacht. Und wir haben gesehen, dass das auch schiefgegangen ist. Sonst gibt es nur den moralischen Widerstand – und den mit hohem Einsatz: Verlust von Existenz, Laufbahn, Zukunft, Rechtsschutz, Freiheit, bis zum Leben.“37

Dennoch nahm Reinhold Stecher die Gefahr auf sich und beteiligte sich an der Organisation einer verbotenen Wallfahrt nach Maria Waldrast: „In Zusammenhang mit der Aufhebung des Klosters Maria Waldrast und der Sperre der beliebten Wallfahrtskirche schlägt auch unsere Stunde, meine und die meiner Freunde im Priesterseminar. Es findet eine Protestwallfahrt mit mehreren hundert Personen aus dem Wipp- und Stubaital statt, die demonstrativ vor der verschlossenen Kirche den Rosenkranz betet. Das war noch nie dagewesen. Am nächsten Tag schlägt die Gestapo zu: Etwa sechzig werden verhaftet, einen Kern behält man. … Wir sind wochenlang in Einzelhaft, die einzige Unterbrechung sind die stundenlangen Verhöre.“38 /39

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