cover
Marlies Gruber Mut Zum Genuss Warum uns das gute Leben gesund und glücklich macht edition a

Alle Rechte vorbehalten
© 2015 edition a, Wien
www.edition-a.at

Lektorat: Sebastian Maurer
Cover: Kyungmi Park
Gestaltung: Hidsch

Gesetzt in der Premiéra
Gedruckt in Europa

1 2 3 4 5 — 18 17 16 15

Print-ISBN: 978-3-99001-121-8

eBook-Herstellung und Auslieferung:

www.brocom.de

INHALT

VORWORT

1 EINLEITUNG ODER:
WARUM MUTIG SEIN?

2 DIE KUNST ZU GENIESSEN ODER:
WOVON IST DIE REDE?

2.1 Was ist Genuss?

2.2 Wahre Feinspitze entkommen der Gier

2.2.1 Ein Kommen und Gehen: Genuss und Askese

2.2.2 Vom Genuss der Genügsamkeit

2.2.3 Schätzen, was man hat

2.2.4 Fülle durch Konzentration

2.3 Sucht sucht

2.4 Können wir genießen?

3 EINE KULTURTECHNIK IN DER KRISE ODER:
WARUM KLAPPT ES OFT NICHT?

3.1 Die Gesundheitsgesellschaft: vom sechsten Kondratieff zur Ideologie

3.2 Gesunde Bürger im gesunden Staat

3.3 Schlanker Wahn

3.4 Stigmatisierung des Körperlichen

3.5 Die Wirkung von Verboten

3.6 Infantile Züge: freiwillige Schranken

3.7 Hin zu mündigen Entscheidungen

3.8 Risiko, Gefahr und Entfremdung

4 DER GESUNDHEIT ZULIEBE ODER:
WARUM LOHNT ES SICH?

4.1 Was heißt schon gesund?

4.2 Wie entsteht Gesundheit?

4.3 Genuss fördert Gesundheit

4.4 Genuss gegen Stress

4.5 Genuss stärkt Abwehrkräfte

4.6 Genießer essen anders

4.7 Wer genießt, hat gute Chancen auf Normalgewicht

4.8 Genuss macht glücklich

4.9 Genuss für Toleranz und Respekt

5 GENIESSEN TRAINIEREN ODER:
WIE GEHT’S?

5.1 Vier Wege zum Genuss

5.1.1 Selbstfürsorge

5.1.2 Zeitsouveränität

5.1.3 Achtsamkeit und Finetuning der Sinne

5.1.4 Wissen und gutes Gewissen

6 EPILOG ODER:
FREI VON GEWISSENSBISSEN

QUELLEN

VORWORT

Sich mit Genuss zu beschäftigen, finde ich genussvoll. Und ich beschäftige mich schon einige Jahre mit dem Thema. Anfänglich war ich skeptisch, ob Genuss denn etwas gar Oberflächliches ist. Bei der Durchführung und der Sichtung der Ergebnisse des Ersten Österreichischen Genussbarometers, einer Umfrage mit 2000 Personen zu ihrem Genussverständnis und den wesentlichen Faktoren für das Genießen, wurde schnell klar: Genießen ist nicht nur Spaß, Genießen kann eine ernste Sache sein. Wissenschaftliche Untersuchungen zu dem Thema häufen sich. Das war 2010 auch Anlass, den ersten Genuss-Kongress zu organisieren: Wenn es sonst beim Thema Essen vorrangig um das WAS geht, stand hier das WIE zur Diskussion – nicht die Hard Facts, sondern die Soft Skills. Wie sehr Soft Skills das Leben glätten können, kennen wir aus vielen anderen Bereichen. Genießen zu können, hat großes Potenzial: Es lässt einen gelassener, optimistischer, froher, kreativer, ausgeglichener und schließlich auch gesünder durchs Leben gehen.

Der Großteil der Befragten gibt an, ein Genussmensch zu sein. Schaut man genau hin, zeigt sich, dass sieben von zehn zwar gerne genießen, aber das nicht völlig genießen können. Das schlechte Gewissen macht ihnen einen Strich durch die Rechnung. Oftmals gründet es auf falschen Annahmen über »gesund« und »ungesund«, oft in tief verankerten Selbstrestriktionen, gesellschaftlichen Geboten und Verboten oder auf unmündigen Entscheidungen. Es ist definitiv nicht leicht. Genießen zu lernen gleicht dem Erlernen einer Lebenskunst. Selbst wer schon gut unterwegs ist, kann immer noch ein we nig nachlegen, Neues entdecken, Neues erfahren. Es gibt also immer Luft nach oben.

Dabei kann sich Genießen über zahlreiche Lebensbereiche erstrecken. Entscheidend dafür, ob wir etwas als genussvoll wahrnehmen, sind in erster Linie unsere grundlegende Haltung und Einstellung, unser Denken, unsere Erwartungen, auch unsere Aufmerksamkeit und Wahrnehmung über unsere Sinne. Wie unterscheidet sich Genuss von Lust, von Gier, von Sucht? Viele Basics in dem Buch sind allgemein gehalten und lassen sich auf etliche Erfahrungswelten umlegen. Der Haupttenor liegt jedoch beim Essen und Trinken – aus zwei Gründen: Zum einen, weil das die Themen sind, mit denen ich mein Brot verdiene. Zum anderen bildet Kulinarik eine fantastische Ressource für das Genießen. Und das tagtäglich.

Tauchen Sie ein in eine lukullische Welt!

1
EINLEITUNG ODER:
WARUM MUTIG SEIN?

Ich könnte kurz antworten: Weil viele Angst haben.

Angst vor dem zu dick werden, vor Pestiziden, vor Zusatzstoffen, vor zu viel Technologie, vor Unverträglichkeiten, vor Krankheiten, vor Täuschung … Angst davor, etwas falsch zu machen, Grenzen zu überschreiten, sich gehen zu lassen. Dass grundsätzlich Angst mitschwingt, liegt in der Natur der Sache: Evolutionär geht es um die Urangst, vergiftet zu werden. Heute dagegen werden in vielen Schattierungen Ängste vor dem Essen geschürt. Auf Angst gründet auch ein verkrampfter, unentspannter Umgang. Dabei kann Essen und Trinken wie ein herrliches Panorama zu absoluten Höhenflügen verleiten. Man muss sich nur trauen. Jemand, der an Höhenangst leidet und dennoch über schmale Grate einen Berggipfel erreicht, wird mit Glücksgefühlen belohnt. Ängste zu überwinden macht frei. Wer sie verdrängt, verstärkt sie nur. Wer sie nicht kennt, vermeidet oder verleugnet, dem fehlt das Selbstvertrauen zum Mutigsein. Denn Mut gibt es nur im Bewusstsein der Angst.

Mut zum Genuss ist deswegen gefordert, weil sich eine Verbots- und Verzichtskultur beginnt auszubreiten. Nicht mehr rauchen, Wein und Bier alkoholfrei trinken, fettarm essen. Sich Restriktionen unterzuordnen mag für manche der rechte Weg sein. Doch sich zu fügen bedeutet immer, einen Kompromiss einzugehen. Ein Kompromiss: wofür? Die Einen ha ben Angst vor Erkrankung, die Anderen bangen vor sozialer Ausgrenzung. Natürlich macht krank sein ebenso wenig froh, wie nicht dazuzugehören. Doch abgeschliffen, eingepasst, ordentlich und kontrolliert – fremdbestimmt zu leben, widerspricht gänzlich einem guten Leben. Uns von äußeren Begrenzungen zu lösen, Widerstände zu überwinden, kostet Kraft und ist mit Aufwand verbunden. Doch das macht innere Freiheit aus, selbstbestimmt zu entscheiden, was für einen gut ist und was glücklich macht. Mutig ist, Ängste nicht abzulehnen, sondern sie einzubeziehen. Sich nicht für das Eine oder das Andere zu entscheiden, sondern den richtigen Ausgleich zu finden.

2
DIE KUNST ZU GENIESSEN ODER:
WOVON IST DIE REDE?

Können wir noch genießen? Das ist eine höchstpersönliche Frage. Denn ob geistig, körperlich oder kulinarisch – genießen ist immer individuell. Für jeden bedeutet es etwas anderes und jeder braucht etwas anderes. Erlebt der eine Glücksgefühle, wenn er auf das Meer schaut und ein Glas Wein trinkt, ist für den Anderen ein zwei-Stunden-Lauf pure Freude oder für den nächsten stundenlanges Zeitunglesen oder nur für eine Minute die Sonnenstrahlen auf der Haut spüren. Manche holen sich aus dem Alltag die Kleinigkeiten heraus und andere laufen an ihnen vorbei. Ist die Fähigkeit für das bewusste Wahrnehmen und Innehalten angeboren? Oder können wir sie trainieren? Müssen wir sie gar trainieren? Nur an den Genen kann es nicht liegen. Es gibt Kinder, die als kleine Feinspitze auf die Welt kommen und deren Geschwister eher nach dem Motto »Hauptsache von überall viel« leben. Die Forschung ist sich noch nicht ganz im Klaren, ob und welche Prägung darüber entscheidet. Dagegen sorgt das Savoir-vivre eines Landes jedenfalls für eine entsprechende Grundtönung.

Savoir-vivre, wörtlich, das »Verstehen zu leben«, wird in Frankreich zwar nur für »gute Umgangsformen« verwendet, im Deutschen ist es die Lebenskunst. Und die beschäftigte schon in der Antike die großen Philosophen, galt damals doch die Philosophie als der Ratgeber für das alltägliche Leben. Sokrates setzte die Philosophie gar mit der Lebenskunst (ars vivendi) gleich, sein Schüler Platon bezeichnete sie als die»Fürsorge für die Seele«. Marc Aurel (121-180) sammelte in den »Selbstbetrachtungen« seine Reflexionen zu einem guten Leben. Auch Michel de Montaigne schrieb im 16. Jahrhundert zur Lebenskunst. Geboren in der Trüffel-Hochburg Perigord, als Urenkel von Ramon Felipe Eyquem, war ihm das wohl in die Wiege gelegt worden. (Der Urgroßvater war zuerst als Wein-, Fisch- und Indigohändler in Bordeaux reich geworden und erwarb schließlich das Château d’Yquem, mittlerweile eines der berühmtesten Weingüter weltweit.)

Über die Jahrhunderte war die Frage danach, wie wir gut leben sollen, eng mit traditionellen Werten verknüpft – Fleiß, Tugend, Askese. Nur Spaß zu haben ist zu wenig. Heute sagt der Wirtschaftsprofessor und Glücksforscher Matthias Bindwanger in einem Interview mit dem UBS-Magazin: »Wir beschäftigen uns in unserer Gesellschaft intensiv damit, wie wir Geld verdienen können. Aber wir lernen sehr wenig darüber, wie wir gut leben und unser Geld intelligent ausgeben können. Der Verlust an Savoir-vivre ist teilweise der Preis für unseren Wohlstand. Wir sind völlig verplant durch unseren Lebensstil und dadurch oft nicht mehr in der Lage, spontan zu handeln«. Ganz grundlegend lässt sich also die Frage stellen, wie wir mit der Fülle an Möglichkeiten und an Materiellem umgehen, und welche Filter gewinnbringend sein können. Einige Menschen können durch das Verfeinern ihrer Sinne bewusst Glücksmomente im Alltag erleben und nehmen das als eigene Ressource wahr, mit der sie ihr Wohlbefinden und ihre Lebensqualität steigern können. Das muss nicht einmal lange dauern: Laut einer Umfrage des Marktforschungsinstituts market im August 2014 reichen für die Mehrheit der Befragten (62 %) für ein genussvolles Erlebnis einige Minuten aus, wenn diese wirklich intensiv sind (vgl. Infografik). Aufgrund der eigenen Biographie oder Erkrankungen wie Depressionen tun sich andere durchaus schwer. Genießen können fällt nicht allen in den Schoß – aber es ist erlernbar. Wer gedankenverloren und wenig achtsam durch den Alltag geht oder seine Zeit komplett verplant, ohne Zeitpolster, um für sich selbst Platz einzuräumen, muss wahrscheinlich intensiver üben. Trainieren müssen aber auch die Profis – ähnlich wie im Spitzensport. Auch sie können immer wieder Neues erfahren und die Intensität steigern.

image

2.1 WAS IST GENUSS?

»Genuss ist die Handlung in der Gegenwart, die Hoffnung für die Zukunft und die Erinnerung an vergangene Dinge.«

-Aristoteles

Orientiert man sich am Beispiel Essen, so treffen all diese drei Aspekte zu. In der Gegenwart: Die sensorische Wahrnehmung von gut schmeckenden Speisen macht erwiesenermaßen Menschen ruhiger, entspannter und zufriedener. Für die Zukunft: Sich auf kulinarische Ereignisse zu freuen, ist keine Seltenheit. Manchmal geht es darum, satt zu werden, dann wieder darum, einen bestimmten Gusto zu stillen oder weniger ums Essen und mehr um die Gesellschaft. Egal wie, Vorfreude und Belohnung sind eng aneinander gekoppelt. Ihre Mechanismen steuern das Verhalten zu Zielen, die das Überleben sichern, wie Nahrungsaufnahme und Fortpflanzung. Zur Belohnung gibt es eine Ausschüttung: jene von Wohlfühlhormonen. Bei Menschen ist der Belohnungskreislauf komplex und steht mit mehreren anderen Hirnregionen in Zusammenhang, die mit Gefühlserlebnissen verbunden sind, wie auch beim Essen. Die präzisen Pfade der für Genuss zuständigen Substanzen im Zentralnervensystem sind noch nicht vollständig erforscht. Entscheidende Bedeutung kommt jedoch den Nervenzellen des Zentralnervensystems zu, die dem ventralen Tegmentum entstammen. Leiten diese Zellen einen Impuls weiter, wird der Neurotransmitter Dopamin freigesetzt. Und Dopamin ist schließlich der Key Player in der Genuss- und Belohnungsphysiologie.

Die Erinnerung: Gerade ans Essen in der Kindheit oder bei speziellen Anlässen kann man sich oft ein Leben lang erinnern. Omas samstägliche Erdäpfelsuppe oder ihren Apfelstrudel habe ich heute noch in der Nase. Was wir von klein an als wohlschmeckend und nährend mitbekommen haben, wirkt auch heute noch und vermittelt ähnliche Gefühle – in dem Fall Wärme und Geborgenheit. Es gibt auch Menschen, die wiederkehrende Feste nur durchs Essen unterscheiden – der Geburtstag, an dem es Tapas gab, Curry, Fondue oder eine Wildsau … Manche merken sich vielleicht nicht den Namen des Lokals, wissen aber genau über das mehrgängige Menü zu berichten. Ebenso leben Urlaubserinnerungen häufig von »Ess-Kapaden« und der Atmosphäre rundherum. Neben dem aktuellen Erleben und der Vorfreude gehören also angenehme Erinnerungen zu den wichtigsten Erfahrungen von Freude und Entspannung.

Der gängigen Definition nach ist Genuss eine positive Sinnesempfindung, die mit körperlichem und/oder geistigem Wohlbefinden verbunden ist. Die Genussfelder lassen sich demnach in kulinarische, in kulturelle mit etwa Theater, Musik, Literatur und in körperliche mit Sexualität, Sport oder Massagen einteilen. Was jemand als genussvoll wahrnimmt, ist äußerst subjektiv und von Mensch zu Mensch verschieden. Genussfähigkeit bildet jedenfalls die Voraussetzung dafür. Der Schriftsteller François de La Rochefoucauld hat dieses Faktum auf die Kulinarik bezogen kurz gefasst: »Essen ist ein Bedürfnis, Genießen ist eine Kunst.« Schließlich muss man eine Kunst erst erlernen – die Bildhauerei oder das Musizieren ebenso wie das Kochen, Genießen, Lieben oder Leben. Immer sind Neugierde, Leidenschaft, Interesse, ein intensives Beobachten und Erleben, Selbsterfahrung, Kontemplation und Reflexion notwendig, um zum Aficionado aufzusteigen. Denn selbstverständlich ist das Genießen ganz und gar nicht.

Natürlich ist Genuss auch alleine möglich, vom Linguistischen her deutet es aber eine Gemeinschaftskomponente an. Genießen und Genosse hängen ebenso zusammen. Beides beruht dem etymologischen Wörterbuch Kluge zufolge auf dem nahezu gleichen germanischen Stamm »neuta/nauta«. Das bedeutet ursprünglich »Nützen oder Vorteil haben« und in der Gemeinschaftsbildung »der das Vieh gemeinsam hat«. Zudem weist die Vorsilbe »ge-« ursprünglich bei vielen Worten auf Zusammensein hin. Dass während gemeinsamer Mahlzeiten zwei zu Kumpel (compain, compagno, von lat. panis, Brot) werden können, liegt aber nicht nur daran: Wir essen und reden mit dem Mund. Gemeinsam Essen führt zum Austausch, schafft Nähe und Zusammenhalt, fördert emotionale Bindungen.

Genuss ist nicht dasselbe wie Lust. Lust kann als ein kurzfristiger und mitunter auch kurzsichtiger Konsum gesehen werden, der spontan geweckte Bedürfnisse befriedigt. Beim Genuss steuert der Kopf mit, bei der Lust geht es um das Animalische, das Instinktive. Bei der Lust hat die Vernunft Pause. Lustvolles kennt keine Grenzen. Mit Lust zu essen bedeutet, den Appetit zu stillen, zu verschlingen, sich fallen zu lassen. Genießen hat dagegen mit Selbststeuerung, Maßhalten, Autonomie und Zeit zu tun. Genießen geht mit bewusster Wahrnehmung und bewusster Gestaltung einher. Genuss unterscheidet sich daher auch eklatant von Gier und Sucht.

2.2 WAHRE FEINSPITZE ENTKOMMEN DER GIER

Menschen sind Gewohnheitstiere: So gewöhnen wir uns auch an, das Gute und die Ansprüche an die Produkte und Zeiten, mit denen wir uns verwöhnen, zu steigern. Was zuerst als Genuss wahrgenommen wird, geht dann in puren Konsum über. Das Konzept dahinter nennt sich die hedonistische Tretmühle. Es ist also wie ein Genuss-Hamsterrad: Die genussvollen Eindrücke Überwerfen sich, man nimmt sie in ihren Details nicht mehr wahr, schätzt sie weniger, braucht immer höhere Dosen, um für Genusserlebnisse empfänglich zu sein. Man wird ihrer fast überdrüssig. Und tatsächlich kann es schwierig sein, die Kette an gustatorischen, oder anderen, Höhepunkten zu unterbrechen. Manche meinen gar, süchtig zu sein. Doch dazu später. Bleiben wir bei der Gier: Wir wollen immer mehr und mehr … immer aufregender, spannender, ekstatischer. Der Duden beschreibt sie als ein »auf Genuss und Befriedigung, Besitz und Erfüllung von Wünschen gerichtetes, heftiges, maßloses Verlangen". Kritisch daran ist das »Zuviel des Guten«.

Zum rechten Umgang mit Genüsslichem lässt sich eine Reihe an Aphorismen der vergangenen zweitausend Jahre sammeln. So meinte der griechische Schriftsteller Plutarch (~45 bis ~125) etwa: »Alle Vergnügungen auf alle Weise genießen zu wollen, ist unvernünftig; alle ganz zu vermeiden, gefühllos.« Christoph Martin Wieland, deutscher Dichter, Übersetzer und Herausgeber (1733-1813), konstatierte wiederum »Der allein ist weise, der im Sparen zu genießen, im Genuss zu sparen weiß.« Dass es auf zumindest zeitweise Askese ankommt, fasste auch David Friedrich Strauß, deutscher Schriftsteller, Philosoph und Theologe, 1808-1874, zusammen: »Wer weiß zu leben? Wer zu leiden weiß. Wer zu genießen? Wer zu meiden weiß.« Und die österreichische Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach (1830-1916) wies auf das rechte Maß hin: »Fortwährendem Entbehren folgt Stumpfheit ebenso gewiss wie übermäßigem Genuss.«

2.2.1 Ein Kommen und Gehen: Genuss und Askese

Das einzige Mittel gegen Gier und Überdruss ist die bewusste Auszeit von entsprechenden Stimuli: eine Phase der Askese. Askese stammt aus dem Griechischen und ist vom Zeitwort askeín (ἀσκεῖν) abgeleitet, das soviel wie ›üben‹ bedeutet. Seit der Antike wird damit eine Selbstschulung verstanden, um bestimmte Tugenden oder Fähigkeiten, Selbstkontrolle und/ oder einen gefestigten Charakter zu erlangen.

Askese nimmt in der Überflussgesellschaft eine wesentliche Funktion ein und wurde gar als pädagogisches Prinzip formuliert. Genuss und Askese wirken wechselseitig aufeinander: Ohne Zeiten der Abstinenz ist kein Genuss möglich, ohne Zeiten des Genießens keine Enthaltsamkeit.

Dabei haben sich mehrere Aspekte der Askese als bedeutsam herausgestellt:

Der Bedürfnisaufschub: Ein Bedürfnis muss nicht unmittelbar befriedigt werden.

Die Anstrengung: Die Enthaltsamkeit ist mit einer gewissen Überwindung verbunden. Wer an einen asketischen Lebensstil gewöhnt ist, erfährt keinen Genussverzicht.

Die Entscheidung: Phasen der Enthaltsamkeit werden bewusst entschieden, also auch bewusst begonnen und bewusst beendet.

Die Autonomie: Askese wird einem nicht von außen oktroyiert – sie ist ein Zeichen autonomer Lebensführung und resultiert aus einem selbstfürsorglichen Umgang.

Menschen verzichten phasenweise auf unterschiedliche Dinge: Die Nahrungskarenz beim Fasten zählt sicher zu den häufigsten Varianten. Auch einzelne Genussmittel werden, vor allem in der Fastenzeit, häufig ausgespart, wie Fleisch, Alkohol oder Süßes. Auch sexuelle Enthaltsamkeit oder Kommunikationsverzicht (Schweigegebot) erfahren einen Aufschwung.

Zwanghaftes Asketentum kann aber auch krank machen. Das zeigen Befunde von Patienten mit koronarer Herzkrankheit. Mehr als andere neigen solche Menschen dazu, alle Dinge übernehmen zu wollen, ständig aktiv zu sein, Krankheitssymptome kleinzureden und sich nichts zu gönnen. Ob letzteres daran liegt, dass sie es nicht wollen oder ob sie es nicht können, ist noch nicht erforscht.

2.2.2 Vom Genuss der Genügsamkeit

Menschen, die langfristig freiwillig auf etwas verzichten, werten herkömmliche Werte um. »Sie negieren das, was für uns der Inbegriff der Lebensqualität geworden ist, also Wohlstand, Komfort, Sicherheit, mein Haus, mein Auto, mein Boot«, sagt der Theologe und Buchautor Hermann Detering. Asketen orientieren ihr Leben jenseits des Konsums und finden Erfüllung und Sinn abseits des Mainstreams. Asketen sind durchwegs hart zu sich selbst, entziehen sich aber auch dem gesellschaftlichen Spiel von Macht und Einfluss. In früheren Zeiten wurde Askese meist mit religiöser Motivation und Transzendenz begründet. Heute können, je nach eigener Sichtweise, auch jene als Asketen gelten, die grundsätzlich soweit wie möglich auf Konsum verzichten, vegan leben, sich nur von Lebensmittelabfällen ernähren oder einen ökologischen Lebensstil pflegen …

Was lässt sich von Hardcore-Asketen vergangener Tage wie Wanderasketen oder Bettelmönchen abschauen? »Man kann lernen, dass der Weg zur inneren Freiheit immer über den Verzicht geht. Verzicht auf übermäßiges Essen und übermäßigen Alkoholgenuss und alles, was uns abhängig und unfrei gemacht hat, ist ein guter Anfang«, so der Theologe Detering. Die kleine Schwester der Askese ist übrigens die Genügsamkeit: Es muss also nicht immer völliger Verzicht sein – wissen, wann es genug ist, genügt auch.

Wie wichtig zeitweiliger Verzicht für das Genießen ist, veranschaulicht auch die Sage »Speck und Erbsen« aus dem Jahr 1926:

»Der Kurfürst Jan Willem hatte sich einmal auf der Jagd im Königsforste zu Bensberg verirrt und wußte sich gar nicht zurechtzufinden. Er ging viele Stunden lang bis über Mittag und wurde bei der Anstrengung gewahr, wie der Hunger tut. Der ist bei so vornehmen Leuten ein höchst seltener Gast, und der Kurfürst hat ihn wohl zum erstenmal kennengelernt. Doch mußte er noch bergauf, bergab in dem großen Walde gehen, ehe er an ein Haus kam. Da sank er vor Ermüdung zusammen und bat um Essen. Die Bäuerin hatte Speck und Erbsen gekocht und setzte das dem Kurfürsten vor in der Meinung, er sei ein fremder Jägersmann, wie er angab. Das Speck- und Erbsengericht und das Haferbrot der Bäuerin aber schmeckten ihm so wohl, wie ihm noch nie eine Speise gemundet hatte, und als er nach Düsseldorf in sein Schloß zurückgekehrt war und ihm die leckeren Speisen der Fürstentafel nicht schmecken wollten, da befahl er, Speck und Erbsen zu kochen; denn das sei, sagte er, das köstlichste Essen von der Welt. Aber wie es der Küchenmeister auch anrichten wollte, der Kurfürst sagte, im Königsforst habe er das besser gegessen.

Schließlich mußte ein Eilbote hinausreiten zum Königsforst und die Bäuerin bestellen, die von Bensberg im landesherrlichen Wagen nach Düsseldorf abgeholt wurde, damit sie die Lieblingskost dem Kurfürsten so schmackhaft zubereiten sollte, wie er sie in ihrem Hause genossen hatte; auch mußte sie auf seinen Befehl ein Bauernbrot mitbringen. Aber was die gute Frau ihm kochte, das wollte ihm ebensowenig schmecken wie das Haferbrot, das sie mitgebracht hatte; denn die Hauptwürze, der Hunger, fehlte ihm, der bei der Ermüdung im Königsforste die Speisen so gewürzt hatte. Da wurde er denn klug daraus und pries die Arbeiter glücklich, daß ihnen bei naturgemäßer Bewegung in ihrem Arbeitsleben jede Mahlzeit munde.

Davon hatte man im Bergischen ein Sprüchlein, das lautet: Wer sich durch Arbeit nicht tut schrecken, dem wird’s wie dem Jan Willem schmecken.

Auch gelten seit jenem Begebnis Speck und Erbsen im Bergischen als Heimatkost und Leibgericht.«

- Zuccalmaglio II, 34.

2.2.3 Schätzen, was man hat

Frei von Begierde zu sein heißt also, vollkommen oder ganz zu sein. Es fehlt einem nichts. Umgekehrt ist die Triebfeder der Gier das Gefühl des Mangels. Und ein Mangel ist in Konsumgesellschaften schnell ausgemacht. Tatsächliche Bedürfnisse rücken dabei oftmals ins Hintertreffen und aufkeimende Unzufriedenheit wird überlagert mit dem nächsten Kompensationsakt – dem nächsten Einkauf, dem nächsten Bissen.

Der Gier keine Angriffsfläche zu bieten, bedeutet in erster Linie: anzuerkennen, was da ist. Wer sich selbst Antworten darauf gibt, was einem wirklich fehlt, wird innerlich freier. Wer seine Leere füllt, hat es nicht nötig, das Buffet zu stürmen, mit überladenen Tellern zum Tisch zurückzukehren, sich zu überfressen oder erst recht die Hälfte stehen zu lassen. Auch wenn es noch so gut schmeckt. Nie genug haben kann dagegen der, der seine Bedürfnisse nicht kennt. Die Gier auszutricksen hat auch mit Würde zu tun: Dankbarkeit, Bescheidenheit und Demut mögen etwas aus der Mode gekommen sein, bilden aber immer noch Eckpfeiler gelassener Existenzen. Damit lässt sich aus der Fülle schöpfen, nicht aus dem Mangel.

2.2.4 Fülle durch Konzentration

Mehr in dem zu finden, was man hat, funktioniert über eine geschärfte Wahrnehmung. Man braucht nicht mehr, wenn die Sinne auf Maximum geschaltet sind: Bewusst die Meeresbrise spüren, den Sand von den Füßen reiben, das Stück Schokolade auf der Zunge zergehen lassen, den Wein, das Wasser oder den Tee schmecken, eine Umarmung auskosten, jeden Atemzug wahrnehmen. Finetuning der Sinne erfüllt und führt zum Genuss. Die Gier zeigt sich dann im Streben nach einer immer feineren und bewussteren Wahrnehmung. Im Herauskitzeln der Details, im Erkenntnisgewinn. In der Distinktion. Wie wirken welche Eindrücke auf uns? Was macht das mit mir? Die Reflexion und das Wachhalten der Erinnerung steigern die Erfahrung und sättigen mehr als Materielles.