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Er wird erwerben und doch nichts davon genießen
und über seine eingetauschten Güter nicht froh werden.
Hiob, 20, 18

1

»Elf«, triumphiert Tigger, als sein Wurf von dem Plastikbrett abprallt und in den Korb fällt. »Du hast ja heute echt die Seuche. Damit schuldest du mir achthundert.«

»Noch einmal um den ganzen Einsatz. Alles oder nichts«, sage ich und stehe auf, um die in meinem Büro verstreuten Nerf-Bälle einzusammeln. Als ich durch die Glaswand auf die Tische im Handelssaal blicke, wenden sich mehrere Köpfe abrupt ab. Die Junior Trader wetten auf unsere Spiele. Sie können den an der Tür hängenden Korb zwar nicht sehen, aber es ist allgemein bekannt, dass der Verlierer die Bälle einsammeln muss. Dass der halbe Trading Floor mitbekommt, wie ich vier Spiele in Folge abgebe, wurmt mich beinahe so sehr, wie sie verloren zu haben.

»Hausregeln«, sagt Tigger. »Fünfhundert-Dollar-Limit pro Spiel.«

»Hausregeln«, pflichte ich ihm bei. »Und wessen Haus ist das?«

»Das gehört sich nicht, Peter. Regeln sind die Grundlage jeder Zivilisation.«

Die breiten Vokale seines Brooklyner Akzents machen all seine Bemühungen, kultiviert zu klingen, zunichte und entlarven ihn als einen Oldtimer, einen der letzten Mohikaner, die sich hocharbeiten konnten, bevor man an der Wall Street dazu übergegangen ist, den Nachwuchs ausschließlich an den Elite-Unis des Landes zu rekrutieren. Tigger ist ein kleiner Mann Anfang fünfzig mit Wampe, Hängebacken, vorstehenden Augen und einem zu großen Kopf. Er war mein erster Boss und tadelt mich immer noch freimütig, obwohl ich in der Hierarchie längst über ihm stehe.

»Achthundert Dollar«, sage ich und schnappe mir einen Ball, der unter seinem Stuhl gelandet ist. »Das ist richtig viel Geld. Damit könntest du dich komplett neu einkleiden und für die restlichen vierhundert noch die alten Sachen entrümpeln lassen.«

»Ich kaufe Klamotten nur im Dreierpack. Was hast du für die Krawatte gezahlt?«

»Hundertzehn vielleicht«, sage ich mit einem Blick auf das Strukturmuster meiner Krawatte. »In irgendeinem Duty-free-Shop. Im Laden kostet sie hundertvierzig.«

»Du trägst eine Hundertzehn-Dollar-Krawatte, die in China für fünfzig Cent produziert wurde. Du kaufst uptown Hamburger für fünfundzwanzig Dollar und lässt dir von Typen, die nur einen Vornamen haben, für hundert Dollar die Haare schneiden. Es ist geradezu meine Pflicht, dir dein Geld abzuknöpfen, so verdammt dämlich, wie du damit umgehst.«

Keisha öffnet die Tür, als ich gerade auf allen vieren unter der Couch nach einem Ball fische.

»Josh auf deiner Privatleitung. Er muss dich dringend sprechen«, sagt sie und verdreht die Augen.

Josh ist mein Boss, Chef von Klein & Klein, ein ehemaliger Banker aus dem Rostgürtel, dem alten industriellen Herzen der USA, obwohl er sich im Laufe der Zeit das pompöse Gehabe eines ottomanischen Paschas zugelegt hat. Alles ist dringend. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis er anfängt, von sich selbst in der dritten Person zu sprechen. Ich nehme den Hörer ab.

»Peter Tyler.«

»Ich stelle Sie jetzt zu Josh durch«, flüstert seine Sekretärin atemlos.

»Ich stelle Sie jetzt zu Josh durch«, sage ich zu Tigger und schalte solange den Apparat auf stumm. »Was für ein Arschloch, kann nicht mal seine Anrufe selbst erledigen.«

»Gib ihm bloß kein Geld«, warnt Tigger mich. »Das dritte Quartal endet am Freitag. Wir haben das Budget schon erreicht. Ich will mit Rückenwind in die Bonus-Saison gehen.«

»Peter«, dröhnt eine raue Stimme leutselig aus dem Hörer, »wie geht’s uns denn heute?«

»Prächtig«, antworte ich und stelle mit dem Daumen den Empfang leiser. Die Kunden, die er betreut hat, müssen alle stocktaub sein. »Der Dollar notiert schwächer, der Ölpreis steigt und die Anleihen haben nachgegeben. Die allgemeine Lage ist gut für uns.«

»Ausgezeichnet«, sagt er ohne rechte Begeisterung. »Etwas bereitet mir heute Morgen allerdings Sorgen, Peter. Ich habe mir den Risk Report des Gesamtunternehmens angesehen.«

»Das tut mir leid, Josh«, sage ich und ergänze stumm: Denn Sie verstehen ihn nicht. »Und was scheint Ihnen Anlass zur Sorge zu sein?«

»Das Controlling meint, wir hätten unsere japanische Kreditkurve zu weit gepreist. Wir stehen ohnehin unter Druck, die Zahlen für dieses Quartal zu liefern, und ich will keine unangenehmen Überraschungen erleben.«

»Die Kurve wird als Rendite-Spread über Staatsanleihen notiert, Josh. Wir sind Unternehmensanleihen long und die JGBs short.« Ich mache eine Pause, damit ihm das Ausmaß seiner eigenen Verwirrung bewusst wird. Joshs Stärke sind schon immer persönliche Beziehungen gewesen, sein Haupttalent das Beschwatzen von fetten CEOs auf dem Golfplatz. Über seine Unkenntnis selbst grundlegender Marktregeln können sich die Händler in der Firma stets aufs Neue amüsieren.

»Und das heißt?«, fragt er unsicher.

»Der Wert des Spread ist gegen unsere Position gelaufen. Das Controlling wirft uns vor, Profite zu verstecken, keine Verluste.«

Tigger drückt sich vor Lachen beide Hände auf den Mund. Ich grinse kurz zu ihm rüber, muss Josh jedoch zugutehalten, dass er überhaupt fragt. Schließlich ist er derjenige, der Druck kriegt, wenn einmal irgendwas richtig schiefläuft, was in Finanzfirmen wie der unsrigen leider alltäglich vorkommt. Giganten wie Enron, Barings und Daiwa Banks sind wegen byzantinischer Betrügereien praktisch über Nacht in die Knie gegangen, und das gedemütigte Management konnte zu seiner Rechtfertigung nur vorbringen, dass man zu dumm oder zu unaufmerksam gewesen war, die Machenschaften zu durchschauen. Josh gibt sich wenigstens Mühe.

»Wir sollten grundsätzlich gar nichts verbergen«, sagt er streng, um das Missverständnis zu überspielen. »Was mich zum zweiten Anlass meiner Besorgnis bringt. Wir werden einige unserer Bankprovisionen unerwartet erst im kommenden Monat einnehmen. Wenn wir die Projektion der Analysten erfüllen wollen, müssen wir tief graben.«

Stimmt. An der Wall Street wird man immer nur an seiner jüngsten Performance gemessen, und die Banker spielen eifrig dasselbe Spiel wie wir auch und versuchen, die Einnahmen nach Möglichkeit ins vierte Quartal zu verschieben, damit sie als Helden dastehen, wenn es an die Verteilung der Prämien geht.

»Ich würde Ihnen wirklich gern helfen, Josh, aber die Kasse ist leer. Wir haben die japanische Kreditkurve weit gepreist, weil wir Liquiditätsprobleme haben. Wir sind mehr als hundertzwanzig Yard Unternehmensanleihen long, und der Markt ist Geld für lediglich etwa zehn.«

Tigger reckt beide Daumen. Josh schweigt.

»Ein Yard sind eine Milliarde Yen«, füge ich zur Erklärung hinzu, obwohl ich ganz genau weiß, dass Josh Yen garantiert nicht in Dollar umrechnen kann.

»Sie wollen also sagen, eine Gewinnentnahme zum jetzigen Zeitpunkt wäre unklug?«, fragt er nach einer weiteren Pause.

»Genau.«

Er seufzt wie ein Mann, der das Gewicht der Welt auf den Schultern trägt, aber ich falle nicht darauf rein. Ein Ex-Banker wie Josh muss wissen, dass seine ehemaligen Kohorten ihn als Sandsack benutzen, und es gibt keinen Grund, warum meine Jungs das für ihn ausbügeln sollten. Welche Provisionen Josh auch von ihnen braucht, um die benötigten Zahlen zu präsentieren, bis Freitag werden sie sich auf wundersame Weise eingestellt haben.

»Noch eine Sache, Peter«, sagt er. »William Turndale hat heute Morgen angerufen, während ich beim Frühstück war. Gibt es irgendetwas, das ich wissen sollte, bevor ich ihn zurückrufe?«

William Turndale ist CEO von Turndale & Company, einer Vermögensverwaltungsfirma und einer unserer wichtigsten Kunden. Er gilt allgemein als der größte Wichser an der Wall Street, was ein bisschen so ist, als hätte man die größte Schuhgröße in der NBA – insofern ist es unwahrscheinlich, dass er Josh angerufen hat, um ihm zu unserer großartigen Arbeit zu gratulieren. Pascha oder nicht, selbst der Chef einer Fortune-100-Investmentbank muss sich von seinen Kunden zusammenscheißen lassen.

»Sekunde.« Ich stelle den Apparat auf stumm und sehe Tigger an. »Haben wir deines Wissens irgendwelchen Ärger mit Turndale?«

»Wegen irgendwas zicken die ja immer rum«, erwidert er achselzuckend. »Aber ich habe nichts Bestimmtes gehört.«

»Wir wissen nicht, warum er angerufen hat«, sage ich in den Hörer.

»Nun gut«, seufzt Josh. »Ich rufe ihn zurück und höre, was er will.«

»Sagen Sie mir Bescheid, wenn es irgendein Problem gibt. Übrigens hat mir Tigger, der neben mir sitzt, gerade eine Notiz rübergeschoben. Er denkt, dass wir aus der Position japanischer Unternehmensanleihen vielleicht ein bisschen Bargeld lockermachen können. Ich schau mir die Sache an und melde mich dann wieder.«

Tigger richtet sich auf seinem Stuhl auf und hebt zu einem gestotterten Protest an. Ich lege einen Finger auf meine Lippen.

»Das ist großartig, Peter«, sagt Josh und klingt schon ein wenig fröhlicher. »Vielen herzlichen Dank. Zu Hause alles in Ordnung?«

»Alles bestens. Danke der Nachfrage.«

»Sie dürfen auf keinen Fall vergessen, Jenna von mir zu grüßen.«

Josh hat eine Karteikarte in seinem Rolodex, auf der mein Geburtstag, die von mir besuchten Bildungseinrichtungen und der Name meiner Frau stehen. Während der Basketballsaison gratuliert er mir immer, wenn meine alte Uni-Mannschaft gewinnt, und versäumt dabei nie die Gelegenheit, eine persönliche Bemerkung hinzuzufügen.

»Das werde ich tun. Und halten Sie mich wegen Turndale auf dem Laufenden, bitte.«

»Unbedingt.«

Er legt auf. Ich drücke mit dem Hörer auf den Ausknopf der Basisstation und lege ihn auf meinen Schreibtisch.

»Er lässt Jenna grüßen«, sage ich zu Tigger.

»Flachwichser«, sagt Tigger wütend.

»Na, na. Du sprichst von unserem verehrten Vorgesetzten.«

»Einen Dreck tue ich. Ich spreche von dir. Was zum Teufel fällt dir ein, ihm zu erklären, wir könnten aus unserer japanischen Position Gewinn mitnehmen?«

»Wer vorwärtskommen will, muss auch mal entgegenkommen«, sage ich, Tiggers Akzent imitierend. »Wer hat mir das gepredigt?«

»Ja, aber nur, wenn dir die anderen auch entgegenkommen. Josh wird sich nur mit Mühe an deinen Namen erinnern, wenn du das nächste Mal ein Problem hast. Das weißt du ganz genau.«

»Vielleicht ist jetzt das nächste Mal. William Turndale hat bestimmt nicht ohne Grund angerufen.«

Tigger starrt einen Moment lang nachdenklich ins Leere und nickt dann zögernd. »Da hast du wahrscheinlich recht«, räumt er säuerlich ein. »Ich kenne niemanden, der so reich und so erbärmlich ist. Willst du Katja anrufen?«

Ich spüre, wie ich erröte, und bücke mich nach einem der orangefarbenen Bälle unter meinem Schreibtisch. Katja ist die Nummer zwei bei Turndale, eine alte Freundin, die uns in der Vergangenheit schon mehrfach aus der Bredouille geholfen hat. Ich bin noch nicht dazu gekommen, Tigger zu erzählen, dass sie wahrscheinlich nicht mehr unsere Freundin ist. Sie anzurufen wäre auf jeden Fall unklug.

»Ich würde lieber erst herausfinden, was los ist«, sage ich, das Gesicht nach wie vor abgewandt. »Warum sollten wir sie um einen Gefallen bitten, den wir gar nicht brauchen? Katja macht nie irgendwas umsonst.«

»Knallhart und zuckersüß«, sagt Tigger anerkennend. »Genau mein Typ.« Er klatscht in die Hände und seufzt, als ich mit dem Ball unter meinem Schreibtisch wieder auftauche. »Wenn ich rauskriege, dass einer von unseren Jungs mir irgendeine Panne mit Turndale verschwiegen hat, falte ich ihn auf Briefmarkengröße zusammen. Soll ich den Jungs in Tokio ein Memo schicken, dass sie diese Position neu preisen sollen?«

»Ich würde es lieber vorher mit ihnen besprechen. Sagen wir um neun. Kannst du das arrangieren?«

»Wo bist du denn um neun?«

»Hier.«

»Warum?«

»Ich fliege morgen in aller Herrgottsfrühe, deshalb übernachte ich im Harvard Club.«

»Wohin fliegst du?«

»Nach Frankfurt.«

»Und von dort?«

»Erst nach Helsinki, dann nach London und am Freitagabend zurück.«

»Du bist doch gerade erst aus Toronto zurück«, stellt er vorwurfsvoll fest.

»Und?«

»Bist du auf einer Scheiß-Konzerttournee, oder was? Wie viele Kunden haben wir in Helsinki?«

»Drei.«

»Und wie viele, die auch nur annähernd genug Kleingeld in der Hosentasche haben, um damit zu klimpern?«

»Einen. Sollten wir sie deshalb ignorieren?«

Tigger murmelt irgendwas vor sich hin.

»Komm mir nicht mit deinem Jiddisch«, sage ich und spüre ein dumpfes Pochen hinter den Schläfen. »Bitte.«

»Die Hälfte der Zeit bist du außer Landes und die andere Hälfte übernachtest du in der Stadt. Warum? Was ist bei dir zu Hause los?«

»Da läuft es schlecht«, sage ich und blicke aus dem Fenster auf den Battery Park. Das Licht der Morgensonne spiegelt sich in den glänzenden grünen Blättern der Baumkronen unter mir, die sich in einer leichten Brise hin und her wiegen und die Illusion fließender Bewegung schaffen. Die Schlange schwitzender Touristen, die auf die Hafenfähren warten, ist nur noch halb so lang wie vor zwei Wochen, ein Anzeichen des nahenden Winters. Ich lege den Schaumstoffball beiseite, löse meine Uhr vom Handgelenk und spiele mit dem Metallarmband.

»Bloß schlecht«, fragt er, »oder so schlecht, dass jedes Molekül in deinem Körper mit Lichtgeschwindigkeit explodiert?«

»Eher Letzteres«, gebe ich zu.

»Willst du meinen Rat?«

Tigger und ich sind schon sehr lange befreundet, aber ich habe immer versucht, meine privaten Probleme vor der Bürotür zu lassen.

»Ich will, dass du dich um deinen eigenen Mist kümmerst.«

»Sag ihr, dass es dir leidtut.«

»Du studierst jetzt seit zehn Jahren, um Rabbi zu werden, und das ist dein bester Tipp? ›Sag ihr, dass es dir leidtut‹?«

»Ich bin seit dreißig Jahren verheiratet. Hör auf meinen Rat. Sag ihr, dass es dir leidtut, und lass sie Dampf ablassen. Dann sag ihr, dass es dir leidtut, und lass sie noch ein bisschen mehr Dampf ablassen, und immer so weiter, bis ihr in der Kiste landet. Und vergiss nicht, oft zu nicken, wenn sie redet, und Sachen zu sagen wie: ›Du musst dich schrecklich gefühlt haben.‹«

Wenn es nur so leicht wäre. Jenna entgleitet mir schon seit Jahren und konzentriert ihre Kraft und Aufmerksamkeit zusehends auf irgendwelche hehren Ziele. Ich weiß nie, was ich sagen soll, weil ich Angst habe, egoistisch zu klingen. Wut und Enttäuschung verleiten mich zu Fehlern. Als der große Knall kam, habe ich versucht, mich zu entschuldigen, aber es hat nichts genutzt. Letzte Woche hat Jenna mich aufgefordert auszuziehen. Sie sagte, sie würde das Gefühl der Einsamkeit, wenn wir zusammen sind, nicht mehr ertragen.

»Weißt du, was ich an der Arbeit mag?«, frage ich Tigger und schiebe meine Uhr wieder übers Handgelenk.

»Dass du es dir auf meinem Rücken bequem machen kannst?«

»Die Tatsache, dass die Regeln sich nie ändern. Du und ich und all die anderen Typen reißen sich jeden Tag den Arsch auf, und am nächsten Morgen kriegen wir die Zahlen, die uns sagen, wie wir waren. Gute Zahlen sind gut, schlechte Zahlen sind schlecht, und solange wir genug Geld machen, kann es uns scheißegal sein, welche Gefühle Josh oder sonst irgendjemand dabei hat.«

»Petey«, beschwört Tigger mich leise. »Rede mit mir. Was ist los?«

Keisha, die erneut den Kopf zur Tür hereinsteckt, rettet mich vor einer Antwort. »Ich geh Kaffee holen«, sagt sie. »Wollt ihr einen?« Keisha ist fünfundzwanzig, intelligent und hat braune Haut wie poliertes Birnenholz. Sie trägt ein knappes gelbes Kleid, das die Hälfte der Jungs auf unserer Etage um den Verstand bringt.

»Ich hab jetzt schon Herzrasen«, erwidert Tigger und fasst sich theatralisch an die Brust. »Wenn du weiterhin solche Kleider trägst, wirst du eines Tages einen von uns alten Knackern auf dem Gewissen haben.«

»Diese Bemerkung ist mir ein wenig unangenehm«, sagt Keisha streng, während ein Lächeln um ihre Mundwinkel spielt. »Peter?«

Tigger will mich bloß provozieren. Vor ein paar Jahren hat Eve Lemonde, Chefin der Abteilung für Human Resources, mich mit Joshs Unterstützung schwer unter Druck gesetzt, um dem derben Männerduschen-Jargon Einhalt zu gebieten, der üblicherweise in Handelssälen herrscht. Widerwillig musste ich Strafen für Verstöße gegen den Verhaltenskodex für Firmenmitarbeiter verhängen, eine wortreiche, genusverwirrte Erklärung der Political Correctness, die den Ausdruck jedes menschlichen Gefühls außer Gier verbietet. Das Geld geht an eine von den Angestellten bestimmte wohltätige Einrichtung, aber jedes Mal, wenn ich eine Strafe verhänge, komme ich mir vor wie der Popanz vom Dienst. Vor allem Tigger hat sich als Wiederholungstäter einen Namen gemacht und steckt das ganze Geld, das er an Krawatten, Hamburgern und Pottfrisuren spart, lustvoll in den Topf, um mich damit zu triezen. Eve bedrängt mich schon seit Jahren, ihn zu feuern, was ihn nur noch mehr erheitert.

»Von mir aus kann dein Freund ihn windelweich prügeln«, sage ich. Keisha ist mit einem Studenten von der NYU Medical School verlobt, der gebaut ist wie ein Güterzug.

»Keine schlechte Idee«, sagt sie. »Aber es würde mich noch glücklicher machen, wenn du ihm eine satte Strafe aufbrummst. In diesem Monat habe ich den Verwendungszweck des Topfes bestimmt, und das Geld geht an meinen Großvater. Er betreut nach Schulschluss Kinder in der öffentlichen Bibliothek Hell’s Kitchen.«

»Wir wollen Peter nicht zum Buhmann machen«, sagt Tigger augenzwinkernd zu Keisha. »Ich mach einen Vorschlag: Er schuldet mir achthundert Dollar, weil er auf den Korb wirft wie ein kleines Mädchen. Die spende ich.«

»Abgemacht«, sage ich mit dem Gefühl, reingelegt worden zu sein. »Druckst du bitte einen Scheck aus, Keisha? Und ich hätte gern einen Espresso.«

»Stell den Scheck auf fünfzehnhundert aus, Keisha«, sagt Tigger, »damit er auch für den Steuerabzug aufkommt. Und ich lege noch mal fünfzehnhundert im Voraus für die unkorrekten Sachen drauf, die ich in nächster Zeit noch über dich denken werde. Und bring mir bitte einen Latte mit. Geld ausgeben macht mich immer müde.«

»Ist das okay für dich?«, fragt Keisha und sieht mich an.

»Wenn Tigger den Kaffee bezahlt.«

»Und da nennen mich die Leute einen Schnorrer«, sagt er und fischt einen Zwanzigdollarschein aus seiner Brieftasche.

»Ihr seid die Besten«, sagt Keisha und zieht die Tür hinter sich zu. »Danke.« Im letzten Moment steckt sie den Kopf noch einmal ins Zimmer und zischt Tigger zu: »Dich würde ich beim Korbwurf noch an einem schlechten Tag abziehen.«

»Nettes Mädchen«, sagt Tigger, als sie weg ist. »Sie wäre auch eine gute Verkäuferin.«

»Ich arbeite daran, aber Lemonde muss ihr Okay geben, und ihr gefällt es nicht, dass Keisha auf ein Junior College gegangen ist. Ich versuche, die Minoritäten-Karte zu spielen.«

»Scheiße«, sagt Tigger angewidert. »Pass bloß auf, dass sie nichts davon erfährt.«

Ich zucke die Achseln. Dies ist auch deswegen mein und nicht Tiggers Büro, weil ich eher bereit bin zu tun, was ich tun muss, damit Dinge erledigt werden.

»Du schuldest mir noch eine Antwort«, sagt Tigger. »Jenna. Was ist los?«

Ich starre durch die Scheibe auf den Handelssaal. Während ich mit etwa fünfzig anderen Typen das stille Vergnügen genieße, Keisha zum Aufzug gehen zu sehen, ringe ich mit mir, ob ich mich Tigger anvertrauen soll. Schließlich nehme ich den orangefarbenen Schaumstoffball von meinem Schreibtisch und werfe ihn.

»Noch ein Spiel«, sage ich, als der Ball in den Korb fällt. »Der Verlierer lädt das ganze Stockwerk zum Mittagessen ein.«

2

»Eine Sekunde«, sage ich ein paar Stunden später, parke das Gespräch und drücke auf den blinkenden Knopf meiner Gegensprechanlage. »Was gibt’s?«

»Josh auf der anderen Leitung«, sagt Keisha.

»Übernimm bitte das Gespräch auf Leitung eins und sag Kenny, dass ich ihn zurückrufe. Und Tigger soll in mein Büro kommen.«

»Die Pizza hat mit Trinkgeld dreihundertzwanzig Dollar gekostet. Ich hab es auf deine Visakarte buchen lassen.«

»Danke.« Ich bin günstig davongekommen. Wenn Tigger verloren hätte, hätte ich Keisha beauftragt, für alle Sushi zu bestellen. Ich nehme das Gespräch auf meiner zweiten Leitung an und lasse wieder das »Ich stelle Sie jetzt zu Josh durch«-Ritual über mich ergehen.

»Peter«, sagt Josh. »Sind Sie im Bilde über einen Verein namens Fondation L’Etoile?«

Er klingt ganz geschäftsmäßig, was ein gutes Zeichen ist. Aufpassen muss man, wenn er sich geplagt und besorgt gibt.

»Vage.«

»Sie werden in unserem System als sein Ansprechpartner geführt.«

»L’Etoile ist eine wohltätige Stiftung. Ein Freund von mir sitzt im Vorstand. Er hat gesagt, er wolle eventuell einige Cash Bonds handeln. Also habe ich die Kreditabteilung damit beauftragt. Gibt es ein Problem?«

»Nein. Aber aus irgendeinem Grund interessiert sich William Turndale für den Laden. Deshalb hat er angerufen. Ich würde gern alles wissen, was wir ihm sagen können.«

Tigger kommt herein, und ich zeige auf meinen Hörer und forme mit den Lippen Joshs Namen. Stirnrunzelnd hockt er sich auf meine Sofakante.

»Wie hat William erfahren, dass wir Geschäfte mit L’Etoile machen?«, frage ich.

»Einer seiner Trader hat sich in seinem Auftrag umgehört.«

Ich nehme mir vor herauszufinden, welcher von meinen Leuten die Klappe nicht halten konnte.

»Ich dachte, es wäre Politik unserer Firma, nicht mit Kunden über andere Kunden zu sprechen.«

Einen Moment lang kaut Josh auf dieser unterschwelligen Kritik herum.

»Ich nehme kaum an, dass William uns bittet, vertrauliche Informationen preiszugeben«, erwidert er steif.

»Es spielt im Grunde auch keine Rolle«, sage ich. Er hat mich schon verstanden. »Mein Freund im Vorstand von L’Etoile arbeitet für Turndale. Andrej Zhilina. Wenn William irgendwelche Fragen hat, sollte er besser direkt mit Andrej sprechen.«

»Zhilina?«, wiederholt Josh. »Ist er mit Katja verwandt?«

»Er ist ihr Bruder und leitet Turndales Büro in Moskau. Vor zwanzig Jahren hat er auch hier gearbeitet. Wir waren beide Analysten.«

Mir kommt der Gedanke, dass Williams Anruf bei Josh mir vielleicht ganz gelegen kommt, weil er mir einen Vorwand liefert, Kontakt zu Andrej aufzunehmen. Seit meinem Streit mit Katja vor einigen Wochen habe ich nicht den Mut aufgebracht, ihn anzurufen, weil ich nicht weiß, was sie ihm vielleicht erzählt und wie er darauf reagiert hat. Katja als Freundin zu verlieren war schon schmerzhaft genug; aber jetzt auch noch Andrej, das wäre verheerend.

»Sagen Sie«, setzt Josh an und stockt. Im Hintergrund sagt seine Sekretärin etwas, das ich nicht verstehen kann. Sie klingt aufgeregt. »Einen Moment …« Joshs Stimme verliert sich.

Die Verbindung wird gehalten, in meinem Kopf wirbelt die Stimme seiner Sekretärin, und ich versuche, ihre Worte zu verstehen. Ich könnte schwören, dass sie meinen Namen gesagt hat. Eine halbe Minute vergeht, in der mich eine vage Vorahnung beschleicht. Tigger zieht fragend eine Braue hoch.

»Er spricht mit irgendjemandem«, sage ich. »Staatsangelegenheiten vermutlich.«

Tigger grinst. Nach einem lauten Klicken ist Josh wieder in der Leitung.

»Etwas ist dazwischengekommen«, stammelt er hastig. »Ich muss jetzt Schluss machen.«

»Ist alles in Ordnung?«

»Es tut mir leid«, stammelt er. »Es tut mir wirklich sehr leid.«

Dann ist die Verbindung beendet. Ich starre verwundert auf den Telefonhörer und werfe ihn mit wachsender Beklommenheit auf meinen Schreibtisch.

»Was war denn das?«, fragt Tigger.

»Keine Ahnung. Josh hat mich angerufen, um mir zu erzählen, dass Turndale sich nach einem Kunden erkundigt hat, den ich im letzten Jahr akquiriert habe. Dann wurde er von seiner Sekretärin unterbrochen und hat sich anschließend so hektisch verabschiedet, als ob seine Hose Feuer gefangen hätte.«

»Wahrscheinlich hat irgendein Journalist seinen Namen falsch geschrieben.«

Ich lächle mechanisch, während ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung auf dem Trading Floor wahrnehme. Eve Lemonde geht in Begleitung eines Mannes und einer Frau, die ich noch nie gesehen habe, auf Keishas Schreibtisch zu. Der Mann sieht aus wie ein Maurer, der sich für den Besuch bei seiner Bank schick gemacht hat, die Frau, als würde sie die Hauptrolle in einer Studentenaufführung spielen. Als die drei näher kommen, blickt Keisha auf.

»Peter?«, fragt Tigger.

Ich mache ihm ein Zeichen, still zu sein, und verfolge weiter das Geschehen. Nachdem Keisha einen Moment lang zugehört hat, wendet sie sich mit einem Gesichtsausdruck in meine Richtung, der mir wie ein Dolch ins Herz sticht.

»Was ist los?«, fragt Tigger.

»Ich weiß nicht«, sage ich voller Angst, dass ich es vielleicht doch weiß. Ich habe diesen Moment mit fünfzehn schon einmal durchlebt. Die Zeit fließt zäh wie Sirup, als Keisha die anderen zu meinem Büro führt und vor der Tür stehen bleibt, so dass ich die goldenen Dienstmarken an den Gürteln der Fremden erkennen kann, dazu die Tränen, die Keishas Mascara zerfließen lassen, und Eves routiniert mitleidsvollen Blick. Sie betreten mein Büro und berichten mir, was geschehen ist. Mein Blickfeld flackert und verschwimmt wie ein Video mit niedriger Bandbreite. Keisha ist ein unscharfer gelber Flecken vor der Tür; die beiden Polizisten zappeln verlegen auf den Stühlen vor meinem Schreibtisch; Eve verschwindet, taucht wieder auf und wuselt herum wie ein diensteifriger Beamter. Tigger steht neben mir und fasst mit tränenüberströmtem Gesicht meine Hand. Ich setze mich so aufrecht wie möglich hinter meinen Schreibtisch, halte die Nachricht auf Distanz und versuche, die Fassung zu wahren. Worte dringen durch das Rauschen in meinem Kopf wie das Signal eines Radiosenders, das, von Gewitterwolken über Land geweht, nur fetzenweise zu empfangen ist.

»Mr Tyler«, sagt der Polizist. Eve hat ihn vorgestellt, aber ich habe seinen Namen nicht mitbekommen. »Bei einer Mordermittlung ist es wichtig, dass wir so schnell wie möglich handeln. Deshalb müssen Sie uns einige Fragen beantworten.«

Ich nicke und versuche, mich auf sein Gesicht zu konzentrieren. Er sieht aus wie eine Kröte mit einem blassen Doppelkinn, das aus seinem Hemdkragen quillt, und dunklen, zusammengekniffenen Augen.

»Zunächst haben wir vermutet, dass Ihre Frau einfach Pech hatte. Sie hat einen Einbrecher in Ihrer Garage überrascht, der sie mit einem Gegenstand aus Metall wie einem Stemmeisen niedergeschlagen hat. Aber ein paar Details passen nicht zusammen. Ihre Handtasche und ihr Portemonnaie waren noch da, und als sie am Boden lag, hat man ihr die Haare aus dem Gesicht gestrichen. Es könnte also jemand gewesen sein, der sie kannte. Fällt Ihnen jemand ein, der ihr vielleicht etwas antun wollte?«

»Nein«, stoße ich hervor, das Bild von Jenna, die blutüberströmt am Boden liegt, flackernd vor meinen Augen.

»Vielleicht ein alter Liebhaber? Jemand, der in sie verknallt war?«

»Nicht dass ich wüsste.«

»Verstehe.« Er zieht einen Stift, einen kleinen Spiralblock und eine schlanke schwarze Lesebrille aus seinen Anzugtaschen. Er setzt die Brille auf und beginnt, mit angefeuchtetem Daumen die Seiten des Blocks umzublättern. »Die Nachbarin hat gesagt, dass Ihre Frau ehrenamtlich aktiv war. Um was für eine Arbeit handelte es sich dabei?«

Ich mache den Mund auf, bringe es jedoch nicht über mich, eine Antwort zu formulieren, die von Jenna in der Vergangenheitsform spricht. Vor mir tut sich unerwartet ein Abgrund auf, und ich greife schwindelnd nach der Tischkante.

»Jenna war Anwältin«, sagt Tigger mit erstickter Stimme. »Pro bono. In den letzten Jahren hat sie Vollzeit an einer Klage gegen den Staat New York wegen Unterfinanzierung städtischer Schulen gearbeitet.«

»Pro was?«, fragt der Polizist, während er sich Notizen macht.

»Bono«, antwortet seine Partnerin. »B-o-n-o. Sie hat umsonst gearbeitet.«

Der Polizist fährt mit dem ganzen Oberkörper herum, um sie mit angewiderter Miene anzustarren. »Detective Tilling studiert Jura«, höhnt er. »Als ob die Welt noch einen Rechtsverdreher brauchen würde …« Er verstummt plötzlich. Tiggers Griff wird fester.

»Wenn Sie noch Fragen haben, stellen Sie sie«, sagt er wütend.

»Nur noch ein paar Kleinigkeiten«, sagt der Polizist, richtet sich auf seinem Stuhl auf und sieht Tigger ausdruckslos an. Dann blättert er in seinem Notizbuch ein paar Seiten zurück und wendet sich wieder an mich. »Ist Ihre Frau beruflich viel gereist?«

»Nach Albany«, sage ich und weiß nicht, wie lange ich mich noch zusammenreißen kann.

»Hat sie dort häufig übernachtet?«

»Ein oder zwei Nächte alle paar Monate.«

»Hm-hm«, sagt er. »Und Sie? Reisen Sie viel?«

»Manchmal.«

»Waren Sie in letzter Zeit viel unterwegs?«

»Ja.«

»Wo waren Sie zuletzt?«

»Ich bin am Freitag aus Toronto zurückgekommen. Morgens hin und mit der Nachtmaschine zurück.«

»Und wo waren Sie am vergangenen Wochenende?«, fragt er mit erhobenem Bleistift.

Irgendein verdammter neugieriger Nachbar muss ihm erzählt haben, dass ich nicht zu Hause war. Die Rädchen in meinem Gehirn blockieren und verkeilen sich. Auf gar keinen Fall werde ich meine Beziehung mit Jenna in den Dreck ziehen, indem ich einem Möchtegern-Columbo von unseren Problemen erzähle.

»Mr Tyler«, sagt er, senkt die Stimme und beugt sich vor. »Ich weiß, wie Sie sich fühlen, aber ich muss Sie das fragen. Hatten Sie Eheprobleme?«

Er heißt Rommy, fällt mir plötzlich wieder ein. Detective Rommy.

»Sie wissen, wie ich mich fühle, Detective Rommy?«, frage ich. Die Worte hallen in meinem Schädel wider und drohen ihn zu sprengen.

»Vielleicht möchten Sie das lieber unter vier Augen besprechen«, sagt er und deutet auf Tigger und Eve.

»Sie wissen, wie ich mich fühle?«, frage ich noch einmal.

»Ich war verheiratet«, sagt er und zwinkert mir zu, von Mann zu Mann. »Es ist eine riskante Verpflichtung. Manchmal fängt man sich eine Kugel; manchmal braucht man ein bisschen Abwechslung und Entspannung nebenbei. Beides nichts, wofür man sich schämen muss.«

Die Wut bringt mich auf die Beine.

»Sie haben keine beschissene Ahnung davon, wie ich mich fühle«, brülle ich über den Schreibtisch gebeugt und fuchtle mit dem Finger vor seinem Gesicht herum. »Ich habe meine Frau geliebt, und ich kenne keinen Menschen, der ihr wehtun wollte. Jetzt verschwinden Sie aus meinem Büro, und machen Sie Ihre verdammte Arbeit, bevor ich zum Telefonhörer greife und herausfinde, wie ich den Mann an die Strippe kriege, vor dem Ihr Chef sich verantworten muss. Sie auch, Eve. Verschwindet, verdammt noch mal, alle miteinander!«

 

»Mein Gott«, sagt Tigger und lässt die Jalousien herunter, nachdem Eve und die Polizisten abgezogen sind. Rommy hat einen Aufstand gemacht, aber Eve hat die Wogen geglättet. Tigger fasst mich an beiden Schultern und sieht mir ins Gesicht.

»Petey …«

»Ich brauche ein paar Minuten für mich, Tigger«, unterbreche ich ihn.

»Sicher?«

»Ja.«

»Ich warte draußen.«

Er schließt leise die Tür hinter sich. Ich lasse den Kopf in die Hände sinken. Jenna.

3

Tigger setzt seinen Volvo rückwärts in eine Parklücke im Schatten einer ausladenden Ulme mit Blick auf die katholische Kirche aus rotem Backstein auf dem Hügel vor uns. Bevor er den Motor ausmacht, öffnet er die Scheiben einen Spaltbreit, um eine feuchte Brise hereinzulassen. Zikaden zirpen monoton, ein durchnässter Schmetterling, ein afrikanischer Monarch, klammert sich an die Kühlerhaube und schlägt teilnahmslos mit seinen orangeschwarzen Flügeln. Es ist 11.30 Uhr. Wir sind die Ersten, eine halbe Stunde zu früh. Ein dunkelblauer Ford mit Funkantenne und Scheinwerfer fährt im Schritttempo an uns vorbei und parkt auf der anderen Seite des Parkplatzes. Die Sonne spiegelt sich in der Linse einer Kamera, die aus dem offenen Beifahrerfenster gehalten wird. Tigger schraubt eine Thermoskanne auf, gießt einen Becher kalten Pfefferminztee ein, reicht ihn mir und weist mit dem Kopf auf den Ford.

»Scheißbullen.«

Ich antworte nicht, weil ich gar nicht erst davon anfangen will. Der heutige Tag wird schon hart genug, auch ohne dass ich mich von der Polizei unter Druck setzen lasse. Wegen meines Wutanfalls oder in Ermangelung anderer Spuren haben die Ermittler beschlossen, auf die naheliegendste Lösung zu setzen, und in erster Linie gegen mich ermittelt. Die letzten zehn Tage waren ein Albtraum, unterbrochen von kurzen Szenen aus einer billigen Komödie, mit dem allgegenwärtigen Detective Rommy und seinen rüpelhaften Kohorten, deren Andeutungen immer finsterer werden. Ich habe einen Anwalt engagiert, der Rommy in Schach halten soll, sowie ein Team von Privatdetektiven, die die Polizisten und ihre Ermittlung überprüfen sollen. Der Bericht, den ich über Rommy bekommen habe, entsprach genau meinen Erwartungen.

Tigger rutscht verlegen auf dem Sitz hin und her. Schweigen fällt ihm schwer. Er drängt mich, mich ihm zu öffnen, aber im Augenblick kann ich den Gedanken nicht ertragen, meine Fehler mit Jenna noch einmal zu durchleben. Erst ein und dann zwei weitere Wagen fahren auf den Platz und parken in einer freien Lücke. Ich klappe die Sonnenblende herunter, um mich unsichtbar zu machen. Langsam füllt sich der Parkplatz, Freunde von der Uni, Nachbarn und Kollegen treffen ein. Mehr von Jennas Kollegen als von meinen, aber ihre Kanzlei hat heute auch geschlossen, damit alle Mitarbeiter an der Beerdigung teilnehmen können – die Finanzmärkte schließen für niemanden außer für tote Präsidenten.

Katja kommt ohne Andrej, was meinen Mut weiter sinken lässt. Sie hat mir eine Karte geschickt, aber ich habe mich nicht getraut, mich bei ihr zu melden. Wenn unsere Beziehung vorher schon schwierig war, ist sie nun unvorstellbar verworren. Andrej ist es, mit dem ich reden muss. Er ist der Einzige, mit dem ich je über meine Probleme mit Jenna sprechen konnte, und er hat mir schon einmal durch schwere Zeiten geholfen. Nach dem Tod meines Vaters flog Andrej zur Beerdigung von London nach Ohio. Am Abend nach der Feier stiegen wir auf den Hügel, von dem aus ich als Kind mit meinem Vater immer die Sterne angeguckt hatte. Wir bauten das Teleskop meines Vaters auf, machten ein Feuer und tranken seine Whiskeyreste aus. Gegen Morgengrauen kam eine Brise auf, ich streute seine Asche in den Wind, und sie wurde wie eine graue Feder in Richtung der Großen Seen geweht.

»Jennas Eltern?«, fragt Tigger.

Ich folge seinem Blick und nicke. Es überrascht mich nicht, dass er sie erkannt hat. Mary O’Brien ist eine drei Viertel große Version von Jenna, eine Frau, der das Alter bis vor kurzem kaum etwas anhaben konnte. Unabhängig, fast ein wenig zu freimütig; sie hat in der Presse heftige Kritik an der Polizei geübt und ihr vorgeworfen, mit der Ermittlung gegen mich Zeit und Energie zu verschwenden, die sie besser für die Suche nach anderen Spuren nutzen sollte. Wir haben uns in den letzten Tagen zweimal getroffen und mehrmals telefoniert; offensichtlich hat Jenna ihr nichts von unseren Problemen erzählt.

So sehr Mary auch von Kummer gezeichnet ist, dramatischer ist die Veränderung bei ihrem Mann. Ed ist ein alter Gewerkschaftshaudegen mit Bierbauch und den Schultern eines Arbeiters. Seit Beginn meiner Beziehung mit Jenna hat er jede Weihnachten darauf bestanden, sich mit mir im Armdrücken zu messen. Meine aktuelle Bilanz lautet null zu zweiundzwanzig. Heute schlurft er mit hängendem Kopf schwer angeschlagen und schwach vor Trauer neben seiner Frau her. Jenna war ihr einziges Kind.

Ich schließe die Augen und zwinge mich, ruhig zu bleiben. Jenna hat die Unverblümtheit ihrer Mutter und den Idealismus ihres Vaters geerbt. Schon bei unserer ersten Begegnung ging sie mich wegen meiner konservativen Ansichten an. In meinem vierten Jahr an der Uni kam sie in einer Kneipe auf mich zu und spottete über eine Kolumne, die ich für die Unizeitung geschrieben hatte. Wir diskutierten eine Stunde lang über Reagan und sein Sozialkürzungsprogramm, bevor ich anbot, sie nach Hause zu bringen.

Stattdessen brachte Jenna mich nach Hause, und am nächsten Morgen wachte ich nackt in Löffelchenstellung an sie geschmiegt auf, hin- und hergerissen zwischen zwei dringenden Bedürfnissen. Als ich aus dem Bad zurückgeeilt kam, war sie schon halb angezogen, ihre warmen Brüste verschwanden gerade unter einem Toots-and-the-Maytals-T-Shirt. Sie war groß, schlank und muskulös wie eine Schwimmerin und hatte rotblondes Haar, das ihr lose ins Gesicht fiel, als sie sich vorbeugte, um mit einem nackten Fuß in das Bein ihrer Jeans zu schlüpfen. Sie hatte eine kleine Narbe über der Oberlippe und graublaue Augen wie Speckstein. Im Licht des Morgens sah sie fast noch verführerischer aus, und meine Lippen und Finger brannten von der Erinnerung an ihre Haut.

»Geh nicht«, sagte ich und machte die Schlafzimmertür zu. »Es ist erst sieben. Wir können noch ein paar Stunden schlafen, und dann mache ich dir Frühstück.«

»Schlafen?«, fragte sie mit einem vielsagenden Blick auf meine ausgebeulten Boxershorts.

»Was auch immer.«

»›Was auch immer‹? Das ist ja mal ein ganz neuer Euphemismus. Hör zu, gestern Abend war gestern Abend. Es war nett.« Sie strich sich das Haar hinter die Ohren und lächelte mich an, zwischen den oberen Schneidezähnen hatte sie eine winzige Zahnlücke. »Vielen Dank.«

»Heute Abend steigt eine Party im Deke-House. Wir könnten uns dort treffen, oder ich hole dich ab.«

»Ich steh nicht so auf Burschenschaftspartys.«

»Wir könnten ins Kino gehen.«

»Ich bin ziemlich beschäftigt mit meinen Semestervorbereitungen.«

»Aber irgendwann musst du doch was essen. Ich koch dir was.«

»Du willst mich wohl zwingen, deine Gefühle zu verletzen«, sagte sie leise und sah mir in die Augen.

»Sieht so aus«, sagte ich völlig verwirrt und wünschte, ich hätte am Abend zuvor nicht so viel getrunken.

»Du hängst mit einer bestimmten Sorte Leute rum. Jeder kennt dich. Kapitän der Basketballmannschaft, eine bedeutende Figur auf dem Campus. Ich hab eigentlich keine Lust, mich auf all das einzulassen.«

»Und was war dann gestern Abend?«

»Mangelhafte Impulskontrolle.«

»Autsch.«

»Sorry«, sagte sie grinsend. »Du hast einfach diesen Groß-und-dunkel-Appeal. Ich habe dich von weitem gesehen und konnte nicht an mich halten.«

»Jetzt machst du dich über mich lustig.«

»Ein bisschen. Was dagegen, wenn ich den Kram beiseite-räume?«, fragte sie und wies auf einen Haufen Wäsche auf meinem Schreibtischstuhl. Mein Zimmer war ein einziges Chaos. Ich hatte keinen Besuch erwartet.

»Was auch immer«, sagte ich, weil ich sie noch einmal lächeln sehen wollte. »Aber ich würde gern die Wahrheit erfahren.«

»Die Wahrheit«, sagte sie und grinste netterweise, während sie die schmutzige Wäsche aufs Bett warf und sich setzte. »Ich habe dich im letzten Winter kurz nach meinem Wechsel an diese Uni spielen sehen. Du sahst gut aus, und ich mochte die Art, wie du dich bewegst. Dann habe ich angefangen, den Mist zu lesen, den du in der Unizeitung schreibst, und erfahren, dass du im Burschenschaftsrat, Vorsitzender der Jungen Republikaner und weiß der Himmel was sonst noch bist. Ich meine, wirklich …«

»Und warum dann gestern Abend?«, fragte ich, ohne auf ihre Provokation einzugehen.

»Gestern Abend ist mir ein bisschen peinlich«, sagte sie und hielt den Blick auf ihre Schnürsenkel gerichtet. »Es war ein Fehler.«

»Machst du viele Fehler?«, fragte ich leicht angesäuert.

»Jeder macht Fehler«, erwiderte sie, ohne zu lächeln. »Entscheidend ist, dass man denselben Fehler nicht zweimal macht.«

»Tut mir leid«, entschuldigte ich mich eilig. »Du hast mich verletzt. Die Jungen Republikaner sind eine absolut ehrenwerte Organisation.«

»Ich hab dich gewarnt.« Sie stand auf.

»Du hast meine Frage immer noch nicht richtig beantwortet.«

»Warum ich mit dir geschlafen habe?«, fragte sie und sah mir wieder in die Augen. »Im letzten Frühjahr habe ich als Aushilfslehrerin an einer Schule gearbeitet. Du bist in der Pause am Hof vorbeigekommen, und eines der Kinder hat dich erkannt und dir zugewinkt.«

»Ich weiß. Seine Mutter arbeitet im Sportinstitut.«

»Ich dachte mir, jemand, der vierzig Minuten seines Tages aufwendet, um einem Haufen Elfjähriger beizubringen, wie man blockt und abrollt, kann ungeachtet seiner Freizeitaktivitäten und seiner verachtenswerten politischen Ansichten kein ganz schlechter Mensch sein. Das hat also für dich gesprochen.«

»Und warum gehst du dann jetzt?«, wollte ich wissen. »Du hast doch selbst gesagt – ich bin ein Guter. Wenn du dich wieder ausziehst und zurück ins Bett kommst, spiele ich heute Nachmittag auch wieder Basketball mit den Kids.«

»Sorry«, sagte sie. »Ich muss zur Arbeit.«

»Gib mir deine Telefonnummer. Ich verstoße alle meine Freunde und werde Demokrat.«

»Ich glaube nicht. Hast du meine Tasche gesehen?«

»Nein«, log ich. Sie lag im Flur neben der Haustür. Sie ließ ihren Blick schweifen und blieb an einem Stapel Bücher hängen.

»Das ist einfach zu perfekt.«

»Was?«

»Du hast sogar eine Pfadfinderfibel neben dem Bett.«

»Die hat mein Vater mir geschenkt, als ich klein war. Sie deckt die meisten Situationen des Lebens ab. Zum Beispiel gibt es ein sehr informatives Kapitel über nächtlichen Samenerguss.«

Sie lächelte wieder, und ich hatte das Gefühl, Fortschritte zu machen.

»Mein Dad hat mir gesagt, dass ich nichts falsch machen könnte, wenn ich mich immer an die Pfadfinderregeln halte.«

»Allzeit bereit?«

»Das ist das Motto. Es gibt ein Motto, einen Wahlspruch, ein Versprechen, einen Kodex und ein Gesetz.«

»Die Pfadfinder sind also allzeit bereit. Und wie lautet das Gesetz?«

Ich hob drei Finger. »Ein Pfadfinder ist absolut vertrauenswürdig. Er ist loyal, hilfsbereit, höflich und ritterlich, gütig, gehorsam, stets guter Laune, mutig und rein in Gedanken, Worten und Werken.«

»Mit der Reinheit hapert es bei dir aber ein bisschen.«

»Manche Gesetze sind wichtiger als andere.«

»Ach ja?«, sagte sie, legte den Kopf zur Seite und verschränkte die Arme. »Was ist denn das wichtigste?«

»Loyalität«, antwortete ich sofort. »Ohne Zweifel.«

»Du hattest also nicht vor, deine Freunde zu verstoßen?«

»Nicht sofort«, sagte ich. »Ich fände es schön, wenn du ihnen eine Chance geben würdest.«

Sie riss eine Ecke von einer alten Zeitung auf meinem Schreibtisch ab und kritzelte etwas darauf.

»Meine Nummer«, sagte sie und klemmte den Zettel unter das Gummiband meiner Boxershorts. Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen, küsste mich keusch auf den Mund und strich mit ihrer kühlen Hand über meine nackte Schulter und meinen Arm. »Loyalität war die richtige Antwort.«

 

»Es wird Zeit«, sagt Tigger.

Wir steigen beide aus, die Zentralverriegelung des Wagens piept kurz. Er richtet meine Krawatte, schnippt Fussel von meinen Schultern und mustert kritisch meine Hose, die locker um meine Hüften schlackert. Ich habe knapp fünf Kilo abgenommen. Er knöpft meinen Mantel zu und zückt ein sauberes Taschentuch.

»Wisch dein Gesicht ab«, sagt er.

Ich tupfe die Tränen ab und will ihm das Taschentuch zurückgeben.

»Kannst du behalten«, sagt er. »Ich habe ein paar davon mitgebracht.«

»Ich hab nachgedacht«, sage ich.

»Worüber?«

»Die Typen, die ich engagiert habe, haben gute Chancen, die Sache vor den Bullen aufzuklären, weil sie nicht nur auf mich als Schuldigen setzen.«

»Und?«

»Und wenn sie den Täter finden, werde ich diesen Dreckskerl, der meine Frau ermordet hat, aufspüren und persönlich umbringen.«

Tigger blickt kurz auf seine Schuhe, bevor er den Blick wieder hebt. »Darüber können wir morgen reden«, sagt er leise. »Jetzt ist es Zeit, sich von Jenna zu verabschieden.«

Ich tupfe mir noch einmal das Gesicht ab, straffe die Schultern und mache mich auf den Weg zur Kirche.

4

Eine kleine Gruppe Reporter und Fotografen drängelt sich am Eingang der Kirche hinter einer Polizeiabsperrung. In der Einfahrt gegenüber hat ein Fernsehteam seinen Übertragungswagen geparkt und baut die Anlage auf. Der Mord an Jenna hat die Lokalpresse in dem ruhigen Teil von Westchester, in dem wir wohnen, heftig beschäftigt, aber ich bin doch unangenehm überrascht, wie viele Reporter extra zu der Beerdigung nach New Jersey angereist sind. Vielleicht hat Rommy seinen Verdacht gegen mich durchsickern lassen – ein angeklagter Wall-Street-Banker ist immer ein gefundenes Fressen für die Medien.

Kameras klicken, als ich näher komme, und ein Mann mit einem Plastikausweis um den Hals stürzt auf mich zu, ruft meinen Namen und hält mir ein Mikro hin. Ein uniformierter Polizist weist ihn knurrend darauf hin, dass die Presse keinen Zutritt zum Kirchengelände hat. Ich ignoriere den Auflauf und folge Tigger durch das schwere Holzportal in einen düsteren Vorraum. In dieser Kirche hat Jenna die Erstkommunion empfangen, hier sind wir vor sechzehn Jahren getraut worden. Heute begleiten klagende Orgelklänge und gaffende Trauergäste meinen Weg den Mittelgang hinunter, während ich mich auf Tiggers Rücken konzentriere und eine möglichst unbewegte Miene aufsetze.

Am Ende unseres Weges zum Altar zögert Tigger und sieht sich um. Die beiden ersten Bankreihen sind leer, Jennas Eltern sind nirgendwo zu sehen. Ich zucke, in liturgischen Fragen unbewandert, knapp mit den Schultern und weise mit dem Kopf nach rechts. Wohl wissend, dass die Frömmigkeit ihrer Tochter nie auf mich abgefärbt hat, hat Mary den Gottesdienst geplant. Als Tigger zur Seite tritt, ragt unvermittelt der schwarze Mahagonisarg in mein Blickfeld, und ein plötzliches Bild von Jennas geschundenem Körper lässt mich zusammenzucken. Seit ihrem Tod habe ich Albträume, sehe ihre Leiche neben mir im Bett liegen und weiß mit der Gewissheit eines Träumenden, dass meine Liebe sie wiederbeleben könnte. Nacht für Nacht drücke ich ihre kalten Glieder an meinen Körper, streiche das blutverklebte Haar aus ihrem Gesicht, drücke meinen Mund auf ihre wächsernen Lippen und versuche, ihr Leben einzuhauchen. Aber ein ums andere Mal strömt die Luft wieder aus ihren leblosen Lungen, und mit jedem kalten Hauch wächst meine Sehnsucht.

Mit klopfendem Herzen rücke ich neben Tigger auf die Kirchenbank und nehme ein Programm zur Hand. Als mein Atem sich wieder beruhigt, nehmen die verschwommenen Worte Gestalt an. Auf der Vorderseite steht Jennas Name, darunter die Phrasen, die ich als Kind zu murmeln gelernt habe, nur ohne den Teil mit dem Reich, der Kraft und der Herrlichkeit. Noch verwirrender als Jennas Glaube war ihre Treue zu einer Kirche, deren Lehren sie so häufig zur Weißglut brachten. Weil sie auf einer katholischen Hochzeit bestand, musste ich ein halbes Dutzend religiöser Unterweisungen über mich ergehen lassen und einen feierlichen Eid leisten, unsere Kinder in dem »einen wahren Glauben« zu erziehen. Für die Torturen des Katechismus wusste Jenna mich zwar angenehm zu entschädigen, aber trotz all unserer Bemühungen hatten wir nie Kinder, die wir erziehen mussten. Wäre es besser, jetzt ein gemeinsames Kind an meiner Seite zu haben? Besser und schlimmer vielleicht.

Pater Winowski, Jennas Gemeindepfarrer, kommt in schwarzgoldenem Talar aus der Sakristei. Ich bin froh, dass er den Gottesdienst hält. Jenna mochte ihn sehr gern. Sie haben sich gegenseitig Bücher empfohlen, und alle paar Wochen besuchte sie ihn in seinem Pfarrhaus und kochte nach Rezepten seiner Großmutter polnische Gerichte für ihn. Er ist ein pummeliger, leicht hektischer Mann, der ein paarmal bei uns zu Gast war, wo er vor, während und nach dem Abendessen Wodka trank und nervös kicherte, wenn Jenna ihn wegen absurder vatikanischer Dogmen wie dem Kondomverbot ins Gebet nahm. Heute wirkt er verzweifelt, seine rot geränderten Augen glänzen vor innerer Bewegung. Seine Trauer rührt mich.

»Peter«, sagt er und kommt auf mich zu, »ich muss Sie kurz sprechen.«

»Selbstverständlich«, antworte ich verwirrt. Tigger macht Anstalten, ebenfalls aufzustehen, aber ich lege eine Hand auf seine Schulter.

Pater Winowski führt mich in den Ankleideraum der Messdiener, in dem ein paar Teenager in schwarzen Messgewändern Karten spielen. Er scheucht sie hinaus und schließt die Tür.

»Ich würde gern einen Moment um göttlichen Beistand bitten«, sagt er mit brechender Stimme. »Vielleicht möchten Sie ebenfalls beten.«

Er senkt murmelnd den Kopf, und ich tue es ihm voller Unbehagen nach. Nach einer halben Minute blickt er wieder auf.

»Ich muss Ihnen etwas erklären«, sagt er und verschränkt nervös die Finger. »Ich weiß nicht, ob ich richtig oder falsch gehandelt habe. Ich konnte noch nicht mit meinem Beichtvater darüber sprechen.«

»Bitte«, sage ich beunruhigt.

»Sie wissen, dass die Kirche in den vergangenen Jahren große Probleme mit den Behörden hatte. Auf Anweisung des Bischofs müssen wir jeden Behördenvertreter behandeln wie ein rohes Ei. Niemand will weitere Aufmerksamkeit der Polizei erregen.«

»Erzählen Sie mir, was passiert ist«, sage ich mit trockenem Mund.