Eine Achtzehnjährige jubelt in ihrem Tagebuch über den schönsten Sommer ihres Lebens. Es ist nicht irgendeine junge Frau und auch nicht irgendein Sommer. Ingeborg Bachmann hält ihr Erleben des Kriegsendes fest. Dabei ist nicht allein der ersehnte Frieden Grund für ihre Euphorie, sondern auch die tiefe Verbindung mit dem britischen Besatzungssoldaten Jack Hamesh. Die Gespräche mit ihm, dem Juden, der 1938 als Kind aus Wien flüchten mußte und seine Eltern im Holocaust verlor, prägen sie tief. Er wird ihr, nachdem er in das damalige Palästina ausgewandert ist, in berührenden Briefen schildern, wie sie ihm den Glauben an die Menschen zurückgab.

Ingeborg Bachmanns ergreifendem Kriegstagebuch sind in diesem Band die erhaltenen Briefe von Jack Hamesh an sie zur Seite gestellt. Zusammen bilden sie ein einzigartiges Dokument des Dialogs und der Zuneigung zwischen Kindern der Opfer und der Täter.

Ingeborg Bachmann, geboren am 25. Juni 1926 in Klagenfurt, starb am 17. Oktober 1973 in Rom. Sie ist eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts.

Hans Höller, geboren 1947, Professor am Institut für Germanistik der Universität Salzburg; Mitherausgeber von: Ingeborg Bachmann/Paul Celan: Herzzeit. Briefwechsel. Suhrkamp 2008.

Ingeborg Bachmann

Kriegstagebuch

Mit Briefen
von Jack Hameshan
Ingeborg Bachmann

Herausgegeben
und mit einem Nachwort
von Hans Höller

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Der vorliegende Text folgt der ersten Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4243.

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2011

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Umschlagabbildung: Privater Nachlaß Ingeborg Bachmann

Umschlaggestaltung: Göllner, Michels, Zegarzewski

eISBN 978-3-518-73080-5

www.suhrkamp.de

Inhalt

Ingeborg Bachmann
Kriegstagebuch

Jack Hamesh
Briefe an Ingeborg Bachmann

Anhang

Nachwort

Editorischer Bericht

Ingeborg Bachmann
Kriegstagebuch

Mein geliebtes Tagebuch, jetzt bin ich gerettet. Ich muss nicht nach Polen und nicht zur Panzerfaustausbildung. Papa war da und ist von Vellach nach Klagenfurt gefahren; er ist zu Dr. Hasler gegangen, der ihm geraten hat, mich sofort an der Lehrerbildungsanstalt anzumelden, denn man braucht so viele Lehrer. Das hätte ich mir auch nicht träumen lassen, dass mich die verhasste Lehrerbildungsanstalt einmal retten würde. Ich bin sofort in den letzten Jahrgang eingeschrieben und aufgenommen worden, zu einem »Schnellsiederkurs« eigentlich, und man muss schon unterrichten, während man noch selbst in die Schule geht. In der Kr. a. ist alles leicht gegangen. Schlimm war es nur bei der Referentin für die Ausgleichsstudentinnen. Zweimal war ich dort, das erstemal war sie nicht da, ich konnte mich kaum mehr an sie erinnern, an ihr Gesicht, nur noch an die schreckliche Anmeldung, bei der sie mir sagte, ich müsse mich »gut führen«, [sonst] wäre ich trotz dem guten Zeugnis erledigt. Und an »Mädel« mit dreifachem ä. Diesmal hat sie mir wieder ins Gewissen reden wollen, aber ich bin ihr zuvorgekommen, weil ich von H. schon gewusst habe, wie man es machen muss, und habe gesagt, ich sei jetzt sicher, dass ich mich für ein Studium nicht eigne und daher Lehrerin werden wolle, auch weil es kriegswichtiger sei, für die Kinder, habe ich dazugesagt, und dagegen konnte sie nichts sagen. Nur habe ich gewusst, dass man ein Formular unterschreiben muss mit eidesstattlicher Erklärung, dass man auf das Studium verzichtet. Ich habe einen Augenblick gezögert und dann unterschrieben. Nein, ich bin sicher, in diesem Land werde ich nicht mehr studieren, in diesem Krieg nicht mehr. So ein Irrsinn, auch nur einen Augenblick zu zögern! Heute war die erste Schulstunde. Ich war fast froh, wieder in die Schule gehen zu können. Aber kann man das Schule nennen. Ich glaube, die Mädeln in der Klasse sind alle Fanatikerinnen. Nach der ersten Stunde war schon Vollalarm, und aus wars. Aber Wilma von unserer Klasse ist auch da. Sie hat das gleiche gemacht wie ich. Sie ist nicht mitgekommen, sondern nach Annabichl mit dem Rad, nachhause, und ich liege hier am Waldrand, an unserem Platzerl. Issi hat wieder den Mehlpapp aus der Apotheke mitgebracht, und wir holen zum Anrühren Wasser vom Bach. Sonnenschein. Sie schläft und sonnt sich, der Alarm dauert schon fünf Stunden. Noch keine Bomben. Einmal waren zwei Tiefflieger da und haben ein bisserl geschossen.

Die Russen sind in Wien und wahrscheinlich auch schon irgendwo in der Steiermark. Ich habe mit Issi über alles gesprochen. Es ist nicht so einfach. Sie weiss nicht, ob sie etwas aus dem Giftschrank nehmen kann. Vor den Russen fürchten wir uns beide. Ich will ja nicht alles glauben, was geredet wird, aber niemand kann ja voraussehen, was sie mit uns machen werden, ob sie uns hierlassen oder nach Sibirien bringen. Rechnen darf man nur mehr mit dem Schlimmsten.

Was wirst du tun Gott, wenn ich sterbe … Ich gehe nicht mehr in den Bunker hinauf. Tschörners sind tot, und Ali ist am Tag drauf eingegangen. Unser Ali. In der Strasse ist jetzt niemand mehr. Die Tage sind so sonnig. Ich habe einen Sessel in den Garten gestellt und lese. Ich habe mir fest vorgenommen, weiterzulesen, wenn die Bomben kommen. Das Stundenbuch ist schon ganz zerdrückt und verschmiert. Es ist mein ganzer Trost. Und Baudelaire! Bientot nous tomberons dans les froides tenebres, adieu vive clarte ich brauche nicht mehr ins Buch zu sehen. Gestern ist das grösste Geschwader gekommen, das je da war. Das erste ist weiter geflogen, das zweite hat abgeworfen. Das Dröhnen war so gewaltig, dass mir der Atem stehen geblieben ist, und dann bin ich doch in den Keller gegangen, was ja lächerlich ist in unserem Häuserl, weil es nicht einmal eine kleine Bombe aushalten würde, geschweige denn eine 100 kg Bombe. In der Innenstadt soll es furchtbar aussehen, und auch hier schaut es aus wie Weltuntergang. Aber ich habe keine Angst mehr, nur wenn die Bomben fallen ein körperliches Gefühl, etwas verkrampft sich in mir. Aber in meinem Kopf habe ich mein Testament gemacht. Vielleicht ist es sündhaft, einfach sitzen zu bleiben und in die Sonne zu schauen. Aber ich kann nicht mehr in den Bunker gehen, stundenlang wenn das Wasser an den Felswänden herunterrinnt und die Luft so schlecht wird, dass man halb ohnmächtig wird. Es ist zwar Sprechverbot wegen der Luft, aber diese stumpfen, stummen Massen sind auch unerträglich. Der Gedanke, dort womöglich mit allen wie in einer Viehherde zugrundezugehen, ist mir schauerlich. Wenigstens im Garten. Wenigstens in der Sonne.

Anderluh hat heute früh gesagt, wir dürfen nicht mehr fort bei Vollalarm. Er ist wie ein Wahnsinniger. In der Früh hat er bei Wilma ihr Silberketterl mit dem Kreuz gesehen und sie fast die Stiege hinuntergeworfen vor Wut. Morgen müssen alle um 7 h früh auf die Felder vor Annabichl hinaus und Gräben ausheben »Klagenfurt muss verteidigt werden bis zum letzten Mann und zur letzten Frau«, hat er gebrüllt. Ich habe gleich mit Wilma beraten. Sie darf nicht hin, sie muss ja zu ihren Geschwistern. Sie sind ausgebombt und ihre Mutter liegt irgendwo und ist sterbenskrank. Ich werde allein hingehen und die Situation auskundschaften und zur Not eine Ausrede für sie erfinden. Issi aber, die gute, liebe Issi hat mich getröstet, wir sind zum Waldrand wieder, und am Ende haben wir sogar gelacht. Der »Herr in Deckung« war wieder da und ist zwanzig Meter von uns herumgekrochen wie ein aufgescheuchtes Wiesel. Wie die Tiefflieger auf die Züge geschossen haben, hat er immer den Kopf aus den Stauden gesteckt und hysterisch gerufen: Deckung, meine Damen, Deckung, meine Damen! – und Issi, die immer halb erstickt, wenn sie einmal im Lachen drin ist, hat am Ende schon geschluchzt und gesagt »Ist der aber gut erzogen!« Dann hat sie mir die neuesten Witze erzählt, die sie aus der Apotheke hat, und wir haben kalte Erdäpfel gegessen. Morgen heissts geschickt sein.

Alle Kinder waren da zum Schaufeln, aber keine einzige Lehrperson, auch Anderluh natürlich nicht. Die Klassenführerinnen waren natürlich verantwortlich, und ausserdem ist dieser ganzen Schafherde wohl nicht zum Bewusstsein gekommen, was diese vorbildlichen Herren Lehrer sich anmassen. Ich habe vor Wut mit meiner Schaufel etwas herumgestochert in dem harten Boden, mir war überhaupt nicht schlecht, aber ich muss ganz weiss gewesen sein, weil die neben mir nach einer halben Stunde gesagt [hat] »Ist dir schlecht«. Ich habe etwas Undeutliches gemurmelt und immer nur gedacht, dass das zum Himmel schreit, was man mit uns treibt. Die Erwachsenen, die Herren »Erzieher«, die uns umbringen lassen wollen. Wie der Vollalarm gekommen ist, sind ein paar von den Kleineren unruhig geworden, weit und breit kein Haus und kein Keller, und die Fabriken in der Nähe! In der Nähe war eine Holzhütte und eine zerbombte Gärtnerei. Dort war mein Rad, und ich hab gesagt, dass ich mich einen Augenblick niedersetzen muss. Zu meinem Unglück sind aber knapp vorher ein paar ältere Führer von der Hitlerjugend gekommen, die die Gräben kontrolliert haben und »Weitermachen« geschrien haben. Trotzdem bin ich weg, hab mich an die Hüttenwand gelehnt, und weil niemand mich gut hat sehen können, bin ich aufs Rad gesprungen und davongefahren. In der Pischeldorferstrasse sind schon die Bomben gefallen, ich habe mich in einen alten Trichter in die Wiese gelegt und nach einer halben Stunde weiter, zu Wilma.

Wilma ist wohl beruhigt. Wir gehen beide nicht mehr in die Schule. Kennen tun uns sowieso noch nicht alle Lehrer. Der Anderluh kennt mich wahrscheinlich überhaupt nicht und Hasler wird bestimmt nichts sagen. Wilma hat Angst, dass wir wegen Desertion erschossen werden könnten. Aber in diesem Wirbel jetzt halt ichs für ausgeschlossen, dass sich jemand um uns kümmert. Im Keller habe ich die wichtigsten Sachen zusammengesucht. Die will ich ins Gailtal mitnehmen, wenn es soweit ist. Aber vorläufig bleibe ich noch. In einer Kiste hab ich die Liselotte gefunden. Ich habe ihr das rosa Rüschenkleid angezogen und sie liegt jetzt mit mir im Bett. Sie kann nicht mehr »Mama« sagen, und ich auch nicht. Ach, Mutti, Mutti! Und Heinerle, mein Engel. Keine Post. Nichts.

Nein, mit den Erwachsenen kann man nicht mehr reden.