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Impressum

© e-book Ausgabe CEP Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2015

ISBN 978-3-86393-523-8

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Übersetzung, Vervielfältigung (auch fotomechanisch), der elektronischen Speicherung auf einem Datenträger oder in einer Datenbank, der körperlichen und unkörperlichen Wiedergabe (auch am Bildschirm, auch auf dem Weg der Datenübertragung) vorbehalten.

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»WIR HABEN NICHTS GEWUSST«

Nachschrift

Offenburg, Appenweier, Achern; Namen auf Schildern an den Landstraßen, undeutliche Echos aus meiner Kindheit.

Aus den blaugrünen, dunstig verregneten Wäldern des Schwarzwaldes fahren wir in die Rheinebene. Wir kommen aus der Schweiz und nehmen auf dem Rückweg in die Niederlande die Route über mein Herkunftsland.

Beim Überschreiten der Grenze fühle ich die Reste fünfzig Jahre alter Angst, nicht durchgelassen zu werden, und dann den prickelnden Triumph beim Handzeichen des Beamten, der uns in sein Land fahren läßt, ohne auch nur den Paß zu kontrollieren.

Mein kleiner roter Citroen mit niederländischem Nummernschild, meine Frau neben mir und meine schlafende jüngste Tochter auf dem Rücksitz erwecken das Vertrauen der Grenzposten an allen Übergängen. Ich bin kein unerwünschter Flüchtling mehr, sondern ein Tourist, der seine Devisen ausgeben will.

Ein Punkt auf der Landkarte, fast unauffindbar, ist Freistett am Rhein in der seit Jahrhunderten umstrittenen Tiefebene, die trotzdem von allen Machthabern vergessen wurde.

Darf ich die Heimreise nach den sonnigen Ferien am Genfer See durch eine Fahrt stören, die fünfzig Jahre alte Gespenster wachruft? Der Ortsname Freistett zieht mich magisch an, zieht das Kind von damals an, das auf dem Rücksitz des blauen Adlers seine Verwandten in einem hochgewirbelten Staubschleier aus seinem Leben verschwinden sah.

Auf ruhigen geraden Straßen, durch kleine Dörfer lenke ich den Wagen in der beinahe holländischen Landschaft. Ich fahre wortlos wie damals mein Vater fuhr. Ich sehe, was er sah, was ich sah. Einen Augenblick lang bin ich er.

An der Kreuzung verfehle ich die Abzweigung. Will ich wirklich sehen und hören? Nach rechts: das retuschierte Foto meiner Erinnerung, zweihundert Meter vor uns. Sand und Staub sind jetzt Asphalt. Die Schmalspurbahn ist verschwunden. Gehsteige an beiden Seiten, neu und sauber. Häuserfassaden: rosa, grün und gelb; moderne Geschäftsfronten: ein vollkommenes Potemkinsches Dorf.

Und doch noch dasselbe: die Haustür links, die Stalltür rechts, die überhängenden Dachgesimse, die flachen roten oder schwarzen Ziegel.

Ich suche das Haus. Erkenne es und kenne es nicht wieder. Ein Laden für Papier, Zigarren, Zeitungen. Die städtisch aussehende Verkäuferin weiß von nichts. Wem das Haus gehört hat, wer darin gewohnt hat, damals und später? Der Chef, jünger als meine Erinnerung alt ist, verweist mich an eine ältere Nachbarin zur rechten. Hinter ihrem Getränkeladen eine hochbetagte Schwiegermutter mit straffem grauem Haarknoten, wie ihn die Frauen des Dorfes in meiner Kindheit trugen. Ihr angegrauter Sohn führt das Wort. Auf dem breiten Gesicht ein Grinsen, mißtrauisch, dann verlegen, er ist auf der Hut, wird dann offen und ernst.

Ob er meine Tante und meine Vettern gekannt hat?

Freunde sind sie gewesen, und gute Nachbarn!

Er führt uns auf den Hof hinter dem Haus. Der braunschwarze Schäferhund hinter Gittern fletscht die Zähne und springt wild gegen die Stäbe, als spürte er die Nervosität seines Herrn. Dieser ruft nach einer alten Nachbarin, die auf dem Hof meiner Tante Hermine, hinter dem Haus mit dem Papiergeschäft, ihre Wäsche aufhängt.

Nichts ist verändert, nichts umgebaut. Die Stalltür, der Heuboden, die Grube, über der der Abtritt hing ... lächelndes Erinnern, ja, vor zehn Jahren abgerissen.

Das Gespräch in schwerem Dialekt läuft sozusagen um uns herum, über uns aber ohne uns. »Weißt du noch, die Bertha von nebenan, und die Rosel, die ein bißchen einfaltig war?«

Die alten Frauen und der Sohn entwirren die Zweige meines Stammbaums, auch solche, die ich selbst nicht gekannt habe.

Betretene Stille, als ich ihre Frage beantworte, was aus uns geworden sei. Lagernamen fallen wie Steine in eine Schlucht. Befangen sieht der Nachbar mich mit unruhigen Augen an, seine Finger zupfen an einem Knopf: »Wir haben nichts gewußt, die haben uns den ganzen Krieg lang für dumm verkauft.«

Dann auf einmal vertraulich lächelnd, halb zu uns, halb zu den Frauen um uns herum gewandt, erzählt er von seiner Kindheit, als die Väter ihren Söhnen mit einer neuen Strafe drohten: dem KZ.

Das Lager bei Kuhberg war nicht weit, Gerüchte darüber sickerten ins alltägliche Leben durch, aber von der »Endlösung der Judenfrage« hat niemand im Dorf damals gewußt. Erst nach dem Krieg hätten sie davon gehört und nicht begreifen können, was »mit die Judde« geschehen war.

Selbstsicher setzt er das moralische Großreinemachen fort. Mit schrägem Blick sieht er mich an und schimpft auf die Alliierten, die Franzosen, die Holländer, die seiner Meinung nach alles gewußt und trotzdem den Judas gespielt haben. Unentwegt redet er weiter: Sein Vater trug die schwarze Uniform der SS und mußte in Dachau Dienst tun, aber sein Gewissen konnte die Last nicht ertragen. Noch vor Kriegsausbruch kam er ganz verstört nach Hause und weigerte sich, das befohlene Henkerswerk länger auszuüben.

Was soll ich, in meinen Zweifeln, in meiner Unsicherheit sagen? Was haben sie wirklich gewußt, was aus ihrem Bewußtsein verdrängt, um leben zu können?

Fort will ich, weg von dem Ort, wo meine gebrechliche Tante mit ihren achtzig Jahre alten Augen mitansehen mußte, wie in der Kristallnacht des November 1938 ihr armseliger kleiner Laden und ihre Wohnung zertrümmert wurden. Mein Kopf dröhnt vor Wut, als wir an dem tobende Schäferhund vorbei wieder die Straße erreichen.

Aber vor Wut auf wen?

Auf den alten Gustaf, der auf seinem Ostfront-Bein angehinkt kommt, um die Erinnerungen an meine umgekommenen Verwandten aufzufrischen? Auf Hilda, die Landarbeiterin, mit der Schaufel auf der Schulter und den großen Körben voll Gemüse am verrosteten Fahrradlenker, die mit kargen Worten erzählt, sie sei damals Dienstmädchen bei der Familie gewesen?

Vor Wut über das grauenhafte Schicksal, das die Juden Europas getroffen hat?

Meine Tochter auf dem Rücksitz des Autos hat ihren Walkman auf den Ohren. Wir fahren weiter. Die alten Leute winken. Wir winken zurück, Zweifel und Verwirrung im Herzen.

Nachts werden wir zu Hause sein, schneller als damals. Und frei.

Die Fahrt durch grünes Niemandsland, den Blick auf Unendlich gestellt, den Fuß fest auf dem Gaspedal: die deutsche Autobahn.

Gedanken an die Vergangenheit haben keine Chance. Hitlers Heeresstraßen sind vorzüglich geeignet, um schnell von Süden nach Norden zu gelangen, aber Grübeleien sind gefährlich.

Die Städte sind Namen auf blauen Schildern: Wörter aus dem Atlas. Bis plötzlich der Doppelname auftaucht, der zur Einkehr mahnt: Baden-Baden, Wiege und Kindheit.

Diesmal ist es Neugier, die mich in den Ort zieht. Schon vor Jahren habe ich dem Wunsch von Frau und Kindern nachgegeben und bin über die Abzweigung in meine Kindheit gefahren. Damals sah ich die Stadt wie ein Fremder und verschloß mich allem, was Schmerz bereiten konnte. Später, beschützt und sicher auf der Analyse-Couch, stiegen die Bilder herauf, die Tränen der Trauer und Wut, und ich bekannte mich zu den Jahren meiner Knabenzeit.

Ein paar Kilometer nur: Wir fahren an den alten gelben Wohnkasernen der Vorstadt vorbei. Ich erkenne nur wenig. Der Radius meiner Kindheit reichte nicht so weit. Wo die Stadt beginnt, ist plötzlich alles wieder da. Das Damals und Jetzt fallen beinahe zusammen. Die Rosensträucher, die Blumenbeete, die raunende Murg, klar wie ein Kristall, die luxuriösen Hotels, vor denen sich ein Mercedes fast bescheiden ausnimmt, die Trinkhalle mit den einst gruseligen, jetzt abstoßend häßlichen Wandmalereien von Rittern, Drachen und blassen Jungfrauen, die Konditoreien mit bunten Sonnenschirmen und weißlackierten Stühlen: Alles ist gleich und doch anders. Heute Mädchen in Shorts, Jungen in Jeans, damals Männer mit Panamahüten und Frauen in Seide.

Das Möbelgeschäft meiner Oma, unverändert, gehört noch immer dem Mann, dessen Name zu Hause mit Zorn ausgesprochen wird. Und Bismarck starrt immer noch unerbittlich in die Ferne.

Zu Fuß, bürgerliche Eintagstouristen, gehen wir weiter. Ich betrachte Fassaden, die keinen Touristen interessieren, ich weiß genau, wo ich bin. Vor meiner Schule bleibe ich stehen. Niemals bin ich fortgewesen, nichts hat sich verändert. Zusammen mit Harro fliehe ich über die Treppe zur Stephanienstraße. Jetzt läßt die Steigung mich meine Jahre spüren. Keuchend stehe ich an der Stelle, wo wir unsere Ranzen als Waffen gebraucht haben, und suche nach Zeichen an dem Ort, wo einst die Synagoge stand.

Frau und Tochter folgen mir wie Pflegerinnen, die hinter einem Schlafwandler herlaufen, besorgt um meine Sicherheit.

Die Synagoge aus weißem Stein mit ihren schlanken Säulen und bogenförmigen Fenstern, den vielfarbigen Rosetten und der breiten Treppe mit den hohen Stufen, die ich als Kind mit Mühe erklimmen konnte, steht nicht mehr. Eine ebenerdige Garage für Lastwagen hat ihren Platz eingenommen. Kein Zeichen der Erinnerung an den Ort, wo SS-Leute in schwarzen Uniformen am Abend des neunten November 1938 alte jüdische Männer ohne Kopfbedeckung dazu zwangen, Nazilieder zu singen, das Gesicht dem Schrein mit den heiligen Thorarollen zugewandt, die unter dem Hohngelächter der Männer des Totenkopfregiments angezündet wurden und wie der brennende Dornbusch loderten.

Die Photographien, die einer von ihnen als Andenken an das komische Ereignis gemacht hat, und die Jahrzehnte in Archivschränken verborgen lagen, sind unauslöschlich in mein Hirn geätzt.

Das brennende Gebetshaus, in Ruß und Rauch gehüllt, die in Marschreihen gezwungenen Greise ohne Hüte, mit blassen, nichts begreifenden Gesichtern über dunklen Wintermänteln, entkräftet von Rekrutenübungen und Todesangst: Kristallnacht.

»Wir haben nichts gewußt, fast nichts«, lautet stets die Antwort, die der Frage vorgreift und sie zum Schweigen verurteilt.

Hier, in der Biegung der Stephanienstraße, quält sie mich.

Dies ist kein Land von Blinden, Stummen, Tauben. Jeder, der hören wollte, konnte hören. Jeder, der sehen wollte, konnte sehen. Die Reden, in denen heisere Demagogen unseren Untergang verkündeten, tönten seit Januar 1933 aus allen Lautsprechern. Die Maßnahmen zu unserer Isolierung, mit denen sie Tag für Tag ein Stück von unserer Freiheit abschnitten, standen in fetten Lettern in allen Zeitungen.

Unzählige Deutsche ließen sich zur Barbarei verleiten.

Unzählige Deutsche, gleichgültig oder vor Angst gelähmt, sahen uns direkt vor ihren Augen ertrinken.

Nur einzelne Mutige, wie der Kellner Fritz in Riva am Gardasee, retteten einen Ertrinkenden aus den Fluten.

Gerhard L. Durlacher

Ertrinken

INHALT

Peterchens Mondfahrt

Kerzen und Fackeln

Geburtstag

Der Ertrinkende

Maria und Lena

Schulzeit

Auswanderung

»Wir haben nichts gewußt«
Nachschrift

PETERCHENS MONDFAHRT

In der Ankleidekabine von Kindlers Strickwarengeschäft hängt der Gummigeruch von alten Armblättern und ein warmer vertrauter Mief wie in Großmutters Zimmer. Die Stecknadelköpfe auf dem Parkett pieksen in meine Ferse, als ich auf einem Bein hüpfend mit dem anderen in das Hosenbein des dunkelblauen Matrosenanzugs fahre.

Mit halb zugekniffenen, stechenden Augen und spöttischbös gespannten Lippen beobachtet der Besitzer mein Gehopse. Meine Mutter, die, wie ich finde, in ihrem hellbraunen Fohlenpelz sehr schön und vornehm aussieht, steht verlegen schweigend mit prüfendem Blick halb hinter ihm. Er ist ein Feind, verkauft aber an Juden, wie ich zu Hause gehört habe. Die Hosenbeine sind unangenehm lang und kratzen grob über den Knien, und plötzlich weiß ich, so müssen sich die Nesselhemden angefühlt haben, die Elisa im Märchen für die Schwanenprinzen webte.

Verdrossen schaut mein Spiegelbild mich an, denn die Matrosenmütze, die vieles wettgemacht hätte, bekomme ich nicht. Stattdessen eine Wollmütze mit Schild, die an Festtagen auch als vorgeschriebene Kopfbedeckung dienen kann. Tausendmal lieber hätte ich eine Tiroler Lederhose mit hübschen Hirschhornknöpfen bekommen, wie die Nachbarsbuben sie tragen, aber den Gedanken daran wage ich nicht laut auszusprechen.

Kummer und Zorn überkommt mich, als der Saum der neuen Hose sich an der Innenseite meiner eiskalten Schenkel reibt.

Die Aussicht, in ein paar Tagen im großen Schauspielhaus die Weihnachtsvorstellung von Peterchens Mondfahrt mit meinen Eltern zu besuchen, läßt mich das Ungemach vergessen.

In einem Nebel kleiner Schneeflocken, durch den die Strassenlaternen wie Vollmonde schimmern, gehen wir zu dritt an den Fenstern der Geschäfte und Wohnhäuser entlang. Hinter den halbgeöffneten Vorhängen sieht man leuchtende Weihnachtsbäume und Adventskränze, die es bei uns zu Hause nicht gibt. Mutter kann mir meine Sehnsucht nachfühlen, aber Vater schlägt den Wunsch nach dem winterlichen Grün barsch ab: Dafür haben wir Chanukka.

Er geht ein paar Schritte vor uns her. Ein Riese in dunklem, schwerem Mantel und einem steifen schwarzen Hut mit runder Krempe, einem Bowler. Sein Spazierstock, ein Wunderding mit verborgenem Regenschirm, ist größer als ich. Fast nie benutzt er ihn als Stütze beim Gehen; es ist ein langer Zeigefinger, mit dem er auf Menschen und Gegenstände zeigt und den er beim Grüßen emporschwenkt.

An der Ecke zum Leopoldsplatz gesellt sich Onkel Rudi, Vaters Schulfreund, lachend zu uns. Er lacht oft und bringt es manchmal fertig, daß sich die scharfen Falten um Vaters Mund glätten. Von hier aus kann ich das hell erleuchtete Schaufenster seines Geschäftes mit dem Spielzeug, dem Porzellangeschirr und den Küchengeräten sehen. Die Spielzeugpistole, die er mir kürzlich geschenkt hat, hüte ich wie einen Schatz, aber leider ist die Munition ausgegangen und darf nicht nachgekauft werden.

Wir schlagen die Richtung zum Kurhaus ein, das ich im nebligen Licht undeutlich wiedererkenne, von den Sonntagmorgenspaziergängen zur Trinkhalle, wo ältere Leute das übelriechende Wasser trinken und wo ich von den schaurigen Wandmalereien mit geharnischten Rittern, Drachen, schnaubenden Pferden und verängstigten Jungfrauen eine Gänsehaut bekomme.

Links vom Kurhaus schimmern die milchweißen Kugeltrauben der Theaterlaternen durch die kahlen Bäume der Lichtenthalerallee. Während der Sommer- und Herbstspaziergänge mit Mutter und Senta, meiner schwarzen Schäferhündin, hätte ich mir nie träumen lassen, daß abends das rosa Theatergebäude zu einem Märchenpalast wird.

Rudi beschleunigt plötzlich seine Schritte, rennt mit flatternden Hosenbeinen voran und deutet auf zwei überlebensgroße Schneefiguren, rosafarben im Widerschein der Theaterfassade. Ein schlanker Mann, eine dicke Frau und zwischen ihnen ein großer dünner Windhund mit Kohlen als Augen.

An dem Hund erkenne ich die Figuren: meine Tante und ihren Verlobten, den Schauspieler mit Monokel, Pelzkragen und spitzen Schuhen. Die Kutscher der Droschken, in denen die beiden Abend für Abend ins Theater fahren, haben die Schneestatuen gemeinsam gebaut, aus Sympathie, oder, wie mein Vater behauptet, wegen der hohen Trinkgelder.

Die weiß-rosa Vorderfront des Theaters, der Balkon mit den Lämpchen, die Steinfiguren am First, alles erscheint größer, schöner, eindrucksvoller als bei Tage. Aus den Scheiben der vielen Bogenfenster funkelt Licht. Die mittlere der drei Eingangstüren steht weit offen und der rote Läufer kommt uns bis zur steinernen Treppe entgegen.

Alles um mich herum ist wie ein Märchen. Das dunkle Rot der unübersehbaren Stuhlreihen, der sanft ansteigende Fußboden, die hellblaue Decke mit rosa Baby-Engeln, die großen und kleinen goldfarbenen Leuchter, die Masken und pausbäckigen Posaunenbläser, die riesigen, wie Baumpilze vorspringenden Balkons, der rotglänzende, wellige Vorhang, das alles gleicht einem Königspalast, in den ich, der kleine Muck, auf Zauberpantoffeln hineingeflogen bin.

Nicht sehr weit vom Vorhang schiebe ich mich zwischen den Eltern zur Mitte einer Sesselreihe und versinke in rotem Plüsch. Hinter mir kichern zwei Mädchen mit blonden Zöpfen und Haarschleifen. Umzusehen getraue ich mich nicht.

Als die Lichter langsam verlöschen, verstummen auch die Geräusche unter den »Psst«-Gezischel der Eltern. Ein Hauch von Stille und Erwartung liegt über dem Saal bis zu dem Augenblick, als rechts hinter dem Vorhang ein Schlitten mit künstlichen weißen Rehen und Glöckchen auf die Bühne gleitet. Ein kleiner, gebeugter Mann mit langem Bart, Pelzmütze und einer braunen Kutte steigt ab. Auf seinem Rücken ein voller Jutesack, den er brummend mitten auf der Bühne auf den Boden stellt. Eindringliches Geflüster entlang den Reihen: »Der Weihnachtsmann, schau, der Weihnachtsmann.« Statt des erwarteten Märchenspiels, von dem meine Eltern mir zu Hause erzählt haben und dessen Melodien mir als Schlaflieder vertraut sind, steht dort ein Weihnachtsmann und macht mir Angst mit seiner Rute und dem Sack, in den er die Kinder steckt und mitnimmt.

Von seinem hohen, beleuchteten Platz herab spricht er zu uns, aber was er sagt, dringt nicht zu mir durch. Dann nennt er einen Namen oder zeigt auf ein Kind, das zu ihm heraufkommen soll. Einige sind in Tränen aufgelöst, andere klettern ganz mutig auf die Bühne. Mit polternder Stimme fragt er, ob das Kind in diesem Jahr ungehorsam gewesen sei. Er läßt die Rute liegen und packt Honigkuchen und Marzipan aus dem Sack, wenn der Junge oder das Mädchen ein Lied für ihn singt oder ein Gedicht aufsagt.

Das Herz stockt mir schier vor Schrecken, als ich meinen Namen höre. Mit glühendem Gesicht und Tränen in den Augen versuche ich vergeblich, meine Freiheit zu verteidigen. Der verlockende Lebkuchen und die ermutigenden Worte meiner Mutter reichen nicht aus, das Gefühl der Beklemmung zu vertreiben. Dann vernehme ich ein kichernd geflüstertes »Hosenscheißer« hinter mir und zornig stoße ich die Knie beiseite, die mir den Weg zum Seitengang versperren.

Die Stufen zur Bühne sind höher als vermutet, und als ich in die Schlucht des Orchestergrabens hinunterblicke, vergesse ich die Angst vor dem Weihnachtsmann. Hier oben sieht er viel größer aus. Er winkt mir freundlich zu und zögernd gehe ich über den Bretterboden zu ihm hin. Ich wage nicht, ihm ins Gesicht zu schauen. Die Reisigrute und der Sack halten mich in ihrem Bann, und als er brummend fragt, ob ich artig oder ungezogen war, antworte ich mit heiserem Flüstern.

Ich kann ihm ja nicht gut von meiner Missetat im Café Schweinfurt berichten, wo ich aus Langeweile und Ärger über das endlose Geschwätz meiner Tanten mit der Inhaberin alle Schokoladenröllchen und Kirschen von einer großen weißen Schwarzwäldertorte geklaubt und mir in den Mund gesteckt habe.

Ob ich ihm ein Lied vorsingen wolle? Ein Gedicht aufsagen? Meine Kehle ist wie zugeschnürt, mein Kopf wie eine Windmühle. Er brummt: »Kommt ein Vogel geflogen ...« Ich versuche zu singen, aber kein Ton kommt aus meinem Mund. Im Saal werden Stimmen laut. Er beugt sich vor und hält mir sein Ohr hin, damit ich hineinflüstere.

Dieses Ohr kenne ich, auch das Haar drumherum, und als ich seine Augen aus der Nähe sehe, weiß ich, daß jetzt alles gut ist. Die Angst verfliegt, ich möchte ihn umarmen.

Meine Kehle wird frei und meine Stimme jubelt: »Du bist ja gar nicht der Weihnachtsmann, du bist der Onkel Herbert!«

Ich merke, daß er erschrickt und mit zusammengepreßten Lippen lächelt, als von unten Zischen und schallendes Gelächter ertönt. Warum der Nachbar, der über uns wohnt, der Schauspieler, der so oft zum Kaffee zu uns kommt, jetzt auf einmal den Weihnachtsmann spielt, verstehe ich nicht. Ich singe ihm das Liedchen, das er mir vorgebrummt hat, ins Ohr, bekomme ein großes Lebkuchenherz und steige im grellen Scheinwerferlicht glücklich und zufrieden die Treppe neben dem gruseligen Orchestergraben hinunter.

Auf dem Weg zu der Reihe, wo meine Eltern sitzen, schauen mich die Leute mit schmunzelnden oder bösen Gesichtern an.

An vielen Knien vorbei schiebe ich mich zu meinem Platz. Ich bin noch ganz benommen von meinem Abenteuer, so daß ich die Bemerkungen der Zuschauer gar nicht höre. Die blonden Mädchen in der Reihe hinter mir wenden den Blick ab, als sei ich Luft. Ihr Vater beugt den Kopf mit der kurzgeschnittenen Stoppelfrisur zu mir herüber und herrscht mich wütend an: »Frecher Judenbub, ich könnte dich ...«

Die folgenden Worte gehen in den ersten Takten der Ouverture unter und mit klopfendem Herzen warte ich, bis der Vorhang aufgeht.

KERZEN UND FACKELN

»Boruch ...« »boruch ...« »Atho ...« »atho ...« »Adonai...« »adonai«: Wort für Wort plappere ich die unverständlichen Segenssprüche nach, die meinen unsicheren Versuchen vorangehen, mit einer brennenden Kerze eine andere Kerze anzuzünden. Auf dem halbrunden Deckel einer Keksdose, die mit roten Rosen auf weißem Grund bemalt ist, steht eine Kerze, die ich, befangen von der Feierlichkeit des Augenblicks, beinahe umstoße.

Links und rechts von mir drei festlich dunkel gekleidete Gestalten mit schwarzen Hüten und ernsten Feiertagsgesichtern, erhellt vom flackernden Schein der drei Chanukka-Leuchter auf dem Buffet. Mein Vater, Onkel Jacob, Großmutters jüngerer Bruder, und Albert, der »Sekretär-Onkel« mit demselben Nachnamen aber undurchschaubarer Familienzugehörigkeit, haben unter Absingen der drei Segenssprüche in einer fremdartigen, eintönigen Melodie die erste Kerze auf ihrer Menora angezündet; zuerst Onkel Jacob als ältester. Ich schäme mich über meine Unwissenheit und ärgere mich, weil ich als Jüngster mein Licht nur auf dem Deckel voller Wachsflecke anzünden darf.

Hinter mir Großmutter, Mutter und Tante, auch sie in festlichen Kleidern mit einem Schal auf dem Kopf, als wäre es hier drinnen kalt. Beifälliges Gemurmel und Seufzer der Erleichterung werden laut, als meine Kerze aufflammt. Endlich bin ich fertig mit dem Nachsagen der fremden Laute. Großmutter legt die Hände auf mein Käppchen, murmelt ein paar hebräische Worte und endet mit demselben Wort, mit dem ich gelernt habe, mein Abendgebet zu beschließen: Omein. Dann flüstert sie, für alle hörbar: »Wenn du die Broches aufsagen kannst, bekommst du von mir eine Menora, ganz für dich allein.«

Der Tisch mit den Päckchen lenkt wie ein Magnet meine Aufmerksamkeit von dem Chanukkalied ab. Alle singen es auf ihre eigene Weise, ohne auf Vater zu achten, der die Melodie auf dem Flügel spielt und versucht, uns mit seiner Kantorstimme den Takt vorzugeben.

Erleichtert trage ich die Hüte in den Gang. Das Fest, von dem meine Mutter meint, es sei wie Weihnachten, kann beginnen. Ein Baum, wie andere Kinder ihn zu Hause haben, mit Päckchen an den Zweigen, mit Lichtern, Girlanden, Nüssen und Lebkuchenherzen, wäre mir viel lieber, aber die große Schachtel auf dem Tisch verscheucht meine heimlichen Träume. Meine Finger sind steif vor Aufregung, als ich die faserige Schnur aufknüpfe.

Minuten später rutsche ich auf den Knien über den großen Perserteppich mit dem breiten Rand, der jetzt eine Straße ist, auf dem mein neues rotes Feuerwehrauto dahinbraust. Chanukka ist auch sehr schön!

Auf dem Leopoldsplatz, dem großen Platz, den ich nie überqueren darf, ohne daß jemand mich an der Hand hält, steht ein Riese von einem Tannenbaum, geschmückt mit Lichtern, Girlanden, silbernen Kugeln und unzähligen Sternchen. Davor ein Polizist in Grün mit einem schwarzen Helm wie ein umgestülpter Blumentopf, den er über die Wölbung des Hinterkopfes geschoben hat. Seine Arme gehen auf und ab wie bei einem Hampelmann und knicken an den Ellenbogen ein. Die ratternden Autos halten an, stinken, drehen eine Runde um den Baum und entfernen sich auf den Strahlen des Sterns, in dessen Mittelpunkt der Verkehrspolizist steht.

Marias schützende, warme Hand umklammert meine kalte Faust und drückt sie vor Vergnügen, als der Baum in Sicht kommt. »Er ist größer und schöner als in den vorigen Jahren«, sagt sie mit einem Wölkchen vor dem Mund und steckt unsere beiden Hände in ihre kitzelnde Manteltasche, als wir vor dem großen Stamm auf dem groben Pflaster stehenbleiben.

Jetzt fahren keine Autos mehr am Polizisten vorbei, wie es scheint, hat er nichts mehr zu tun. Um uns herum stehen Kinder mit ihren Vätern und Müttern. Ein Mädchen neben mir trägt Jungenschuhe und hat große gestopfte Stellen in den langen braunen Strümpfen. Daneben steht ihr Vater, ohne Mantel, und zittert in seinem viel zu weiten Anzug. Ich schäme mich zwischen den vielen armen Leuten, aber meine Befangenheit verfliegt im Nu, als die Musik zu spielen beginnt und mit den Hauchwolken das Lied »O Tannenbaum« aus allen Mündern erklingt. Marias helle hohe Stimme erhebt sich über die anderen Stimmen und mutig singe ich mit, obwohl das Lied zu Hause eigentlich verboten ist, aber sie erlaubt es mir. Niemals verrät sie unsere kleinen Geheimnisse. Immer ist sie für mich Wärme und Sicherheit.

Ein Lied folgt dem anderen, meine Füße werden kalt und meine Aufmerksamkeit läßt nach.

Durch die muffig riechende Menschenmenge drängen wir uns auf die gegenüberliegende Seite des Platzes. Angesichts der vorwurfsvollen Blicke aus den grauen, mageren Gesichtern bekomme ich Schuldgefühle wegen meiner Ungeduld.

Über der Rathaustreppe, hoch über der Straße mit dem Möbelgeschäft meiner Großmutter, türmt sich ein grauer, steinerner Ritter, der Bismarck heißt. Aus seinem weißen Schneehut ragt eine Spitze wie von einem Blitzableiter. Offenbar steht er auf Wache und ich fühle mich erleichtert, daß sein strenger Blick mir in das schwarze Marmorportal des Geschäftes nicht folgen kann.

Maria muß ein paarmal auf den kupfernen Klingelknopf drücken, bis hinter den dunklen Möbelkonturen und den gerollten Teppichsäulen ein Licht aufblinkt.

Am schlitternden Gang und am flatternden Arbeitskittel erkenne ich Alois, den Polierer. Er sucht nach dem Schlüsselloch und rüttelt mit zitternden Fingern an der Türklinke. Mit verschwommenem Blick sieht er uns aus feuchten, dunklen Augen freundlich an und brummt unter seinem Walroßschnurrbart, als sei es ihm peinlich: »Fröhliche Weihnachten«.

Schlurfend geht er uns voran zum Licht und zieht eine Spur von Branntwein- und Spiritusdunst hinter sich her. Den Geruch kenne ich. Vor kurzem hing er noch im Musikzimmer, wo Alois unseren Ibach-Flügel fast zwei Tage lang mit gleichmäßigen Armbewegungen und puffenden Geräuschen wie von einer Dampfmaschine glänzend rieb. Was Mutter mir damals über seine Trunksucht zuflüsterte, erweckte mein Mitgefühl, und ich bin froh, daß er heute beim Weihnachtsfest mitfeiern darf.

In dem gespenstischen Saal mit den weichen Fauteuils und Kanapees, den großen Holz- und Messingbetten mit Pullmannmatratzen, den turmhohen Buffets und den schweren, o-beinigen Tischen lasse ich Marias Hand los und stürze mich in das verbotene Abenteuer der elastischen Springfedern.

Aus der hellen Türöffnung höre ich meinen ungekürzten Vornamen rufen, und obwohl die Botschaft in Wolle, Plüsch und Bouclé verlorengeht, weiß ich, daß ich meine Entdekkungsfahrt unterbrechen muß, da das Fest beginnt.

Das Büro hinter dem Verkaufsraum badet im Licht und sieht viel fröhlicher aus als sonst. Die alten, kahlen Tische und Schreibtische, an Wochentagen mit Papieren, Tintenfässern, Löschpapier und drehbaren Ständern mit klappernden Stempeln vollgestellt, sind jetzt unter Mutters weißen Tischtüchern verborgen und mit roten Bändern und frischem Tannengrün geschmückt. Große Adventskränze, auf denen weiße Kerzen in Blechhaltern stecken, hängen an Schnüren von der gelb geräucherten Decke. Nach einem Christbaum brauche ich mich nicht umzusehen. Großmutter hat zu Hause mit schriller Stimme die Grenze bei den grünen Kränzen gezogen. Ein Baum wäre ihrer Meinung das gleiche wie Schinken oder Speck.

Auf dem weißem Damast unter den Kränzen liegt das Schlaraffenland. Die Torten und Napfkuchen, die Zimtsterne und Weihnachtsplätzchen halten meinen Blick gefangen. Erst nach Mutters leiser Ermahnung gebe ich den bekannten und weniger gut bekannten Leuten des Personals die Hand und wünsche ihnen fröhliche Weihnachten.

Wie Gäste sitzen sie in ihrem eigenen Zimmer auf Stühlen und Kisten, alle festlich gekleidet außer Alois, der noch seinen Arbeitskittel trägt.

Meine kleine Großmutter thront in einem neuen Lehnsessel aus dem Austellungsraum. Um ihre Schultern liegt das Umschlagtuch mit den weiten Maschen, durch die das Spitzenjabot des schwarzen Kleides schimmert. Ihre geäderte rechte Hand stützt sich auf den schwarzen Stock mit dem Silberknauf, und wenn sie zu Mutter oder zu meiner niederländischen Tante eine Bemerkung macht über die Leckerbissen und die Päckchen, die auf einem Tisch im Schatten ihres Stuhles liegen, zeigt sie mit dem Stock darauf, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen.

Verärgert über diese Geste runzelt die Frau meines Onkels die Augenbrauen über den dicken, funkelnden Brillengläsern. Als ihr Mann Anstalten macht, den Päckchenabend mit einer Ansprache zu eröffnen, flüstert sie vernehmlich, das müsse mein Vater tun. Stolz, daß er sich ohne Zögern dazu bereitfindet, und neugierig auf den Inhalt der Päckchen schaue ich zu, wie er jedem Angestellten ein Geschenk, auf dem sein Name steht, in die Hand legt, und etwas sagt, worüber alle lachen müssen.

Martha, die blonde Verkäuferin mit den wie Kopfhörer über den Ohren gerollten Zöpfen, dreht den Verschluß der großen Flasche 4711 auf und träufelt Kölnisch Wasser auf mein sauberes Taschentuch.

Alois überlegt, ob er den Cognac anbrechen soll und entschließt sich, bis zu Hause damit zu warten, wenn Mutter ihm Schnaps verspricht.

Gersbach, Vaters Chauffeur, der kaum in ein Auto paßt ohne sich den kurz geschorenen Kopf anzustoßen, lacht erfreut, als seine großen Hände mühelos in die neuen gelben Handschuhe gleiten. Die Seidenkrawatte bindet er sich sofort vor dem Spiegel um und fängt spontan zu singen an. Vater fällt ein und das Perlenfischerduett, das sie auf langen Reisen oft im Auto ertönen lassen, bringt die einen zum Stutzen und die anderen zum Lachen.

Onkel Adolf, Großmutters Schwager, schaut stirnrunzelnd vor sich hin. Durch das große Pflaster auf seiner Stirn erscheint sein runzliges Gesicht weniger faltig als sonst. Ein »Zusammenstoß mit den Braunen« höre ich Großmutter mißbilligend murmeln, aber was das bedeutet, verstehe ich nicht so recht.

An ein Geschenk für ihn wurde nicht gedacht, weil er Chanukka feiern sollte, was er aber nicht tut. Er bekommt das Päckchen, das eigentlich für Willy, den unlängst verschwundenen Buchhalter, bestimmt war, aber die Zigarren bessern seine Laune nicht.

Wie zum Scherz stimmt Gersbach die ersten Takte eines Weihnachtsliedes an, hört aber bald wieder auf, da nur Martha ein paar Töne mitpiepst.

Maria, Mutter und Tante teilen die Torte und den Napfkuchen aus, reichen Süßigkeiten und Plätzchen herum und schenken Kaffee und Schnaps ein, während Großmutter zuschaut, als sei sie nicht ganz wach. Der Kneifer fällt ihr in den Schoß.

Wie von fern höre ich das Stimmengesumm und durch die beschlagenen Fenster meiner Schläfrigkeit sehe ich, wie das Weihnachtsfest allmählich erlischt.

Maria liest mir aus dem dicken Märchenbuch mit den schaurig-schönen Bildern vor, aber heute abend höre ich nicht richtig zu. Satzfetzen über den Silvesterball, die durch die offene Tür des Schlafzimmers dringen, machen mich ungeheuer neugierig.

Meine Eltern kleiden sich zum Fest an. Schon mittags habe ich Vaters schwarzen Zylinder, der sonst in einer Schachtel unauffindbar im Schrank steht, die langen weißen Glacéhandschuhe meiner Mutter und die weiße und schwarze Seidenmaske mit sauberen Händen vorsichtig berühren dürfen. Später habe ich in einem unbewachten Augenblick vor dem Spiegel mit der viel zu großen schwarzen Maske auf der Nase Grimassen geschnitten.

Im Gang verabschiede ich mich von ihnen. Mutter hebt den Schleier über die Hutkrempe. Nur ganz vorsichtig darf ich meinen Gutenachtkuß auf ihre samtig gepuderte Wange drükken. Ihr Kuß ist heute abend wie ein Schmetterlingshauch, denn Lippenstift färbt ab. So schön habe ich meine Eltern noch nie gesehen, sie sind noch schöner als die Fotos in der Illustrierten.

Die Clips in den Ecken des graden Ausschnitts von Mutters schwarzem Crèpe-de-Chine-Kleid funkeln blau und grün. Der Fuchs um ihren Hals schaut mit schläfrigen Augen aus dem grauen Pelz, betäubt vom Parfüm.

Vater rückt die weiße Smokingschleife zurecht, nachdem er ungeduldig ein aufgegangenes Kragenknöpfchen zugeknöpft hat, das den steifen Klagen am Oberhemd mit dem weißen, einer Stalltür ähnelnden Plastron festhält.

Als Maria die Tür hinter ihnen geschlossen hat, kehrt wieder Ruhe in die Wohnung ein. Ganz fern surrt ein Auto und Glocken läuten in Erwartung des Neujahrstages 1933.

Leises Klirren von Tellern und Besteck dringt aus dem Eßzimmer. Maria bereitet das Frühstück, aber an diesem ersten Sonntag ist außer ihr und mir noch niemand wach.

Länger und lauter als sonst rufen die Glocken. Ich schlüpfe aus der Daunenwärme meines Bettes und jammere Maria so lange die Ohren voll, bis sie schließlich einwilligt, mich in ihre Kirche mitzunehmen.

Durch die prickelnd kalte Winterluft, aus der kein Schnee fallen will, gehe ich an Marias Hand zu dem großen gelben Kirchengebäude mit den hohen Türmen auf dem Platz, wo auch der Doktor wohnt. Mutter will nie hinein, jetzt werde ich endlich sehen, was sich dort verbirgt.

Viele fröstelnde Menschen stehen barhäuptig zwischen den harten Holzbänken. Unheimlich hoch sind Decke und Leuchter, Orgelklänge rollen dröhend durch meinen Bauch und das Gegurgel des Pastors hallt von allen Seiten wieder. Ich verstehe kein Wort, obwohl ich weiß, daß es kein Hebräisch ist. Enttäuscht von dem Geheimnis gestehe ich auf dem Heimweg, lange vor dem Schlußpsalm, daß mir ihre Kirche gar nicht gefällt.

Hinter der Haustür murmelnde Stimmen. Niemand fragt, wo wir gewesen sind. Bekannte meiner Eltern reden laut durcheinander und gestikulieren aufgeregt mit Händen und Armen, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. Einige haben den Hut aufbehalten wie in der Synagoge. Der dicke Kantor mit der großen glänzenden Nase hat ein rotes Gesicht. Er ist wütend. Die Eltern sehen unausgeschlafen aus, Vaters Stimme klingt matt.

Während Maria beim Kaffeekochen hilft, erzählt Mutter, was auf dem Neujahrsball passiert ist. Mit offenen Ohren fange ich Bruchstücke einer Geschichte auf, die einem makabren Märchen ähnelt.

Ein Ball mit Masken, Tanz, Champagner und Musik. Die Männer als Fürsten verkleidet, in alten Uniformen und mit gepuderten Perücken. Frauen mit weißen Korkenzieherlocken, in Spitzen und weiten Reifröcken. Seidene Gesichtsmasken, aber auch als Schweine, Kühe oder Löwen vermummte Gestalten. Schornsteinfeger und Aschenputtel, Clowns und Nymphen, Pierrots und Bauernknechte. Überall buntes Konfetti und Papierschlangen wie große Spinnweben, in die sich alle verstricken.

Und dann die Glockenschläge zum Neuen Jahr, das Knallen der Champagnerkorken, das Platzen der Knallbonbons, das Absetzen der Masken.

Nur einer, ein eleganter Pascha mit Turban und Krummschwert, läßt sein Gesicht bedeckt. In den weiß behandschuhten Händen hält er eine prächtig verzierte Schachtel mit auserlesenen Pralinen. Leicht sich verneigend geht er herum und bietet mit höfischer Gebärde den jüdischen Damen, manchmal auch den Herren, seine süße Gabe an. Mutter lehnt trotz des freundlichen Drängens ab. Champagner und Schokolade vertragen sich nicht recht miteinander, aber viele greifen gierig zu.

Niemand weiß genau, wann er hereingekommen ist, und genauso plötzlich ist er verschwunden.

Das rauschende Fest geht weiter und auf einmal fühlt Frau Roos sich nicht wohl. Nach Atem ringend, beide Hände krampfhaft auf den Bauch gedrückt, läuft sie in den Gang, wo schon andere Damen verzweifelt an den Toilettentüren hämmern.

Wüstes Gedränge bricht aus, die Frauen in den beschmutzten Kleidern weinen. Mutter versucht zu helfen. Sie ist wohlauf wie alle, die die Bonbons verschmäht haben.

Eine kleine Gruppe jüdischer Männer, verstärkt durch deutsche Freunde, nimmt die Verfolgung auf, findet aber den Übeltäter nicht. Ihre Beute ist lediglich der Turban und die leere Schachtel, auf deren Unterseite in großen schwarzen Lettern steht: »Die Juden stinken. Heil dem Führer.« Als Unterschrift: ein Hakenkreuz.

In die Eisblumen an den winterlichen Fenstern mache ich Gucklöcher mit einem Fünfmarkstück, das mir Mutter gegeben hat, und sehe den wirbelnden Schneeflocken zu. Morgen will ich auf meinem neuen Davoser Schlitten wie die anderen Kinder den Abhang hinuntersausen und hoffe auf eine weiße Welt.

Vater kommt hinter der Zeitung hervor, die ihn morgens und abends unsichtbar macht. Mit dem Kneifer auf der Nase verschwindet jetzt Großmutter hinter der Papierwand. Sie streitet sich mit ihrem Bruder, der sie jetzt fast täglich besucht, wer als erster die Zeitung lesen darf. Sie schimpfen böse über einen Adolf, offensichtlich einen anderen als meinen alten Onkel mit dem Pflaster auf der Stirn. Vater dreht an den beiden Knöpfen des jaulenden und knatternden Radioapparates, bis er Stimmen hört, die ebenfalls von diesem Adolf sprechen, aber sein Nachname klingt anders.

Niemand interessiert sich für den Schnee und im Bett träume ich davon, wie weiß und weich es jetzt draußen ist.

Der Januar bringt Winterfreuden, aber zu Hause ist keine frohe Stimmung. Sonntags sause ich vor oder hinter Vater, Mutter oder Maria den Hügel neben dem Theater hinunter, rolle manchmal vor Vergnügen und Angst kreischend durch den lockeren Schnee, wenn sich unser kleines Fahrzeug allein seinen Weg sucht. Neidisch schaue ich den anderen Kindern nach, die als geübte Rodelfahrer paarweise an uns vorbeirasen, und halte den Mund, wenn sie uns nach einem Sturz verspotten.

Die Woche über ist es langweilig. Selten hat jemand Zeit für mich. Alle lesen die Zeitung oder horchen auf die Stimmen aus dem Radiokasten. Vater klagt über die Firma, Mutter über die Geschäfte, wo es kaum noch Butter, Eier und Fleisch zu kaufen gibt. Und immer wieder die Namen von fremden Männern im fernen Berlin: Von Papen, Hindenburg oder Schleicher, und vor allem dieser Hitler, der auch Adolf heißt wie mein Onkel.

Von Tag zu Tag wird es kälter.

Die Eisblumen an den Fensterscheiben sind jeden Morgen dicker, und auf den Tennisplätzen an der Lichtenthaler Allee tummeln sich Schlittschuhläufer in Pudelmützen, Knickerbokkern und dicken Wollpullovern. Auch Vater schraubt die Schlittschuhe unter seine Wanderstiefel und gleitet schwankend übers Eis. Mutter und ich schauen lachend zu. Als er hinfällt, eilt sie zur Umzäunung, aber er hat sich schon hochgerappelt, versucht noch ein paar Schritte und gibt dann auf.

Auf dem Weg zum Haus seines Bruders freue ich mich auf die Kaninchen und Meerschweinchen meiner Vettern.

Wegen der Kälte stehen die Ställe im Wintergarten. Wie stolze Zirkusdirektoren lassen die Vettern ihre Tiere Kunststückchen vorführen und erzählen von der langen Reise nach Holland, die sie in Kürze antreten werden.

Überall im Haus stehen Kisten; das Spielzeug ist unauffindbar in Stroh und Zeitungspapier verpackt. Meine Tante ist schon vorausgereist in das unbekannte Rotterdam, die Vettern und mein Onkel werden ihr bald folgen. Ihre Aufregung stimmt mich traurig, denn ich habe ja nicht viele Freunde zum Spielen.

Am letzten Sonntag des Monats kann man immer noch Schlittschuh laufen, aber heute ist der vereiste Tennisplatz nicht voll. Viele Leute tragen auf der Brust ein rundes, rotweißes Abzeichen mit dem schwarzen Hakenkreuz in der Mitte. Die Kinder, die sie an der Hand führen oder die mit ihren Müttern am Gehsteigrand stehen, haben Papierfähnchen mit demselben Zeichen.

Ganz fern dröhnen Trommeln im Takt der Marschmusik und als der Wald von Fahnen, Bannern und funkelnden Instrumenten in Sicht kommt, stimmt die Kapelle die drohenden, dumpfen Töne des Horst-Wessel-Liedes an. Hunderte von gestiefelten Männern in braunen Hemden und Reithosen, mit Koppeln, Schulterriemen und Mützen, deren Band in das Doppelkinn schneidet, marschieren wie Marionetten im strengen Takt vorbei, den Blick starr auf den Nacken des Vorgängers geheftet. Um den linken Arm die rote Binde mit dem schwarzen Hakenkreuz im weißen Feld, und aus den Kehlen schallt rauh und abgehackt: »Die Fahne hoch! Die Reihen dicht geschlossen!«

Riesige Fahnen flattern über ihren Köpfen und aus den Absätzen sprühen Funken wie bei den Pferden der Brauerei. Der Boden dröhnt unter den stampfenden Sohlen und in den engen Gassen klirren die Fensterscheiben.

Ich ziehe Mutter nach vorn, um besser sehen und hören zu können. Sie will nicht zwischen den Fähnchen schwenkenden Kindern und ihren winkenden Eltern stehenbleiben. Widerwillig folge ich ihr zu unserer Wohnung. Hinter dem Rücken der Leute zwängen wir uns an den Häusern und Geschäften entlang. Zwischen den hochgestreckten Armen und den Fähnchen sehe ich das Ende des Zuges, der mit donnerndem Trommelschlag vorbeizieht. Unsere Haustür auf der gegenüberliegenden Seite scheint unerreichbar. Um mich herum Kinder, älter und jünger als ich, stolz auf ihre Fähnchen. Ich komme mir nackt und ausgestoßen vor, als ich, von Mutter mühsam mitgezerrt, die schwere Tür hinter mir ins Schloß fallen höre.

Allmählich verklingt die Marschmusik. In Vaters Sessel sitzend, schlägt Mutter die Hände vor die Augen, auf ihren Wintermantel tropfen Tränen.

Montags ist der Kindergarten geschlossen. Vergeblich der lange, steile Spaziergang, vorbei am Kurhaus mit den kleinen Geschäften. Die Fotografin steht neben der Tür und fragt Mutter, wie ihr die Fotos in der Auslage gefallen. Auf einem Foto stehe ich, mit dicken Backen und gräßlich süßem Lachen.

Am Kiosk stehen frierende Männer, sie lesen die Zeitung und blasen Wolken aus Zigarrenrauch. Auf den Straßen laufen heute viel mehr Polizisten herum als gewöhnlich.

Zu Hause ist Waschtag. Im Keller steht Maria in einem Nebel aus Wasserdampf und wäscht, Mutter mangelt die Laken. Oben in der Küche dampfen Kohlrouladen auf dem Herd. Auch bei den Nachbarn im Treppenhaus rieche ich das Montagsgericht, das zum Waschtag gehört, das ich aber gar nicht mag.

Beim Mittagessen spricht niemand, alle hören den Stimmen aus dem Radio zu. Aus Angst vor den strengen Worten meines Vaters getraue ich mich nicht, am Essen zu mäkeln. Aber als ich herumtrödle und im Kohl stochere, weist mich niemand zurecht.

Mutter legt den Finger auf die Lippen. Jetzt schweigen auch die Stimmen aus dem Äther. Die Gabeln und Messer erstarren, eine heisere, aufgeregte Stimme meldet aus Berlin, wer jetzt Deutschlands neuer Herr ist: Reichskanzler Hitler, Adolf, wie mein Großonkel.

Der sitzt heute bei uns am Tisch und wird so weiß wie das Pflaster auf seinem Kopf. Auch meine Eltern sehen erschrocken aus. Maria trägt die halbvollen Schüsseln in die Küche zurück, an den Nachtisch denkt niemand. Was das alles zu bedeuten hat, verstehe ich nicht, bin aber sehr erleichtert, als Vater sagt, das könne nicht lange dauern, zur Sorge gebe es keinen Grund.

Unten auf der Straße ist es unruhig. Heute sind viele Braunhemden und mehr Spaziergänger unterwegs als gewöhnlich. Oma bleibt lieber zu Hause, Mutter überlegt, ob sie ausgehen soll.

Aus dem Radio schallt den ganzen Nachmittag Marschmusik; Männer sprechen von der Regierung und was sie für das Land tun wird. Auf der Theke beim Bäcker stehen viele rote Papierfähnchen mit Hakenkreuzen in einer Vase. Die Kinder vor mir bekommen eines, manche sogar zwei. Die Bäckersfrau meint, ich würde ja heute abend auf dem Theaterplatz ohnehin nicht mitsingen und bräuchte deshalb auch keine Fahne. Mutter gibt ihr in allem recht und darüber werde ich schrecklich böse. Mein Vetter, der nur ein wenig größer ist als ich, darf mitmachen. Wie ungerecht die Erwachsenen sind, denke ich, halte aber den Mund und sage nichts.

Nach dem Abendessen scheint der sonderbare Tag vorbei zu sein. Nach dem Abwaschen, als die Teller und Schüsseln sich wieder im Büffet stapeln, das Silberbesteck ordentlich in den Fächern liegt und ich von allen einen Gutenachtkuß bekommen habe, bringt Maria mich zu Bett.

Im Dunkel des Kinderzimmers verscheuche ich die Gespenster meiner Kinderangst und klammere mich an meinen kahl gestreichelten Bären. Ein dröhnender Schlag, und noch einer. Ein schwerer Paukenwirbel folgt, dann prasseln Trommeln, eine Tuba brummt, Trompeten schmettern.

Hellwach und erschrocken springe ich aus dem Bett, laufe aufgeregt ins Wohnzimmer und sehe meine Eltern mit den anderen am offenen Fenster stehen. Die Lampe ist ausgeschaltet, die riesigen Schatten an der Wand sind von flackerndem Licht umgeben, das von unten heraufkommt.

Auf einem Stuhlsitz kniend, in Omas Umschlagtuch gewikkelt, schaue ich hinaus und sehe etwas, das mich sprachlos macht. Bis ans ferne Ende der Straße auf beiden Seiten lange, lange Reihen von Fackellichtern wie sich windende Feuerschlangen. Die feuchtkalte Luft flimmert wie ein unruhiges Gewässer. Unter den Sturmmützen spiegeln sich die Flammen auf den Gesichtern der Braunhemden. Hunderte von Teufeln stampfen mit den Hufen auf das Granitpflaster und brüllen ihre Lieder. Fahnen flattern über den Flammen und werfen schwarze Schatten auf die Häuser. Eisenharte Männer mit Stahlhelmen hämmern mit den Stiefeln auf den Amboß der Straße.

Der Anführer sitzt hoch zu Roß, der Sattel ist ein Tigerfell. Die Flammen spielen um den Helm, das Gesicht ist aus Stein.

An beiden Seiten vor ihm Pauken, größer als Kessel, mit Schnüren bespannt, wie reißende Mäuler mit Wolfszähnen.

Mit den dick gepolsterten Trommelschlegeln schlägt er übers Kreuz dröhnend auf das straffe Fell, trommelt einen Wirbel, schleudert die Stöcke in die Luft und fängt sie auf wie ein Jongleur. Und das alles im Takt der Stiefel.

Unangreifbar, stolz und drohend reitet er vorbei, der grausame Ritter aus meinem Märchenbuch.

Ich folge ihm mit den Augen, bis er nicht mehr zu sehen ist, und höre meinen Vater flüstern: »Erlkönig«.

GEBURTSTAG

Aus dem fernen Land von Butter, Käse und Eiern ist meine Tante als Gast ins eigene Haus zurückgekehrt.

Das von den Reise zerdrückte fettige Päckchen, das sie Mutter gibt, kommt in die verschlossene Speisekammer: ein kostbarer Schatz.

»Holländischer Käse und holländische Butter« sagt sie mit der Betonung auf ›holländisch‹, denn dort ist ihrer Ansicht nach alles besser ...

Ich denke an grünes Gras, an bunte Kühe in einer Landschaft ohne Berge, wo die Ferne nur ein Strich ist: eine kleine Skizze in Tantes fast leerem Haus.

Für mich hat sie eine flache Schachtel mit wolligen Kätzchen auf dem Deckel mitgebracht. Im weißen Satinbett liegt eine lange Reihe Katzenzungen aus Schokolade, zu schön um sie zu essen.

Meinen Namen spricht sie so komisch aus, als würde sie sich beim G die Kehle räuspern, und manchmal verstehe ich nicht, was sie meint. »Das kommt daher, weil sie Holländerin ist«, hat Oma mir mit einem mitleidigen Lächeln anvertraut.

Sie streitet sich mit meinen Eltern und will sie überreden, ebenfalls in ihr wasserreiches Land auszuwandern. Vater sagt, das sei Unsinn und panisches Getue. An ihre Gruselgeschichten glaubt er nicht.

Ihre Augen blicken zornig durch die dicken Brillengläser, weil Vater sich ihren Worten gegenüber taub stellt, und beim Abschied deutet sie auf mich und sagt: »Tu es ihm zuliebe.«

In einem zu langen, mottenzerfressenen grauen Wintermantel mit schwarzem Samtkragen steht er vor unserer Wohnungstür. Auf seinem Kopf ein dunkler, fettiger Filzhut. Über dem Hutband weiße Linien wie verschwommene Schneeberge. Die langen braunen Haare fallen in Locken unter dem Hut hervor. Mit den traurigen Falten um Augen und Mund sieht er dem alten freundlichen Bluthund unseres Zahnarztes ähnlich.

Unter seiner linken Achsel klemmt ein abgestoßener Geigenkasten, an der Hand baumelt ein verbeultes und zerkratztes Köfferchen. Mit der anderen Hand sucht er Halt am Türpfosten. Aus seinem weinerlichen Deutsch verstehe ich nur so viel, daß er meine ›Mame‹ oder meinen ›Tate‹ sprechen will.

Mutter kommt die Treppe herauf. Sie erschrickt nur ein wenig, als sie den Mann an der Tür sieht.

Ihre Besorgtheit und ihr Mitleid kenne ich schon, denn er ist nicht der erste Flüchtling, der bei uns um Obdach, Essen oder Geld anklopft.

In der Küche, einen Teller mit Butterbroten vor sich, erzählt er zwischen den Bissen seine Geschichte, von der ich nur Bruchstücke verstehe.