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Deborah Hertz

Die jüdischen Salons im alten Berlin

Aus dem Amerikanischen von
Gabriele Neumann-Kloth

© e-book Ausgabe CEP Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2015

ISBN 978-3-86393-508-5

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Einleitung: Warum Salons?

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Amalie Beer

Die Rahelzeit

Als ich in einem Bildarchiv mit der Auswahl der Illustrationen für dieses Buch beschäftigt war, hörte ich beiläufig, wie ein Angestellter seinem Kollegen mein Thema beschrieb: „Sie arbeitet über die Rahelzeit.“ Für mich war diese Etikettierung eine wahre Erleuchtung: Mir wurde auf einmal bewußt, daß die Deutschen ihre Geschichte häufig an Personen festmachen. Man denke nur daran, daß die Namen von Friedrich dem Großen, Otto von Bismarck oder Wilhelm II. in der Geschichtsschreibung für die jeweilige Ära stehen. Vollends ungewöhnlich ist es jedoch, in einer Frau und Jüdin, die weder über politische Macht noch über außerordentliche intellektuelle Meriten verfügte, die Schlüsselfigur einer Epoche zu sehen. Daß die für die deutsche Geistesgeschichte so zentralen Jahre zwischen 1780 und 1806 nun ausgerechnet mit dem Namen einer Jüdin in Zusammenhang gebracht werden, sagt einiges über die Besonderheit dieser Epoche aus. Zu dieser Zeit war es offenbar möglich, berühmt zu werden, auch wenn man weder Mann noch Christ war, weder Titel oder Bürgerrechte oder gesellschaftlichen Status besaß und nicht einmal seine Gedanken in schriftlicher Form an die Öffentlichkeit gebracht hatte. Herauszufinden, warum Rahel und einigen ihrer jüdischen Freundinnen das gelang, ist das Ziel dieses Buches.

Rahel Varnhagens Popularität innerhalb des exklusiven Kreises frühromantischer Intellektueller begann in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts. Da war sie noch Mademoiselle Levin, eine wohlhabende Jüdin Mitte zwanzig, die das Dachgeschoß ihres Elternhauses im Zentrum von Berlin bewohnte. Seit ihrer Jugend suchte sie die Bekanntschaft mit prominenten Nichtjuden, die sie schon als Kind von Ferne musterte, wenn sie im Haus ihrer Freundin Brendel spielte, deren Vater, Moses Mendelssohn, Europas berühmtester und gefragtester jüdischer Intellektueller war. Rahels Vater, ein Juwelenhändler mit Beziehungen zum Hof, pflegte Schauspieler und Adlige zum Abendessen in sein Haus einzuladen und ihnen bei solchen Gelegenheiten auch Geld zu verleihen. Noch aber fühlte sich die junge Rahel als Schlehmil, als ein Niemand, wenn Leute wie Alexander und Wilhelm von Humboldt und deren Freunde am Familientisch beisammensaßen.

Doch mit der Zeit bahnte sich auch Mademoiselle Levin ihren Weg in den Humboldt-Kreis. Sie entschloß sich, ihre Bindungen zur jüdischen Gemeinde abzubrechen, und sie weigerte sich, die von ihrer Familie in die engere Wahl gezogenen jüdischen Geschäftsmänner zu heiraten. Statt dessen versuchte sie, ihr Deutsch und Französisch zu verbessern, las und engagierte sogar einen Hofmeister, um Mathematik zu lernen. Sozial ungebunden zu sein und moderne Sprachen sowie Umgangsformen zu beherrschen, war für die eben Zwanzigjährige um so vorteilhafter, als sie während eines sommerlichen Badeurlaubs in Böhmen ausländische Diplomaten und deklassierte adlige Damen kennengelernt hatte. Auf ihre neuen Freunde wirkte Rahel exotisch, charmant und empfindsam. An Winterabenden in der Stadt, nach dem Theater, empfing sie häufig Gäste, die wiederum Freunde vom Hof mitbrachten. Aus diesem Freundeskreis erwuchs allmählich Rahel Levins Salon.

Auch Rahels Freundinnen aus der Kinderzeit kamen in der Berliner Gesellschaft zu Ansehen, wenn auch auf anderen Wegen. Brendel Mendelssohn, die mit neunzehn Jahren einen von ihrem Vater auserwählten jüdischen Geschäftsmann geheiratet hatte, verstand es dennoch, sich ein eigenständiges gesellschaftliches Leben aufzubauen. Sie änderte ihren Namen in Dorothea, verkehrte mit der literarischen Welt und gründete eine Lesegesellschaft, die sich jeden Donnerstagabend bei ihr zu Hause einfand. 1798, im Alter von 34 Jahren, begegnete sie im Haus eines jüdischen Freundes Friedrich Schlegel, der gerade im Begriffe war, sich als Literaturkritiker einen Namen zu machen. Dorothea verliebte sich in ihn, verließ ihren Mann und verbrachte mit Schlegel den Rest ihres nicht ganz einfachen Lebens. Henriette de Lemos, eine weitere ehemalige Spielgefährtin im Haus der Mendelssohns, war die Tochter eines in Berlin lebenden reichen portugiesischen Arztes. Mit zwölf Jahren wurde sie mit Markus Herz, einem jüdischen Arzt, verlobt. Von 1780 an lud das Ehepaar Herz in seinen großen Doppelsalon ein, der als Institution aus den von Markus Herz gehaltenen naturwissenschaftlichen Abendvorlesungen hervorgegangen war. Während er in dem einen Raum physikalische Experimente vorführte, leitete Henriette in dem anderen Diskussionen über die neuesten romantischen Gedichte, Theaterstücke und Romane.

Unter Europas Intellektuellen galten Rahel Levin, Dorothea Mendelssohn und Henriette Herz als die berühmtesten jüdischen Frauen ihrer Zeit, bekannt für ihren kultivierten Geschmack und ihre engen Freundschaften mit prominenten Nichtjuden. Einer Reihe anderer Berliner Jüdinnen gelang ebenfalls der gesellschaftliche und kulturelle Durchbruch. Amalie Beer, die häufig nach Italien reiste, fühlte sich in Berlin am wohlsten, wenn sich von morgens bis abends Gäste in ihrem palastartigen Haus aufhielten. Philippine Cohens Gäste pflegten die Nachmittage im Garten der Gastgeberin zu verbringen, wobei sie Charakterskizzen voneinander entwarfen, die sie sich gegenseitig vorlasen. Die Geschwister Marianne und Sara Meyer wurden früh an jüdische Geschäftsmänner verheiratet, konvertierten jedoch später, um sich in zweiter Ehe mit Adligen zu vermählen. Sara Levy, eine Tochter aus der einflußreichen Familie Itzig, blieb mit einem angesehenen jüdischen Bankier verheiratet und lud Diplomaten und französische Intellektuelle in ihr Haus im besten Viertel der Stadt. Rebecca Solomon, die mit neunzehn Jahren in die berühmte Friedländer-Familie einheiratete und sich vier Jahre später scheiden ließ, schrieb Romane und lange Briefe und sah sich derweil nach einem neuen Gatten adliger Herkunft um.

Der gesellschaftliche Erfolg dieser jüdischen Frauen prägte die kulturelle Lebendigkeit der Rahelzeit. In dem Vierteljahr hundert zwischen 1780 und 1806 erfuhren die Berliner Salons im In- und Ausland große Beachtung. Berlin-Besucher aus ganz Europa waren insbesondere von der raschen Assimilation der jüdischen Salonières angetan, welche ihr gesellschaftliches Ansehen zu einer Zeit erlangten, als die meisten Juden Mittel- und Osteuropas noch arme Händler und Hausierer waren, auf dem Lande und in Dörfern wohnten, Jiddisch sprachen und ihrer traditionellen Lebensweise anhingen. Hier jedoch, in den Gesellschaftsräumen reicher und kultivierter Berliner Jüdinnen, schien der durch aufgeklärte Intellektuelle soeben antizipierte Traum von der jüdischen Emanzipation seiner Verwirklichung nahe zu sein. Im Zuge der Revolution in Frankreich errang die dortige jüdische Gemeinde erstmals ihre volle politische Gleichberechtigung. Aber es war in Deutschland und insbesondere in Berlin, wo die jüdische Gemeinde ein derart hohes gesellschaftliches Ansehen erlangte, daß die Crème der nichtjüdischen Gesellschaft in jüdischen Häusern ein und aus ging oder sogar dort einheiratete. Die Beobachter des Berliner Gesellschaftslebens waren jedoch nicht nur von der Tatsache beeindruckt, daß ausgerechnet Frauen die jüdische Emanzipation vorantrieben, sondern zugleich davon, daß die neuen Gäste sich ebensosehr aus Bürgerlichen wie Adligen zusammensetzten. Man pries dies als eine außerordentliche Errungenschaft eines Landes, das ansonsten von einer starren sozialen Hierarchie geprägt war. Als Madame de Staël, die berühmte französische Salonière, 1804 Berlin besuchte, empfand sie es dort bei weitem leichter als anderswo in Deutschland, Fürsten gemeinsam mit einfachen Schriftstellern einzuladen.

Die heitere Öffentlichkeit der jüdischen Salons beruhte auf der Ablehnung traditioneller Schranken, welche den Edelmann vom Bürger, den Christen vom Juden, den Mann von der Frau trennten. So verkörperten die Salons genau das zu dieser Zeit heftig diskutierte universale Bildungsideal. Bildung schloß Erziehung, Verfeinerung der Umgangsformen und charakterliche Entwicklung ein. Bildung war das Vehikel, womit Menschen von bürgerlicher Herkunft geistigen Adel erlangen konnten; das Instrument, womit Juden den Christen ähnlicher werden konnten. Doch sollte dieser neuen, in den Salons kultivierten Öffentlichkeit ein nur kurzes Leben beschieden sein. Obgleich einige Salons noch nach 1806, dem Jahr des Einmarsches Napoleons in Preußen, fortbestanden, vermochten jüdische Frauen ihre exponierte Stellung innerhalb der Salonkultur nicht mehr länger zu behaupten, und auch die Bedeutung der Salons als Institution war im Schwinden begriffen. Im nachfolgenden Jahrzehnt stand Berlin entweder unter direkter oder indirekter Fremdherrschaft. Mit dem Anwachsen der Opposition gegen die französische Besatzung stellte die patriotisch gewordene städtische Intelligenz auch die Werte in Frage, die für die Entstehung der Salons entscheidend gewesen waren: die Nachahmung der französischen Adelskultur, die sexuelle Libertinage, die Freundschaften zwischen Bürgerlichen und Adligen und die öffentlichen Darstellungen jüdischen Reichtums und jüdischer Kultur. Voller Trauer erinnerte sich Rahel Levin später jener verlorenen Zeit: „Wo ist unsere Zeit! Wo wir alle zusammen waren. Sie ist Anno 6 untergegangen. Untergegangen wie ein Schiff: mit den schönsten Lebensgütern, den schönsten Genuß enthaltend.“

Die Historiker

Die epochale wie lokale Besonderheit der Berliner Salons wird im historischen Überblick deutlich. Die Chronisten des 19. Jahrhunderts hoben Berlin als die einzige deutsche Stadt hervor, in der während der letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts Salons entstanden waren. Gewiß räumten die Historiker ein, daß intellektuelle Gesellschaftszirkel auch schon anderswo in Deutschland, vor allem in den Universitätsstädten Göttingen und Jena, von Frauen geleitet wurden, doch sah man die Berliner Salondamen als kulturell kreativer und ihre Salons im Verhältnis zu anderen literarischen Zirkeln als in sozialer Hinsicht weitaus vielfältiger an. So wurde die außergewöhnliche Heterogenität der Berliner Salonbesucher hervorgehoben. Angehörige aller gesellschaftlichen Kreise sollen sich in den Salons zusammengefunden haben, und diese soziale und religiöse Integration schien in der deutschen Geschichte ohne Beispiel zu sein. Auch wurde festgestellt, daß ein solches Salonmodell ohne Nachfolge blieb, daß die Berliner Salons ihre Blütezeit folglich nie mehr einzuholen vermochten und somit historisch einzigartig blieben. Einzigartig waren sie auch im Hinblick auf die Stellung der Frauen, weil sich ihnen hier die seltene Gelegenheit bot, öffentlichen Einfluß auszuüben. Ingeborg Drewitz erklärte die Berliner Salons zum ersten Höhepunkt deutscher Frauenemanzipation, und für G. P. Gooch waren sie sogar der einzige Höhepunkt, weil den Frauen in der deutschen Geschichte fortan nie wieder gestattet wurde, die öffentliche Meinung mitzugestalten. Doch nicht alle Historiker lobten die Errungenschaften der Salonières uneingeschränkt. Manche kritisierten, daß diese nur keine eigenständige Literatur hervorgebracht haben, sondern lediglich die Musen der Männer gewesen sind.

Die jüdische Identität der Salonières stellte die Geschichtsschreibung ebenfalls vor Probleme. Obwohl sich der Erfolg der Jüdinnen in ihrer Rolle als Salongastgeberinnen rapide verschlechterte, hielt dieser kulturelle Einfluß weit ins 19. Jahrhundert hinein an und wirkte auch noch darüber hinaus. Der Übertritt zum Christentum, das Eingehen von Mischehen und die Teilnahme an Avantgarde-Kulturen blieben bis zum Holocaust Bestandteile jüdisch-deutscher Tradition. Als eine der ersten Generationen, die sich auf diese Weise assimilierten, wurden die Berliner Salonières je nach Standpunkt des Betrachters entweder gelobt oder getadelt. Diejenigen, welche sie priesen, waren hauptsächlich nichtjüdische Literaturkritiker aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, die sie, wie zum Beispiel Karl August Varnhagen von Ense – Rahel Levins späterer Ehemann –, dafür bewunderten, daß sie die Intellektuellen ihrer Zeit anzuziehen vermochten. Meist handelte es sich im übrigen um Menschen, die von der jüdischen Assimilation derart begeistert waren, daß sie die jüdische Herkunft der Salonières zu erwähnen vergaßen – zweifellos aus Furcht, deren Ansehen bei solchen Lesern zu mindern, die längst nicht so „philosemitisch“ wie sie waren.

Andererseits haben gerade jüdische Historiker, die einem jüdischen Nationalismus anhingen, die Salonières eher herabgesetzt als gewürdigt, selbst dann, wenn sie ihnen Bedeutung für die jüdische Geschichte nicht vollends bestreiten konnten. So wurde die Auffassung vertreten, daß die Salons einen geschlossenen jüdischen Sektor bildeten, der erstmals wirkliche Bindungen mit der deutschen Gesellschaft einging: Bindungen, die Juden und Christen einander weitaus näher brachten als in irgend einem anderen europäischen Land des 18. Jahrhunderts. Was viele jüdische Historiker jedoch irritierte, war ausgerechnet die erfolgreich vollzogene Assimilation der Frauen. Die über die Salons erfolgte Integration wurde als „dekadent“ und „schädlich“ beurteilt, und Heinrich Graetz mißbilligte die Haltung der Salonières so sehr, daß er meinte, die Frauen hätten mit ihrer Konvertierung dem Judentum in der Tat einen Dienst erwiesen. Vorgeworfen wurde ihnen nicht nur, daß sie konvertierten, vielmehr wurden sie auch für die vermeintlichen Auswirkungen ihrer Konvertierungen auf Juden außerhalb der Salongesellschaft verantwortlich gemacht. Mehrere jüdische Historiker beschuldigten die kleine Gruppe von Salonières, eine „Welle“ von Religionsübertritten in Berlin ausgelöst zu haben, und deren vermeintliche Realität wurde als „Manie“, als eine „Flut“ oder gar als eine „Epidemie“ beschrieben, welche die jüdische Gemeinde Berlins an den Rand ihrer Auflösung gebracht hätte. Um das Ausmaß der Konversionen zu dramatisieren, wurden Zeitgenossen zitiert, die beklagten, daß in Berlin nur wenige jüdische Familien von dieser Epidemie verschont geblieben wären, welche zwanzig Jahre zuvor, um 1780, ausgebrochen sei.

Der Stolz der jüdischen Historiker auf die gesellschaftlichen Errungenschaften der Salonières im Kampf um Emanzipation wurde somit durch ihre Bestürzung über die Neigung der Frauen, aus dem Judentum auszutreten, beeinträchtigt. Das Experiment wurde deswegen als gefährlich angesehen, weil es assimilatorische Kräfte freigesetzt habe, die im 19. und 20. Jahrhundert mit unverminderter Intensität anhielten. Und selbst für einen neueren jüdischen Historiker, Walter Laqueur, taugen die Salonières nur wenig als Modell, weil „in ihren exaltierten Konversationen und Briefen eine beträchtliche Affektiertheit, eine künstliche Begeisterung und eine nicht immer wahrhafte Sensibilität zum Ausdruck kamen“. Laqueur kommt zu dem Schluß, daß der „Libertinismus“ der Salonières „den Zeitgenossen und der nachfolgenden Generation zwar zügellos vorkam..., heute jedoch als naiv und langweilig erscheint“.

Die Ablehnung der Salonières durch die jüdischen Historiker wurde auch weitgehend von nichtjüdischen deutschsprachigen Historikern geteilt, die jedoch die negativen Auswirkungen des Salonlebens vorwiegend auf die christliche Gemeinschaft bezogen. So fand Heinrich von Treitschke barsche Worte für den Einfluß der jüdischen literarischen Intelligenz im allgemeinen und für Rahel Levin im besonderen: „Die schnellfertigen jüdischen Talente..., welche in der Tagespresse das Wort führten, trugen ihre jüdische Sonderart hochmüthig zur Schau und verlangten gleichwohl als Wortführer der deutschen öffentlichen Meinung geachtet zu werden. Dies vaterlandlose Judenthum, das sich als Nation innerhalb der Nation gebärdetet, wirkte auf das noch unfertige nationale Selbstgefühl der Deutschen ebenso zerstörend und zersetzend, wie vormals auf die versinkenden Völker des römischen Kaiserreichs.“

Und Rahel: „Aus ihrem Wesen redete der ruhelose Weltschmerz eines edlen, aber tief unbefriedigten Frauenherzens. Mit dialektischer Kühnheit übersprang sie alle Schranken, welche Natur und Geschichte der Menschheit gesetzt haben; Vaterland und Kirche, Ehe und Eigenthum, alles erlag ihrer zersetzenden Kritik.“ In einem paranoiden Ton verdammten die Nazi-Historiker die Salonières: „Gelehrte, Künstler und Schriftsteller mußten bei den Juden verkehren, wenn sie Anschluß an das geistige Leben der Nation haben wollten“; und „so gelangten die jüdischen Berliner Salons denn auch bald zu jener späteren Entwicklungsstufe, auf der sie praktisch schon eine nahezu unumschränkte Herrschaft auf kulturellem Gebiet und einen im steten Wachsen begriffenen Einfluß auf politischem Gebiet ausüben können“.

Voller Eifer lobten oder tadelten die Historiker die Salons und ihre Trägerinnen, doch fehlte ihnen die notwendige Ernsthaftigkeit zur Erklärung des Phänomens, warum diese Salons an ihrem Ort und zu ihrer Zeit entstanden und wieder verschwunden waren. Im 19. Jahrhundert war der Salon ein beliebtes Thema für weitschweifige und oberflächliche Abhandlungen, deren Autoren zum Wiederholen bekannter Anekdoten neigten und sich kaum um das Ausfindigmachen neuer Quellen bemühten. Erklärungen, die besagen, daß sich die Salons den gesellschaftlichen Gegebenheiten der Zeit verdankten, oder daß sie lediglich „das Produkt der zufälligen Konstellation in einer gesellschaftlichen Übergangsepoche waren“, sind zu vage, um weiterhelfen zu können. Der Zufall spielt durchaus eine Rolle in der Geschichte, doch als einzige Erklärung für das Aufkommen und Verschwinden einer so komplexen Institution wie die des Salons reicht er nicht aus.

Sämtliche plausiblen Erklärungen für die Frage, warum das Salonleben in den letzten Jahren des 1806 zu Ende gehenden preußischen Ancien regimes aufblühte, beruhen auf der Annahme, daß die Salons den Bedürfnissen des städtischen Adels, der jüdischen Gemeinde oder der Intelligenz entgegenkamen. Historiker haben entsprechend besonderes Augenmerk auf die in Berlin lebenden preußischen Adligen gerichtet, von denen man annahm, daß sie in den jüdischen Häusern Luxus, Eleganz, kosmopolitischen Lebensstil und intellektuelle Anregung suchten, die sie an keinen anderen Orten der Stadt finden konnten. In einer Untersuchung heißt es, daß Adlige und Bürgerliche zwangsläufig den Verkehr miteinander suchten, daran aber gehindert wurden, weil die feudale Standesordnung Adligen untersagte, Personen niederer Herkunft zu besuchen oder zu empfangen. Reiche Juden standen jedoch so weit außerhalb der christlichen Gesellschaft, daß es für Adlige eine eher exotische als deklassierende Erfahrung war, mit ihnen zu verkehren. Folglich fanden Adlige auf dem neutralen Territorium der wohlhabenden jüdischen Häuser gleichermaßen intellektuellen Anreiz und Beziehungen zu Bürgerlichen.

Daß die Sonderrolle der Juden außerhalb der herrschenden Standesordnung nicht der einzige Grund für den Salonbesuch war, wird von anderen Forschern in einem zweiten Erklärungsversuch dargelegt.

Ein Nazi-Historiker fand dabei eine besonders simple Deutung: Der Reichtum der „Kulturjuden“, wie er sie nennt, verursachte erst ihren kulturellen Erfolg, der geradezu „verschwörerisch“ dahingehend eingesetzt wurde, Besucher in die Salons zu ziehen, um von dieser „neuen kulturellen Bastion dann endlich auch mit voller Wirksamkeit in das politische und staatliche Leben zumindest auf dem Weg der geistigen Beeinflussung vordringen“ zu können. Seriöser ist eine andere Interpretation, die sich auf die „jüdische Marginalität“ als Ursache für die Aufnahme progressiver Ideen konzentriert. Aus dieser Sicht hatte die Randexistenz der Juden ihren Ursprung im Ausschluß von allen anderen gesellschaftlichen Einbindungen. Die Kluft zwischen der verbalen Beteuerung, daß Juden „gleich“ sein sollten, und ihrer tatsächlichen Unterdrückung ließ diese erst recht zu Außenseitern werden, während der jüdische Kampf um politische Emanzipation andererseits zur Freisetzung besonderer Fähigkeiten führte. Da die Salons von Jüdinnen getragen wurden, konzentrierten sich Historiker naturgemäß auch auf die besonderen Eigenschaften der in Berlin lebenden jüdischen Frauen. Doch damit machten sie es sich zumeist allzu leicht. Die Berliner Jüdinnen sollen „kultivierter“ und „gebildeter“ als ihre christlichen Zeitgenossinnen hier und anderswo gewesen sein, doch fehlt jeglicher Hinweis auf die möglichen Ursachen.

Ein dritter Erklärungsversuch hebt die besonderen Bedürfnisse der Intelligenz hervor. Die aufgeklärten Intellektuellen sollen von einer Leidenschaft für Ideen als solche erfüllt gewesen sein, und mit ihren Besuchen in jüdischen Häusern konnten sie ihr emanzipiertes Denken öffentlich kundtun. Andere Historiker weisen auf die materiellen Nöte der Intellektuellen hin. Nachdem die Höfe sich von ihrer Mäzenatenrolle zurückgezogen und bevor das Verlagswesen seine Blüte entfaltet hatte, habe in den europäischen Städten ein „Vakuum“ an intellektuellen Institutionen bestanden. Indem Verleger, Mäzene und Leser sich am Salonleben beteiligten, förderten sie die Autoren und trugen zur Entstehung und Verbreitung ihrer Werke bei. Im ausgehenden 18. Jahrhundert war der Zustand der Berliner intellektuellen Institutionen beklagenswert, fehlten der Stadt doch ebenso eine Universität wie ein Parlament, eine großzügige höfische Patronage wie ein bedeutendes Verlagswesen. Demnach tauchten die Salons deshalb auf, weil sie als Institution für die Berliner Intelligenz erforderlich waren.

Auf den ersten Blick scheinen diese drei Erklärungen sich zu ergänzen. Intellektuelle waren darauf angewiesen, Leser, Mäzene und Verleger zu finden, während die städtischen Adligen die kultivierte Unterhaltung mit den Deklassierten suchten. Intellektuelle und Adlige gingen deshalb in die Häuser reicher Juden, deren Frauen gesellschaftlich neutral und intellektuell avanciert zugleich waren. Doch Zweifel an der Stimmigkeit dieses Erklärungsmodells sind angebracht. Denn wie so oft in der deutschen Geschichte wurden auch hier die Gründe, warum Adlige und Intellektuelle jüdische Salons aufsuchten, idealisiert.

Sollten beide Gruppierungen sich wirklich nur deshalb zum Besuch jüdischer Salons herabgelassen haben, um sich dort angeregt zu unterhalten oder um ihre Fortschrittlichkeit unter Beweis zu stellen, wo doch solch ein Verhalten unter ihren Vorgängern in Deutschland und nach wie vor auch anderswo in Europa höchst selten anzutreffen war? Zugegeben, Berlin war ein wichtiges Zentrum für die Entstehung und Verbreitung der Aufklärungsideen, doch ihre Blütezeit erlebten die Salons am Ende der Aufklärungsepoche. Und diese fiel in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts mit dem Beginn der Frühromantik zusammen. Viele romantische Intellektuelle, selbst die unter ihnen, die Salonbesucher waren, nahmen gegenüber dem Judentum späterhin eine problematische, wenn nicht offen antisemitische Haltung ein. Die Avanciertheit des Denkens war mithin nicht der ausschlaggebende Grund für den Salonbesuch – gab es vielleicht handfestere Motive? Da Besuche in jüdischen Häusern dem Ansehen der Nichtjuden in den Augen mancher geschadet haben sollen, stellt sich die Frage, ob diese Gäste sich womöglich finanzielle Vorteile davon versprachen. Je länger ich darüber nachdachte, warum in Berlin Salons aufgetaucht waren, desto schwerer fiel es mir, mit den geläufigen Erklärungsmodellen für diese faszinierende Epoche zurechtzukommen. Die jüdischen Salonières standen dort einer in sozialer wie religiöser Hinsicht buntgemischten Gesellschaft beiderlei Geschlechts vor, die in Deutschland einzigartig war und blieb. Alle Untersuchungen zur Geschichte der Salons gehen davon aus, daß jene Frauen ein dreifaches Kunststück zustande brachten. Indem sie sich von ihren traditionellen, patriarchalischen Familienverhältnissen emanzipierten, trugen sie in einer ebenso entscheidenden wie kreativen Zeit zur Entstehung einer gehobenen Geisteskultur bei und knüpften im gleichen Zuge neue Verbindungen zwischen den Klassen, Religionen und Geschlechtern. Dieses mehrfache Kunststück ist deshalb so bemerkenswert, weil die Existenz der Salons auf drei Gebieten der allgemeinen historischen Entwicklung widerspricht: Zum einen sind die Salons eine Ausnahmeerscheinung der deutschen Sozialgeschichte. Die Gesellschaftsstruktur war hier bis ins 20. Jahrhundert hinein weitaus rigider und geschlossener als im übrigen Europa. Wenn es in Deutschland jemals zu klassenüberschreitenden Verbindungen gekommen sein soll, warum ausgerechnet zu einem solch frühen Zeitpunkt, wo die sozialen Gruppierungen noch starr innerhalb der ihnen zugewiesenen Standesgrenzen verharrten? Zum zweiten blieben die Berliner Salons auch im Hinblick auf die deutsch-jüdische Geschichte eine Ausnahmeerscheinung. Die Juden erhielten in Deutschland erst 1871 die vollen Staatsbürgerrechte, und bis ins 20. Jahrhundert hinein gelang es nicht einmal den reichsten Juden, mit Nichtjuden gleichen Besitzstandes einen selbstverständlichen Umgang zu pflegen. So boten die Berliner Salons die Erfüllung des Traums von der Assimilation im kleinen. Wie soll man aber den Zeitpunkt ihres Erscheinens auf der historischen Bühne erklären? Warum entstehen sie gleich zu Beginn der sich so langsam entwickelnden jüdischen Emanzipationsbewegung? Und drittens stellten die Salons zudem eine Ausnahmeerscheinung in der Geschichte der jüdischen Frau dar. Über die gesamte neuzeitliche Epoche hinweg blieben die jüdischen Frauen in Ost- wie in Westeuropa gewöhnlich ihrem Glauben und ihrer Familie treu und wurden keineswegs, wie man von den Berliner Salonières behauptete, zu „Glaubensdeserteuren“.

Die Stellung der Berliner Salons in diesem vielschichtigen historischen Kontext blieb nicht das einzige Problem. Noch immer lag die Geschichte der Salons als Institution teilweise im dunkeln. Der Begriff „Salon“ ging in den Sprachgebrauch ein als Bezeichnung eines besonderen öffentlichen Raumes, der zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert in reichen europäischen Häusern entstanden war. Die „große Halle“, die das Zentrum des mittelalterlichen Familienlebens der Wohlhabenden bildete, hatte ihren privaten Charakter verloren, und die Schlafstätten waren aus ihr entfernt worden. Was fortan Salon genannt wurde, war ein reich ausstaffierter halböffentlicher Raum, wo man Klavier spielte, das Essen servierte und Gäste empfing.

Die zweite Bedeutung des Wortes „Salon“ galt dem besonderen gesellschaftlichen Ereignis, das regelmäßig in einigen dieser Empfangszimmer stattfand und von der Dame des Hauses organisiert wurde, die auch den für das Salonleben so charakteristischen intellektuellen Diskurs leitete.

Salontreffen lassen sich am sinnvollsten als eine besondere Art des „gesellschaftlichen“ Ereignisses verstehen. In vergangenen Jahrhunderten bezog sich der Terminus „Gesellschaft“ nicht, wie im heutigen Sprachgebrauch üblich, auf die Gesamtheit der Individuen, die als Mitglieder einer Gemeinschaft leben, sondern nur auf eine ganz bestimmte Gruppe innerhalb einer solchen Gemeinschaft, nämlich auf die Vornehmen und Reichen. Wenn Mitglieder dieser „Gesellschaft“ untereinander verkehrten, war das von so universaler Bedeutung, daß beispielsweise jene, die in Frankreich „dazugehörten“, sich selbst als „le monde“ bezeichneten. Weil bei solcherart gesellschaftlichen Begegnungen gewöhnlicherweise Familienmitglieder aus verschiedenen Ständen und Berufen aufeinandertrafen – beispielweise Großgrundbesitzer, hohe Beamte und Finanziers, jeweils mit ihren Frauen und Töchtern –, waren diese Ereignisse sowohl für die Öffentlichkeit als auch für die glücklichen Teilnehmer von entscheidender Bedeutung. Status, Reichtum, Ämter und sogar Töchter wurden bei diesen Anlässen gehandelt, und dies zu einer Zeit, in der jeglicher sozialer Aufstieg für Männer durch eine starre Ständeordnung blockiert war. Sofern Gesellschaftstreffen auch Intellektuellen offenstanden und zudem von einer Frau mit intellektuellen Talenten und Ambitionen geleitet wurden, nannte man sie Salons.

Während gewisser Perioden der abendländischen Vergangenheit müssen offenbar bestimmte gesellschaftliche Bedingungen zusammengekommen sein, welche die Entstehung von Salons begünstigt haben. Frieden, Wohlstand, urbane Lebensart, Luxus und das Interesse der Mächtigen an Kultur stehen anscheinend mit den Salons in Verbindung. Salonartige gesellschaftliche Zusammenkünfte gab es schon im klassischen Griechenland und an den französischen Höfen des 12. Jahrhunderts. Ihren episodischen Charakter verloren sie erst im 15. Jahrhundert mit dem Beginn der Renaissance an den italienischen und französischen Höfen. Im 17. und 18. Jahrhundert wurde Paris zur Hauptstadt der Salons. In keiner anderen europäischen Stadt fanden sie einen günstigeren Boden als hier. Die Gesellschaftsfunktionen, die von den besonders „feinen“ Pariser Salons des ausgehenden 17. Jahrhunderts, den précieuses, wahrgenommen wurden, hat Carolyn Lougee genauestens rekonstruiert. Sie stellt dabei die Frage, warum Molière und andere männliche Intellektuelle den Frauen dieser Salons Affektiertheit, Anmaßung und Ignoranz vorgeworfen haben.

Ihre Untersuchung des sozialen Aufstiegs, der den Salonteilnehmerinnen durch Einheirat in höhere Kreise gelang, zeigt, daß die Aversionen seitens männlicher Intellektueller eher von sozialen als von geschlechtsspezifischen Konflikten herrührten. Die Aufgabe dieser eher überfeinerten Salons bestand darin, Töchtern aus dem reichen Amtsadel, die in Familien des statushöheren Schwertadels eingeheiratet hatten, Glanz und Ansehen zu verleihen.

Zu Beginn des folgenden Jahrhunderts sahen sich die Pariser Salons in ihrer kulturellen Macht bedroht, weil Ludwig XIV. den Adel und das Gesellschaftsleben an den Hof von Versailles band. Doch schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatte sich die kulturelle Patronage und das geistige Leben wieder auf Paris konzentriert. Das Zeitalter der Aufklärung war die Blütezeit der Pariser Salons, die unterdessen vielfältige Formen angenommen hatten. Manche Salongesellschaften kamen sogar in Klöstern zusammen, und wenigstens zwei Salons wurden von Männern geführt. In einem Haus blieb der Montag literarischen Berühmtheiten vorbehalten und der Mittwoch den politisch Einflußreichen. Wohlhabende Frauen konkurrierten miteinander im Eröffnen neuer Salons und waren darin so eifrig, daß ein Mißerfolg auf diesem Feld sie mehr als der Verlust eines Liebhabers getroffen haben soll. Die nicht nur gesellschaftliche, sondern auch geistige Funktion der Salons bereitete indes einigen männlichen Intellektuellen, wie Jean-Jaques Rousseau, gewisse Sorgen. Er griff Molières Spöttelei über die Salondamen auf und tadelte sie wegen ihrer Anmaßung und wegen mangelnden intellektuellen Ernstes. Gleichwohl hat Rousseau, der selbst in Salons verkehrte und dort aus seinen Werken vortrug, durch sein praktisches Verhalten die unentbehrliche öffentliche Rolle der Pariser Salons für das intellektuelle und künstlerische Leben der Aufklärungsepoche bestätigt.

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts entstanden bedeutende Salons auch in London und in einigen mitteleuropäischen Städten. Die Londoner Zusammenkünfte wurden wegen des dort herrschenden intellektuellen Ernstes bluestocking-Salons genannt. (Blaue Strümpfe gehörten zur Alltagskleidung der Frauen.) Wenn die Gastgeberin an Sinn und Zweck der Zusammenkunft mahnend erinnerte, so hieß das, daß harte Diskussionen auf der Tagesordnung standen. Die Londoner „Blaustrümpfe“ waren gebildeter als die Pariser Salondamen und auch eher bereit, ihre literarischen Erzeugnisse zu veröffentlichen; ihre Salons blieben zudem Männern häufig verschlossen. Salons tauchten auch – zum ersten Mal – in den wichtigsten deutschen Städten auf, zum Beispiel Berlin. In Wien kamen während des Wiener Kongresses von 1814/15 zu drei bekannten Salons weitere hinzu. Zusammenkünfte, die als Salons bezeichnet wurden, gab es auch in Potsdam, Jena, Heidelberg, Darmstadt, Leipzig und Weimar. In der Regel waren die mitteleuropäischen Salons dieser Zeit an den Fürstenhöfen zu finden, was den Schluß nahelegt, daß sie sich in einem Stadium befanden, das die französischen und englischen Salons bereits überwunden hatten.

Schon dieser kurze Überblick zeigt uns die Salons als eine Institution, die sich in unterschiedlicher Umgebung entfaltete und dabei eine Vielfalt von sozialen und intellektuellen Funktionen erfüllte. Diese Zusammenkünfte wurden von Zeitgenossen oder späteren Historikern als Salons bezeichnet. Salons fanden fast stets zu Hause statt, wobei das Zuhause manchmal der Hof einer herrschenden Dynastie war.

Salons wurden gewöhnlich von reichen, verheirateten Frauen geführt, doch manchmal war auch ein Mann der Gastgeber. So haben beispielweise Goethe in Weimar und Baron d’Holbach in Paris zu informellen intellektuellen Zusammenkünften geladen, die denen glichen, welche anderswo Salons genannt wurden. Natürlich gab es auch unverheiratete Salondamen und solche, die zu arm waren, um etwas anderes als Tee und Gebäck reichen zu können.

Es ist schwierig, eine genaue Definition des Salons zu finden, nicht nur, weil sich die Art der Zusammenkünfte und die Gastgeber erheblich voneinander unterschieden, sondern auch, weil es sich zugleich um gesellschaftliche und intellektuelle Ereignisse handelte. In einigen Salons herrschte eine rege Arbeitsatmosphäre, in der Manuskripte laut vorgelesen und der Kritik ausgesetzt wurden sowie Urteile über neue Theateraufführungen und Bücher gefällt wurden. Andere Salons waren berühmt für ihre brillanten Konversationen, üppigen Soupers und musikalischen Darbietungen. Die Schwierigkeit einer Definition gilt dabei in jeder Beziehung: War der Salon eine öffentliche oder eine private Einrichtung? Zweifellos fanden die meisten Salonzusammenkünfte in Privathäusern statt, doch wurde das, was sich dort ereignete, zugleich einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Diese halb öffentliche und halb private Atmosphäre fand ihr Pendant darin, daß die Salons in der Regel von Frauen organisiert wurden. Diese Vereinigung von Öffentlichem und Privatem spiegelt sich auch darin wieder, wie Gäste ihren Weg dorthin fanden. Salons waren exklusive Treffen, für die es aber keiner gesonderten Einladung bedurfte. Die Salonbesucher waren häufig berühmte Menschen und die Verbindungen, die man dort anknüpfte, überaus nützlich. Uns erscheint das heute in der Tat verwirrend: Wie konnte ein gesellschaftliches Ereignis spontan und offen sein und dennoch exklusiv und elitär bleiben?

Je länger ich über die Vielfalt der Erscheinungen nachdachte, die sich unter dem Etikett Salons verbargen, um so dringender stellte sich mir die Frage, weshalb Salons überhaupt entstehen konnten. Daß derartige gesellschaftliche Institutionen im vorindustriellen Europa auftauchten, hat etwas Merkwürdiges an sich. Merkwürdig war, daß private Wohnzimmer als öffentliche Orte fungierten; daß Frauen zu einer Zeit, in der sie von Bildungsstätten und anderen bürgerlichen Institutionen ausgeschlossen waren, intellektuelle Diskurse zwischen den gelehrtesten Männern der Stadt vermittelt und geleitet haben sollen; daß Männer und Frauen in einer Zeit, in der die beiden Geschlechter sich gewöhnlich sehr wenig zu sagen hatten und es kaum öffentliche Orte gab, wo sie miteinander Umgang pflegen konnten, einem regen gedanklichen Austausch nachgingen. Merkwürdig war die Zusammensetzung der männlichen Gäste. Manche waren einflußreiche Staatsbeamte, Finanziers oder Grundbesitzer, andere besaßen nur ihren Esprit, ihren Ruhm als Schriftsteller und den Willen, der Welt ihren Stempel aufzudrücken. Daß die Reichen und Mächtigen sich dazu herabgelassen haben sollen, in kleinen intimen Zirkeln mit verarmten Autoren zu verkehren, bedarf einer Erklärung. Auch die These vom institutionellen Vakuum reicht nicht aus, um dieses Bündel von Fragen zu beantworten.

Dem Vakuum, das dem Niedergang der fürstlichen Patronage folgte und einem funktionierenden Verlagswesen voranging, hätte auch ohne die Hilfe von Frauen, die in ihren Wohnzimmern gelehrte Diskussionen führten, abgeholfen werden können. Dies zeigt ein Vergleich zwischen englischen und französischen intellektuellen Institutionen im 18. Jahrhundert. London war geradezu überschwemmt mit Kaffeehäusern, Dinnerclubs und Lesegesellschaften, die hauptsächlich Männern offenstanden; in Paris dagegen gab es verhältnismäßig viele Salons. Hier wie dort wurde das Vakuum durch eine Vielzahl intellektueller Übergangsinstitutionen geschlossen, aber nur eine davon, der Salon, stand unter weiblicher Führung.

Hierzu kam, daß die Salons die etablierten Vorstellungen von Kontinuität und Fortschritt in der deutschen Geschichte in Frage stellten. Für lange Zeit herrschte die Auffassung vor, daß weder Juden noch Frauen jemals in der deutschen Geschichte autonom und einflußreich gewesen seien. Die Vorstellung zu begründen, daß in Deutschland frühzeitig eine miniaturhafte Bastion weiblichen und jüdischen Einflusses auf kulturellem Gebiet bestanden hat, erwies sich als eine ebenso schwierige wie reizvolle Aufgabe.

Dieses Buch ist das Ergebnis meiner Bemühungen, die Salons im allgemeinen und die Berliner Salons im besonderen zu verstehen. Als Phänomene einer Übergangszeit waren diese gesellschaftlichen Gebilde bislang nicht als sonderlich bemerkenswerte Rätsel angesehen worden, was sie für mich indes immer mehr wurden. Wie ich ihnen jedoch die Informationen entlocken sollte, die meine Fragen beantworten konnten, war mir anfangs noch höchst unklar. Gleich zahlreichen anderen Rätseln der Sozialgeschichte entsprachen die Salons eher dem, was man heute einen Prozeß nennt, als gewöhnlich gut dokumentierten Ereignissen, denen so lange das Hauptinteresse der traditionellen Geschichtswissenschaft galt. Wenn man den Unterschied zwischen Ereignis und Prozeß in den Kontext der Geistesgeschichte übersetzt, so handelt es sich bei den Salons um kulturelle Vorgänge, während die Veröffentlichung von Büchern oder die Immatrikulation an einer Universität intellektuelle Ereignisse darstellen. Kulturelle Vorgänge sind jedoch schwerer faßbar als jene Prozesse, die von Sozialhistorikern in allgemeiner Weise rekonstruiert werden. Für bestimmte Abschnitte der Bevölkerungs- und Wirtschaftsgeschichte lassen sich in den Archiven noch Quellen aufspüren. Brauchbare Primär quellen zur Salongesellschaft sind hingegen sehr viel schwerer zu entdecken und auszuwerten, weil vieles über die Salons als Institution und erst recht über bestimmte Salons unter der Oberfläche unserer historiographisch erfaßten Vergangenheit verborgen liegt. Keine örtliche Polizei, keine Universität und kein Verlag hatte es sich damals zur Aufgabe gemacht, das Salonleben zu dokumentieren. Und trotz der Geschwätzigkeit der Briefkultur des 18. Jahrhunderts wurden in den Korrespondenzen der Salonteilnehmer die Einzelheiten des Salonalltags eher vorausgesetzt als zum Briefinhalt gemacht.

Den Mangel an Salonberichten aus erster Hand habe ich durch die besondere Anlage dieses Buches zu kompensieren versucht. Mein Ziel, eine Sozialgeschichte der Berliner Salons zu schreiben, bedurfte so einer gewissen Systematisierung in der Darstellung, zumal ich mich nicht mit der Wiedergabe der Porträts einer Reihe berühmter Salonières zufrieden geben wollte.

Auch konnte ich mich nicht auf dem Allgemeinplatz ausruhen, wonach sich Menschen aller Klassen in den Salons vereinigt hätten. Die Leitfrage dieses Buches lautet daher: Wer besuchte die Berliner Salons und warum? Um sie beantworten und im gleichen Zug die Auswirkungen der Berliner Sozialstruktur auf den Salonbesuch rekonstruieren zu können, mußte ich – wie alle Historiker – bei weitem mehr und auch anderes über das Leben der Salonteilnehmer insgesamt in Erfahrung bringen, als diese selbst zu ihrer Zeit zu wissen vermochten. Darum machte ich es mir zur Aufgabe, den Mangel an zeitgenössischen Zeugnissen in eine Tugend zu verwandeln und dem Projekt somit eine Außen- und Fremdperspektive zu verleihen. Solches exemplarisch am besonderen und größeren Ort Berlin auszuführen, sollte mit dazu verhelfen, auch die Rätsel und Mysterien um den Salon als Institution zu lösen. Als wichtigste Quelle für die Beantwortung der Frage, wer in die Salons ging und warum, dienten mir die Biographien von 417 Intellektuellen, die zwischen 1780 und 1806 in Berlin lebten und die nötigen Voraussetzungen zur Teilnahme an der Salongesellschaft mitbrachten. Die Namen und Geburtsdaten, die von ihnen – aber auch von ihren Vätern – ausgeübten Berufe sowie die kulturellen Aktivitäten dieser Gruppe habe ich Biographien, Memoiren, Briefen und biographischen Lexika entnommen. Hundert von ihnen besuchten in diesen sechsundzwanzig Jahren mindestens einen Salon. Ich möchte daher zeigen, inwiefern die soziale Herkunft, der Beruf, die Freundschaften, die Liebesaffairen und die geistige Arbeit diese einhundert Intellektuellen in die Salons führten und die verbleibenden 317 dagegen nicht.

Die Behauptung allein, daß die einhundert Salongäste eine vielfältige Mèlange ausmachten, ergibt noch keinen Sinn, wenn man nicht zugleich und auf breiterer Grundlage Überlegungen zur städtischen Sozialstruktur anstellt, die auch deren Leben prägte. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vollzogen sich tiefgreifende Veränderungen innerhalb der Berliner Gesellschaft, und es entstanden neuartige Verbindungen zwischen sozialen Gruppierungen, die über wechselnde Ressourcen an Geld, Macht und Status verfügten. Ein bestimmtes Grundmuster des sozialen Auf- und Abstiegs brachte dabei einen neuen Menschentypus hervor, dessen besondere Bedürfnisse in den Salons befriedigt werden konnten. Gesellschaftsklassen, die sich auf gemeinsame ökonomische und berufliche Interessen gründeten, hatten am Ausgang des Jahrhunderts praktisch noch keine Gestalt angenommen. Steigende Grundstückspreise, hohe landwirtschaftliche Erträge, die Verstädterung und ein unzureichendes Erziehungswesen polarisierten den preußischen Adel und führten zu dem Ergebnis, daß manche Adlige zwar reich an sozialem Ansehen, aber knapp an Bargeld waren. Währenddessen hielt der Thron an seinem rigiden Merkantilismus fest, weigerte sich, hohe Staatsund Verwaltungsämter an Bürgerliche zu vergeben, und versuchte eine Industrie aufzubauen, ohne dabei dem Bürgertum den Zugang zum gesellschaftlichen Reichtum zu ermöglichen. Die Politik verhinderte die Entstehung einer einheimischen Bourgeoisie, die fähig gewesen wäre, mit einem bereits geschwächten Adel um die gesellschaftliche Vormachtstellung zu konkurrieren. Die Rolle einer Stellvertreterbourgeoisie fiel im 18. Jahrhundert statt dessen an die soziale Elite der kleinen jüdischen Gemeinde.

Während viele Adlige ärmer und manche Bürgerliche reicher wurden, entwickelten Angehörige beider Stände dennoch vergleichbare geistige Interessen, die sie gemeinsame intellektuelle Projekte aufnehmen ließen. Und auch ohne Universität und ohne führende Verlagshäuser gelang es Berlin, Geistesgrößen und aufstrebende Intellektuelle anzuziehen. Sie fanden Anstellungen als Hofmeister, als Lehrer an Gymnasien und den Ritterakademien, als Privatdozenten und insbesondere als Staatsbeamte. Dank ihrer Ausbildung und ihres beruflichen Werdegangs gelang so einer nicht unerheblichen Anzahl bürgerlicher Intellektueller, die manchmal den ärmsten Verhältnissen entstammten, der soziale Aufstieg.

Zunächst müssen wir herausfinden, warum aus so vielen Adligen plötzlich ernsthafte Intellektuelle wurden, und uns anschließend die Frage stellen, weshalb ihre geistigen Interessen sie ausgerechnet in die Salons führten. Begaben sich Adlige, wenn sie Salons besuchten, ihrem eigenen Standesdünkel nach in gesellschaftliche Niederungen, so verband sich für Menschen von niedriger Herkunft damit umgekehrt ein beachtlicher Gewinn.

Nicht minder entscheidend für die Entstehung der Salongesellschaft waren die Freundschaften der jüdischen Frauen, zu deren engsten Freundinnen Adlige und Schauspielerinnen sowie Jüdinnen zählten, die auch den Sprung aus den Fesseln ihrer Gemeinde und Traditionen wagen wollten. Im Gegensatz zur vorherrschenden Auffassung wár die Assimilation der jüdischen Salonfrauen nämlich kein bloßer individualistischer Akt. Vielmehr unternahmen die Frauen diese Reise gemeinsam, als eine kleine Gruppe, die durch ihre familiären Bedingungen, durch ein selbstgewähltes und dennoch schmerzlich empfundenes Außenseitertum sowie durch die Leidenschaft für das literarische Leben miteinander verbunden waren.

Die meisten Salonteilnehmer waren zwischen zwanzig und vierzig Jahre alt und verfügten über ein im Verhältnis zu ihrem Status entweder größeres oder geringeres Einkommen; Adlige waren eher ärmer, Juden dagegen eher reicher. Zudem spielte in der Salonkultur die Nachahmung der lokkeren Sitten des französischen Adels eine besondere Rolle. So wurden Salons zur Bühne für exotische und romantische Liaisons, die nicht selten in Ehen mündeten, an denen auf weiblicher Seite beinahe stets geschiedene und konvertierte Jüdinnen beteiligt waren. Um zu erfahren, wie es dazu kam, daß jüdische Ehemänner ihre Frauen verloren, und was andererseits die neuen Verbindungen begünstigte, müssen wir die Rolle der ökonomischen Nöte auf der nichtjüdischen Seite sowie jene des Reichtums auf der jüdischen Seite näher beleuchten.

In den Hauptabschnitten dieses Buches möchte ich die Vielfalt der Verbindungen aufzeigen, welche die Salongesellschaft zusammenhielt, und mich im Schlußkapitel dem Auseinanderbrechen der jüdisch-deutschen Salongesellschaft zuwenden, welches in der Tat schon während ihres kulturellen Höhepunkts einsetzte. Merkwürdigerweise teilten viele der angesehenen christlichen Salongäste ein höchst zwiespältiges Verhalten gegenüber ihren jüdischen Gastgeberinnen, auch wenn sie ihnen mit ihren Besuchen schmeicheln wollten. Zudem lassen gerade die seit 1803 in Berlin vermehrt auftauchenden judenfeindlichen Schriften erkennen, daß nicht zuletzt der Erfolg der jüdischen Salonières mit zu dem neuen Antisemitismus beitrug, der sich gerade auch unter der lokalen Intelligenz auszubreiten begann. Dieser richtete sich gegen die mit dem Salonleben verbundene Assimilationspraxis und schwächte allmählich die Position der jüdischen Salonières.

Die gesellschaftlichen und institutionellen Bedürfnisse, denen die Berliner Salons nachgekommen sind, sollten in der dort gegebenen Konstellation in keiner anderen deutschen Stadt mehr auftauchen und künftig auch nicht mehr in Berlin. In diesem Sinn trifft die bisherige historiographische Überzeugung von der geographischen wie geschichtlichen Einzigartigkeit der Berliner Salons des ausgehenden 18. Jahrhunderts in der Tat zu. Indem ich zu rekonstruieren versuche, warum Salons dann und dort entstanden, will ich das Einzigartige vom Zufälligen trennen und davon erzählen, wie ein Augenblick in der deutschen Geschichte vollkommen logisch sein konnte – auch wenn er allzu flüchtig war.

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Gesellschaftsstruktur

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Rahel Levin

Preußische Widersprüche