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Ewald Arenz

 

 

Der Duft von Schokolade

 

 

Roman

 

ars vivendi

 

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (5. Auflage 2009)

© 2007 by ars vivendi verlag

GmbH & Co. KG, Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Susanne Bartel

Korrektorat: Jürgen Stölzle, Margit Schwab

Umschlaggestaltung: Philipp Starke, Hamburg

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-324-9

 

I

 

1

Im Frühjahr 1881 quittierte der Leutnant August Liebeskind nach fast zehn Jahren den Dienst in der kaiserlichen und königlichen Armee Österreich-Ungarns. Es war ein regnerischer Tag, aber der Himmel war hell, und der Duft von Gras und Sonne lag schon als verwehter Hauch und wie ein Versprechen in der kühlen, grauen Luft, als August den Hof der Stiftskaserne durchquerte. Offiziell war er jetzt schon kein Soldat mehr, aber er grüßte die Wachhabenden am Tor wie gewohnt. Dann trat er auf die Mariahilfer Straße, blieb stehen und lächelte.

Das war alles. Er konnte stehen bleiben und weiter­gehen, wie es ihm gefiel. Es gab keinen Dienst mehr und keine Befehle. Er war frei. Hatte sich der Duft der Luft geändert? Er atmete tief ein und fand, dass sie wirklich anders roch. Sie roch frei. Ein klarer Geruch. Er schob die Mütze ein Stück aus der Stirn, und schon begann die Uniform, sich ein bisschen ungewohnter anzufühlen, so wie damals, als er sie das erste Mal getragen hatte.

Eigentlich war er nicht ungern Soldat gewesen, aber ein Schönwetterleutnant, dachte er, über sich selbst amüsiert, und grüßte noch ein letztes Mal, als ein kleiner Trupp durch das Tor kam und an ihm vorbei nach rechts abbog. Er war nie ein richtiger Soldat geworden. Ein Denker, hatten manche Kameraden spöttisch gemeint, ein Träumer, und dabei doch immer das Gefühl gehabt, dass die Beschreibung nicht traf. Er war nicht versponnen und nicht verträumt. Er war anders. Er konnte befehlen, tat es aber nur selten. Er konnte manchmal überraschend mutig sein, aber er war nie kühn wie die Kameraden. Er war in all den Jahren kein richtiger Soldat geworden.

Manches hatte ihm gefallen. Die Herbstmanöver. Wenn der Himmel über den Feldern hoch und blau war und es nach Rauch vom Kartoffelkraut roch und in den ­Wäldern nach Kastanien. Auch die frostigen Wintermorgen, an denen der Atem der Pferde und Reiter dampfte, das ge­frorene Gras unter den Hufen knisterte und die Sonne so rot aufging wie im Sommer nie. Und in der Kaserne die Stunden, in denen Strategie gegeben wurde. Er mochte das Spiel mit Möglichkeiten, die Präzision, mit der eins aus dem anderen folgte und mit der sich alles berechnen ließ. Strategie war klar und genau, aber nur ein Spiel. Er war froh, dass es in diesen Jahren keinen großen Krieg gegeben hatte, auch wenn er das nie zu den Kameraden gesagt hätte. Er hatte sich nicht nach dem Abenteuer Krieg gesehnt, weil er zu viel Fantasie hatte, die ihm ungewollt ausmalte, wie sich eine Kugel anfühlen musste, wenn sie einschlug, oder ein Bajonett, wenn es traf. Ein Schön­wettersoldat eben.

Diese zehn Jahre Dienst waren eigentlich nur wie eine Fortsetzung der Schule gewesen. Es hatte große und kleine Regeln gegeben, Unangenehmes und Angenehmes und hinter allem immer einen Hauch Gemütlichkeit, der durch die Gewohnheit entstand. Ein Abschnitt, der eben zu durch­leben war.

Aber jetzt, wurde ihm mit einer kleinen Überraschung klar, jetzt war er das erste Mal seit seiner Kindheit ganz und gar frei. Ein langer, leerer Sommer lag vor ihm. Ohne Pflichten und ohne Verbindlichkeiten. Er war sein eigener Herr. Er war frei. Es war ein Schülerglück, das ihn erfüllte, während er durch den grauen Morgen in die Stadt hineinging, und er hätte bei jedem Schritt lachen können, unbeschwert und einfach so, weil es schön war, alles hinter sich und nichts vor sich zu haben.

Es regnete jetzt tatsächlich, aber das machte nichts. Wenn es das tat, roch alles nur noch stärker, und August liebte die Gerüche. Wenn er die Augen schloss, konnte er sie sogar sehen. Jeder Duft hatte eine Farbe, für die es in der Sprache keine Wörter gab. Auch der Geruch von Frühlingsregen, er war wie ein blasses, unaufdringlich heiteres Lindgrün. Um ihn herum hasteten die Damen und Herren die Straße entlang, und es war ein Spaß, ganz unberührt und gelassen und vergnügt durch den Regen zu gehen. Heute konnte er nicht nass werden. Alle anderen schon, aber er nicht. Als er um die Hofburg herum war, zögerte er einen kleinen Augenblick und überlegte, wohin er sich wenden sollte. Dann sah er die Schaufenster der Konditorei Demel, ging quer über die Straße und trat ein. Er ging gern ins Kaffeehaus, weil er die Düfte dort liebte. Wie er die Gerüche draußen liebte, so liebte er auch die Aromen im Demel, die in Schleiern in der Luft lagen, sich gemächlich umeinander drehten und alle zusammen die Atmosphäre des Kaffeehauses ausmachten. Als Erstes und am stärksten kam einem, wie als Begrüßung, schon an der Tür der Geruch des frisch röstenden und aufgebrühten Kaffees entgegen. Dann der Zigarrenrauch, der einzige Duft, den man sehen konnte. Und dann, ganz zart und jeder unverwechselbar, die vielen kleinen Düfte. Bitter, von geraspelter Schokolade. Oder geschmolzen und süß, von den Schoko­laden der Damen an kühlen Tagen wie heute, mit einem Hauch Vanille darin. Tragant, der einfache, süße Geruch, der von all den Zuckerfiguren ausging. Honig. Überall, wieder wie Farben, die unterschiedlichen Gerüche des Honigs: rosigsüß im Rachat-Lougoum, blütensüß im Halwa, walddunkel in den Nonnenkrapferln, durchsichtig fein im Akazienblütenkonfekt. Wunderbar und gefährlich schön der Bittermandel­geruch vom Rehrücken, dieser langen, glänzend schokolierten Torte. Einen Geruch gab es, den erkannte August nicht gleich. Er blieb einen Augenblick stehen und sah sich um, bis er entdeckte, woher er kam. Ja. Das war der schwache, aber unverkennbare Heimatgeruch von warmer Milch, bevor sie in den Kaffee gegossen wurde. Und alles zusammen mischte sich zum Duft von Freiheit, denn wenn man im Kaffeehaus war, war man ja dort, weil man sich freigemacht hatte. Alles andere blieb außen vor. August setzte sich nahe den Fenstern, bestellte und trank den starken Kaffee unter dem kühlen Schlagobers. Er hatte eine Zeitung unberührt auf dem Tisch liegen und sah hinaus. Er war glücklich, und weil er wusste, dass Glück nie lange dauerte, bewegte er sich sehr behutsam, um es nicht vorschnell zu verjagen.

Vor den Fenstern blieben die Leute stehen. Ein kleiner Auflauf entstand. August sah neugierig hinaus. Die Leute standen mit dem Rücken zu ihm und blickten auf die Gasse. Durch sie hindurch konnte er sehen, wie auf einmal ein sehr großes Rad erschien, an ihnen vorbeifuhr, langsamer wurde und – für August außer Sicht – verschwand. Ein Hochrad. Er musste lächeln. Bisher hatte er immer nur Bilder davon gesehen. Als er gegen seine Neugier entschied, einfach sitzen zu bleiben, ging die Tür auf, und er sah das Rad an die Wand gelehnt stehen. Eine junge Frau mit einem sehr großen Hut trat ein; sie ­achtete nicht auf die milde Empörung, die sie in der kleinen Menge ausgelöst hatte, die noch immer vor dem Demel stand und Rad und Fahrerin begaffte. August sah ihr zu, wie sie sich setzte, ohne sich vom Ober einen Tisch zuweisen zu lassen. Seine Kameraden hatten sich manchmal über ihn lustig gemacht, weil er gerne im Demel war. Ein Kaffeehaus, in dem Frauen verkehren, hatten sie in gutmütigem Spott gegrinst, das schaut nach dem Liebeskind aus, nicht wahr?

August beobachtete die Frau und dann die Gäste – alle sahen zu ihr hinüber, bis auf den alten Herrn, der nur aus seinem Intelligenzblatt auftauchte, um pünktlich alle Stunde eine weitere Schale Kaffee zu bestellen – und war hin- und hergerissen zwischen dem Ärger über den Hochmut, mit dem sie hereingekommen war, und der Bewunderung für ihren Mut.

»Mazagran, bitte!«, bestellte sie schließlich, und das war wirklich maßlos arrogant. Mazagran war kalter Mokka mit Cognac. Man trank keinen Mazagran am Vormittag. Auf einmal ärgerte sich August doch. Über sich und über die Hochradfahrerin. Sein Glück von vorhin war verflogen, er hatte sich von ihr und seiner Neugier zurück in die Welt ziehen lassen. Und weil ihn ihr Hochmut reizte, sagte er wie nebenbei und nicht einmal bewusst an sie gerichtet:

»Ich dachte, in Wien sei das Hochradfahren verboten.«

Sie sah auf und ihn kühl an. Sie hob nicht einmal die Brauen. Plötzlich fühlte August sich dumm, aber gleichzeitig kam ihr Duft bei ihm an, ein Duft wie von fremden Gewürzen, farbig und voll, doch hinter diesem Parfum lag noch etwas Bitterschönes wie glimmendes Heu; ein Duft, den er sofort mochte, obwohl er die Frau nicht leiden konnte.

»Liegt das daran, dass die Wiener beim Hochradfahren zu oft stürzen, Herr Leutnant?«, fragte sie mit klarer und lauter Stimme, und ein paar Köpfe drehten sich zu ihr und ihm um. Sie hielt seinen Blick fest. August, der sonst im Gespräch nicht langsam war, fiel nicht sofort das Richtige ein.

»Sie sind keine Wienerin, nicht wahr?«, fragte er, aber was scharf klingen sollte, hörte sich nur stumpf an.

»Nein«, sagte sie und ließ seinen Blick immer noch nicht los, als sie mit Vorbedacht und effekthascherisch anfügte, »zum Glück nicht.«

An einem der anderen Tische murrte es in halbher­ziger Empörung. August konnte nichts sagen, obwohl er ihr gerne irgendwie über den Mund gefahren wäre. Aber ihm fiel einfach nichts ein. Immerhin hielt er ihren Blick aus, bis sie beide, fast gleichzeitig, den Kopf drehten. Er faltete die Zeitung auf, und sie trank ihren Mazagran. Die Gespräche an den anderen Tischen wurden wieder aufgenommen, die Kaffeemaschine summte, und aus der Küche hörte man gedämpft, wie der Lehrbub Obers aufschlug.

»Zahlen!«, rief August nach zehn Minuten, als es sich nicht mehr nach Rückzug oder Niederlage anhörte, beglich die Rechnung und ging an ihrem Tisch vorbei, ohne dass sie noch einmal herschaute oder er zu ihr. Als er aus der Tür trat, sah er das Hochrad noch immer an der Wand stehen, und er fragte sich unwillkürlich, wie sie ohne Hilfe aufsteigen konnte. Eine atemberaubende Überheblichkeit, dachte er, aber dann musste er über sich selbst lachen und sah nach oben. Der Regen hatte aufgehört, die Wolken waren hell geworden und trieben über einen immer blauer werdenden Himmel. Es lohnte nicht, sich zu ärgern. Augusts gute Laune kehrte zurück, etwas nachdenklicher zwar, aber sie war wieder da, und auf einmal hatte er Lust zu gehen, den ganzen Weg bis zu seiner Wohnung zu gehen und auf einen Fiaker zu verzichten.

Abends, als er am Fenster stand und in den kühlen, aber immer noch hellen Abend hineinsah, wehte der Rauch aus den Kaminen zu ihm, und auf einmal war der Duft der Hochradfahrerin wieder da, voll und farbig und hinter ihm, bitterschön, der Hauch von glimmendem Heu. Er wartete eine Weile und atmete mit halb geschlossenen Augen, aber die verwehten Farben des Duftes – wie die Farben, die nach dem Sonnenuntergang noch am Horizont standen – fügten sich zu keinem Bild zusammen. Da zuckte er mit den Schultern, ging zu Bett und schlief traumlos in einen hellen Frühlingsmorgen.

 

2

Natürlich gab es auch in diesen Tagen Verpflichtungen. Sein Pferd musste aus der Kaserne geholt und untergebracht werden. Im Amt waren Entlassungspapiere zu unterzeichnen. Es waren Besuche zu machen, die er aufgeschoben hatte, und er musste auch im Büro des Onkel Josef vorsprechen, für dessen Fabrik er ab dem Herbst als Einkäufer reisen sollte. Aber das alles empfand August nicht als Einschränkung. Es waren nur wenige Termine und die meist nur lose vereinbart; nichts hatte Eile, und er konnte hingehen, wie und wann er wollte. Er hatte das Gefühl noch nicht verloren, das er auch als Schüler zu Beginn der großen Ferien immer gehabt hatte: Ein unabsehbar langer Sommer lag vor einem, ein Meer von Zeit. So schlenderte er durch die Tage, besuchte am Sonntag die Eltern, ging ins Kaffeehaus und traf Bekannte, holte einen Nachmittag seinen Neffen ab und ging mit ihm in den Prater. Eine Woche, zehn Tage, man merkte wohl, dass man auf diesem großen Meer der Zeit Fahrt machte, aber es gab keinen Horizont und keine andere Küste.

Am Montag der darauffolgenden Woche ließ sich August bei seinem Onkel anmelden. Josef war das, was man einen Ringstraßenbaron nannte. Als die große Demolierpolka angefangen hatte und der Kaiser die Basteien und Befestigungen rings um die Stadt hatte schleifen lassen, um Platz für den Ring zu schaffen, als eine Aktiengesellschaft nach der anderen gegründet wurde, weil man nicht wusste, wohin mit dem Geld, und alle, von der Büglerin bis hin zum Grafen, Aktien kauften, war auch Augusts Onkel reich geworden. Eigentlich war er ja nur ein Kolonialwarenhändler gewesen, aber für August war schon dieser kleine Laden als Kind ein Paradies gewesen: getrocknete Feigen und Zuckerhüte und Datteln ... Josef hatte immer nur lachend zugesehen, wie die Kinder sich die Taschen vollstopften.

»Viel Spaß auf dem Häuserl!«, hatte er dann gesagt und noch mehr gelacht, gutmütig und schon damals dick.

Reich aber war er mit dem Grundstück am Ring geworden, das er zurückhielt, bis man ihm das Hundertfache dessen bot, was es vorher wert gewesen war. Josef verkaufte, kaufte Aktien, spielte um Boden und Preise, gewann immer und immer wieder, und schließlich war aus dem Kolonial­warengeschäft die erste Schokoladenfabrik Wiens geworden.

»Der Herr Leutnant«, empfing er August in seinem Büro, das so von Kristall und seidenen Blumen überladen war, dass es mehr wie ein Salon aussah, »nimm Platz.«

»Nicht mehr, Onkel«, sagte August und sah sich um. Er war lange nicht mehr hier gewesen. Es roch schwül nach Veilchen und Staub. »Ich bin jetzt Zivilist«, sagte er lächelnd und setzte sich.

»Offizier bleibt man immer«, behauptete Onkel Josef, kramte in einem Kästchen nach Zigarren und bot ihm eine an, »Zivilisten sind gar keine richtigen Menschen.«

»Danke«, sagte August, musste lachen und lehnte die Zigarre ab, »nicht am Morgen.«

»Rauchen«, sagte Josef selbstzufrieden und zündete seine Zigarre an, »rauchen, trinken und essen kann ich immer. Dafür gibt’s keine Tageszeiten. Kannst du eigentlich Französisch?«, fragte er übergangslos. »Wir kaufen viel über Kairo, da musst du Französisch können oder wenigstens Englisch.«

»Ich weiß doch noch gar nicht, ob ich zum Einkäufer tauge«, sagte August dann, »ich verstehe nicht viel von Spezereien.«

»Schmarrn«, sagte der Onkel, »das braucht es alles nicht. Das lernt man von allein. Was es braucht, ist eine gute Nase. Mehr nicht. Und dass du eine gute Nase hast, das habe ich schon gemerkt, als du noch nicht mal zur Schule gegangen bist. Dich hat man ja aus der Küche prügeln müssen!«

August musste wieder lächeln. Er hatte Josef immer gut leiden können.

»Vielleicht«, gab er zu, »aber du wirst am Anfang mit mir geduldig sein müssen. Ich will ja eigentlich nur eintreten, weil ich dann freie Schokolade bekomme. Wenn ich nur deine Fabrik nicht ruiniere ... Und wann fange ich an?«

»Wenn du mit dem Nichtstun fertig bist!« Josef schrie fast vor Vergnügen. »Wenn du es satt hast, das Herumscharwenzeln, dann! Und meine Fabrik – da kannst du lange falsch einkaufen, die richtet mir niemand zugrund!« Er schlug August auf die Schultern. »Auf den Herbst kommst du, im Oktober. Und davor kommst du noch einmal heraus und schaust dir die Fabrik an ... An der Pforte musst du nur sagen, wer du bist, kannst immer kommen, jederzeit.«

August konnte nur nicken, denn das war schon alles. Das Geschäftliche war damit besprochen, und Josef fragte nach der Familie, ließ sich Klatsch aus der Kaserne berichten und lud August schließlich zum Essen ein. Es war früher Nachmittag, als er endlich die Villa verließ und sich auf den Weg zurück aus der Vorstadt machte.

Die Regentage schienen vorbei zu sein, der Frühling war wirklich gekommen. Der Fluss sah nicht mehr kalt aus, und die Bäume wirkten, als hätte man in ihre Zweige lichtgrüne Schleier geworfen. Wie gut, dachte August, dass ich kein Soldat mehr bin ... Schleier! Er ging weiter und lächelte über sich selbst, aber der Tag war eben einfach zu schön. Auf den Kieswegen entlang des Flusses waren die Kinderfrauen in Scharen unterwegs. Weil es der erste warme Tag war, hatten sie den Kleinen in ungewohnter Nachgiebigkeit Eiscreme gekauft oder Himbeerkracherln, und als August das sah, fühlte er sich unwillkürlich an Lenjas Küche erinnert. Josef hatte recht, als Kind war er immer gern in der Küche gewesen.

 

Die Küche in dem großen Bürgerhaus war ein Zauberland gewesen. Wenn er das Märchen von Zwerg Nase vorgelesen bekam, dann konnte die Küche der alten Hexe, in der die Eichhörnchen auf Walnusshälften Schlittschuh liefen, keine andere sein als die im eigenen Haus. Er stellte sich vor, wie sie auf den altweißen Fliesen, in die jeweils in der Mitte ein dunkelrotes Karo eingelegt war, hin- und herschossen, in den Pfoten Gewürzsäckchen und Abtropfgitter und Gäbelchen und Fässchen trugen. Die Küche hatte zwei Kreuzgewölbe, unter denen an langen Eisenstangen auf der einen Seite über dem großen gemauerten Herd das Kupfergeschirr hing, vom kleinsten Tiegel bis zum Kessel. Im Herd selbst brannte Feuer, wann immer August auch nach unten kam, manchmal leuchtete es durch die Spalten der gusseisernen Herdringe. An der anderen Stange hingen die Küchentücher. Und am Herd und der Esse hingen die Löffel, die Schneeruten, die Schaumlöffel und Kellen. Aber das war es nicht, was die Küche für den kleinen August zum Zauberland machte. Es waren die Düfte, die immer anders waren und ihn immer wieder hinunterzogen. Weil er dann immer um die Köchin strich, hatte sie es irgendwann aufgegeben, ihn hinauszuscheuchen, und so blieb er oft für Stunden. Dann stellte er sich vor, Lenja sei die Hexe, und er sei der schöne Junge, der die Kohlköpfe für sie nach Hause hatte tragen müssen.

»Du bist die Hexe, Lenja!«, schrie er manchmal, um sie zu ärgern. »Du musst mich kochen lehren!« Dann rannte er der Köchin mit seinem Schemel hinterher und stellte sich schnell darauf, um zu sehen, was sie tat.

Lenja war alterslos und dünn. Augusts Mutter mochte keine dicken Frauen. Die waren ihr zu gemütlich. Lenja war also nicht dick. Und sie war eine wunderbare Köchin. Sie redete nicht mit August, sondern mit sich selbst, die ganze Zeit, während sie kochte. Auf Böhmisch und auf Deutsch. Aber August hörte sowieso nicht zu. Er beobachtete und roch.

Der Kupfertiegel wurde ohne hinzusehen von der Stange genommen und trocken auf den Herd gestellt. Lenja griff ins Wasserfass, in dem die Butter schwamm, schnitt ein genau bemessenes Stück ab und warf die Butter zurück. Das andere Stück zerging schon im Tiegel. Sechs Deka Zucker wurden aus dem Schub gelöffelt, gewogen und in die Butter gesiebt. August sah zu, wie die Kristalle zu Glas und dann zu nichts zergingen. Zwei Suppenlöffel heller Sirup, und Lenja rührte, rührte, rührte, zog den Tiegel einen Augenblick über das offene Feuer, und schon duftete es, aber dann puderte sie Mehl hinein, der Tiegel rutschte in exaktem Schwung vom Herd hinüber auf den Marmor und kam zwei Fingerbreit vor dem Brett zum Stehen, auf dem Lenja schon die Zitronen presste. Sie goss den Saft durch ein Sieb dazu, dann murmelte sie etwas und fuhr mit dem Finger das lange Gewürzregal ab, bis sie ein hellgelbes Pulver gefunden hatte, das August so scharf süß in die Nase stieg wie das Kräutlein Niesmitlust, das er aus dem Märchen kannte. Ingwer, buchstabierte er viel später einmal. Das Blech segelte aus dem Ofenloch. Zischend mit dem Pinsel Butter darauf. Zehn, zwölf Kleckse des flüssigen Teigs auf das Blech, und dann war die Klappe des Ofens schon wieder zu. August blieb davor stehen und sah Lenja zu, wie sie blecherne Spitztüten aus einer Lade zog. Dann – Lenja ließ nie etwas verbrennen, nie – zog sie schon wieder das Blech heraus, und darauf lagen, goldbraun und träge Blasen werfend, zwölf runde Plätzchen. Sie wartete die Blasen ab, dann züngelte schon das lange, biegsame Messer unter die Plätzchen und hob sie ab, eines nach dem anderen fing Lenja sie aus der Luft und schlug sie in einer einzigen fließenden Bewegung um das blecherne Spitztütchen. Und wieder eine Minute später zog sie die blechernen Förmchen heraus, und da lagen zwölf Ingwerzuckertüten. Wo kamen das blaue Schlagobers her und die in Honig gestampften Blaubeeren? Wann hatte sie die gemacht? August sah nie alles. Immer blieb da etwas, das er übersah, das zu schnell für ihn war. Lenja drehte ein Tütchen aus Papier, eine Tülle flog in den papiernen Trichter, und dann spritzte sie die blaue Sahne in die goldenen Tütchen, und manche Tüten knisterten, weil sie noch ein wenig warm waren. Da kam Onkel Josef in die Küche, er war komisch, nie kam er durch die Haustür –, sagte zu Lenja etwas auf Böhmisch, nahm eines der Spitztütchen und warf es August zu.

»Da«, sagte er lachend, »und raus aus der Küche! Kinder gehören in den Keller zum Kohleschaufeln!«

Damals wusste August noch nicht, wann Onkel Josef ernst war und wann nicht. Das Tütchen aber behielt er immer in der Hand.

»Hast du Eichhörnchen, Lenja?«, hatte August einmal gefragt und sich vorgestellt, dass sie herauskamen, wenn er nicht in der Küche war.

Ausnahmsweise musste Lenja lachen.

»Eichhörnchen?«, fragte sie in ihrem schweren böh-m­ischen Dialekt. »Nein, August. Nicht mal wir Böhmen essen Eichhörnchen.«

Wenn August dann aus der Küche nach oben kam, stellte er sich manchmal vor, seine Mutter würde ihn nicht wiedererkennen, weil er sieben Jahre in der Küche verbracht hatte und nun aussah wie ein hässlicher Zwerg. Und dass er in der Zeit zum Meisterkoch geworden war ...

 

Während er auf die Allee zur Rotundenbrücke einbog, dachte er noch einen Augenblick darüber nach, was das Kindsein wohl ausmachte, warum die Träume der Kindheit so anders waren als die, denen man als Erwachsener nachhing. Er wollte kein Meisterkoch mehr werden. Und Einkäufer, fragte er sich dann aber fast im gleichen Moment, wollte er denn Einkäufer werden? Und es war hier, mitten auf dem Weg und im hellen Licht der Frühlingssonne, dass August stehen blieb, als wäre er gegen eine unsichtbare Wand gerannt. Was wollte er eigentlich? Was war aus dem Jungen seiner Kindheit geworden? Er konnte sich erinnern, wie unglaublich voll die Küche von Düften gewesen war, wie aufgeregt er jeden neuen Geruch aufgenommen hatte, wie er ganz, von oben bis unten, von Aromen erfüllt gewesen war. Wo war das hin? Er wusste, dass man ihn ein andermal gefragt hatte, was er denn mal werden wollte, und er dann voller Sicherheit und selbstbewusst gesagt hatte: Prinz vom Morgenland.

Auf einmal sah er klar. Es war, als ob er jahrelang einfach nicht hingesehen hatte. Er war Soldat geworden, weil es sich eben so gehörte, und er war Soldat geblieben, weil man eben so lange diente, und er wurde Einkäufer für die Fabrik seines Onkels, weil sich das eben so eingerichtet hatte.

Um ihn herum rannten die Kinder vor ihren Kinderfrauen davon und trieben ihre Reifen quer über die Wiese. Sie schrien und lachten beim Stürzen, es war ein fröhlicher Lärm. August sah ihnen zu und hatte plötzlich ein Gefühl von Scham, als hätte er einen Freund für Geld verraten. War das alles? Der Lateinschüler Liebeskind und der Leutnant Liebeskind, der Einkäufer und irgendwann der Gatte Liebeskind? Die Freiheit, das große Meer Zeit zwischen heute und Oktober, war auf einmal nur noch ein Karpfenteich, auf dem man mit dem Fischerkahn große Fahrt spielte. Noch schlimmer: Der Kahn trieb nur, und er saß darin und ließ sich treiben. Auf einmal war sein Leben klein wie Spielzeug. Kleine Abenteuer: einmal quer durch die Donau geschwommen. Mit dem Regiment in Istrien gewesen und einen entgleisten Zug erlebt. Kleine Liebschaften, die mit einem Bedauern geendet hatten und manchmal sogar mit ein paar melancholischen Tagen und wenigen, längst vergessenen Gedichten in der Schublade, die schon beim Schreiben nicht wahr gewesen waren. Freundschaften, die nie auf die Probe gestellt worden waren. Ein farblos freundliches, ein kleines Leben.

Das alte Laub vom letzten Jahr unter den Bäumen der Rotundenallee roch modrig nach Herbst. Als August endlich weiterging, war die Heiterkeit, die er nach dem Kaffeehausbesuch wieder aufgebaut hatte, fort.

»Gewogen«, sagte er vor sich hin, »gewogen und für zu leicht befunden.«

Das war es. Sein Leben hatte kein Gewicht.

 

3

In den folgenden Tagen blieb dieses Gefühl einer eigenartigen, einer stärker werdenden Gewichtslosigkeit. Dieses Gefühl, zu leicht zu sein. Das Gefühl, in seinem Leben könne es gar keine Tiefe geben, weil er dazu nicht gemacht war. Vielleicht eignete er sich nicht für etwas Großes. Aber das Verlangen danach blieb.

Wie aus Trotz beschloss er, zum großen Derby auf der Bahn der Freudenau zu gehen. Wieder eine der Zerstreuungen, die eigentlich nichts bedeuteten. Aber immerhin Leben. Er hatte jahrelang nicht mehr das Rennen gesehen; immer hatte er entweder Dienst gehabt oder war sonst verhindert. Als Kind war er noch jedes Jahr dort, es war schöner als das Volksfest, vielleicht, weil es nur einen Tag dauerte, und damals war es noch ein Abenteuer gewesen.

August nahm die Tram den Ring entlang. Als er ein­gestiegen war, sah er sich nach einem Platz um, aber es war ja Sonntagvormittag und der Wagen gesteckt voll. Er zwängte sich bis zur Mitte durch, wo ein wenig mehr Platz war. Allerdings hatte er jetzt einen großen Hut im Gesicht und wollte die Dame eben bitten, mit der Hutnadel achtzugeben, als er den Duft wiedererkannte, den herben Feuergeruch, der diesmal unter einem anderen Duft wie von Safran lag. Er war so unverwechselbar, dass August im Rücken der Dame sagen konnte:

»Ach schau, die Hochradfahrerin! Sind Sie gestürzt, dass Sie mit der Tram fahren müssen?«

Diesmal war ihm gleich das Richtige eingefallen. Die Dame drehte sich zu ihm um, die Federn des Hutes fegten den Umstehenden über deren Gesichter. Sie wirkte keinen Augenblick lang überrascht, sondern immer noch so ­arrogant wie im Kaffeehaus. Sie sah ihn unangenehm lange an, dann erinnerte sie sich.

»Der gesetzestreue Herr Leutnant, nicht wahr?«, fragte sie gelassen. »Heute in Zivil? Keine Brautschau in Damencafés?«

Sie hatte ihre Stimme nicht einen Moment lang gedämpft. Manche der Mitfahrer grinsten unverschämt.

»Ich bin nicht mehr aktiv, gnädige Frau«, sagte August kalt und betonte das »gnädig«. Er bereute schon, dass er der Versuchung zu einer Retourkutsche nachgegeben hatte. Diese Frau hielt sich nicht an die Spielregeln.

»Als Offizier, meinen Sie?«, fuhr sie berechnend fort. »Denn ... was die Brautschau angeht – ist es in Wien üblich, Damen in der Tram anzusprechen?«

Jeder Satz eine Herausforderung. August fühlte, wie Hitze in sein Gesicht stieg. Man sah ihn an, von allen Seiten. Er holte tief Luft und sagte dann ebenso laut wie sie:

»Nein. Es ist nicht üblich, Damen anzusprechen.«

Diesmal hatte er sorgfältig darauf geachtet, das Wort »Damen« nicht zu betonen, aber weil er sich nicht entschuldigt hatte, verstand sie genau, was er meinte. Sie sah ihn voll an, sachlich, als ob sie seine Größe oder sein Gewicht abschätzte, und August war froh, dass er stand.

»Ich bin glücklich, dass die Herren in Wien so galant sind!«, sagte sie schließlich, ebenfalls ohne besondere Betonung und genauso unmissverständlich, und drehte sich dann wieder um. Die Federn fegten den Umstehenden wiederum über ihre Gesichter. Und einen kleinen Augenblick lang, trotz aller Erziehung, hätte August ihr am liebsten eine gelangt. Wahrscheinlich, dachte er kurz darauf spöttisch, sind wir Wiener Herren wirklich nicht galant.

An der Kettenbrücke stieg er aus. Sie auch. Er wartete kurz, um sie vorbeizulassen, aber sie überquerte die Brücke und bog nach rechts zum Prater und zur Freudenau ab. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als ihr in angemessenem Abstand zu folgen. Während er hinter ihr herging, sah er unwillkürlich, wie sie sich beim Gehen bewegte. Ihm fiel dafür kein anderes Wort als »genau« ein, die Bewegungen stimmten, die Länge der Schritte und ihre Haltung. An einer Gabelung blieb sie einen Augenblick stehen, als wüsste sie nicht genau, wohin, und August wäre sich dumm vorgekommen, wenn er auch stehen geblieben wäre, also ging er weiter. Aber als er kurz hinter ihr war, fragte sie, ohne sich umzudrehen:

»Haben Sie vor, mir noch weiter zu folgen?«

Wie hatte sie wissen können, dass er hinter ihr war?

»Nein, gnädige Frau«, sagte August halb resigniert, halb verärgert, »ich kann nichts dafür, dass wir denselben Weg haben. Wenn Sie erlauben, gehe ich vor!«

Sie stand ungerührt da.

»Sie könnten Ihre Unverschämtheit wiedergutmachen«, sagte sie dann, ohne zu lächeln, »und mir den Weg zum Derby zeigen.«

»Ach nein«, sagte er dann überrascht und schon wieder verärgert. Wieso seine Unverschämtheit? »Ich hätte es mir denken können«, murmelte er.

Sie zog die Augenbrauen hoch. Nicht sehr viel.

»Ich bin auch auf dem Weg zur Freudenau«, erklärte August mürrisch, »auch wenn Sie das jetzt vermutlich nicht glauben werden.«

»So viel Aufmerksamkeit!«, sagte die Dame spöttisch. »Also, wohin?«

»Hier entlang«, sagte August.

Sie gingen eine Weile schweigend. Die Stille schien nur ihm etwas auszumachen.

»Sie dürfen sich vorstellen«, sagte sie schließlich bei­läufig.

August stellte sich vor. Formlos und im Gehen.

»Aha«, sagte sie ohne wirkliches Interesse, »alter Wiener Adel, ja?«

»Nein«, sagte August mit leichter Befriedigung, »alte Wiener Bürgerfamilie.«

Sie schwieg wieder. Und er konnte sie ja schlecht nach ihrem Namen fragen.

»Elena Palffy«, sagte sie schließlich.

»Angenehm«, sagte August höflich. Dem Ton nach konnte man ihre Vorstellung als Waffenstillstandsangebot auffassen. Ihm fiel das sehr kurze Gespräch im Café wieder ein.

»Palffy ist doch ein Wiener Name. Hatten Sie nicht gesagt, dass Sie nicht von hier sind? … Zum Glück?«, fügte er noch an.

Für einen Moment lächelte sie anerkennend.

»Sie erinnern sich recht genau – und, habe ich Ihren patriotischen Stolz verletzt?«, fragte sie dann aber schon beinah gewohnt ironisch nach. »Was für ein Glück für mich, dass ich nicht satisfaktionsfähig bin!«

»Ja«, sagte August trocken, »was für ein Glück. Wahrscheinlich wäre ich dann nämlich schon tot.«

Er war sehr überrascht, sie lachen zu hören, und schaute zu ihr hinüber. Wenn sie lachte, sah sie auf einmal schön aus.

»Sie haben sich schon recht gut in Wien eingelebt, wenn der Tod Sie amüsiert«, bemerkte August. Ihr Lächeln verschwand sofort wieder, und ihr Gesicht verschloss sich zu dem hochmütigen Ausdruck, den er schon kannte. Sie liefen eine Weile schweigend, und er hatte das Gefühl, zu weit gegangen zu sein.

Um sie herum belebte sich der Prater immer mehr. Alles war auf dem Weg zum Derby. Ein Herr in englischem Kostüm und mit hohem Hut überholte sie zu Pferd, und sogar eine Gruppe deutscher Offiziere, deren Säbelspitzen im Staub schleiften, war unterwegs. Vor allem aber gab es viele Familien mit aufgeregten kleinen Jungen, die nicht stillhalten konnten und schon jetzt über die Wiesen rannten und Pferd spielten. Es lag etwas Besonderes in der Luft, und während sie in diesem unangenehmen Schweigen nebeneinanderher gingen, schnupperte August unwillkürlich. Es war nicht nur der gute, salzig scharfe Geruch von erhitzten Pferden, die nach dem Vorlauf neben der Rennbahn abgeritten wurden, nicht nur der Frühlingsduft des Parks und das Parfum der Dame neben ihm, Gerüche, die wie in Fahnen durch diesen leicht windigen Tag zogen, sondern es gab darin noch etwas Eigenes, etwas Fremdes, dessen Herkunft er nicht ausmachen konnte.

Sie hatten jetzt die Rennbahn erreicht, und August schlug die Richtung zum Lusthaus ein. Er wusste nicht, wie er sich jetzt richtig verabschieden sollte, und sagte deshalb höflich:

»Wenn Sie mich noch zum Lusthaus begleiten wollen, von da können Sie sich am besten ein Bild machen.«

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, mit einer Nichtwienerin gesehen zu werden«, sagte sie spöttisch, und August atmete auf.

»Sie müssen es ja nicht gleich allen sagen, bitte«, antwortete er, als sie die Stufen hinaufstiegen. Heute wirkte das schlossähnliche Lusthaus mit seinen großen Fenstern, seinen schönen Parkettböden und den amüsanten Stuckdecken nur wie eine überdachte Terrasse. Es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen, und die Damen am Buffett kamen kaum mit den Bestellungen nach, dem Herauswechseln und dem Auffüllen. Alles drängte sich vor den Tischen, die es an normalen Sonntagen gar nicht gab.

»Darf ich Ihnen etwas bestellen?«, fragte August. »Das Rennen geht erst in einer Viertelstunde los.«

Die Luft im Lusthaus flimmerte von süßen Düften.

»Zwei Mal Crème du jour!«, rief es, und Eis wurde in silbernen Hörnchen gereicht.

»Rachat-Lougoum! Wer hat das Rachat-Lougoum?«, und der Duft von Rosenessenz schwebte auf, während das Konfekt in Papier eingeschlagen wurde. Die Dame Palffy trat neben ihn, um sich anzusehen, was es gab. Es war ein fast zärtlicher Blick, mit dem sie die Schokolade betrachtete, die da ausgestellt war. Auf langen, flachen Silberschalen, die man in gestoßenes Eis gebettet hatte, lagen Schaumrollen.

Sie beugte sich ein wenig vor, atmete den Duft und flüsterte etwas.

»Schokolade ist ein Versprechen«, verstand August, aber er war sich nicht sicher und wollte nicht nachfragen.

»Was ist das?«, fragte sie dann wieder klar und laut und deutete auf die krapfenähnlichen Teile, die, in buntes Papier gehüllt, aufgestapelt lagen.

»Indianer«, erklärte August, »die essen die Kinder am liebsten. Mit Schlagobers gefüllt. Mögen Sie süß oder herb?«, fragte er dann, unterbrach sich aber und sagte rasch, wie zu sich selbst, »was frage ich? Herb natürlich!«

Sie sah ihn an, den Kopf etwas schräg, und sagte: »Ach ja?«

Er zeigte auf die Melle Éclairs.

»Nehmen Sie die – die sind mit Kaffeecreme gefüllt.«

Ein Junge schob sich zwischen ihnen hindurch und rief der Bedienung zu:

»Geben‘s ma zwoa Nonnenkrapferln, bittschön!«

August nahm ihn sanft am Kragen und sagte gutmütig:

»Willst du der Dame nicht den Vortritt lassen?«

»Aber das Rennen geht doch gleich los!«, rief der Junge aufgeregt, und da war auf einmal der fremde Geruch wieder. August roch den Duft von Nelken und von Zitronen aus dem Nonnenkrapferl, in das der Junge eilig biss, und natürlich roch er auch die Pferde, aber darunter war, ganz stark jetzt, der Geruch von ... Eisen? Nein, kein Eisen. Es war ein ähnlich fader, metallischer Geruch, und er ging so stark von dem Jungen aus, dass August ein Stück zurückwich. Er kannte den Geruch, aber es war wie mit einem Wort, das einem nicht einfällt. Roch das denn niemand? Aber alle anderen um ihn herum schienen nichts zu merken. Er schüttelte den Kopf, als der Junge aus dem Lusthaus zur Rennbahn lief. Das hatte er lange nicht mehr gehabt ... dass er den Geruch der Dinge wahrnahm, die nicht für alle sichtbar waren.

»Bekomme ich jetzt ein Melle Éclair?«, fragte Elena Palffy.

»Aber natürlich!«, sagte August noch etwas verwirrt und kaufte ihr ein Melle Éclair, wofür sie sich überheblich mit einem angedeuteten Knicks bedankte.

 

Als sie hinaustraten, ging Elena Palffy in Richtung des Wasserturms.

»Der Einlauf ist aber dort drüben«, sagte August.

»Ich weiß«, sagte sie, »aber der Einlauf interessiert mich nicht. Ich will die Pferde dort sehen, wo sie noch kämpfen. Wo noch keines verloren hat.«

»Vorne ist wahrscheinlich eh kein Platz mehr«, gab August nach und folgte ihr. Sie gingen über den sandigen Vorplatz, der sich jetzt rasch leerte. Plötzlich trat Elena Palffy zu einem Falben, der den Kopf gesenkt hielt wie ein alter Fiakergaul. Den Unterschied konnte man nur sehen, wenn man einen Blick für Pferde hatte, wenn man die glänzenden Flanken betrachtete, auf denen die Haare straff anlagen, jedes hundert Mal auf Richtung gestriegelt, und unter denen große Muskeln halb angespannt warteten. Sie legte ihre Hand überraschend zart auf seinen Hals.

»Es wird gewinnen«, sagte sie halblaut, »vielleicht nicht heute, aber dann nächstes Jahr oder übernächstes. Irgendwann wird es gewinnen. Es ist ein Siegerpferd.«

»Dann muss es heute siegen«, sagte August trocken, »hier dürfen die Pferde nur ein Mal laufen. Nur ein einziges Mal, wenn sie drei Jahre alt sind.«

Sie sah das Pferd an. August konnte ihren Ausdruck nicht deuten.

»Schade, dass es das nicht weiß«, sagte sie dann und sah ihn an, »sonst würde es auf jeden Fall heute siegen.«

»Das Rennen fängt gleich an«, sagte August nach einer Pause, in der sie seinen Blick nicht losließ. Worüber sprachen sie hier eigentlich?

Das Pferd wurde nun weggeführt, und sie suchten mit den letzten Zuspätkommenden eilig nach einem freien Platz entlang der Strecke. Sie fanden ihn gegenüber der Kaiserloge, die heute leer war. Überall ragten die Hüte auf, weiß und ausladend, der größte sicherlich der seiner Begleiterin. Auf der anderen Seite waren ein paar Jungen auf Bäume geklettert, um besser sehen zu können. August lächelte. Das hatte er als Kind auch getan. Er zeigte Elena Palffy die Jungen, und auch sie nickte mit einem kleinen Lächeln. Wahrscheinlich mag sie Pferde mehr als Menschen, dachte August, und, als er einen Blick auf ihr Gesicht warf, natürlich, die widersprechen ihr nicht.

Es knallte, trocken kam das Echo aus dem Prater, und alle Köpfe flogen nach rechts. Es hatte begonnen. Da kamen die Pferde schon angedonnert. August konnte noch nicht sehen, wer vorne lag.

»Mein Falbe!«, stieß Elena Palffy ihn an, als das Pferd von vorhin vorbeikam, und er war überrascht, wie aufgeregt das klang, wie sie sich vom ersten Augenblick an mitreißen ließ.

Rasenstücke flogen, man sah das Gewirbel der Beine und außerdem: die Hufe. Vierundsechzig Hufe, die nur für einen allerkürzesten harten Schlag den Boden berührten, ihn aufrissen und fort waren. Wie ein Gewitter, das in Sekunden anzog und über einem war, ohne dass man Zeit gehabt hätte, Unterstand zu suchen. Und dann weiterzog.

Die Erregung ging durch die Menschen wie eine Welle. August sah, wie sich die Muskeln streckten und die Flanken beim Aufprall zitterten, hörte den Atem in angestrengten Stößen ... da waren sie vorbei. Ein Regen von Dreck und Rasenstücken ging auf die Zuschauer nieder. Elena lachte, August hörte es und musste mitlachen. Die Pferde gingen in die zweite Runde. Da überfiel August plötzlich wieder der Geruch, viel stärker jetzt. Ein Gemisch aus Zitrone, Nelken, Pferd und ... und ... jetzt wusste er, was es war: Der Eisengeruch von Blut. Er sah sich suchend um und erblickte tatsächlich den Jungen von vorhin. Er kletterte gerade schnell und geschickt die Stangen der Absperrung hinauf, um sich auf die oberste zu setzen. Jetzt! Jetzt konnte er fast die ganze Rennbahn übersehen.

Elena stieß ihn aufgeregt an. Da hinten kamen die Pferde schon wieder. Wie ein einziges großes, schweres Tier kamen sie heran, noch lauter als beim ersten Mal. August spürte, wie die Erde zu zittern begann. Die Jockeys hingen tief über den Hälsen. Die Erde flog. Mit den Pferden kam das Schreien der Menschen, die ihre Favoriten anfeuerten, entlang der Rennbahn, wie eine Welle an einem steinernen Kai entlangläuft, und da wandelte sich der Geruch vor Augusts innerem Auge plötzlich zu einem Bild, und er schrie.

»Runter! Runter, Junge!«, schrie er und drängte nach vorn, schrie, so laut er konnte, aber der Junge hörte ihn nicht. »Achtung!«, schrie August verzweifelt und kämpfte sich durch widerwillige Menschen. Aber der Junge stand jetzt auf, die Stange in den Kniekehlen und das Nonnenkrapferl noch in der Hand, in einer unsicheren Balance. Den Pferden flog Schaum von den Nüstern, sie tobten heran, die Menge schrie vor Begeisterung und Wildheit. Arme und Schirme flogen hoch, und ein Stock berührte den Jungen, nicht viel, ganz leicht nur, und August sah entsetzt, wie die Stange nicht länger in seiner Kniekehle saß, wie er das Gleichgewicht verlor, zu fallen begann. August versuchte, sich nach vorne zu werfen, nach ihm zu greifen, aber der Junge fiel, fiel mitten in das Getöse der Beine, der Hufe, mitten in die reißende Welle aus Lärm und in die viel zu schnellen Blitze aus Hufen, aus tausend Hufen. August sah, wie er noch einmal von einem dieser Hufe hochgerissen wurde, hörte den dumpfen Schlag, mit dem er hart auf den Sand schlug, und bemerkte, dass die Welle von Schreien nicht mit den Pferden weiterlief, sondern dass sie blieb, bei ihm und dem Jungen. Der Geruch von Nelken und Zitronen, Pferden und Blut wurde unerträglich stark.

 

Es gab Tumult, man lief, nach einem Arzt schreiend, hin und her, eine Trage wurde gebracht und der bewusstlose Junge daraufgelegt, und die ganze Zeit stand Elena nur am Rand der Menge und beobachtete alles mit unbewegtem Gesicht. August hatte den Jungen von der Rennbahn gezogen, dann kam der Arzt, und man ließ ihn nicht mehr heran. Der Junge wurde weggetragen, und endlich wurde der Blut­geruch erträglicher, blieb aber immer noch fad und süßlich in Augusts Nase, als hätte er sich dort festgesetzt. Wütend ging er zu Elena Palffy hinüber:

»Warum haben Sie nicht geholfen? Sie sind nur herumgestanden ... Waren Sie sich zu fein? Zu gut zum Helfen, was?«

Er schrie fast. Sie sah ihn ungerührt an.

»Es hat nichts gegeben, was ich hätte tun können«, sagte sie schließlich kalt, »ich kann nicht zaubern.«

August suchte nach Worten und sah schließlich ein, dass sie recht hatte, aber seine Wut blieb trotzdem.

»Auf Wiedersehen«, sagte er nach einer Weile genauso kalt und zornig und ging fort. Erst viel später merkte er, dass der Blutgeruch verschwunden war, weil er zuletzt Elena Palffys eigenartigen Duft von Gewürzen und Rauch geatmet hatte, und sein Zorn verschwand. Nur das Bild des unmöglich schief daliegenden Jungen blieb noch bis in die Nacht hinein bei ihm, bis er endlich genug getrunken hatte und einschlafen konnte.

 

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