Über Tom Callaghan

Foto: Marcus Wilson-Smith

Tom Callaghan stammt aus Nordirland und studierte im englischen York und in New York/USA. Nach seinem Studium arbeitete er viele Jahre bei Saatchi & Saatchi in London, New York und Philadelphia. Heute lebt er in Dubai. Blutiger Winter ist sein Debüt und der erste Roman einer Serie um den kirgisischen Inspektor Borubaew.

Leseprobe

Kapitel 1

Frisches Blut hebt sich besonders lebhaft von Schnee ab. Sogar in einer ganz und gar mond- und sternenlosen Nacht wie dieser. Zäh und dunkelrot tropft es wie Öl aus dem rostigen Motor eines Moskowitsch. Aber Öl dampft nicht. Öl spritzt nicht rot auf weiß, zieht keine Spur zu einer halb unter Weißbirken verborgenen Leiche. Und Öl tröpfelt nicht aus einer Wunde, deren Ränder vor Kälte schon blau und steif sind.

Im anbrechenden Morgen hängt weiterer Schnee drohend in der Luft wie Asche. Schon hüllen ein paar vereinzelte Flocken das himmelwärts gerichtete Gesicht der Frau ein, ein Hauch von Spitze über der Stirn wie der Schleier einer Braut. Falls kein Betrunkener auf dem Nachhauseweg von der Kneipe dringend pissen muss und sie entdeckt, wird sie sich in ein paar Stunden in eine Schneeverwehung verwandelt haben, unbemerkt und umgangen, anonym bis zur Schneeschmelze im Frühling. Nur wenn ein einzelner Fuß in einem Stiefel oder eine gefleckte Hand aus dem schmutzigen Schnee ragt und auf sich aufmerksam macht, werden sich die Leute fragen, warum niemand etwas gehört hat …

»Privjet, Inspektor Borubaew, wie geht’s?«

»Kalt hier. Was meinen Sie?«

Ich lehnte die angebotene Zigarette ab und registrierte den Streifen aus Kippen um die Füße des Uniformierten, den widerlichen Gestank von billigem Tabak in der Nachtluft. Ein typischer Uniformierter, überdimensionierte grüne Paradeschirmmütze und darunter kein Hirn. Ich beobachtete, wie er sich an der Glut seiner Kippe eine neue Classic anzündete, und überlegte, ob ich ihm wegen Verunreinigung des Tatorts den Arsch aufreißen sollte. Aber dies ist Kirgisistan. Das forensische Labor der Polizei des Bezirks Sverdlowsk besteht aus einem Schrank mit einer Sammlung gesprungener Reagenzgläser, ein paar medizinischen Lehrbüchern aus der Zeit vor der Unabhängigkeit und einem Karton Lackmuspapier mit abgelaufenem Verfallsdatum. Auf das Elektronenmikroskop warten wir immer noch.

Ich hatte es lange genug aufgeschoben. Es war an der Zeit, die Handvoll Som zu verdienen, die man mir jeden Monat bezahlt. Früher oder später würde ein ramponierter Krankenwagen kommen, um die Tote ins Leichenschauhaus zu transportieren. Dort würde es ein ganzes Stück wärmer sein als hier draußen. Aber keine Eile.

Wir waren auf der Ibraimowa-Straße, ein Stück hinter der Blonder-Bar, auf dem von Birken gesäumten und unbeleuchteten Weg oberhalb der Fahrbahn, wo im Sommer bei der Fußgängerbrücke die mursilki, die billigsten Bahnhofshuren, herumlungerten. Unförmige mürrische kettenrauchende Frauen mit dicken Bäuchen, die Baltika-Bier aus der Dose tranken, in deprimierendem Outfit: formlose T-Shirts und Trainingshosen, die man für den leichten Zugang schnell herunterlassen und für eine hastige Flucht schnell wieder hochziehen konnte. Aber heute waren keine Damen des Gewerbes unterwegs, nicht bei minus zwanzig Grad und angekündigtem weiteren Schneefall.

Kein guter Ort zum Sterben, falls es den überhaupt gibt.