Fritz Steinbock

DAS HEILIGE FEST

RITUALE DES TRADITIONELLEN GERMANISCHEN

HEIDENTUMS IN HEUTIGER ZEIT 

Edition Roter Drache

4. bearbeitete Auflage 2014.

Copyright © 2011 by Edition Roter Drache.

Edition Roter Drache, Holger Kliemannel, Haufeld 1, 07407 Remda-Teichel.

edition@roterdrache.org; www.roterdrache.org

Fotos: Copyright © by Fritz Steinbock & VfGH.

Buch- und Umschlaggestaltung: Edition Roter Drache.

Lektorat der 4. Auflage: Anne-Cathrin Rost.

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (auch auszugsweise) ohne die schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert, vervielfältigt oder verbreitet werden.

ISBN 978-3-944180-52-6

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Zitat

Einführung

Teil I – Grundlagen

Wesen und Sinn von Ritualen

Religion und Ritual

Ritual und Glaube

Was heidnische Rituale nicht sind

Die rituelle Erfahrung

Die Heilswirkung des Rituals

Rückverbindung zum heiligen Ursprung

Verwandtschaft mit Erde und Göttern

Das heilige Fest

Die beiden Pole der Heiligkeit

Verehrung der Götter

Die Gabe will stets Vergeltung

Êwa – der heilige Vertrag

Was man für Rituale braucht

Der heilige Platz

Die heilige Zeit

Altar und Götterbilder

Rituelle Geräte

Kultgemeinschaft und Priester

Gedichte und Lieder

Symbole

Heilige Bäume und Tiere

Die Formen des Rituals

Tradition und Erneuerung

Das Gebet

Die Anrufung

Das Opfer

Menschenopfer

Tieropfer und Opfermahl

Heutige Opferformen

Das Blót

Weihung und Heiligung

Rituale der Gemeinschaft

Persönliche Rituale

Magische Rituale

Runenrituale

Schutzgott-Rituale

Rituale fremder Traditionen

Teil II -Praxis

Gestaltung von Ritualen

Allgemeine Regeln

Die Gültigkeit des Rituals

Begriffe des Ritualwesens – der Begang

Die neun Teile des Begangs

Vorbereitung

Einhegung und Weihe – Haga und Wîha

Anrufung der Elemente – Welhaga

Eröffnungsgruß – Heilazzen

Entzünden des Feuers – Zunten

Die Festrede – Reda

Anrufungen und Festgebete – Spill und Gibet

Der Runengesang – Rûnagaldar

Opferungen – Gilt

Das Blót – Bluostrar

Schließen des Rituals – Ûzlâz

Das Opfermahl – Gouma

Grundbausteine für Rituale

Das Hammerzeichen – Hamarsmark

Die Hammerhegung – Hamarhaga

Abwandlungen der Hammerhegung

Weihe eines heiligen Platzes – Statwîha

Anrufung der Elemente – Welhaga

Anrufungen aller Götter – Algotspill

Namentliche Anrufung – Spill bi Namon

Allgemeine Festgebete – Spill und Gibet

Sprüche zum Runengesang – Rûnagaldar

Opfersprüche – Giltgaldar

Sprüche zum Blót – Bluostrargaldar

Abschlussworte – Ûzlâz

Gebete

Aufbau eines Gebets

Gebet Sigrdrífas

Gebet an Odin

Gebet an die Erde

Ostara-Erdsegen

Gebete an Thor

Wessobrunner Gebet

Gebete an einzelne Götter

Gebet an Freyr

Gebet an Nerthus

Gebet an Thor

Preisgedicht an Ostara

Gebet an Wodan

Gebet an die Sonne

Abendgebet für Kinder

Einfaches Tischgebet

Die Feste im Jahreskreis

Das heidnische Jahr

Kleinere Feste

Anleitungen für Jahreskreisfeste

Frühjahrs-Tagundnachtgleiche – Ostara

Vorschlang zum Begang des Ostarafests

Sommersonnenwende – Mittsommer

Vorschlag zum Begang des Mittsommerfests

Herbst-Tagundnachtgleiche – Herbstfest

Vorschlag zum Begang des Herbstfests

Wintersonnenwende – Julfest

Vorschlag zum Begang des Julfests

Lebenskreis-Rituale

Leben mit Göttern und Sippe

Kindsweihe

Gruß an ein neugeborenes Kind

Vorschlag zur Feier der Kindsweihe

Muntfeier

Vorschlag für die Muntfeier

Hochzeit

Vorschlag für die Hochzeitsfeier

Bestattung

Vorschlag für die Bestattungsfeier

Beisetzung der Urne

Minni-Trinken

Besondere Rituale

Blótar für einzelne Gottheiten

Odinsblót

Freyrblót

Álfablót

Dísablót

Opfergelübde

Symbel für jede Gelegenheit

Regelmäßiges Ritual

Schutzgottweihe

Weihe eines Gegenstands

Tischsprüche

Reisesegen

Thingeröffnung

Eid

Blutsbrüderschaft

Heilungsrituale

Werfen der Runen

Útiseta

Teil III – Gemeinschaft

Verein für Germanisches Heidentum e. V.

Eine kurze Geschichte

Mitgliedschaft im VfGH

Aufbau des VfGH

Andere Gemeinschaften

Priesterämter im VfGH

VfGH und Politik

Inhaltliche Grundlagen

Präambel

Heidentum – die andere Religion

Naturreligion

Polytheismus

Verwandtschaft mit Natur und Göttern

Germanische Tradition

Mythische Erfahrungsreligion

Runen und Rituale

Weiterleben nach dem Tod

Ethik und Gesellschaft

Prinzipien des VfGH

Die neun edlen Tugenden

Pflichten der Mitglieder

Ethnische Naturreligion

Leitidee freies Heidentum

Anhang

Texte in Originalsprache

Einfache wiederkehrende Formeln

Gebete aus der Edda

Rituelle Strophen aus dem Hávamál

Aus verschiedenen Eddaliedern

Das Wessobrunner Gebet

Weitere althochdeutsche Texte

Angelsächsicher Flursegen

Ausspracheregeln

Für alle altsprachlichen Texte

Für nordische Texte

Historische Aussprache

Für althochdeutsche Texte

Für altenglische Texte

Lieder

Tausendgötterlied

Sonnwendfeuer-Kanon

Erdmütter-Lied

Kommt der Lenz

Runentabelle

Glossar

Bibliographie

Das Àsatrú-Hauptwerk

Wissenschaftliche Standartwerke

Heidnische Geschichten

Einführung

Rituale sind das traditionelle Herzstück des Heidentums. Dieses ist keine dogmatische Religion, die den Glauben an ihre Lehren in den Mittelpunkt stellt, sondern eine lebendige Beziehung zu den Göttern, der Natur und allem Heiligen, die sich tätig verwirklicht. Es ist nicht Theorie, sondern Praxis. Heide sein heißt das Heidentum auszuüben.

Im germanischen Heidentum, das heute auch Ásatrú oder Asatru (Göttertreue) und Forn Siðr oder dänisch Forn Sed (Alte Sitte) genannt wird, ist das nicht ganz einfach. Eine einheitliche Ritualpraxis gab es schon in alter Zeit ebenso wenig wie Dogmen und Lehrsätze. Jedes Volk, jeder Stamm, ja bisweilen jedes Dorf und jede Sippe hatte besondere Bräuche, um mit den Göttern in Beziehung zu treten, sie zu verehren und sich ihrer Segen zu versichern. Überliefert sind sie, wenn überhaupt, nur in Bruchstücken. Das ist schade, aber nicht zu ändern. Wer es nicht wahrhaben will und behauptet, er könnte sie vollständig rekonstruieren, ist ein Träumer oder Scharlatan. Wie in alter Zeit muss auch heute jede Heidengemeinschaft ihre eigene, auf eigener Einsicht beruhende Ritualpraxis entwickeln.

Jede Darstellung germanischer Rituale von heute kann sich daher nur auf die Praxis einer bestimmten Gemeinschaft berufen und muss dies auch klar deklarieren. Die vorliegende zeigt die Praxis des Vereins für Germanisches Heidentum e. V. (VfGH), einer Gemeinschaft mit der programmatischen Selbstbezeichnung „traditionelles germanisches Heidentum in heutiger Zeit”, die den Autor zu ihrem Ewart, dem Hauptverantwortlichen für das Ritualwesen, gewählt hat. Eine der Aufgaben, die ich mit diesem Amt übernommen habe, ist die Erstellung eines Ritualbuchs, das die in vielen Jahren gemeinsam entwickelten, bisher nie schriftlich fixierten und nur in der Praxis selbst weitergegebenen rituellen Traditionen des VfGH sammelt und einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich macht – einerseits als Anleitung für unsere Mitglieder, andererseits aber auch für Außenstehende, die germanische Rituale kennen lernen, das eine oder andere für sich entdecken oder sich schlicht informieren wollen, welche Zeremonien es gibt, was wir dabei tun und natürlich auch, was dahinter steckt.

Ich habe dieses Buch daher in drei Teile gegliedert und dem praktischen, der den Großteil des Umfangs ausmacht, einen kurzen Teil über Wesen und Sinn von Ritualen voran gestellt. Er ist so konzipiert, dass er Außenstehenden auch als allgemeine Information über den Geist des germanischen Heidentums dienen kann. Für praktizierende Heiden ist er zum Verständnis des Hauptteils nicht unbedingt nötig, kann ihnen aber helfen, ihr theoretisches Wissen darüber zu vertiefen, was das germanische Ritual überhaupt ist, welche Hintergründe die einzelnen Riten haben und welche Formen es gibt und in alter Zeit gab. Auch auf historische Ritualformen, die wir heute ablehnen, muss eingegangen werden, um den Sinn zu erläutern, den sie im Leben unserer Vorfahren hatten, und dadurch Irrtümern vorzubeugen, die das Verständnis für unsere Religion trüben könnten.

In den praktischen Teilen stelle ich, ausgewählt aufgrund einer Umfrage unter Mitgliedern und Freunden des VfGH, die vier Feste im Jahreslauf, die Lebenskreisfeste und einige Rituale für bestimmte Zwecke vor. Ich habe dafür kurz gehaltene Texte verfasst, die für sich allein genommen vollständig sind, aber mit zusätzlichen Elementen ergänzt werden können. Wo es welche gab, habe ich dabei historische Texte verwendet, die im Anhang auch in der Originalsprache wiedergegeben sind. Ein Glossar der verwendeten altsprachlichen Begriffe und „Fachausdrücke“ ist ebenfalls im Anhang zu finden.

Teil drei des Buches ist dem Verein für Germanisches Heidentum e. V. selbst gewidmet und erläutert seine Position in der modernen Heidenbewegung und die wichtigsten Inhalte, die er vertritt. Das dient nicht nur dazu, ihn Interessierten bekannt zu machen, sondern ist auch eine Art Offenlegung, die das eingangs Gesagte verdeutlicht: Was dieses Buch beschreibt, ist das Ritualwesen einer bestimmten Gemeinschaft, die es in heutiger Zeit aus historischen Quellen und eigener Erfahrung entwickelt hat. Wir berufen uns auf seriöse religionswissenschaftliche Forschungen und überprüfen, ob unsere Rituale mit ihren Erkenntnissen übereinstimmen. Insofern können sie als traditionell germanisch gelten: Sie setzen auf heutige Art die rituelle Tradition unserer Ahnen fort. Wir behaupten daher weder, dass unsere Rituale die gleichen wie damals wären, noch dass moderne Rituale, die der germanischen Tradition gerecht werden sollen, nur in dieser und keiner anderen Form abgehalten werden können.

Die Breite und Vielfalt, die schon das religiöse Leben unserer Vorfahren zeigte, gibt uns auch heute eine Fülle von Möglichkeiten. Heidentum ist eine lebendige Religion, die aus uralten Wurzeln kommt, aber stets weiter wächst. Sie lässt sich weder auf eine einzige starre Form festlegen, noch darf sie museal erstarren. Gerade als traditionelle Heiden bekennen wir uns auch zu sinnvollen Neuerungen, denn Tradition heißt nicht Festhalten am Vergangenen, sondern am zeitlos Gültigen, das neue Gegenwart werden muss. Lasst uns nicht die Asche anbeten, sondern das Feuer am Brennen halten!

Unter den Göttern habe ich vor allem Odin zu danken, der mir die Fähigkeit gab, Wissen zu erwerben und es mitzuteilen, und unter den Menschen einigen Freundinnen und Freunden, die ich, so sie welche haben, mit ihren Ritualnamen anführe: Thorbern, dem Gründer des Odinic Rite Deutschland, und Folkhere, seinem Nachfolger als Erster Vorsitzender, die mich zur Arbeit an diesem Buch ermuntert haben; Solveig, die mit ihrer Erfahrung wesentlich zur Entwicklung des Ritualwesens im VfGH beigetragen hat, und Arwen, die meinen persönlichen heidnischen Werdegang sehr unterstützt hat; Stilkam für einige Textbeiträge und meiner Frau Claudia für Anregung und Kritik, für die Korrektur der Endfassung und für die Geduld, mit der sie die lange Arbeit daran ertragen hat.

Fritz Steinbock (Asfrid, VfGH)

Teil I

Grundlagen

 

Religion und Ritual

Fragte man in alter Zeit jemandem nach seiner Religion, hieß es nicht: „Woran glaubst du?“, sondern: „Welchen Göttern opferst du?“ Wie der Glaube im Christentum steht im Heidentum das Ritual im Mittelpunkt. Heidnische sind traditionelle Religionen: Sie sind nicht auf autoritäre Offenbarung und persönlichen Glauben gegründet, sondern auf eine organisch gewachsene Tradition, die neben der mythischen und ethischen in erster Linie eine kultische ist.

Religion im heidnischen Sinn ist Religionsausübung: religio nannten die Römer den Eid, eine heilige Pflicht und die Gewissenhaftigkeit, mit der sie befolgt wird. Der Philosoph und Politiker Cicero leitet das etymologisch unsichere Wort von relegere, dem Wiederholen der Ritualformeln aus alter Zeit, ab. Religion war für die Römer die kultische Tradition, mos maiorum, die Sitte der Vorfahren. Ebenso nannten die mittelalterlichen Nordgermanen das Heidentum ihrer Ahnen forn siðr, die „alten Sitte“ – immer noch dem heidnischen Sprachgebrauch folgend, der kein Wort für das hatte, was die Christen unter „Glauben“ verstanden, und Religion als Bestandteil von „Recht und Sitte“ (lög ok siðr) beschrieb.

Der Religionsgeschichtler Bernhard Maier sieht deshalb die germanische Auffassung von Religion überhaupt „wie im antiken Rom“. Hier wie dort erscheint sie ihm „weniger als eine Sache der privaten und persönlichen Überzeugung als vielmehr des gemeinschaftlich und öffentlich vollzogenen Kults“, worauf neben forn siðr auch andere nordische Bezeichnungen hindeuten: blótdómr und blótskapr, wörtlich „Opfertum“ und „Opferschaft“ für das Heidentum, für einen Heiden blótmaðr, „Opfermann“.

Im 19. Jahrhundert prägten dann dänische Historiker, um der Religion ihrer Vorfahren einen Namen zu geben, den Begriff Åsetro, der über die isländische Form Ásatrú zum heute geläufigsten Namen für das germanische Heidentum wurde: Asatru, wörtlich „Göttertreue“ – eine Bezeichnung, die indirekt auch wieder in die kultische Richtung weist, denn Treue muss sich durch Taten verwirklichen.

Kult und Ritual sind daher nicht bloße „Äußerlichkeiten“, auf die es weniger ankäme als auf die „innere Einstellung“, und sie sind auch nicht nur ein Ausdruck der heidnischen Religion, wie ein Wort ein Gefühl ausdrückt. Vielmehr sind sie das Heidentum – nicht das ganze, aber der Hauptteil und Wesenskern einer Religion, die sich als „alte Sitte“ und tätige „Göttertreue“ versteht.

Das Wesen des Rituals ist das Wesen des Heidentums selbst: Alles, womit man es charakterisieren kann, was es ausmacht und was ihm seinen Wert gibt, liegt auch im Ritual.

Ritual und Glaube

Im allgemeinen sind Menschen, die heidnische Rituale ausüben, auch „gläubige“ Heiden, das heißt, sie sind überzeugt, dass die Götter real sind und in der Welt wirken, dass ihr Charakter dem entspricht, was die Mythen von ihnen erzählen, und vieles mehr. Das erscheint uns natürlich und ist in den aktiven Heidengruppen von heute auch die Regel. In alter Zeit freilich waren es zwei Paar Schuhe.

Bernhard Maier, der als bislang einziger seriöser wissenschaftlicher Autor der Gegenwart auch die „innere“ Seite der germanischen Religion beleuchtet hat, weist ausdrücklich darauf hin, dass der christliche Glaubensbegriff auf sie nicht anwendbar ist: nicht nur, weil sie eine Sache des Kults war, „dessen Wirksamkeit man von der inneren Einstellung der Beteiligten unabhängig glaubte“, sondern auch, weil „die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft auf der Zugehörigkeit zu einem bestimmten sozialen und politischen Verband beruhte und daher nicht die formale Zustimmung zu irgendwelchen Glaubensinhalten voraussetzte.“ Religion war ein integrierter Teil des öffentlichen Lebens, der Tradition und Identität der Gemeinschaft, der man angehörte.

Man konnte daher sehr wohl eifrig an allen Ritualen der Gemeinschaft teilnehmen und trotzdem, wie manche Wikinger sagten, „nur an die eigene Kraft (mátt ok meginn) glauben“ oder wie der schon zitierte Cicero als Philosoph die Möglichkeit von Weissagungen bestreiten, aber als Politiker, der seine Verantwortung für die Gemeinschaft wahrzunehmen hatte, ein Amt als Orakelpriester annehmen und gewissenhaft ausüben. Julius Caesar, dessen diktatorische Ambitionen der Demokrat Cicero politisch bekämpfte, war sogar bekennender Atheist und bekleidete das Amt des pontifex maximus, des obersten Priesters der römischen Staatsreligion, ohne dass jemand daran Anstoß nahm.

Natürlich waren das Ausnahmen. Sie waren aber nur möglich, weil auch in der Regel jeder über die Götter glauben und denken konnte, was er wollte, solange er nur die Riten getreu und korrekt befolgte. Das mag oberflächlich scheinen, aber es ist die logische Konsequenz einer Religion, die sich als Religionsausübung versteht und den persönlichen Glauben nur als subjektiven Faktor sieht, der den einzelnen Menschen betrifft, aber nicht das Ritual, das in seiner konkreten, sichtbaren Ausführung eine objektive Beziehung zwischen der ganzen Gemeinschaft und den Göttern schafft – Göttern, die für die überwiegende Mehrheit der Menschen in alter Zeit so unzweifelhaft existierten wie die Welt, der sie angehörten, und die weder jemals gefordert noch es nötig gehabt hätten, dass man an sie „glaubt“ und sich zu Lehren bekennt, die vorschreiben, wie man sie sich vorzustellen hat.

Was heidnische Rituale nicht sind

Wenn Nichtheiden über heidnische Rituale, und besonders über Opfer, sprechen oder schreiben, ist häufig davon die Rede, dass sie dazu dienen würden, die Götter „günstig zu stimmen“ oder zu „besänftigen“. Das ist eine weit verbreitete Deutung, aber sie hat ihren Ursprung nicht im Heidentum, sondern in der biblischen Vorstellung eines Gottes, der den Ungehorsam der sündigen Menschheit mit ständigem Groll verfolgt und sich allen späteren Beteuerungen seiner Liebe zum Trotz nur dann wohlwollend zeigt, wenn er durch Demutsgesten und Sühneopfer besänftigt wird. Mag sein, dass auch andere antike Völker zu ihren Göttern ein ähnliches Verhältnis der Angst und des Misstrauens hatten. Den Germanen war es fremd.

In unserem Heidentum herrscht zwischen Göttern und Menschen im altgermanischen Sinn des Worts Frieden: ein Zustand familiärer Freundschaft und Wohlgesinntheit, der in gegenseitiger Treue gefestigt ist und nicht immer wieder neu erkauft werden muss. „Familiär“ ist dabei wörtlich zu verstehen, denn die germanischen Begriffe von Frieden und Freundschaft sind direkt aus dem Zusammenhalt von Familie und Sippe abgeleitet: Freunde (nordisch freyndur) sind, wie schon im 19. Jahrhundert der dänische Kulturforscher Vilhelm Grønbech festgestellt hat, ursprünglich nur die Blutsverwandten. Erst später heißt in einigen Sprachen – etwa im Deutschen und Englischen, während die nordischen Sprachen dafür das eigene Wort vinur (dänisch ven, schwedisch vän) behalten – auch ein Sippenfremder ein Freund, wenn er wie ein Verwandter zu uns hält.

Dieses Verhältnis familiärer Freundschaft, von dem wir noch sehen werden, dass ihm auch eine tatsächliche Verwandtschaft zugrunde liegt, verbindet uns auch mit unseren Göttern. „Wodan ist kein Herr und seine Kinder sind keine Diener“, antwortet Hagen in einem der Nibelungenromane von Stephan Grundy einem christlichen Priester. Die Romanfigur Hagen hat es besser durchschaut als die historischen Germanen, die den Begriff „Herr“ nur vom Gefolgsherrn (ahd. trûhtin, nord. dróttinn) kannten, dem seine Krieger als freie Männer folgten, und daher meinten, auch dem „here Krist“ derart frei und ehrenvoll dienen zu können. Der Gott der monotheistischen Religionen aber ist ein „Herr“ im Sinn des lateinischen dominus: ein Besitzer von Sklaven, die ihm bedingungslos unterworfen sind und ihren erzwungenen Dienst in blindem Gehorsam und Demut verrichten.

Gottesdienst in diesem Sinn sind unsere Rituale nicht: Wir ehren die Götter, aber wir dienen ihnen nicht. Umgekehrt ist das Ritual aber auch kein Versuch, die Götter zu bestechen oder gegen ihren Willen zu beeinflussen und zu manipulieren. Das wäre gegen ihre Ehre – und Ehre steht unter Germanen ganz oben.

Der germanischen Tradition fremd ist ferner die Meinung, religiöse Rituale wären magisch zu verstehen. Die germanische Magie (seiðr) arbeitet nicht wie die orientalische mit Göttern und Geistern, die regelrecht gezwungen werden, zu erscheinen und dem Magier zu dienen, sondern mit den immanenten Kräften des Menschen, der sie ausübt, oder den Kräften der Gegenstände und Praktiken, die er verwendet. Sie ist nicht Beschwörung, sondern Technik, die ohne Hilfe mächtigerer Wesen aus sich selbst wirkt – in der präziseren Terminologie von Religionsforschern wie Hans-Peter Hasenfratz eigentlich nicht Magie, sondern Zauber. Andere machen da keinen Unterschied, differenzieren aber ebenfalls nach der Beteiligung von Göttern oder Geistern: Wenn eine rituelle Handlung ohne ihr Zutun wirken soll, ist es Magie; wenn man glaubt, dass sie es sind, die etwas bewirken, ist es Religion.

Das heißt aber in jedem Fall, dass Religion und Magie zwei grundverschiedene Bereiche sind, die im historischen Heidentum denn auch ihren je eigenen Platz und je eigene Fachleute hatten: seiðkona (Magierin) und seiðmaðr (Magier) oder althochdeutsch zoubrara (Zauberin) und zaubrari (Zauberer) für magische Aufgaben und goði („Priester“) und gyðja („Priesterin“) bzw. cotinc, bluostrari usw. für die religiösen Rituale, die zwar manchmal und bei speziellem Bedarf auch magische Elemente enthalten und sich magischer Mittel bedienen können, aber nicht an sich Magie sind. Wenn in esoterisch angehauchten Kreisen gerne von „magischer Religion“ die Rede ist, hat das also weder mit echtem Heidentum zu tun noch ergibt es religionswissenschaftlich überhaupt einen Sinn.

Religiöse Rituale dienen schließlich auch nicht dazu, die Teilnehmer auf einen Weg der Erkenntnis, Einweihung oder Erleuchtung zu führen. Das sind esoterische Deutungen, die erst in moderner Zeit entstanden sind und ihren Ursprung in Mysterienkulten von außerhalb des germanischen Raums haben. Sie mögen auf spezialisierte Einweihungsformen wie die höhere Runenkunst zutreffen, doch mit der allgemeinen Religionsausübung – etwa zu den Jahresfesten – haben sie nichts zu tun.

Das religiöse Ritual ist weder magische Energiearbeit noch mystische Einweihung, sondern ein kultisches Fest. Es ist ein Akt der Verehrung der Götter und eine Begegnung mit ihnen auf der Basis feierlicher Gemeinschaft und wurde daher von unseren Vorfahren schlicht „Feier“ (althochdeutsch fira) genannt. Man sagte auch, dass man diese Feier „beging“ und nannte sie deshalb bigang.

Die rituelle Erfahrung

Wenn Rituale auch kein Erkenntnisweg im Sinn esoterischer Deutungen sind, ermöglichen sie es uns dennoch, die Götter zu erfahren, und das ist auch eine ihrer wesentlichen Aufgaben. Im Gegensatz zu autoritären Offenbarungslehren, die nur blind geglaubt werden können, ist das Heidentum eine Erfahrungsreligion, die statt auf Glauben auf die lebendige Begegnung mit den Göttern setzt. Diese Begegnung kann auf vielerlei Weise geschehen: im Erleben der Natur um uns und der „Natur, die wir selbst sind“; in persönlichen Visionen und in den Mythen und Traditionen, die uns die religiösen Erfahrungen früherer Generationen zugänglich und erlebbar machen, an heiligen Plätzen und Kraftorten, in Ausnahmesituationen oder ganz unerwartet im täglichen Leben.

Die häufigste, für alle Menschen gleich erreichbare und auch am besten „steuerbare“, von uns selbst herbeigeführte Begegnung mit den Göttern geschieht aber im Ritual. Sie hat sich seit Beginn der Menschheit in allen Kulturen unzählige Male bewährt und ist die wohl älteste und grundlegende Art, Göttliches nicht nur vage zu ahnen, sondern konkret zu erfahren – „nicht hinter, sondern in den Wirkungen“, wie der moderne Philosoph Reinhard Falter sagt, der den Terminus „Erfahrungsreligion“ geprägt hat. Für unsere Vorfahren bildete das Ritual offenbar die Schlüsselerfahrung, nach der sie auch ihre Begriffe formten.

Das Wort, mit dem die Germanen seit jeher die heilige Wirklichkeit bezeichnet haben, das heutige deutsche Wort „Gott“, lautete in der Urform guþ (gesprochen guth mit „englischem“ th wie in think) oder guð (wie in this), war sächlich und wurde ursprünglich nur in der Mehrzahl verwendet. Es bezeichnete wie noch das nordische goð die Gesamtheit der Götter beiderlei Geschlechts oder jenseits der Geschlechter, als generelle Erfahrung göttlichen Seins in all seiner Vielfalt und seinem Geheimnis. Zumindest Tacitus scheint es so verstanden zu haben, wenn er den Germanen nachsagt, sie würden „mit den Namen der Götter jenes Geheimnis (secretum illud) benennen, das sie in einziger Ehrfurcht schauen.“ Überflüssig zu sagen, dass die Einzahl des Römers falsch und jede Spekulation über einen germanischen Monotheismus, wie sie christliche Romantiker daraus entwickelten, haltlos ist: guþ ist eindeutig Mehrzahl – aber was sagt es aus?

Jacob Grimms bekannte, bis heute in populären Darstellungen verbreitete Ableitung aus „gut“ ist philologisch nicht haltbar und hätte im Heidentum auch keine religiöse Grundlage, denn die Götter sind nicht nur in einer Welt des „Guten“, sondern in der ganzen Wirklichkeit zu Hause und in ihrem Handeln oft „jenseits von Gut und Böse“. Die moderne Sprachforschung, nachzulesen etwa in Dudens etymologischem Wörterbuch, leitet guþ aus dem indogermanischen Partizip *ghutom ab, das „angerufen“ bedeutet.

Das Göttliche der Germanen ist also „das Angerufene“ – es zeigt sich, wenn es im Ritual „mit den Namen der Götter benannt“ wird.

Ähnlich leitet sich das Wort für eine einzelne männliche Gottheit, nordisch áss und altgermanisch ansuz, aus der Wurzel *ans ab, die für den Pfahl oder Balken steht. Einfache, roh behauene Kultpfähle standen in den frühgermanischen Heiligtümern. Mit ihren naturbelassenen, zufällig gewachsenen Formen und minimalistisch ausgearbeiteten Gesichtszügen konnten sie nicht wirklich dazu gedacht gewesen sein, die Götter bildlich darzustellen, sondern sollten lediglich andeuten, dass sie sich hier zeigen würden. Das Wort für den Pfahl ging auf die Götter über, weil man die Erfahrung machte, dass sie in den Riten, die man davor zelebrierte, gegenwärtig wurden. So haben beide Begriffe, ansuz ebenso wie guþ, ihren Ursprung in der rituellen Begegnung.

Natürlich ist das keine germanische Besonderheit. Angehörige aller Religionen fühlen sich in ihren Ritualen den Göttern näher als sonst, denn sie erleben dabei ihre Gegenwart in einer Weise, die über das alltägliche Leben hinausgeht. Sie sprengt auch den Rahmen des Mitteilbaren in alltäglichen Worten, ja selbst in Mythen und Dichtungen. Deshalb lässt es sich nicht erklären, was dieses Erleben ist und beinhaltet.

Es ist auch individuell verschieden und einzigartig. Manche erfahren die Götter als Vision in klaren Gestalten, andere begegnen ihnen in sich selbst und fühlen sich von ihnen durchdrungen, und wieder anderen zeigen sie sich in den heiligen Gegenständen, im Lodern des Opferfeuers oder in der funkelnden Farbe und Kraft des Mets.

Allen gemeinsam jedoch ist die Erfahrung der besonderen, tiefen Kraft, die im Ritual hervortritt: die Erfahrung des Heils.

Die Heilswirkung des Rituals

Heil ist das Ziel aller Religionen, sie unterscheiden sich aber darin, worin sie es sehen. Für den Christen liegt es in der Erlösung von Sündenschuld, in der göttlichen Gnade und in der Erwartung des besseren Jenseits. Wenn er Heil erhofft, ist es persönliches Seelenheil, individuell, abstrakt und „nicht von dieser Welt“. Ebenso sieht der Buddhist sein Heil in der Erlösung des Individuums aus dem Kreislauf des Leidens und richtet sein Streben darauf, sich von den Bindungen an die Welt zu lösen.

Solche Vorstellungen sind dem Heidentum fremd. Es betrachtet weder die Welt als schlecht und die Menschen in ihr als erlösungsbedürftig noch trennt es Geist und Seele vom Körper und den irdischen Interessen ab. Es vertritt eine ganzheitliche Sicht der Wirklichkeit, in der Geist und Materie, Natur und Götter, Diesseits und Jenseits eine einzige, ungeteilte Realität bilden, in der auch das religiöse Heil – die Kraft und der Segen der Götter – vom irdischen Glück und Wohl nicht zu trennen ist.

Das zeigt schon die Begriffsbildung selbst: Heil, gotisch hails, nordisch heill oder sæll, bedeutet wie das verwandte lateinische salus ursprünglich einfach „Gesundheit“, deren Wiederherstellung wir heute noch „Heilung“ nennen. Es ist das Heilsein an Körper und Seele, das als ein Ganzsein zu verstehen ist: „heil“ heißt wörtlich „ganz“ (englisch whole, griechisch holos). Deshalb wird es zum Begriff für das Wohlsein, Glück und Gelingen des ganzen Lebens, und deshalb ist auch die Heilswirkung des Rituals umfassend und ebenso irdisch und handfest wie spirituell.

Die Erfahrung lehrt allerdings, dass die Menschen nicht auf allen Gebieten gleich gesegnet sind. Einer ist ein erfolgreicher Bauer, ein anderer hat Glück auf Reisen oder im Kampf, ein dritter hat reiche Nachkommenschaft und ein vierter kann gut reden – er hat Ernteheil, Fahrtheil, Kampfheil, Kinderheil oder Wortheil, wie es in nordischen Texten genannt wird. Heil ist damit auch die spezielle Konstellation der Chancen und Tüchtigkeiten, das besondere Glück und das Schicksal, das einen Menschen bestimmt und von anderen unterscheidet. So hat jeder sein eigenes, ihm gehörendes Heil, das ihn formt. Es ist seines, doch er verdankt es weder sich selbst noch ist es eine persönliche Gnade, die von den Göttern willkürlich an einzelne Menschen verteilt wird.

Das Heil, das jemand hat, ist das Erbe seiner Ahnen, die es in vielen Generationen erworben haben und an ihre Nachkommen weitergeben, also kein individuelles, sondern Sippenheil. Es hat schon vor der Geburt des einzelnen existiert und schon die bestimmt, von denen er sein Leben hat und durch die er wurde, was er ist. Denn als Ganzheit ist der Mensch nicht von seiner Herkunft und Gemeinschaft zu trennen.

Nach germanischer Auffassung ist die Sippe nicht die bloße Summe genetisch verwandter Individuen, sondern eine wirkliche Einheit. Die Verwandten sind ein Körper und eine Seele. Man kann keinen von ihnen beleidigen, ohne alle zu kränken, und keinen ehren, ohne die Ehre aller zu mehren. Aus der Sippe empfängt der einzelne seine Identität und sein Heil, und genauso liegt umgekehrt das Heil der Sippe in den Händen jedes einzelnen ihrer Angehörigen. Weil alles, was er erreicht oder erleidet, seine Sippe als ganze betrifft, ist er nicht nur für sich allein verantwortlich, sondern in allem auch für sie.

Für die Heilswirkung des Rituals heißt das, dass sie – von rein persönlichen Ritualen abgesehen – niemals nur individuell ist, sondern immer die ganze Sippe oder, wenn größere Gemeinschaften feiern, das Dorf, den Stamm oder das ganze Volk betrifft. Wer gut opfert, wird das Heil aller stärken, und wer es schlecht tut oder ganz unterlässt, wird das Heil aller schwächen. Deshalb ist in heidnischen Kulturen die Teilnahme an bestimmten Ritualen Pflicht. Wer sich weigert, gefährdet das Heil der Gemeinschaft.

Zweitens hängt sie nicht von der Gnade der Götter ab, sondern davon, ob und wie viel Heil in den Teilnehmern und im Ritual selbst ist. Heilinge – Menschen, die viel Heil haben – lassen die ganze Festgemeinschaft an ihrem Heil teilhaben, und ebenso gewinnt diese vom Heil, das in natürlichen Kraftplätzen, alten Kultorten, heiligen Gegenständen und im Ritual selbst liegt. Manche Orte, aber auch einzelne Wesen wie Bäume oder Tiere können genauso wie Menschen Heilinge sein und ihr Heil weitergeben. Kultorte und heilige Gegenstände, besonders wenn sie Erbstücke sind, haben das Heil ihrer Besucher, Besitzer und Verwender aufgenommen, und aus demselben Grund liegt auch in einem Ritual selbst Heil.

Daher ist der dritte Faktor, der seine Heilswirkung bestimmt, die Tradition. Nur wenn es forn siðr, die Sitte der Ahnen ist, kann es das gleiche Heil entfalten, das ihm, wie Tacitus vom Stammesritual der Semnonen sagt, die „Weihungen der Vorväter und uralte Frömmigkeit“ auch in alter Zeit gaben. Heutige und Vergangene müssen vereint sein. Es braucht den gemeinsamen Geist, aber auch Formen, die uns mit den Ahnen verbinden: Handlungen, Worte und Gesten, in denen ihr Erbe lebendig ist. Neben den traditionellen Ritualen, die leider nur bruchstückhaft überliefert sind, brauchen wir heute auch neue, die aber aus dem Geist der Tradition wachsen müssen.

Schließlich haben wir im Ritual selbstverständlich auch am Heil der Götter teil, die in ihm gegenwärtig sind. Das ist keine Segnung nach menschlichem Maß. Es ist etwas Göttliches: das Heil, das Odin, Thor oder Freyja selbst haben, strahlt im Ritual auf uns aus und erfüllt uns.

Rückverbindung zum heiligen Ursprung

Die Ahnen, von denen wir unser Heil haben, sind auch das natürliche Band, das uns mit dem Ursprung allen Heils in der Natur und den Göttern verbindet. In ihnen finden wir die Rückverbindung zum heiligen Ursprung, die – worauf sich die ebenfalls mögliche Ableitung von religio aus religare, wiederverbinden, stützt – das Ziel aller Religionen ist. Das Heidentum sieht den Menschen nicht als isoliertes Individuum, das einem jenseitigen Gott gegenübersteht und sich sozusagen quer zur Natur und Welt an ihn bindet. Als Teil der Natur finden wir auch den Weg zu den Göttern über die natürliche Grundlage unseres Seins – über die Kette der Generationen, die bis an den Anfang der Menschheit und des Lebens überhaupt zurückreicht: zur Mutter Erde und den Göttern, die in der Natur und eins mit ihr sind.

Die Verbindung zum heiligen Ursprung ist uns daher von Geburt an gegeben und muss durch das Ritual nicht erst hergestellt werden. So wie wir unser Heil nicht erst erbitten müssen, sondern geerbt haben, tragen wir in uns auch ein Band zu den Göttern, das naturgegeben und unverlierbar ist. Was dem Ritual zu tun bleibt, ist lediglich, es bewusst und erlebbar zu machen, in den Teilnehmern auch das subjektive Gefühl der Verbundenheit zu stärken, das ihrer objektiven Gegebenheit entspricht, und in regelmäßig wiederkehrender enger Gemeinschaft mit den Göttern das Band zwischen ihnen und uns zu stärken und stets aufs Neue mit Leben zu erfüllen.

Das Ritual ist nicht selbst die Rückverbindung zum heiligen Ursprung, aber es feiert und festigt sie und lässt uns die Verbundenheit von Sippe und Freunden, Ahnen, Natur und Göttern erleben.

Verwandtschaft mit Erde und Göttern

Diese Verbundenheit ist im wahrsten Sinn des Wortes Angehörigkeit, denn die Einheit von Natur und Göttern bedeutet, dass wir mit beiden auf gleiche, natürliche Weise verwandt sind. Der göttliche Grund des Seins liegt nicht jenseits des Physischen, sondern ist eins mit ihm. Deshalb können Mythen regelrecht von der Abstammung einer Sippe oder eines ganzen Volkes von den Göttern berichten: der Wälsungen und der angelsächsischen Könige von Wodan, der schwedischen Ynglinge von Freyr oder der mythischen Urstämme der Germanen von den drei Enkeln des erdgeborenen Gottes Tuisto.

Hierin zeigt sich deutlich, worum es bei diesen Mythen geht: nicht um die Mystifizierung eines bestimmten Stamms oder Volkes und auch nicht um die Verherrlichung von Fürstensippen, obwohl diese ihre Abstammungsmythen bei Gelegenheit auch dazu missbraucht haben. Der ursprüngliche Sinn ist die Einheit von Erde und Göttern, natürlichem und göttlichem Ursprung, durch die wir nicht „Fremde in der Welt“ und in ihr „fern von Gott“ sind, sondern Natur und Göttern zugleich angehören. Kein Volk ist dabei bevorzugt, denn solche Mythen hat jede heidnische Religion überall auf der Welt. Alle Menschen, die Ehrfurcht vor der Natur haben und in ihr das Göttliche finden, wissen auch, dass sie von ihrem Land und ihren Göttern abstammen und mit ihnen verwandtschaftlich verbunden sind.

Heidentum ist also kein Glaube an Götter, sondern eine Verwandtschaftsbeziehung zu ihnen. Das prägt den Charakter des heidnischen Rituals. Es ist kein schwieriger Umgang mit fremden Wesen, wie der christliche Gott ein „ganz anderer“ ist oder wie die Zeremonialmagie komplizierte Verrichtungen braucht, um fremdartige Kräfte zu handhaben. Das tun wir nicht. Wir laden unsere Verwandten ein, mit uns ein Fest zu feiern.

Das heilige Fest

Wenn wir das heidnische Ritual nicht als Gottesdienst oder magische Handlung definieren, sondern als Fest, so bedeutet das dreierlei.

Zunächst ist es ein Treffen von Menschen und Göttern als Freunde im altgermanischen Sinn, das heißt als Verwandte, die ihre Zusammengehörigkeit pflegen und einander des Friedens, des Zusammenhalts und der gegenseitigen Treue versichern. Es ist ein Fest, wie es die Menschen aller Zeiten und Völker feiern, wenn sie zusammenkommen: mit Essen und Trinken, ehrenvollen Reden und Geschenken. Im Ritual werden sie zum Opfermahl, dem eigentlichen Blót mit dem kreisenden Trinkhorn, den Gebeten und Anrufungen und den Opfergaben. Alle diese Handlungen sind nicht so mysteriös, wie sie scheinen oder von Esoterikern gedeutet werden, sondern haben einen sehr „normalen“, nämlich sozialen Ursprung. Sie folgen den gemeinschaftsbildenden Bräuchen zwischen den Menschen und haben ihren Sinn in der Gemeinschaft mit den Göttern. Erst wenn die Götter vergessen sind, werden sie zu magischen Praktiken, die man um ihrer selbst willen ausführt, oder brauchen zu ihrer Rechtfertigung weit hergeholte „spirituelle“ Deutungen.

Das zweite Merkmal des heiligen Festes ist, dass in ihm das Leben auf einer höheren Stufe steht als im Alltag. Nicht der einzelne in seiner Begrenztheit und Endlichkeit ist es, der hier lebt und handelt, sondern die ganze Gemeinschaft, in der die Verwandten und Gefährten, die Ahnen und künftige Generationen, das Land und die Götter und Geister in ihm eine Einheit sind. Sie verbinden sich zu einer Einheit des Heils, das aus Toten, Lebenden und noch nicht Geborenen, aus Gemeinschaft und Heimat, Erde und Göttern zusammenfließt und zu einem Heil wird, das alle erfüllt.

In der Größe und Weite dieses Heils – dieser Stärke, Macht und gestaltenden Kraft – gewinnt alles, was geschieht, unendlich größere Bedeutung; ist heiliger, machtvoller und bestimmender als jemals sonst. Jede Ehre, die man erweist, ist erhabener, jeder Eid wirksamer und jede Beleidigung tiefer. Deshalb ist der heilige Friede, der auf dem Fest herrschen muss, so wichtig und sein Bruch folgenschwerer als jeder andere Streit. Friedensstörer bei einem Ritual dürfen daher auf keinen Fall geduldet werden. Sie verletzen das Heil der Festgemeinschaft in einer Weise, die alle vernichten kann.

Denn das ist die dritte Eigenschaft des heiligen Festes, die natürlich auch im Guten wirkt und wirken soll: Es schafft die Bedingungen und Ereignisse der Zukunft. Bei den Jahresfesten danken wir nicht nur für das Erreichte, sondern gestalten durch die Art, wie wir ihn beginnen, auch den kommenden Jahresabschnitt. Bei den Lebenskreisfesten tun wir das noch viel mehr, denn wie ein Kind in die Gemeinschaft aufgenommen wird, so wird sein ganzes Leben sein, und so wie die Hochzeit verläuft, wird sich die ganze Ehe entwickeln. Alles, was wir erreichen, wird durch das Heil bestimmt, und wenn im heiligen Fest das ganze Heil gegenwärtig und wirksam ist, gibt es nichts mehr, was uns sonst noch helfen könnte. Die glückliche Ernte, die Treue der Eheleute, das erfolgreiche Leben des Kindes – all das wird im Ritual nicht nur gewünscht und erbeten, sondern geschaffen und eigentlich schon erreicht: Wenn unser Heil stark genug ist, wird es so eintreten, und alles, was dazu getan werden muss, wird getan werden, mehr noch: auf der höheren Ebene des Heils ist es bereits getan und muss sich im Alltag nur noch manifestieren.

Die beiden Pole der Heiligkeit

Um das auszudrücken, was die moderne Sprache unterschiedslos „heilig“ nennt, hatten unsere Vorfahren zwei verschiedene Wortstämme: hail für die uns zugekehrte, Heil wirkende Seite der Götter, in der wir sie als Verwandte und Freunde erfahren, und den Stamm wîh, der in „weihen“ und im nordischen Wort (Heiligtum) erhalten ist. Er bezeichnet die göttliche Eigenschaft des hoch Erhabenen, Unfassbaren oder Numinosen, denn das lateinische numen ist dasselbe wie das germanische guþ oder guð, nach Tacitus „jenes Geheimnis, das sie in einziger Ehrfurcht schauen.“

Das Ritual spricht beide Pole der Heiligkeit an. Wir rufen die Götter um ihr Heil an, und wir verehren sie für ihre Erhabenheit und Größe, in der sie unabhängig davon, wie heilvoll ihr Wirken für uns ist, heilig im Sinn des altgermanischen wîh sind. Man kann auch sagen, dass hail den nahen und wîh den fernen Aspekt der Götter ausdrückt, hail ihre Gegenwart in Midgard, ihr Natur-Einssein um uns und in uns, und wîh ihre Besonderheit, in der sie in Asgard leben, oder ihre Verwandtschaft mit uns und das Mysterium ihrer Göttlichkeit. Denn obwohl das Heidentum Welt und Götter, Diesseits und Jenseits nicht kategorisch trennt, wie es die dualistischen Religionen tun, weiß es um die Unterschiede: Menschen und Götter gehören derselben Wirklichkeit an, aber sie sind natürlich verschieden. Beide Aspekte, Angehörigkeit und Verschiedenheit, gehören zusammen.

Beide lässt ein gutes Ritual auch erfahren: Wir spüren das Heil, das von den Göttern kommt, und wir sind ergriffen, von Bewunderung und Ehrfurcht erfüllt und manchmal auch erschreckt von ihrem Geheimnis, dem – wie es der Religionsforscher Rudolf Otto bezeichnete – mysterium fascinosum und mysterium tremendum, dem begeisternden und dem erzittern lassenden Geheimnis des Numinosen.

Verehrung der Götter

Ein heidnisches Ritual auszuüben hieß in altnordischer Sprache blóta und auf Althochdeutsch bluozan oder ploazzan. Der Begriff ist sprachwissenschaftlich nicht ganz geklärt, hat aber sicher nichts mit dem Blut (nordisch blóð) von Opfertieren zu tun, sondern hängt wahrscheinlich mit blotna, nass werden, und eventuell deutsch platschen zusammen, bezieht sicht also ursprünglich auf das Benetzen der Erde oder des Altars beim Trankopfer, das nordisch blót oder althochdeutsch bluostrar heißt. Die schwedische Religionsgeschichtlerin Britt-Mari Näsström zitiert auch eine Ableitung aus der indogermanischen Wurzel *bhle (schwellen) und erklärt diese damit, dass das Opfer etwas vermehrt oder neu schafft, wie es in manchen Schöpfungsmythen – in der Edda beispielsweise das Opfer Ymirs – vorkommt.

Wie schließlich blót jedes Opfer bezeichnete, wurde auch blóta für jede Opferhandlung verwendet, wobei man nicht sagte, dass man den Göttern Gaben opferte (goðum gjöf), sondern man „blotete“ die Götter mit Gaben (goð gjöfum). Das lässt manche an ein magisches „Stärken“ denken, geht in Wirklichkeit aber auf die allgemeine Bedeutung von blóta zurück, die schon das gotische blotan hatte: „verehren“.

Bloten heißt im traditionellen Verständnis einfach „die Götter (mit Opfern) verehren“, und das ist auch typisch für das Heidentum. Es ist eine polytheistische Religion, in deren Mittelpunkt nicht magische Kräfte, mystische Einweihungen oder Verheißungen gleich welcher Art stehen, sondern die Götter und ihre Verehrung in kultischen Riten. Was immer sonst noch mit einem Ritual verbunden sein mag – und das kann vieles Verschiedenes sein – immer wendet es sich primär an die Götter und dient dazu, ihnen die gebührende Ehre zu erweisen.

Diese Ehre ist keine Anbetung, denn das wäre eine Huldigung mit Demutsgesten und der inneren Haltung des Dienens und der Unterwerfung, die nach germanischen Begriffen wertlos wäre. Diener und Kriecher können den Göttern keine Ehre erweisen, denn nur wer Ehre hat, kann welche geben. Mit Würde und Stolz, die uns als ihren Verwandten auch zustehen, müssen wir vor die Götter treten, sonst würden sie uns erst gar nicht beachten. Oder schlimmer: Sich ihnen unwürdig zu nähern, wäre sogar eine Beleidigung.

Auf dem heiligen Fest sind die Götter die Ehrengäste. Wir geben es ihnen zu Ehren und stellen sie, ihre Würde und ihre ehrenvollen und heilbringenden Taten in seinen Mittelpunkt. Die übliche Art, in der unsere Vorfahren das bei verdienten Menschen taten, bestand darin, sie mit Trinksprüchen, Reden und Liedern über ihre Taten, einem festlichen Mahl und Geschenken zu ehren, und genauso verfuhren sie mit den Göttern.

Ihre Verehrung war nicht anders als die eines Helden oder erfolgreichen Königs, und wie von ihm erwartete man von den Göttern ebenfalls eine Gegenleistung. Und dazu hatte man auch das Recht.

Die Gabe will stets Vergeltung

Neben bluostrar gab es im Althochdeutschen für ein heidnisches Opfer auch das Wort gelt oder gilt, das manchmal davon unterschieden wurde: Die Franken mussten bei der christlichen Taufe allem them bluostrum indi den gelton, allen Blótar und Opfern, abschwören – sie dürften genau zwischen bluostrar für Trank- und gelt für Speise- und Sachopfer unterschieden haben. Im sächsischen Taufgelöbnis ist dagegen mit nur einem Wort von allum diobolgeldae, allen „Teufelsopfern“, die Rede.

Gelt, gotisch gild, hängt mit vergelten zusammen, die nordische Form gildi bedeutet direkt „Rückzahlung, Vergeltung“. Ein Opfer an die Götter wurde von den germanischen Völkern als eine Vergeltung für ihre Wohltaten aufgefasst und unterscheidet sich vom römischen Brauch nach der Formel