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Ziele und Zielgruppen schulischer Prävention im Bereich Lernen

1.1 Welchen Störungen soll vorgebeugt werden?

Schulische Prävention im Bereich Lernen gehört neben der Integration von Schülerinnen und Schülern mit Behinderungen zu den vorrangigen gemeinsamen Aufgaben von Lehrkräften allgemeiner Schulen und von Sonderpädagogen. Bereits in den Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung in den Schulen in der Bundesrepublik Deutschland der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts sprach sich die Kultusministerkonferenz (KMK) für vorbeugende Maßnahmen für von Behinderung bedrohte Schüler aus. Innerhalb der Empfehlungen zum Förderschwerpunkt Lernen finden sich deutliche Aussagen: „Lern- und Entwicklungsverzögerungen sollen so früh wie möglich erkannt werden, um ihnen entgegen wirken zu können. Durch eine umfassende Person-Umfeld-Analyse müssen bereits in elementaren Entwicklungsbereichen Beeinträchtigungen wahrgenommen und entsprechende Handlungsperspektiven beschrieben werden, ohne dabei künftige schulische Förderorte festzulegen und vorwegzunehmen. Präventive Förderung in der allgemeinen Schule wirkt der Entstehung und Verfestigung von Lernbeeinträchtigungen entgegen und kann Sonderpädagogischen Förderbedarf vermeiden helfen“ (KMK, 2000, S. 309). Diese bereits 1999 formulierte Empfehlung „pro Prävention“ zum Förderschwerpunkt Lernen basiert auf verschiedenen sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen und gesellschaftlichen Diskursen.

Ergebnisse von Längsschnittstudien verdeutlichen beispielsweise, dass umfassende lang anhaltende, aber auch umschriebene Lernschwierigkeiten über längere Zeiträume entstehen und Entwicklungsprozessen unterliegen (Marx, 1992; Krajewski, 2003; Grube, 2005). Durch schulische Prävention sollen ungünstig verlaufende Entwicklungsprozesse frühzeitig erkannt und so beeinflusst werden, dass die individuelle Kompetenzentwicklung des in seiner schulischen Lern- und Leistungsentwicklung gefährdeten Kindes optimal gestaltet wird.

Zudem basiert das Präventionsgebot auf grundlegenden gesellschaftlichen Normen, die sich in der Diskussion um die Rechte von Menschen mit Behinderungen in den zurückliegenden Jahrzehnten immer genauer ausdifferenzierten. So kam es im Jahr 1994 zur Aufnahme des Benachteiligungsverbots von Menschen mit Behinderungen im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland: „Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ (GG, Artikel 3 (3)). Dieses Benachteiligungsverbot impliziert ausgleichende pädagogische Anstrengungen der öffentlichen Schule bei vorliegenden Behinderungen, unabhängig davon, ob es sich dabei um Funktionsbeeinträchtigungen im körperlichen und Sinnesbereich (z. B. motorische Beeinträchtigungen, Sehschädigungen) oder psychologischen Bereich (Informationsverarbeitung, intellektuelle Leistungsfähigkeit) handelt. Hat ein Kind eine Schädigung erfahren, die zu einer Funktionsbeeinträchtigung führt, welche seine schulische Entwicklung gefährdet, sind Anstrengungen zur Kompensation dieser Gefährdung ethisch und moralisch angezeigt.

Genauso wie sonderpädagogische Hilfen die Bildung eines z. B. sehgeschädigten Kindes gewährleisten, sollen sonderpädagogische Hilfen das schulische Lernen von z. B. Kindern mit Beeinträchtigungen in der phonologischen oder visuellen Informationsverarbeitung sicherstellen. In diesem Zusammenhang ist auf die UN-Behindertenrechtskonvention hinzuweisen. Dort wird unmissverständlich klargestellt: „Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen“ (UN-BRK, 2006). Sonderpädagogischer Förderbedarf mit dem Schwerpunkt Lernen entsteht aufgrund von verschiedenen Beeinträchtigungen beim Lernen erst innerhalb der Schulzeit (s. Abschnitt 1.3). Unter der Zielsetzung der Eröffnung von Chancen, der Vermeidung von Benachteiligung und optimaler Bildung und Erziehung sowie der Partizipation an dem, was gesellschaftliche Normalität ausmacht, besteht der Anspruch schulisch gefährdeter Schüler auf präventive schulische Förderung im Vorfeld von integrativen Hilfen. Oder anders formuliert: Für Schüler, die ungünstigen Entwicklungsprozessen unterliegen, die im „worstcase“ zu einer Form schulischer Minderleistungen führen, sind präventive Hilfen ein Beitrag zu deren schulischer Integration.

Welche Schüler sind gefährdet und welchen Störungen soll vorgebeugt werden?

Innerhalb der Fachliteratur findet man eine Vielzahl von Begriffen, die dazu dienen, das Phänomen nicht ausreichender schulischer Leistungen entsprechend der Mindestleistungsanforderungen in Grund- und Hauptschulen bzw. entsprechenden Schularten in der Sekundarstufe I (Regionalschule, Gemeinschaftsschule, Gesamtschule) zu beschreiben: Lernschwierigkeiten, Lernbeeinträchtigungen, Lernstörungen, Lernbehinderung, sonderpädagogischer Förderbedarf mit dem Förderschwerpunkt Lernen bzw. sonderpädagogisch förderbedürftig im Förderschwerpunkt Lernen, Beeinträchtigungen des Lern- und Leistungsverhaltens, insbesondere des schulischen Lernens, Schulversagen – Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss, Klassenwiederholer, schwache Lerner, partielle bzw. generelle Lernstörungen, -schwächen oder -schwierigkeiten, Leserechtschreibstörung, -schwäche oder -schwierigkeit, Legasthenie, Rechenstörung, -schwäche oder -schwierigkeit, Dyskalkulie.

Die Liste verwendeter Begriffe ließe sich fortsetzen. Hinter dieser Vielfalt von Begriffen stehen neben unterschiedlichen Ausprägungen von deutlichen Schulleistungsrückständen gegensätzliche oder zumindest mehr oder minder unterschiedliche Auffassungen über Erscheinungsbilder und Ursachen von schulischen Minderleistungen. Mit diesen Auffassungen korrespondieren unterschiedliche Konzepte der Diagnostik und Förderung. Ausführliche Ausführungen zu verwendeten Terminologien finden sich bei Schröder (2000), Kanter (2001) oder Klauer und Lauth (1997). Gegenwärtig findet man in der einschlägigen Fachliteratur vorwiegend folgende Begriffe:

Betrachtet man diese Begriffe, fällt auf, dass sie unterschiedlich schwerwiegende, umfangreiche oder andauernde Phänomene beschreiben. Die Begriffe Schwierigkeit, Schwäche, Störung und Behinderung bzw. sonderpädagogischer Förderbedarf implizieren unterschiedliche Schweregrade einer schulischen Problematik. Eine Rechenstörung oder Leserechtschreibstörung umfasst einen geringeren Bereich aller schulischen Anforderungen als z.B. eine kombinierte Schulleistungsstörung oder eine Lernbehinderung. Eine Lernschwierigkeit gilt als in ihrer Dauer begrenzt (außer sie markiert den Beginn einer abweichenden Entwicklung im schulischen Lernen), während eine Lernstörung oder eine Lernbehinderung lang andauernde Minderleistungen im schulischen Lernen beschreibt und das Unterschreiten von Mindestanforderungen in der Grundschule und Haupt- bzw. Regionalschule implizieren. Damit zeigt sich in der Fachdiskussion ein Trend zu Begriffen, die ein Kontinuum unterschiedlich schwerwiegend ausgeprägter Minderleistungen in der Schule beschreiben.

Klauer und Lauth (1997) sprechen sich für eine dimensionale und damit graduelle Unterscheidung von Lernbeeinträchtigungen auf den Achsen Zeit (von eher vorübergehend bis eher überdauernd) und Umfang (bereichsspezifisch bis umfassend allgemein) aus. Durch eine dimensionale Begriffsperspektive sollen die Schwächen einer verwirrenden typologischen Begriffsbildung gemindert werden. Als Hauptschwächen typologisierender Begriffsbestimmungen gelten

Unterstützt wird die Position von Klauer und Lauth durch die aktuelle Fachdiskussion über Leserechtschreib- sowie Rechenstörungen. Hier findet immer deutlicher eine Abkehr von den typologisierenden Begriffen Legasthenie und Dyskalkulie statt, und damit von einer Sichtweise, die die Gruppe der Kinder mit Leserechtschreib- bzw. Rechenschwierigkeiten in „Quasi-Kranke“ und Kinder mit geringer Intelligenz unterteilt. Die Entstehung mehr oder minder deutlicher Minderleistungen im Lesen, Schreiben oder Rechnen wird vermehrt als multifaktoriell beeinflusster Entwicklungsprozess aufgefasst und nicht als weitgehend unausweichlich determinierte Krankheitsgeschichte.

Der hier nur kurz skizzierte Wandel im Verständnis der Ursachen schulischer Minderleistungen wird im Abschnitt zum Thema „Welche Modelle erklären deutliche Schulleistungsunterschiede und Lernstörungen?“ (Abschnitt 1.3) weitergehend erläutert. Im Kontext des Themas „Welchen Störungen soll vorgebeugt werden?“ ist einleitend festzuhalten:

Vor dem Hintergrund dieser grundsätzlichen Überlegungen werden im Folgenden einige gängige Begriffsbestimmungen wiedergegeben und erläutert. Hierbei wird jeweils von eher traditionellen typologisierenden Begriffen ausgegangen und diesen eine eher dimensionale und entwicklungsorientierte Sichtweise gegenübergestellt. Die Kenntnis traditioneller typologisierender Begriffe ist insbesondere auch aus folgendem Grund relevant. Eine Vielzahl von Studien zum Vorkommen und zur Häufigkeit von schulischen Minderleistungen und deren Ursachen basieren auf traditionellen Begriffen und damit verbundenen Kriterien zur Bestimmung der Zugehörigkeit zu einer Personengruppe. Insofern müssen die Begriffsbestimmungen bekannt sein, um Angaben zur Häufigkeit und Ursachen angemessen interpretieren zu können.

Lernstörungen in internationalen Klassifikationssystemen

Zentrale Bezugspunkte üblicher Definitionen für Lernschwächen- bzw. -störungen sind die ICD-10 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, Dilling, Mombour & Schmidt, 1991) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und das DSM-IV (Diagnostisches und Statistisches Manual psychischer Störungen) der amerikanischen psychologischen Gesellschaft (APA).

Im „Diagnostischen Manual psychischer Störungen“ (DSM-IV) findet sich der auch in der ICD-10 vertretene diagnostische Standpunkt: Lernstörungen werden diagnostiziert, wenn die Leistungen einer Person im Lesen, Rechnen oder im schriftlichen Ausdruck bei individuell durchgeführten standardisierten Tests wesentlich unter den Leistungen liegen, die aufgrund der Altersstufe, der Schulbildung und des Intelligenzniveaus zu erwarten wären. Die Lernprobleme beeinträchtigen deutlich die schulischen Leistungen oder die Aktivitäten des täglichen Lebens, bei denen Lese-, Rechen- und Schreibfähigkeiten benötigt werden (Saß, Wittchen, Zaudig & Houben, 2003). Lernstörungen werden als umschriebene Phänomene angesehen, weil sich die Schwierigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen innerhalb einer sonst unauffälligen Entwicklung zeigen.

Leserechtschreibschwäche bzw. Leserechtschreibstörung und angrenzende Begriffe

Seit den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts gibt es in den Bundesländern Erlasse und Verordnungen, die die schulische Förderung von Kindern regeln, die das Lesen und die Rechtschreibung nur mit großer Mühe erlernen und bei denen in anderen Lernbereichen vergleichbare deutliche Schwierigkeiten nicht auftreten. Die in den Regelungen avisierte Förderung beinhaltet im Wesentlichen Differenzierung im Deutschunterricht, zusätzlichen Förderunterricht und einen Nachteilsausgleich bei der Leistungsbewertung. Die Regelungen der Bildungsministerien gehen seit den 70er Jahren von einem krankheitsähnlichen Zustandsbild „Legasthenie“ oder „Leserechtschreibstörung“ (LRS) aus (Scheerer-Neumann, 2008, S. 165). Zentral für die Diagnose „Legasthenie“ oder „LRS“ ist das Vorliegen einer Diskrepanz zwischen den schwachen Leserechtschreibleistungen und übrigen Schulleistungen sowie den intellektuellen Fähigkeiten des Kindes. Operational wurde diese Diskrepanz als Differenz der erzielten Standardwerte (meist T-Werte) in einem normierten Lese- und Rechtschreibtest und einem Intelligenztest definiert. Überstieg die Höhe der Differenz einen bestimmten Wert, gilt das Diskrepanzkriterium als erfüllt. In den Bundesländern und in der Fachliteratur schwanken die Angaben zur Höhe der notwendigen Differenz zwischen ein bis zwei Standardabweichungen. Mit anderen Worten: Differieren die Ergebnisse des Schulleistungstests und des Intelligenztests um mindestens 10, meist 15 T-Wert-Punkte (eine Standardabweichung auf der T-Wert-Skala umfasst 10 T-Wert-Punkte), kann eine Legasthenie oder LRS förmlich festgestellt werden. Die Diskrepanz zu weiteren Schulleistungen wurde in der Praxis meist nicht operational definiert. Traditionell fanden LRS-Untersuchungen frühestens zu Beginn des dritten Schuljahres statt.

Mit den geschilderten Regelungen entsprechen die vorliegenden LRS-Erlässe weitgehend den Diagnosekriterien der ICD-10. Dort wird zwischen einer Lese- und Rechtschreibstörung (F 81.0) und Rechtschreibstörung (F 81.1) unterschieden. Neben dem Diskrepanzkriterium gelten als weitere Diagnosekriterien:

Eine isolierte Rechtschreibstörung liegt vor, wenn das Lesen gelingt, aber die angeführten Kriterien in Bezug auf die Rechtschreibung erfüllt sind. Bei der Diagnose Legasthenie oder LRS bzw. isolierte Rechtschreibstörung sind eine geistige Behinderung, eine Sehstörung, eine erworbene Hirnschädigung oder hirnorganische Krankheit sowie eine unangemessene, offensichtlich ungenügende Beschulung auszuschließen.

Da eine geistige Behinderung erst bei einem Intelligenzquotienten (IQ) kleiner 70 attestiert wird, kann eine LRS oder eine Rechtschreibstörung auch bei unterdurchschnittlichen IQ-Werten (70–85) vorliegen. Dieser Fall tritt allerdings nur extrem selten auf, da das Diskrepanzkriterium beim Vorliegen niedriger Intelligenztestwerte selten erfüllt wird. Rechnet man beispielsweise den IQ-Wert 85 in einen T-Wert um, beträgt dieser 40 T-Wert-Punkte. Das gängige Diskrepanzkriterium wäre erst bei einem T-Wert von 25 in einem Schulleistungstest erfüllt, bei einer Verwendung von einer Standardabweichung als kritische Differenz bei einem T-Wert von 30. Solche niedrigen Ergebnisse im Schulleistungstest kommen in der Praxis kaum vor, bzw. die Skalen der Tests enden meist mit der Angabe, die gemessene Leistung liegt unterhalb eines T-Wertes von 30. Ein solches Ergebnis kommt bei Testverfahren nur bei 2 % aller Schüler vor. Deshalb differenzieren Schulleistungstests unterhalb des T-Wertes von 30 im Ausmaß der schulischen Minderleistung im Allgemeinen nicht, denn das Ergebnis ist bereits eindeutig: Das Kind weist gravierende Schulleistungsrückstände auf.

Wesentliche Kritikpunkte an der Diskrepanzdefinition und damit verbundener Regelungen sind:

Resümierend ist festzuhalten, dass die Klassifikation nach ICD-10 und DSM IV und entsprechender Erlasse nicht mehr dem aktuellen Forschungsstand über Ursachen sowie Diagnostik und Förderung bei deutlichen Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben entsprechen. Gleiches gilt für analoge Regelungen nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG, § 35a), die eine außerschulische LRS-Therapie ebenfalls vom Vorliegen einer deutlichen Diskrepanz zwischen Werten im Intelligenztest und Schulleistungstest abhängig machen.

Aufgrund der angeführten Forschungsergebnisse und Argumente wird hier die Auffassung vertreten, dass alle Kinder mit deutlichen Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben unabhängig von ihrer intellektuellen Leistungsfähigkeit als leserechtschreibschwach oder als Kinder mit einer Leserechtschreibstörung anerkannt werden und eine entsprechende Förderung bzw. einen Nachteilsausgleich erhalten sollten.

Im letzten Kapitel dieses Buches wird ein Vorschlag zur Früherkennung betroffener Kinder im Anschluss an den US-amerikanischen Response to Intervention (RTI)-Ansatz darstellt. Dieses Vorgehen berücksichtigt die angeführten Kritikpunkte an dem Diskrepanzmodell und beinhaltet eine Antwort auf die Frage, wie dem Kontinuum unterschiedlich ausgeprägter Leserechtschreibschwächen bzw. von Rechtschreibschwächen pädagogisch angemessen entsprochen werden kann. Innerhalb des RTI-Ansatzes werden alle Kinder mit Auffälligkeiten in einem LRS-Screening oder in regelmäßig stattfindenden Schulleistungstests oder Curriculum basierten Kurztests genauer in ihrer Leistungsentwicklung beobachtet und bei ausbleibenden Lernerfolgen frühzeitig gezielt präventiv gefördert. Um dem Kontinuum unterschiedlicher Förderbedarfe zu entsprechen, findet die Förderung auf drei Präventionsebenen statt.

Zur Beschreibung unterschiedlich stark ausgeprägter Förderbedarfe im Lesen und Rechtschreiben wird vorgeschlagen, Kinder mit niedrigen Leistungen im Lesen und Rechtschreiben als leserechtschreibschwach zu bezeichnen und entsprechend ihres Förderbedarfs zu fördern. Der Schweregrad und das Erscheinungsbild der Leserechtschreibschwäche sollte im Einzelfall differenziert mit Hilfe von quantitativen und qualitativen Untersuchungsergebnissen beschrieben werden. Je deutlicher die Leistungsrückstände ausgeprägt sind, umso gezielter und intensiver sollte die Förderung gestaltet werden. Die Bezeichnungen Leserechtschreibschwäche oder Rechtschreibschwäche sollte bereits ab einen Prozentrang kleiner 25 in einem einschlägigen Schulleistungstest und als Indikationsmarke für präventive Förderung gelten. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass in den PISA-Studien 2000 und 2006 ca. ein Viertel der untersuchten Jugendlichen deutliche Leistungsrückstände im Lesen und in der Rechtschreibung aufwiesen (Baumert et al., 2001; Prenzel et al., 2007).

Rechenschwäche bzw. Rechenstörung und angrenzende Begriffe

Anders als im Leserechtschreibbereich fanden Bestimmungen zur Förderung von Schülerinnen und Schülern mit deutlichen Schwierigkeiten im Rechnen, bei denen in anderen Fächern kaum Schwierigkeiten auftraten, erst relativ spät Eingang in die Erlasslage von Bundesländern. Die definitorische Problematik und die damit verbundenen Schwierigkeiten der Bestimmung der Zielgruppe schulischer Prävention im Bereich Rechnen entspricht strukturell weitgehend der Problematik der Zielgruppenbestimmung im Leserechtschreibbereich. Die Diagnose „Dyskalkulie“ bzw. „Rechenstörung“ wird traditionell mit dem Vorliegen einer Diskrepanz zwischen den eher geringen Fähigkeiten im Rechnen, den besser ausgeprägten übrigen Schulleistungen sowie der Intelligenz des Kindes begründet. Analog zum Vorgehen bei der LRS-Diagnostik wird bei der Prüfung der Frage, ob bei einem Kind eine Rechenstörung vorliegt, ein Intelligenztest und Rechentest durchgeführt. Übersteigt die differierende Punktzahl zwischen beiden Testergebnissen einen vorab festgelegten Wert, gilt das betreffende Kind als Schülerin bzw. Schüler mit einer Rechenstörung. Meist wird die kritische Differenz zwischen den Testergebnissen in T-Werten (eine der üblichen Standardskalen zur Abbildung von Testergebnissen, s. o.) ausgedrückt. Überwiegend werden T-Werte-Differenzen von 15 T-Wert-Punkte (= 1,5 Standardabweichungen, s. o.) zur operationalen Definition des Diskrepanzkriteriums herangezogen.

Die ICD-10 benennt unter dem Punkt F 81.2 mehrere weitere Diagnosekriterien einer Rechenstörung:

Es gelten die gleichen Ausschlusskriterien wie bei der Feststellung von LRS (s. o.).

Die bereits im Kontext LRS aufgeführten Kritikpunkte am Diskrepanz-Ansatz gelten analog auch im Kontext Rechenstörung. Diese Aussage ist für die meisten der angeführten Kritikpunkte argumentativ gut nachzuvollziehen. Besonderer Klärungsbedarf besteht allerdings zu der Frage, weshalb auch in diesem Zusammenhang davon auszugehen ist, dass Kinder mit einer niedrigen Intelligenz und niedrigen Leistungen im Rechnen ebenfalls als rechenschwach anzusehen sind und ein Anrecht auf besondere Hilfen haben, die schwachen Rechenleistungen nicht nur als Folgeerscheinung einer niedrigen intellektuellen Leistungsfähigkeit anzusehen sind.

Forschungsergebnisse über den Zusammenhang von Intelligenz und Rechenleistung weisen eher auf einen mäßigen Zusammenhang zwischen diesen beiden Personenmerkmalen hin. Die intellektuelle Leistungsfähigkeit steht zwar in einem messbaren Zusammenhang mit den Leistungen in Arithmetik, wesentlich höher ist allerdings der Zusammenhang der Rechenleistungen mit dem mathematischen Vorwissen der Kinder. So konnten Krajewski und Schneider (2006) nachweisen, dass ein Viertel der Unterschiede in den Mathematikleistungen am Ende der vierten Klasse bereits durch vorschulisch vorhandene bzw. nicht vorhandene Mengen-Zahlen-Kompetenzen erklärt werden können. Letztlich weisen mittlerweile eine Vielzahl von Forschungsergebnissen auf die besondere Bedeutung vorschulisch entstandener und der in der schulischen Eingangsstufe vermittelten mathematischen Kompetenzen für die Entwicklung von komplexen arithmetischen Fähigkeiten hin (Krajewski & Schneider, 2006; Weißhaupt, Peucker & Wirtz, 2006; Moser-Opitz, 2007). Rechenschwachen Viertklässlern mangelt es unabhängig von ihrer Intelligenzentwicklung an arithmetischen Basiskompetenzen. Arithmetische Basiskompetenzen wie beispielsweise die Kenntnis der exakten Zahlenfolge, die Fähigkeit die Mächtigkeit von Mengen bis hin zu 10 Elementen festzustellen oder Mengen in Teilmengen zu zerlegen, sind notwendige Voraussetzungen für die Bewältigung schulischer Anforderungen in der Grundschule. Die Ausprägung dieser Basiskompetenzen variiert relativ unabhängig von der allgemeinen intellektuellen Leistungsfähigkeit. Rechenschwache Kinder mit niedrigen IQ-Werten weisen also weitgehend das gleiche gering ausgeprägte mathematische Vorwissen auf, wie rechenschwache Kinder mit eher durchschnittlichen IQ-Werten. Zudem benötigen rechenschwache Kinder mit niedrigen IQ-Werten die gleichen Fördermaßnahmen wie in ihrer Intelligenz unauffällige rechenschwache Kinder. Insofern ist das Diskrepanzkriterium und die damit verbundene Unterteilung der Gruppe von Kindern mit deutlichen Schwierigkeiten beim Erwerb arithmetischer Kompetenzen in intelligente und weniger intelligente rechenschwache Kinder förderpädagogisch nicht hilfreich. Analog zu der bereits im Kontext LRS geäußerten Auffassung sollten Kinder mit deutlichen Schwierigkeiten im Rechnen unabhängig von ihrer intellektuellen Leistungsfähigkeit gefördert werden (s. hierzu auch das fünfte Kapitel über die Förderung nach dem RTI-Ansatz). Der Schweregrad und das Erscheinungsbild der Rechenschwäche sollte dabei im Einzelfall differenziert beschrieben werden. Für die Förderung des Kindes sollte ein Kontinuum an Fördermaßnahmen bereitstehen, auf dessen Basis für das Kind eine adaptive Förderung entworfen und umgesetzt wird. Je deutlicher die Rechenschwäche ausgeprägt ist, umso weniger basale mathematische Basiskompetenzen beim Kind vorhanden sind, umso spezifischer, expliziter und intensiver sollte die Förderung ausfallen. Ebenso wie für den LRS-Bereich wird vorgeschlagen, ein Kind, das wiederholt im einschlägigen Testverfahren Ergebnisse im unteren Quartil zeigt, als rechenschwach anzusehen und Fördermaßnahmen entsprechend der Ausprägung der Rechenschwäche einzuleiten. Dieser hohe Grenzwert zur Indikation präventiver Hilfen ist dem Umstand geschuldet, dass in Deutschland laut PISA 2000 und 2006 ca. ein Viertel aller getesteten 15-Jährigen zur Risikogruppe im Bereich mathematische Grundbildung zählen (Baumert et al., 2001; Prenzel et al., 2007).

Kombinierte Leserechtschreib- und Rechtschreibschwäche bzw. kombinierte Störungen schulischer Leistungen

In der ICD-10 wird neben der Leserechtschreibstörung, Rechtschreibstörung und Rechenstörung eine kombinierte Schulleistungsstörung (F 81.3) angeführt. Sie liegt hiernach bei gravierenden Schwierigkeiten beim Lesenlernen, beim Erlernen der Rechtschreibung als auch des Rechnens vor, wenn die Leistungen eindeutig unter dem aufgrund des Alters und der Intelligenz und der Beschulungsform zu erwartenden Leistungsniveaus liegen. Es müssen die gleichen ICD-10-Kriterien erfüllt sein, wie bei der Feststellung einer LRS und einer Rechenstörung. Zudem gelten die gleichen Ausschlusskriterien wie bei den genannten Störungen. Da es sich um das gleichzeitige Auftreten von zwei umschriebenen Entwicklungsstörungen handelt, gelten die bisherigen Aussagen zu den einzelnen Störungsbildern auch für deren gleichzeitiges Auftreten.

Innerhalb des deutschsprachigen Raumes besteht das Problem der Abgrenzung der Diagnose „Kombinierte Störung schulischer Leistungen“ von der schulpädagogisch relevanten Diagnose „Schülerin bzw. Schüler mit sonderpädagogischen Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen“. Letztere setzt traditionell einen IQ-Wert im Bereich 85 bis 70 sowie schwerwiegende umfassende Schulleistungsrückstände voraus. Da innerhalb der ICD-10-Systematik als Ausschlusskriterium einer umschriebenen Schulleistungsstörung eine geistige Behinderung gilt, diese aber frühestens bei einem IQ-Wert kleiner 70 vorliegt, entstehen zwei sich überschneidende Gruppen von Kindern bzw. unterschiedliche Zielgruppen von Förderung laut ICD-10, und laut Schulgesetzgebung: Kinder mit einer kombinierten Schulleistungsstörung mit eher durchschnittlicher Intelligenz (IQ-Wert ≥ 85) und Kinder mit einer kombinierten Schulleistungsstörung und niedrigen Intelligenztestwerten (IQ-Werte von 70 bis 84). Eine solche Unterteilung aufgrund von Intelligenzwerten ist aufgrund bereits angeführter Argumente genauso wenig relevant für die Förderung betroffener Kinder im Lesen, Schreiben und Rechnen wie die Erfüllung des Diskrepanzkriteriums. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Diskrepanzkriterium erfüllt wird, sinkt mit abnehmenden IQ-Werten. Erhalten nur Kinder Förderung, die aufgrund der Diskrepanzdefinition eine kombinierte Schulleistungsstörung auf