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HEIKE GEISSLER
SAISONARBEIT

Volte #2
herausgegeben von Jörn Dege und Mathias Zeiske

ein mikrotext

Lektorat: Jörn Dege, Mathias Zeiske

ePub-Erstellung: Andrea Nienhaus

Coverdesign: Studio Matthias Görlich

www.mikrotext.deinfo@mikrotext.de

ISBN 978-3-944543-18-5

Zuerst erschienen in der Reihe Volte bei Spector Books, Leipzig.
ISBN 978-3-944669-66-3

www.spectorbooks.com

Alle Rechte vorbehalten.

© Heike Geißler und Spector Books 2014

© der digitalen Ausgabe bei mikrotext 2014

Heike Geißler

Saisonarbeit
Volte #2

Inhalt

Eins

Ein Job wird gebraucht und gefunden. Sie sind ganz grundsätzlich aus dem Häuschen. Und eventuell geht es um Leben und Tod.

Zwei

Sie besuchen eine Schulung oder sehen ein Stück. Noch ist niemandem zum Weinen oder Wüten zumute, aber keine Sorge, das kommt schon noch.

Drei

Sie wissen etwas über Beleidigungen und machen den Mund auf. Sie sind viel stärker als ich und reden noch nicht in Arbeitnehmersprache vor sich hin.

Vier

Mein Freund bekommt Post von Amazon. Sie lernen neue Wörter und treffen auf die ersten Waren. Sie müssen einmal lachen.

Fünf

Sie protzen mit Pralinen, die Sie sich nicht leisten können. Ich überlege, was eigentlich funktioniert. Gemeinsam fallen wir hintenüber. Und außerdem ist Montag.

Sechs

Kurz kennen Sie sich gut aus in diesem Job. Aber dann haben Sie ein Cubi-Tote-Problem. Und das hat es wirklich und nachhaltig in sich.

Sieben

Sie sind krank und besorgt, die Krankheit könne über Nacht verschwunden sein. Die Ärztin hat vielleicht auch keinen besseren Job als Sie. Und der Arbeitswelt muss wohl ein Bein gestellt werden.

Acht

In Ihnen stehen abwinkende Heere parat. Aber wenigstens schneit es, und Sie sind wieder gesund. Außerdem: Bücher! Und ein kurzes Verknalltsein als Bonuskraft am Arbeitsplatz.

Neun

Bald ist tatsächlich Weihnachten und folglich Zeit zu handeln. Mein Freund bekommt schon wieder Post von Amazon. Sie arbeiten in der Turboschicht und haben genug.

Zehn

Gleich haben Sie es geschafft. Vorher aber wollen Sie über das Wetter sprechen. Ihr neuer bester Freund ist ein Hooligan, und Chöre vom Band zählen nicht.

Elf

Haben Sie nun eigentlich gehandelt? Sie haben eine Menge geschafft, aber noch wenig Ahnung von der Freiheit. Und Amazon will Sie wieder anstellen.

„Sehr geehrte Frau ...,

zunächst möchten wir uns herzlich für Ihr Interesse an einer Tätigkeit als Versandmitarbeiter für das Weihnachtsgeschäft bei der Amazon Distribution GmbH bedanken.

Gern laden wir Sie zu unserem nächsten Auswahltag am kommenden Mittwoch um 13 Uhr in unser Haus ein. Sie haben an diesem Tag die Möglichkeit, sich über die Tätigkeiten bei Amazon zu informie­ren. Anschließend können Sie einen praktischen Auswahltest in dem von Ihnen bevorzugten Ar­beits­­­bereich absolvieren.

In folgenden Tätigkeitsfeldern haben wir freie Stellen zu besetzen:

Wareneingang: Stehende Tätigkeit, Arbeit mit dem PC

Wareneinlagerung: Laufende Tätigkeit, Arbeit mit einem Handscanner

Kommissionierung: Laufende Tätigkeit, Arbeit mit einem Handscanner

Verpackung: Stehende Tätigkeit, Verpacken der Artikel, Arbeit mit Scanner

Sollten Sie an diesem Termin leider nicht teilnehmen können, vereinbaren Sie bitte mit uns einen neuen Termin.

Unsere Adresse lautet:

Amazon Distribution GmbH

Amazonstraße

Leipzig

Bitte beachten Sie, dass wir für den Vorstellungstermin leider keine Reisekosten erstatten können. Wir freuen uns auf Ihr Kommen!

Mit freundlichen Grüßen

Ihre Personalabteilung“

Eins

Geht es hier eigentlich um Leben und Tod? Ich sage einstweilen nein und komme später auf die Frage zurück. Dann werde ich sagen: Nicht direkt, aber irgendwie ja doch, es geht darum, wie sehr der Tod ins Leben darf. Oder das Tödliche. Also das, was uns umbringt. Um genau zu sein: Gegen das Tödliche ist der Tod ein Waisenknabe. Oder: Der Tod ist gegen das Tödliche ein Herr mit guten Manieren und einer Schüchternheit im Blick.

Das Tödliche ist von jetzt an Ihr Begleiter, so viel kann gesagt werden. Aber erst einmal gehen wir los, denn Sie haben ja einen Vorstellungstermin. Sie gehen los, ich begleite Sie und sage Ihnen, wie alles ist und was Ihnen passiert. Sie sind ab jetzt als ich unterwegs. Sie sind also weiblich, bitte merken Sie sich das, denn es ist an einigen Stellen wichtig. Sie sind eigentlich Autorin und Übersetzerin, haben zu diesem Zeitpunkt zwei Söhne und einen Partner, der gut zu Ihnen passt, was Sie meistens auch wissen.

Ihr Freund hat Ihnen vorm Losgehen viel Glück gewünscht und nochmals gesagt, Sie müssten das nicht machen. Aber das stimmt nicht, Sie müssen das machen, Sie müssen jetzt das Erstbeste versuchen, um Geld ins Haus zu bekommen.

Ihr Vorstellungstermin heißt nicht Vorstellungsgespräch, weshalb Sie sich keine Worte zurechtlegen und auch nicht besonders gekleidet sind. Sie tragen Jeans und Pulli, es geht um keine Karriere. Sie gehen aus dem Haus, eventuell sind Sie aufgeregt, denn Sie wollen den Job, Sie haben nun einmal kein Geld und lehnen es aus gewissen Gründen, die ich noch erklären werde, ab, Hartz IV, Wohngeld oder dergleichen zu beziehen. Sie bekommen Kindergeld für zwei Kinder, Sie bekommen auch Rechnungen bezahlt, aber leider werden Ihre Rech­nungen meistens nicht pünktlich bezahlt. Es kommt erschwerend hinzu, dass Sie auch nicht gut darin sind, Rechnungen zu schreiben; Sie schieben das immer auf die lange Bank. Die Bank ist lang wie der längste Lebkuchen der Welt, also einen Kilo­meter. Auch schreiben Sie nie Mahnungen. Sie denken, dann gibt man Ihnen keinen Auftrag mehr. Sie sind jetzt, falls Sie es nicht eh schon sind, ein Seelchen. Sie sind, das haben Sie auch schriftlich, sehr empfindlich, aber machen Sie sich nichts daraus, die Empfindlichkeit sollte man Ihnen nicht vorwerfen, Sie dürfen Ihre Empfindlichkeit von nun an als ein Potenzial verstehen. In Ihrer Verletzbarkeit liegen etliche Möglichkeiten verborgen. Wie gesagt: Sie sind empfind­lich und werden es bleiben – und auch darauf kommen wir zurück.

Eventuell kommt Ihnen allein diese Fahrt zu Amazon, von der Sie noch nicht wissen, ob sie von Erfolg, also von einem befristeten Arbeitsvertrag, gekrönt sein wird, wie der Beginn oder Beleg eines sozialen Abstiegs vor. Sie werden immer wieder versuchen, es anders zu sehen, aber schon der Anfang zwingt Sie in die Knie und eine Schicht tiefer und so wird es bleiben. Ja, Sie werden Schichten sehen, falls Sie das nicht vorher schon taten. Sie werden die Schichten dermaßen deutlich vor sich sehen wie Geologen den Aufbau des Bodens, aus dem sie eine tiefe Grube aushoben. Wenn Sie genau überlegen, kommen Sie manchmal zu dem Schluss, dass der soziale Abstieg nur etwas behelfsmäßig das bezeichnet, was eher ein sich verfestigt habender Mangel an Möglichkeiten und Weitsicht ist. Es wird also so sein: Sie bekommen diesen Job und freuen sich, und dann werden Sie müde sein, werden jeden Tag Ihre Augen kaum noch offen halten können, Ihnen wird die Kraft für alles Vergnügliche oder schlicht für alles fehlen und Sie werden sehr viel mehr über Ihr Leben und das Ihrer Eltern und all derer wissen, die Vorgesetzte haben. Sie haben ja normalerweise keinen Chef, keine Chefin. Sie werden bald etwas über das Leben wissen, das Sie vorher nicht wussten, und es wird nicht nur mit der Arbeit zu tun haben, sondern auch damit, dass Sie älter werden, dass Ihnen jeden Morgen zwei Kinder hinterherweinen, Sie mögen doch nicht zu dieser Arbeit gehen, und damit, dass mit dieser Arbeit und vielen Sorten Arbeit grundsätzlich etwas faul ist.

Sie werden viel darüber nachdenken, was es mit der Arbeit auf sich hat, warum diese Arbeit niemandem zugemutet werden sollte. Sie werden Miss­verständ­nissen unterliegen und Dinge verwech­seln und Ihre Empfindlichkeit wird sich vom erstbesten Tödlichen bearbeiten und herausfordern lassen, so dass Sie eine Weile brauchen werden, um herauszufinden, woran Sie wirklich leiden, und dass Ihr Leid keinesfalls ein spezielles ist, son­dern ein frappierend allgemeines. Ja, Sie sind allgemein, ich will Sie allgemein betrachten und Ihnen Ihr Allgemeinstes vorstellen. Aber das Spezielle kommt zuerst.

Grundsätzlich ist es jedenfalls nahezu unmög­­lich, von dieser Arbeit, die Sie gleich haben werden, nicht in die Knie und in den Trotz gezwungen zu werden.

Sie fahren mit der Straßenbahnlinie 3 Richtung Sommerfeld, die Bahn füllt sich bis zum Hauptbahnhof, dort steigen die meisten aus, niemand steigt zu. Sie gehen davon aus, dass alle, die nun noch im Waggon sind, genauso wie Sie zu Amazon zum Testarbeiten fahren. Sie sehen auf Ihren Zettel: aussteigen Teslastraße / Heiterblick, dann Amazonstraße.

Eine fahle Wintersonne. Sie sind nun also unterwegs, um am Weihnachtsgeschäft des Unterne mens teilzuhaben. Es könnte aber auch das Oster­geschäft oder irgendein anderes an irgendeine Saison oder Feierlichkeit gebundenes Geschäft sein, das hier einen Job für Sie abwerfen soll.

Vorerst jedoch ist Winter, es ist nicht mehr weit bis Weihnachten, demnächst wird es sehr kalt werden. Die Straßenbahn entfernt sich aus dem Stadtzentrum, links und rechts von der Strecke stehen viele Häuser leer. Schließlich überwiegen die Grün- und Nutzflächen, Sie nähern sich den funktionalen Regionen der Stadt: Tankstellen, Autovermietungen, Kranverleih, Bordell, leerstehende Bürokomplexe, Plattenbausiedlungen in einiger Entfernung zur Straße. Sie sind aufgeregt, das hat sich noch nicht gelegt. Sie suchen nach einer passenden Haltung, einer Denkweise, um eben nicht zu denken, dass Sie bei diesem Ausflug keiner sehen darf. Sie sitzen in der Straßenbahn und fahren zum Testarbeiten, weil das Unternehmen Sie interessiert. Sie sind ein Buchmensch und dürfen sich aus Recherchegründen für dieses Unternehmen interessieren. Sie werden aber dennoch lernen zu sagen, dass Sie das Geld eben brauchen, dass Sie einen solchen Job haben und dennoch Schriftstellerin sind und Übersetzerin. Es ist ja vieles möglich. Es wird Ihnen jedenfalls irgendwann ganz leicht fallen, all Ihre seltsamen Idealvorstellungen von Laufbahn und Leben und Erfolg über Bord zu werfen und zu sagen, dass Sie diesen eigentlichen Job haben und dazu einen weiteren. Sie werden dann wissen, dass nicht alles nur an Ihnen liegt und dass der Bauarbeiter, der vier schwere Balken schleppte, so dass sich ihm die Beine ins O bogen, dem mein kleinerer Sohn und ich zusahen, eben nicht Recht hatte, als er zu meinem Sohn sagte: Pass gut in der Schule auf, damit du sowas später mal nicht machen musst.

Sie werden immerzu darüber nachdenken, was nun eigentlich jeder für Vorstellungen vom Aufbringen des Lebensunterhalts hat, warum es zuweilen wie Versagen wirkt, vom eigentlichen Job nicht leben zu können. Sie werden sich sogar selbst überraschen, wenn Sie abkommen von allen Helden- und Erfolgsgeschichten, von Leistungsgedanken, und wenn Sie den Müßiggang preisen und sich gegen das ewige Gebot von Wettbewerb und Wachstum stellen. Sie werden dennoch manche Sätze auswerfen, die Ihren Freund veranlassen werden zu sagen, Sie seien die einzige neoliberale Linke, die er kenne. Dann denken Sie darüber nach. Immer gibt es etwas, worüber man nachdenken kann. Das sollte, so lapidar es auch klingt, auf jeden Fall Erwähnung finden.

Sie steigen als Einzige aus und wissen sogleich, wie ein Weltunternehmen aussieht. Es ist nicht zu übersehen, könnte aber übertroffen werden. Die Versandhalle ist grau und flach parallel zur Straße gebaut, ist riesig, aber diskret. Sie wirkt überschaubar, wie ein gezähmter Riese, oder wie ein Inhaftierter auf Freigang, der sich darum bemüht, weder straffällig zu werden noch so zu wirken, als könnte er es wieder werden. Am das Gelände umgebenden Zaun hängt ein Banner mit der Mitteilung, dass Mitarbeiter gesucht werden. Ihr Freund hat Ihnen gesagt: Du musst dir keine Gedanken machen, die nehmen dich auf jeden Fall. Aber Sie sind nicht so, dass Sie sich keine Gedanken machen, wobei man natürlich in Frage stellen kann, inwiefern Sorgen überhaupt Gedanken und nicht eher Reflexe sind.

Sie stehen vor dem Drehtor zum Firmengelände und drücken auf den Klingelknopf für Besucher. Sie versuchen, sich schnell zu orientieren, Sie wollen ja auch niemandem im Weg stehen. Sie folgen der Anweisung, die auf dem Schild vor Ihnen steht, und blicken, während Sie klingeln, in die Kamera schräg über Ihnen und warten. Die Drehtür bewegt sich nicht. Sie klingeln dreifach, blicken in die Kamera, wissen nicht, ob Sie mit Ihrem Blick den Türöffner auszulösen haben, wofür dieser Blick in die Kamera, den Sie wohl nicht zu beherrschen scheinen, wohl da ist. Sie kommen nicht auf die Idee, dass Ihre Blicke nur einen Bildschirm füllen, der zwischen etlichen anderen Bildschirmen am Tresen der Sicherheitsleute im Eingangsbereich steht und nicht beachtet wird und nicht wichtig ist. Ein Licht leuchtet grün, Sie drücken gegen die Drehtür, aber die Tür bewegt sich nicht. Schließlich schiebt ein Mitarbeiter seinen Mitarbeiterausweis von rechts an Ihnen vorbei vor den Sensor, drückt gegen die Drehtür, die sich sogleich zu drehen beginnt, und schickt Sie mit einem beherzten Na los hinein.

Vor Ihnen ein Betonturm, den Sie betreten, weil es naheliegt und weil der, der Sie einließ, das genauso tat. Der Turm ist gelb und wird, das werden Sie bald erfahren, aufgrund seiner Farbe Banana Tower genannt. Er ist das Treppenhaus zu einer metallenen Brücke, die wiederum zur Halle führt. An einer Wand klebt das laminierte Foto einer den Handlauf umfassenden männlichen Hand, daneben die Aufforderung Handlauf benutzen! Sie benutzen den Handlauf nicht, benutzen ihn nun demonstrativ nicht, und das ist vielleicht etwas klein­lich von Ihnen, zeigt aber, wie Sie sind: Sie empfangen nicht gern Befehle, man darf Sie aber bitten.

Ich denke an das Foto einer Preistafel aus einem Café in Nizza, das überall im Internet zu sehen war. Die Tafel erklärt, wie der Preis des Kaffees mit der Art der Bestellung zusammenhängt. Dort hängt der Preis für einen Kaffee davon ab, wie Sie ihn bestellen. Sagen Sie einen Kaffee zahlen Sie sieben Euro, einen Kaffee, bitte kostet Sie 4,25 Euro, sagen Sie jedoch Guten Tag, einen Kaffee bitte, kostet der Kaffee Sie nur noch 1,40 Euro. Leider ist es nicht so, dass Ihr Stundenlohn oder Ihre Honorare steigen, wenn man unhöflich zu Ihnen ist, Sie unter Druck setzt und respektlos behandelt.

Als Sie das Handlauffoto auch in der nächsten Ebene des Turmes entdecken, stecken Sie Ihre Hände in die Jackentaschen und streifen die in den Ecken hängenden Überwachungskameras mit kühlen Blicken. Noch haben Sie für dergleichen Kraft und Zeit.

Die Turmtreppe entlässt Sie auf der dritten Ebene. Die Brücke zum Halleneingang scheppert unter Ihren Schritten. Unten parken LKW an den Docks. Das sind die zeitweiligen Fortsätze der Halle, sie wir­ken wie festgesaugt. Ein Laster von DHL dockt ab, fährt los. Sie stolpern über eine Bodenmatte.

Und da stehen Sie nun auf hellen Bodenfliesen, rechts von Ihnen sitzen Menschen auf grauen Stühlen und warten, sitzen wie beim Arzt, aber was ist das für ein Arzt, ein Arzt für die Übriggebliebenen, ein Arzt für Betrübte, die keine großen Anstrengungen unternehmen, um sich von der speckigen, abgenutzten Wand abzuheben; die gehen alle ein. Diesen Arzt besuchen Sie auch gleich. Sie gehören jetzt nämlich dazu, auch wenn Sie das anders sehen und allerlei sagen werden, um zu betonen, dass es eine Distanz zwischen Ihnen und den anderen Mitarbeitern und erst recht zwischen Ihnen und dem Unternehmen gibt – das stimmt nicht. Sie befinden sich jetzt im Mund des Unternehmens (oder hat es eher ein Maul?) und werden anverdaut, bevor Sie den Rest des Verdauungstraktes betreten dürfen.

Also sitzen Sie, von rechts kommt der Gestank nicht gewaschener Wäsche oder von Wäsche, die in einem nicht gelüfteten Raum zum Trocknen hängt, stinkende Socken. Sie sitzen auf dem letzten freien Stuhl und atmen durch den Mund und hatten ja doch damit gerechnet, einen Termin für sich allein zu haben. Sie als ich sind eine unter vielen, aber falls Sie grundsätzlich ein Mann sein sollten, wären Sie einer unter vielen. Sie säßen da, genauso wie ich dasaß, und wie Sie als ich nun sitzen. Also sitzen Sie mal und sehen sich um: Ihnen gegenüber steht ein Tisch, der eine auf Tischböcke gelegte Tür ist, und diese Tür, die Ihnen sofort unverständlich erscheint, wird Ihnen unverständlich bleiben. Sie ist das Symbol aller Knauserigkeit und soll Jeff Bezos’ ersten Schreibtisch nachbilden, folglich den Anfang dieses Unternehmens, dieses sehr erfolgreichen Weltunternehmens. Es ist offensichtlich, dass auch ein anderes Symbol hätte gewählt werden können, weil es immer auch ein anderes Symbol gibt, jedoch nicht gewählt wurde.

Sie sehen Spuren kleinerer oder größerer Vernachlässigungen: Staub auf den Blättern der Pflanze gegenüber, die nicht vollständig ins Schloss fallende Eingangstür, die gräuliche Patina an der Wand oberhalb der Stuhllehne, wo die Köpfe und Schultern vieler Wartender sich angelehnt und verewigt haben. Die Mitarbeiter am Empfang beobachten halbherzig oder gar nicht die von den Überwachungskameras gelieferten Bilder. Hinter dem Empfangsbereich gibt eine Fensterfront den Blick ins Halleninnere frei. Dicke Lampen hängen an langen Kabeln von der Decke. Durch die Dachfenster fällt ein bescheidenes Licht nach unten. Es hält sich neben den riesigen Tageslichtleuchten zurück. Von Ihrem Platz aus sind keine Mitarbeiter in der Halle zu sehen, nur der Luftraum über ihnen.

Sie erkennen übrigens leicht, wer hier dazugehört und wer nicht. Die dazugehören, gehen mit entspannten, aber zielgerichteten Schritten über die Fliesen und sehen sich nicht um. Die meisten tragen Jeans, deren hinterer Saum ausgefranst ist. Viele kleine Saumfransen polieren den Weg hinter den Zugehörigen. Einer der Zugehörigen, ein junger Mann mit Klemmbrett in der Hand und einer langen Schlüsselkette, stellt sich vor alle Wartenden, sagt: Wer noch nicht weiß, in welchem Bereich er arbeiten will, soll sich zuvor die Informationsvideos in der Kantine ansehen.

Sie sind neugierig, wollen so viel wie möglich sehen, bedurften jedoch dieser Aufforderung, um sich von Ihrem Warteplatz zu erheben. Die Kantine ist groß, mit Sicht auf den Parkplatz, die Straßenbahngleise, die Anhöhe und das Feld auf der anderen Straßenseite. Eine Handvoll Arbeiter essen zu Mittag. Sie tragen orangene Schutzwesten und werfen kurze Blicke auf die Eintretenden. Sie grüßen, man grüßt zurück, dann stellen Sie sich mit in den Nacken gelegtem Kopf vor die an der Decke befestigten Fernseher. Sie stehen inmitten vieler. Der Film zeigt, wie eine Warenlieferung Amazon erreicht. Ein Hubwagenfahrer fährt eine riesige Kiste zu einer jungen Mitarbeiterin. Diese lächelt, öffnet den Karton, packt ihn aus. Sie scannt den Barcode der Ware, legt sie in gelbe Kisten, schiebt die Kisten auf ein Förderband. Über den Rand einer gelben Kiste ragt ein Plüschtierelch. Er lugt in die Arbeitswelt, als schaute er aus einem für eine kleine Reise gepackten Kinderrucksack. Er ist der rote Faden der Einführung, erreicht in seiner Kiste das Lager, wird dort von einem Mitarbeiter aus der Kiste genommen. Erneut wird der Barcode gescannt und der Elch danach in ein Regal gesetzt. Man muss gut laufen können, sagt der Mitarbeiter im Film, er gehe täglich fast zehn Kilometer, er spare sich somit das Fitnessstudio. Ein anderer Mitarbeiter nimmt den Elch aus dem Regal, scannt den Barcode, packt ihn in eine gelbe Kiste. Erneut ragt der Elch über den Kistenrand, reist über Transportbänder in die Verpackstation, wird schließlich zum Versand an einen Käufer in einen Karton gelegt.

Sie denken, das ist ein Spiel, alle spielen, und natürlich, so ist es, es ist ein Spiel, ein Gesellschaftsspiel, und Sie spielen nicht gern Gesellschafts­spiele, das war schon immer so. Sie sind, das kann man sagen, nicht so vertraut damit, wenn alle irgendwelche Rollen spielen, das heißt Funktionen ausüben. Sie bevorzugen es, auf Menschen zu treffen, die sind, was sie tun, und Sie wurden vor einigen Jahren gefragt, ob es Ihnen um Authentizität gehe. Das war die Frage eines etwas irritierten Journalisten, die Sie bejahten. Sie wunderten sich, was da nun für diesen Journalisten dagegen­­sprach. Ich sage Ihnen, nichts spricht dage­gen, es spricht ein­­fach nichts gegen Authentizität, aber ich kann Sie, wenn Sie das beruhigt, auch Stimmigkeit nennen.

Sie stehen nun jedenfalls in einer Schlange, Sie stehen auch nicht gern in Schlangen, aber wer tut das schon – und zudem: Das wird von nun an unvermeidlich sein. Sie sollen der am Ende der Schlange hinter einem Schreibtisch sitzenden Mitarbeiterin sagen, in welchem Bereich Sie arbeiten wollen. Die Mitarbeiterin hat etliche weiße Zettel und hält einen zerkratzten Kugelschreiber in der Hand. Auch in einem Weltunternehmen ist es klein und handschriftlich und improvisiert. Sie sind dran und nennen Ihren Namen. Die Mitarbeiterin steht auf und ruft an Ihnen vorbei: Wie soll ich denn arbeiten, wenn hier alle so leise sprechen und ich bei jedem dreimal nachfragen muss? Also reden Sie etwas lauter. Ihnen ist, als würden Sie ein Geheimnis verraten. Hinter Ihnen kichern zwei Mädchen, die wirken gänzlich jung und jugendlich. Vor ein paar Wochen war es Ihnen so vorgekommen, als wären Sie in etwa auch so jung wie diese beiden. Die beiden lachen immer mehr, aber, natürlich, es ist nur eine Frage der Zeit, dass es auch denen ernst werden wird.

Was Sie jetzt schon wissen: Sie sind zum Beispiel umgeben von Leuten, die einfach nur einen Job suchen, denen es egal ist, wo sie arbeiten. Es gibt die, die noch andere Arbeit finden könnten, die eher aus Zufall oder Einfallslosigkeit, nicht aus Not hier sind. Es gibt jene, die grundsätzlich noch andere Möglichkeiten als diese haben oder haben könnten, nur ist im aktuellen Moment der Wurm drin oder dergleichen. Es gibt auch solche, die noch andere Möglichkeiten zu haben scheinen, nur sind diese anderen Möglichkeiten auch nicht besser. Und es gibt die, deren andere Möglichkeiten schlechter sind. Zudem gibt es jene, die anzunehmen scheinen, sie hätten eine Möglichkeit, hier einen Job zu bekommen, die aber diese Möglichkeit nicht haben. Alle lassen sich einteilen in jene, die die Agentur für Arbeit hergeschickt hat, und jene, die nicht die Agentur geschickt hat; das sind die wenigsten.

Ja, Sie können sich noch ein paar Gedanken machen und Ihren Blick schweifen lassen. Sie wissen schon eine Menge von diesem Unternehmen, von der Sorte Arbeit, die Ihnen hier blüht, vermutlich wissen Sie alles, aber noch ist das ein Ausflug, ein Abenteuer, Sie machen sich gedanklich Notizen. Das alles ist überaus spannend. Zwar sind Sie nicht hier, um darüber zu schreiben, aber Sie haben nichts gegen Erfahrungen und Einblicke in Unternehmen, denen Sie sonst nur als Oberfläche im Internet begegnen.

Alles dauert, man geht hier großzügig mit Ihrer Zeit um. Man hat Ihre Zeit eigentlich gar nicht im Blick. Von Anfang an stehen Sie zur Verfügung. Sie sind ein Listenelement. Sie sitzen nun in einem weißen kalten Raum auf einer Biergartenbank und warten inmitten anderer Testarbeiter auf den praktischen Auswahltest. Sie sind nervös und haben Angst zu versagen. Sie wollen diesen Job nicht, aber Sie sind ja vernünftig und haben Kinder, die alle Nase lang Wünsche haben, und auch Ihr Freund hat ein paar Wünsche, und Sie selbst haben ebenso Wünsche, ziemlich reduzierte allerdings, die sich meistens als Bedürfnisse ausgeben. Sie brauchen vollkommen jahreszeitenunabhängig eben Geld, da sind Sie wie alle, und das kann, wenn Sie wollen, ja auch eine beruhigende Wahrheit sein oder ein Ausgangspunkt dafür, es irgendwann anders zu versuchen und die Wahrheit nicht für unumstößlich zu halten.

Rechts von Ihnen befindet sich ein durch Stellwände abgetrennter Bereich, in dem man sich über den Arbeitsschutz informieren kann. Sie sehen das auf A4 vergrößerte Foto eines geschwollenen Daumens, der kurz vor der Aufnahme noch geblutet haben muss, wie eine das Nagelbett durchziehende Kruste und eine dünne Blutspur Richtung Daumenkuppe nahelegen. Sie wenden sich ab, Ihnen ist ein wenig schlecht und Sie kriegen diesen Daumen nicht aus dem Kopf. Wenn man empfindlich ist, ist man in allen Belangen empfindlich, da kommt einem immer was in die Quere, und das werden Sie schon noch merken, wie immer etwas kommt, womit nicht gerechnet werden kann und was nicht so leicht zu verkraften ist für Seelchen wie Sie, die eher zum Glück als zum Unglück taugen. Wobei sofort gesagt werden muss, dass grundsätzlich niemand zum Unglück taugt, dass dieser Sachverhalt jedoch, obwohl man das kaum glauben will, einfach nicht ausreichend Verbreitung und Anerkennung findet.

Hinter Ihnen sitzt ein Mann in Loden. Er ist knapp fünfzig und wirkt, als hätte er soeben einen Rundgang über sein enormes Grundstück absolviert, als sehe er auch hier nur nach dem Rechten. Ein Cheftyp. Sie sind übrigens, aber das ahnen Sie ja nun vielleicht auch schon, kein Cheftyp.

Der Raum ist eine gut präparierte Bühne, die die verschiedenen Arbeitsbereiche des Unternehmens vorstellt.

etwas

Als Sie aufgerufen werden, gehen Sie durch einen Strom warmer, von der Decke kommender Luft. Sie grüßen den Prüfer freundlich, das ist so Ihre Art, und es ist eigentlich nicht erwähnenswert, aber die Umstände machen es erwähnenswert und man könnte vorgreifend sagen: Wenn es Ihnen weniger wichtig wäre, freundlich zu grüßen und gegrüßt zu werden, würde Ihnen hier im Unternehmen einiges leichter fallen. Aber dermaßen linear wird es nicht zugehen, und es steckt ohnehin nur ein Fünkchen Wahrheit darin. Der Prüfer reicht Ihnen ein Blatt, das Sie sich durchlesen sollen. Darauf finden sich die Anleitungen zum richtigen, also rückenfreundlichen Heben und Abstellen der Kisten. Sie haben den Eindruck, es werde mehr Lese- als Testarbeitszeit gegeben. Ihnen ist zum Lachen zumute. Sie wollen den Zettel hochhalten und sagen: Im Ernst? Sie erwägen auch, den Vorschlag zu machen, schnell alle Rechtschreibfehler des kleinen Textes zu korrigieren. Aber Sie beginnen einfach mit der Testarbeit. Demonstrativ und deutlich heben Sie die Kisten der Regel entsprechend. Sie gehen tief in die Knie und stehen wieder auf, ohne den Rücken über Gebühr zu beugen. Neben Ihnen erhält der dünne, ältere Testarbeiter eine zweite Chance. Da können Sie kaum hinsehen, er stellt sich ungeschickt an. Sie wollen nicht besser sein als er und erst recht nicht schneller. Aber als wären Sie ein großer starker Kerl, der jeden hier aus dem Stand in die Luft werfen könnte, bewegen Sie im Vergleich zum Testarbeiter neben Ihnen die Kisten. Nachdem alle Kisten umgestapelt sind, gehen Sie mit dem Mann zur Rechnerstation. Sie sollen Angaben aus einer linken Tabellenspalte in die rechte übertragen. Links sind Fehler oder typographische Auffälligkeiten eingearbeitet worden, die nicht korrigiert werden, sondern genauso in der rechten Spalte erscheinen müssen. Später werden Sie sich fragen, warum Sie nicht einfach auf die Idee kamen, die Angaben von links nach rechts zu kopieren. Sie tippen alles sorgsam ab, geraten in Zeitnot, finden es am schwierigsten, an diesem normalhohen Schreibtisch ohne Stuhl gebeugt stehen zu müssen und werden da­rüber nervös.

Der Testarbeiter darf sich wieder setzen. Sie gehen weiter zur Packstation. Sie verpacken Sendungen, halten Produkte in der Hand, und das ist ein Spiel, das Sie kennen: Sie sind nämlich die Tochter einer ehemaligen Postamtsleiterin, die lange Kind­heitsnachmittage oder Fiebertage halb spielend, halb mitarbeitend am Schreibtisch der Mutter oder zwischen den Regalen des Paketschalters verbrachte, Spielpakete einpackend, Spielpakete verstauend, echte Pakete aus dem Regal suchend und zur Ausgabe schleppend. Und Sie sind Kundin des Unternehmens, das Sie nun schon wieder auf der Biergartenbank warten lässt.

Wenn Sie diesen Job bekommen, wollen Sie Ihr an die Grenze seiner Dehnbarkeit geratenes Konto auffüllen und die Bank wechseln. Davon träumen Sie. Sie würden Ihre jetzige Bank verlassen, von der Sie den Eindruck haben, sie halte immer dann Geld zurück, wenn es ihr, der Bank, schlecht gehe.

Zugleich überkriecht Sie eine ätzende Sorge und teilt Ihnen mit, Sie werden, wenn man Sie hier und jetzt nicht nimmt, höchstens von jemandem angestellt, der noch weniger bezahlt. Wenn Sie jetzt nicht genommen werden, nimmt Sie vielleicht gar keiner. Sie werden sofort steinalt und hölzern und wie aus einem dunklen Bergwerk kriechend. Sie haben ganz vergessen, dass Sie ja grundsätzlich einen Beruf haben und nur hier sind, um die Misere des Moments zu lindern. Etwas in Ihnen ist ganz grundsätzlich beunruhigt und wird sich, obwohl Sie diesen Job bekommen, nicht mehr beruhigen lassen. Sie sind spätestens von nun an aus dem Häuschen.