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In Liebe für Kichererbse, Kleinkröte und Käpt’n F.

Es ist früh im Jahr. Noch ist der Schnee im Funklerwald nicht geschmolzen. Die Märzsonne steigt langsam höher, und mit ihrer Wärme beginnt sich das verborgene Leben zu regen. Eine kleine Webespinne kommt aus ihrem Rindenversteck und spinnt den ersten silbernen Faden.

Vor dem Beginn

Der Wald, in dem Lumi, das Luchsmädchen, heranwuchs, hieß Funklerwald. Er war groß, so groß wie der weite Ozean, und sein Blätterdach funkelte in der Sonne, als wäre es aus Seide. Jeder Baum des Waldes, selbst der allerkleinste, webte sein Muster in diese Pracht: die Buchen mit ihren schlanken Stämmen, die Eichen, deren Rinde über die Jahrhunderte runzelig geworden war, der Ahorn mit seinen an fünf Enden spitz zulaufenden Blättern und die Fichten, Kiefern und Tannen, die ihre Nadelmäntel das ganze Jahr trugen.

Der Baum, der über dem Luchsbau aufragte, war ein großer Ahorn. Seine Wurzeln waren zwischen den Felsen tief in die Erde hineingewachsen, eine reichte sogar bis in die Schlafhöhle von Lumi und ihrer Tante Kette.

Lumi konnte sich nicht an die Nacht erinnern, in der ihre Tante sie in den Bau gebracht hatte. Sie wusste nichts von dem Schneesturm, der damals über dem Funklerwald tobte, und dem Heulen der Wölfe, das über den zugefrorenen See bis zu Kettes Bau flog und sie aus ihrer Höhle trieb. Sie wusste nicht, dass die Wölfe ihre Mutter in die Jahrtausendschlucht gejagt hatten, aus der es keine Wiederkehr gab.

Von alldem erzählte Kette Lumi nichts. Die Luchsin wärmte und sorgte für Lumi, als wäre sie ihre eigene Tochter. Und sie nahm sich vor, sie vor allen Gefahren des Funklerwalds zu beschützen.

 

So verbrachte Lumi ihre ersten Wochen damit, tief unten im Luchsbau jeden Winkel ihrer Schlafhöhle zu erkunden. Doch eines Morgens, als Kette zur Jagd aufbrach, blickte Lumi ihr noch lange hinterher. Wie es da draußen wohl aussieht?, fragte sie sich. Gab es wirklich Bäume mit gezackten Blättern, wie der Dachs Zottel sie in den Sand der Höhle gemalt hatte? Und fliegende Käfer, die im Dunkeln leuchteten? Oder sogar Waldtrolle, die zwischen den Felsen hausten?

Schritt für Schritt näherte Lumi sich dem Ausgang der Schlafhöhle, bis ihre Vorderpfoten die Wurzel berührten, die quer zur Höhlenöffnung wuchs. Für ein kleines Luchsmädchen ist es draußen sehr gefährlich, hatte Kette ihr eingeschärft. Die pinselfeinen Haare auf Lumis Ohren zitterten vor Aufregung. Sie wollte ja nur ein wenig im Gang vor der Höhle rumschnuppern. Das war bestimmt nicht gefährlich.

Lumi setzte die erste Pfote in den Gang. Unter ihren weichen Ballen fühlte sie den kühlen Stein, und um ihre Nase wehte ein frischer Luftzug. Roch das gut!

Nur noch ein paar Schritte, dachte Lumi, dann kehr ich um.

Doch je näher sie dem Ausgang des Luchsbaus kam, desto stärker lockte sie der unbekannte Duft.

Vor ihr machte der Tunnel eine Biegung.

Jetzt sollte ich wirklich umkehren, sagte Lumi streng zu sich selbst.

Doch sie lief weiter, bis sie am Ende des Gangs einen leuchtenden Fleck sah. Das Helle kitzelte in ihren Augen. Und dazu hörte sie ein geheimnisvolles Rauschen.

»Beim fünfzackigen Ahornblatt! Ich sage dir, Zottel, sie ist noch viel zu klein!«

Lumi blieb stehen. Das war Kette!

»Aber ist sie nicht genauso groß wie das Fuchsmädchen und der Wildschweinjunge?«

Das war die Stimme des Dachses.

»Mag schon sein«, knurrte Kette. »Aber …«

Doch der alte Zottel ließ sie nicht ausreden. »Und stromern diese zwei nicht schon eine ganze Weile im Funklerwald herum, wie es ihnen gefällt?«

Lumi spitzte die Ohren. Davon hatte ihre Tante kein Wort erzählt!

»Was geht es mich an, was die Füchse oder Wildschweine tun? Lumi ist ohnehin noch zu ängstlich«, stellte Kette fest. »Sie würde sich gar nicht aus der Höhle trauen.«

Lumi trat aus dem Luchsbau hinaus ins Sonnenlicht.

»Klar trau ich mich!«, sagte sie.

»Lumi«, stieß ihre Tante hervor. »Sofort zurück in den Bau!«

Lumi schaute sich um.

Wie groß der Wald war!

Wie hoch die Bäume wuchsen!

Bis in den Himmel.

Mit einem Sprung war sie an der Kante der Felsplatte und schnupperte in die Morgenluft. Sie blickte von den tanzenden Blättern zu ihrer Tante.

»Sieh nur«, rief sie. »Sie winken mir zu!«

»Das ist nur der Wind«, schnaubte Kette.

Lumi legte ihre Stirn an Kettes.

»Darf ich auch herumstromern wie das Fuchsmädchen und der Wildschweinjunge?«

Zottel ließ sich neben der Luchsin auf sein breites Hinterteil plumpsen.

»Du kannst sie sowieso nicht für immer im Bau behalten.«

»Nein«, knurrte Kette ihn an. Dann leckte sie Lumi übers Ohr.

»Na komm, ich zeig dir unseren Wald.«

Der feine Faden, von Zweig zu Zweig gesponnen, ist gerissen. Von Raureif bedeckt, kleben die kurzen Enden an der Rinde. Bis eine zweite Spinne von warmen Sonnenflecken angelockt wird und ihren Weg über den großen Ast findet. Mit ihrem Garn fügt sie die Enden neu zusammen und webt Faden für Faden diese Geschichte.

1. Kapitel

Endlich war es so weit: Im Funklerwald hatte die Zeit der Blaubeeren begonnen. Ihr Duft legte den Waldboden mit einem Teppich aus, der jede andere Fährte zudeckte. Lumi lachte in sich hinein. Kluge Rissa, dachte sie. Ganz bestimmt war es ihre Idee gewesen, den Weg durch die Blaubeeren zu nehmen und Lumi so abzuhängen. Wenn sie Spurensucher spielten, gewann das Fuchsmädchen fast immer.

Lumi senkte ihre Nase und folgte der Linie der Sträucher. Eine kleine Füchsin wie Rissa konnte leicht zwischen den Büschen hindurchlaufen, ohne Spuren zu hinterlassen. Aber ein kräftiger Wildschweinjunge wie Borste konnte das nicht. Auch wenn er immer wieder versuchte, es Rissa nachzutun – seine Hufe stanzten Löcher in das weiche Laub, und dort, wo er sich durch das Unterholz zwängte, brachen die Äste.

Von den Zweigen der Blaubeerbüsche war jedoch kein einziger abgeknickt. Wo steckten ihre Freunde nur?

Lumi schaute zwischen den Büschen zur Lichtung hinüber. Auf der anderen Seite, unter den Eichen, lebten die Wildschweine. Ob Borste sich durch das hohe Gras nach Hause geschlichen hatte? Nein, dachte Lumi. Die zwei hockten ganz bestimmt in der Nähe und warteten nur darauf, dass sie endlich ihre Spuren fand. Was Lumi brauchte, war ein Ausguck, von dem aus sie einen besseren Überblick hatte. Der abgebrochene Baumstumpf hinter ihr war dafür genau richtig. Mit einem kräftigen Satz sprang Lumi hinauf und blickte sich um. Weit, weit über ihr spannten die Buchen ihr mächtiges Kronendach auf. Helle Lichtflecken tanzten über die Rinde bis hinunter zu den Wurzeln. Lumi kniff die Augen zusammen. Spielte ihr das Sonnenlicht einen Streich, oder bewegte sich dort unten eine der Baumwurzeln?

»Borste!«, rief Lumi und hüpfte von dem Stumpf. Mit zwei Sprüngen war sie bei der Wurzel. »Hab dich!«

Borste reckte erstaunt seine dunkle Schnauze zu ihr hoch und kroch aus der Mulde unter den Wurzeln.

»Wie hast du mich gefunden?«, grunzte er. »Ich hab mich doch ganz gründlich im Schlamm gewälzt, damit du mich nicht wittern kannst.«

»Ich hab dich auch nicht gewittert«, sagte Lumi grinsend. »Ich hab gesehen, wie sich hier was bewegt hat.«

»Hab versucht, an die Blaubeeren zu kommen«, erklärte Borste und lief zu den Sträuchern.

Lumi folgte ihm.

»Und Rissa? Weißt du, in welche Richtung sie gelaufen ist?«

Borste wies schmatzend über das Blaubeerfeld. »Da lang.«

Lumi versuchte, sich in das Fuchsmädchen hineinzuversetzen. Wo hätte sie sich an Rissas Stelle versteckt?

»Wollen wir sie nicht einfach rufen?«, schlug Borste vor. »Wir finden ihre Fährte doch sowieso nicht!«

Aber so schnell wollte Lumi nicht aufgeben. »Lass uns zwischen den Sträuchern suchen.«

»In Ordnung, ich übernehme die Blaubeeren.« Borste schnüffelte kurz zwischen den Büschen, dann fing er wieder an zu naschen.

Die Nase fest auf den Boden gepresst, pirschte Lumi weiter. Plötzlich entdeckte sie zwischen den Blättern ein Ding, das wie ein schmaler roter Pilz aussah. Ein Pilz mit ganz feinen Haaren. Fuchshaaren! Lumi gab Borste ein Zeichen, dann versetzte sie dem Pilzdings einen Schlag mit der Tatze.

Blätter stoben auseinander, und mit einem Fauchen sprang Rissa aus ihrem Versteck.

»Super Tarnung!«, rief Lumi. »Fast wär ich an deiner Schwanzspitze vorbeigelaufen!«

»Gefunden!«, johlte Borste.

Rissa schüttelte die Blätter ab.

»Ha, aber nur, weil ich Lumi geholfen hab. Sonst hätte sie meine Spur morgen noch gesucht!«

»Von wegen«, sagte Lumi lachend. »Du hast einfach vergessen, deinen Schwanz unter den Blättern zu verstecken.«

»Quatsch!«, grummelte Rissa.

Lumi und Borste grinsten sich an. Sie wussten beide, dass ihre Freundin keine gute Verliererin war.

»Ist ja auch egal.« Lumi stupste Rissa fröhlich an. »Ich hab dich nicht einmal von meinem Ausguck aus gesehen.« Sie drehte sich zum Baumstumpf um. »Schau, da oben hab ich …«

Lumi verstummte. Denn auf dem Baumstumpf thronte Kette. Lumi war, als wäre ihre Tante aus dem Nichts aufgetaucht. Und ihre schmalen Augen funkelten sie streng an.

2. Kapitel

»Hast du schon lange dort gesessen?«, fragte Lumi. »Ich hab dich gar nicht gehört!«

»Weil du nicht aufmerksam bist!«, schnaubte Kette.

»Och, wir haben Spurensucher gespielt, und ich hab Rissa gefunden, obwohl sie sich ins Laub eingegraben hat!«

»Du hast Rissa entdeckt, weil du sie gesucht hast. Aber du musst lernen, auch das zu entdecken, was du nicht suchst.« Lumis Tante blieb stehen und wartete, bis Lumi neben sie kam. »Schließ die Augen.«

Lumi schloss die Augen.

»Wir Luchse sehen mit all unseren Sinnen: unserer Nase, unseren Ohren, unseren Pfoten.«

Lumi spürte, dass Kette sich ein paar Meter von ihr entfernte.

»Eine gute Jägerin durchdringt den Wald selbst mit geschlossenen Augen. Also, sag mir, was du wahrnimmst.«

Lumi wusste, was sie wahrnehmen sollte: zum Beispiel eine Maus, die sich unter einem Stein versteckte. Ein Kaninchen, das am abfallenden Seeufer zu seinem Bau hüpfte. Oder ein Eichhörnchen, das nur ein paar Stämme weiter die Rinde hochlief. Alle Jäger im Funklerwald konnten die Tiere, die sie jagten, so aufspüren. Rissa hatte ihr erzählt, dass sie den Herzschlag einer Maus auf fünfzig Meter in den Pfoten fühlte.

Aber Lumi konnte das nicht. Klar, wenn der Wind günstig stand, witterte sie die Maus, das Kaninchen oder das Eichhörnchen. Aber das tat sogar Borste, und der war schließlich ein Wühler und kein Jäger. Wenn Lumi die Augen schloss, wurden nicht die Tiere sichtbar, die sich in der Nähe befanden – sondern die Bäume. Immer wieder schien es ihr, als hörte sie im Knacken und Rascheln der Zweige ein Flüstern. Dann wieder spürte sie ein Rauschen, das von den Wurzeln in die jungen Stämme strömte und sie in die Höhe schob. Wie jetzt, ganz dicht neben ihr!

»Und?«, fragte Kette schneidend. »Was hörst du?«

Lumi sah schnell nach rechts, und tatsächlich – dort wuchs ein junger Ahorntrieb. Sie strahlte ihre Tante an.

»Ich hab gehört, wie der Ahorn gewachsen ist!«

»Unsinn!«, erwiderte die große Luchsin schroff. »Kein Luchs kann hören, wie die Bäume wachsen.«

»Es ist auch mehr so ein Gefühl«, erklärte Lumi.

Mit einem ungeduldigen Schnauben wandte Kette den Kopf ab.

»Und was ist mit dem Reh, das eben vor uns den Pfad gekreuzt hat?«

»Welches Reh?«, fragte Lumi überrascht.

»Lumi, ich weiß wirklich nicht, was ich mit dir anfangen soll!«, schimpfte Kette. »Deine Mutter konnte eine Maus auf dreihundert Meter Entfernung hören und ein Reh auf fünfhundert Meter sehen. Flocke war eine der besten Jägerinnen im ganzen Funklerwald! Und du bemerkst ein Tier erst, wenn es dir fast auf die Tatze tritt!«

Lumi sackte in sich zusammen. Warum hatte sie das Jagdtalent ihrer Mutter bloß nicht geerbt? Gab es denn gar keine Ähnlichkeit zwischen ihnen? Sie beschloss, noch mehr zu üben. Sie wollte ja eine gute Jägerin werden. So gut wie Flocke. Oder zumindest so gut wie Rissa.

Still lief sie hinter Kette her, die auf den See zuhielt.

Inzwischen war die Sonne ganz hinter den Funklerbergen untergegangen, und mit der Dämmerung erwachte der Wald zum Leben. Lumi entdeckte den silbergrauen Siebenschläfer, der auf der Pfote kehrtmachte und sich hastig in einem umgestürzten, hohlen Baum versteckte, als er die zwei Luchse bemerkte. Sie sah die Rehe, die am anderen Ufer standen und tranken. Und oben in der Kiefer, deren Zweige über das Wasser ragten, saß Raufuß, der kleine Kauz, und begrüßte sie mit seinem Ruf: »Ruschuuuh!«

Leise schwappten die Wellen gegen die großen, flachen Steine, die im Wasser lagen. Kette gab Lumi ein Zeichen, am Ufer zu bleiben und ihr zuzusehen. Ihr kantiger Körper hob sich dunkel vor dem schimmernden See ab. Die Luchsin duckte sich, bis ihr Kopf beinahe die Wasseroberfläche berührte. Lumi sah, wie Kette die Fische beobachtete, die dicht darunter schwammen. Plitsch! Die große Tatze der Luchsin schoss durchs Wasser und wirbelte einen glänzenden Fisch in die Luft. Mit einem zweiten Schlag schleuderte Kette ihn zu Lumi, die ihn hungrig verschlang.

»Jetzt du.«

Lumi trat neben Kette auf den Stein und beugte sich über das Wasser.

»Was soll ich machen?«

»Sei ganz still«, flüsterte Kette. »Du darfst nicht mal mit dem Ohr zucken. Warte, bis sie wieder nach oben ins wärmere Wasser kommen.«

Lumi folgte dem Fischschwarm mit den Augen. Wie seltsam, dachte sie. Die sehen ja aus wie kleine Tannenzapfen. Und noch etwas fiel ihr auf.

»Guck mal, sie bewegen sich alle in dieselbe Richtung!«

»Schhhh!«, machte Kette.

Langsam stiegen die Fische höher. Nun bemerkte Lumi die dunklen Flecken auf ihren Körpern. Genau wie in ihrem eigenen Fell! Oder auf der hellen Rinde der Birken. Wie seltsam, dass so verschiedene Wesen wie Fische, Luchse und sogar Birken sich ähneln konnten.

»Worauf wartest du?«, zischte Kette.

Lumi drehte sich zu ihr. »Hast du gesehen, Tante, die Fische haben genau die gleichen Flecken wie ich!«

Doch Kette schien von Lumis Entdeckung kein bisschen begeistert.

»Krallenbruch und Molchgrütze!«, fauchte sie. »Ein Schwarm Fische schwimmt unter deiner Schnauze, und du lässt dich von ein paar Flecken ablenken!?«

Lumi runzelte die Stirn. »Aber das ist doch merkwürdig! Die Birken haben auch solche Flecken. Ist das so, weil wir alle zum Funklerwald gehören? Sind das Funklerwaldflecken?«

»Ich weiß nichts von Funklerwaldflecken!« Kette schüttelte den Kopf. »Aber ich weiß, dass du im nächsten Herbst nichts zu fressen haben wirst, wenn du nicht langsam lernst zu jagen! Von Neugier wird niemand satt, Lumi.«

»Nein, Tante«, sagte Lumi.

Aber still für sich dachte sie, dass es bis zum Herbst noch viele Monde waren.

 

An diesem Abend ließ Kette Lumi allein auf dem Stein am großen See zurück. Lumi durfte erst dann zur Luchshöhle heimkehren, wenn sie drei Fische gefangen hatte. Drei quicklebendige, flinke Fische! Und dabei hatte Lumi in ihrem ganzen Leben noch keinen einzigen Fisch gefangen!

Bald ging die Dämmerung in die Nacht über. Das Wasser des Sees verwandelte sich in einen dunklen Spiegel, auf den Tropfen für Tropfen das Licht der ersten Sterne fiel. Lumi legte sich auf den Stein und tauchte mit ihrem Vorderbein blind ins Wasser, als sie hinter sich ein Flattern hörte.

»Ruschuuuh! Luchsmädchen, was tust du?« Die Flügel des Kauzes rauschten dicht an ihr vorüber. »Ruschuuuh, warte, bis sie springen, dann kann die Jagd gelingen!«

Mit ausgebreiteten Schwingen flog Raufuß über den See und verschwand zwischen den dunklen Wipfeln der Eichen.

Na gut, dachte Lumi. Dann warte ich eben, bis die Fische springen. Ich warte. Ich warte. Ich warte. So saß sie unbeweglich am Rand des Steins und ließ das schwarze Wasser keine Sekunde aus den Augen.

Das Wasser kräuselte sich.

Die Wipfel der Bäume wiegten sich.

Die Mondsichel schob sich über den fedrigen Saum der Tannen.

Aus dem Schilf klangen die Rufe der Frösche.

Mit einem perlenden Ton sprangen zwei Fische aus dem Wasser, flogen in einem Bogen und tauchten zurück in den See. Lumis Pfote schnellte vor. Zu spät! Der See hatte die Fische wieder verschluckt.

Lumis Krallen zuckten vor Aufregung. Sie war so nah dran gewesen. So nah! Beim nächsten Mal würde sie es schaffen. Tief beugte sie sich über das Wasser, die Pfote bereit. Sie sah, wie der glänzende Kopf eines Fisches durch die Wasseroberfläche stieß, und wollte eben zupacken, als ein Flüstern sie herumfahren ließ.

»Kommt!«, wisperte jemand.

Lumi schüttelte sich. Träumte sie? Ihre Ohren drehten sich in alle Richtungen.

»Hier lang, Papa. Ich hab eine Höhle entdeckt!«

Da war die Stimme wieder!

Lumi huschte vom Stein und duckte sich. Die Stimme klang irgendwie jung. Beinahe wie Borstes Stimme. Machte der Wildschweinjunge mit seinem Vater eine Nachtwanderung? Lumi warf einen Blick zurück zum See. Was würde Kette sagen, wenn sie ohne Fische zum Bau zurückkam? Das mochte Lumi sich gar nicht vorstellen. Nein, sie wollte ihrer Tante beweisen, dass doch eine gute Jägerin in ihr steckte. Lumi kletterte gerade zurück auf den Stein, als nicht weit von ihr jemand keuchte.

»Langsamer, mein Sohn!«

Lumi verharrte regungslos. Das klang gar nicht nach Borstes Vater. Lumi war sich sicher, dass sie diese Stimme noch nie gehört hatte. Und jetzt war da auch noch so ein komisches Schlurfen und Grunzen!

Wer schlich hier am See entlang?

Lumi vergaß die Fischjagd und kroch über den Boden. Das Schlurfen und Grunzen entfernte sich. Vielleicht, dachte Lumi, sind es auch nur zwei Igel. Grunzten die nicht ganz ähnlich? Sie setzte ihre Pfoten vorsichtig, um nicht auf etwas Stacheliges zu treten. So stieg sie die Böschung hoch, doch als sie durch das Gestrüpp spähte, konnte sie zwischen den Bäumen nichts entdecken. Kein Wildschwein, keinen Igel, nicht einmal die kleinste Maus.

Nur der Wind strich leise durch die Zweige.

Ein Gähnen stieg in Lumi auf.

Hatte sie sich die Stimmen doch nur eingebildet?

3. Kapitel

Als Lumi am nächsten Morgen im Luchsbau die Augen aufschlug, fielen ihr die Stimmen sofort wieder ein.

Hier lang, Papa. Ich hab eine Höhle entdeckt.

Lumi rollte sich über die Seite auf ihre Pfoten. Irgendwann während der Fischjagd musste sie das wohl geträumt haben. Kein Wunder, so lange, wie sie auf den See gestarrt hatte. Lumi streckte sich. Blöd war nur, dass sie wegen dieses Traums ihren Auftrag nicht erfüllt hatte. Als der Mond langsam weiterzog, hatten die Fische sich nicht mehr an der Wasseroberfläche gezeigt, und sie war todmüde zum Bau zurückgekehrt.

Lumi blickte zu Kettes Schlafmulde. Der Platz war leer. Im Sommer brach die große Luchsin oft vor Sonnenaufgang zu einer ersten Pirsch durch den Funklerwald auf.

Aber Lumi wusste ohnehin ganz genau, was ihre Tante zu dem Traum sagen würde: »Erst hörst du Bäume wachsen und jetzt auch noch Tiere, die es gar nicht gibt!« Vielleicht konnte sie ja später mit Zottel darüber sprechen. Der alte Dachs kannte sich mit Träumen aus. Er war es auch gewesen, der Lumi erzählt hatte, dass Bäume ebenso träumten wie Tiere.

Aber bevor sie Zottel in seiner Höhle besuchen konnte, musste sie unbedingt etwas fressen. Ihr Magen knurrte vor Hunger. Kein Wunder, bis auf den einen kleinen Fisch am Abend zuvor hatte sie nichts zu fressen bekommen. Mit federnden Schritten lief Lumi durch den schmalen Verbindungsgang, der von der Schlafhöhle zu der überdachten Felsplatte führte. Der Duft von feuchter Erde und Moos wehte ihr entgegen, von Waldblumen … und etwas Köstlichem! Lumi lief das Wasser im Maul zusammen, als sie die Maus entdeckte, die hinter dem Stein neben dem Höhleneingang lag. Die musste Kette ihr dagelassen haben. Und während Lumi die Maus mit einem Happs hinunterschlang, nahm sie sich vor, heute wirklich erst in den Bau zurückzukehren, wenn sie drei Fische gefangen hatte. Mindestens!

 

Gestärkt und mit frischem Mut machte Lumi sich auf den Weg. Sie sprang die Felsen hinunter und trank von dem klaren Wasser des schmalen Bachlaufs. Der Morgentau glänzte in den Gräsern, und als Lumi das Seeufer erreichte, glitt direkt vor ihr eine Gruppe Graugänse über das Wasser.

Lumi duckte sich in das hohe Gras. Mit einer Gans konnte sie es noch nicht aufnehmen, aber die Fische sollten sich heute vor ihr hüten! Sie malte sich gerade in den leuchtendsten Farben aus, wie Kette sie loben würde, wenn sie mit einem ganzen Bündel Fische zum Luchsbau zurückkehrte, als ein grässliches Geräusch sie in der Bewegung erstarren ließ.

Lumi kannte die Laute des Funklerwalds: das Klopfen des Spechts und das Nagen des Bibers, den Hufschlag der Hirsche und das Getrappel der Wildschweine, das Bellen der Füchse und den Ruf des Kauzes, das Gurgeln der Waldbäche und das dumpfe Tosen, das weit, weit in der Ferne von der Jahrtausendschlucht hinter den Funklerfelsen erzählte. Aber dieses hässliche Schaben hatte sie noch nicht gehört.

Mit gesträubtem Fell und angelegten Ohren bewegte Lumi sich Pfote für Pfote auf die Steine zu, von wo das Schaben kam. Sie schnupperte. Was war das? Von den Steinen stieg ihr der Gestank von fauligem Wasser und versengtem Fell in die Nase. Bereit, im Notfall sofort zu fliehen, drückte sie sich am Stein entlang, bis sie zum Wasser spähen konnte.

Da saß ein graues Wesen.

Es war ein bisschen kleiner als Lumi, hockte auf seinen Hinterläufen und hielt etwas in den Vorderpfoten, das Lumi auf den ersten Blick nicht erkennen konnte. Sein Fell war schmutzverkrustet, und es hatte einen buschigen, schwarz-weiß gestreiften Schwanz.

Erschrocken zuckte Lumi zurück. So etwas hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nicht gesehen! War das überhaupt ein Tier? Oder gar einer der Waldtrolle, von denen Zottel ihr erzählt hatte?

Mit angehaltenem Atem lauschte Lumi. Als das grässliche Schaben erneut einsetzte, schob sie sich wieder vor. Jetzt konnte sie das Gesicht sehen. Huuu!, durchfuhr es sie. Das Wesen hatte blitzende Augen, und seine Ohren liefen spitz zu. Aber das Seltsamste war: Um die Augen trug es eine schwarze Maske!

Hinter ihm am Strand entdeckte Lumi einen Haufen Schneckenhäuser. Und nun erkannte sie auch, woher das Geräusch kam: von den krallenbesetzten Pfoten, die beim Waschen des Schneckenhauses über die Schale kratzten.

Lautlos wie sie gekommen war, schlich Lumi sich vom Seeufer fort. Ihre Hinterläufe zitterten vor Aufregung. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander. Was war das nur für ein seltsames Wesen? Lumi konnte nicht einmal sagen, ob es ein Jäger oder ein Wühler war. Aber eines war sicher: Sie brauchte Verstärkung!

 

Vom See zum Fuchsbau war es nicht weit, und Lumi schlug den direkten Weg über die Lichtung ein. Jetzt im Sommer stand das Gras so hoch, dass das Trolltier sie vom Ufer aus bestimmt nicht sehen konnte. Eilig lief sie zu Rissas Lieblingsplatz, der unter den großen Buchen lag. Dort hatte sich das Fuchsmädchen wie eine kleine rote Schnecke eingerollt und döste. Lumi legte den Kopf schief.

»Rissa! Wach auf!«

»Hm. Ich schlafe.«

Lumi stupste das Fuchsmädchen an. »Da ist ein Trolltier an unserm See!«

Rissa schlug die Augen auf. »Wirklich? Ist es auch so groß, wie Zottel sagt?«

»Mittelgroß, würd ich sagen. Komm, das musst du dir ansehen!«

Gemeinsam pirschten sie zurück ans Seeufer. Doch der Platz im Wasser hinter den flachen Steinen war leer.

»Und wo ist dein Troll jetzt?«, wollte Rissa wissen.

Lumi lief ein paar Schritte ins Wasser und blickte sich um. »Hier hat er gesessen und Schnecken ins Wasser getaucht.«

»Warum sollte er Schnecken ins Wasser tauchen?«

»Weiß auch nicht.«

Rissa schnupperte im Sand. »Hier sind keine Schnecken.«

Es stimmte, die Schneckenhäuser und alle Spuren waren fort.

»Vielleicht hat er sie vergraben«, vermutete Lumi.

Die kleine Füchsin warf ihre Vorderpfoten kichernd in die Luft. »Mit seinen Gruselpfoten?«, fragte sie und sprang im flachen Wasser umher, dass es nur so spritzte. »Ich glaub eher, du hast zu viele Schnecken gefressen!«

»Hab ich nicht!« Lumi sprang hinter Rissa her.

»Schneckenfresser!«, rief Rissa. »Schneckenfresser!«

Mit zwei großen Sätzen war Lumi bei ihr und buffte sie in die Seite. »Mäusefurz!«

»Wer nicht jagen kann, muss eben Schnecken fressen«, sagte das Fuchsmädchen grinsend. Das versetzte Lumi einen Stich. Sie wollte Rissa auch gern etwas Gemeines sagen.

»Hasenkötel!«

Rissas grüne Augen blitzten vergnügt. »Kötelschreck, meck, meck, meck!«

Lumi musterte Rissa zornig. Gegen die spitze Zunge ihrer Freundin kam sie einfach nicht an.

»Du musst mir ja nicht glauben!«, rief sie. »Dann frag ich eben Borste, ob er das Trolltier mit mir sucht.« Wütend lief Lumi ans Ufer und schüttelte sich das Wasser aus dem Fell.

»Hey, das war doch nur Spaß.« Rissa kam hinter ihr her.

»Richtiger Fuchsspaß, was?«, schnaubte Lumi.

»Tut mir leid.« Das Fuchsmädchen legte den Kopf schief und sah beinahe so sanft aus wie die Kaninchen, die am Waldrand entlangflitzten. »Du darfst dir auch ein Spiel aussuchen«, bot sie großmütig an.

Da fiel Lumi etwas ein, was ihr mindestens so unter den Krallen brannte wie der Waldtroll.