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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Oktober 2015

Copyright © 2015 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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Umschlaggestaltung yellowfarm gmbh, Stefanie Freischem

Abbildung Carlos Caetano/Arcangel Images

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ISBN Printausgabe 978-3-499-26992-9 (1. Auflage 2015)

ISBN E-Book 978-3-644-54471-0

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-54471-0

Maryland, USA, 1977

Der Wagen parkte dicht am Ufer des Potomac River, südlich von White’s Ferry, wo es keine Straßen, sondern nur Feldwege, vereinzelte Farmen und einsame Wälder gab.

Die Fahrertür wurde aufgestoßen, ein junger Mann sprang hinaus. Er trug eine Schirmmütze, Jeans und ausgetretene Cowboystiefel. In seinem Hosenbund steckte ein Revolver. Auf der Beifahrerseite stieg ein weiterer Mann aus. Sein Gesicht lag im Dunkeln, doch sein schwerfälliger Gang und seine leicht gebeugte Körperhaltung verrieten, dass er deutlich älter war als der Fahrer.

Der junge Mann öffnete den Kofferraum. Der Alte trat hinzu, gemeinsam hoben sie ein längliches Bündel heraus, einen eingerollten Teppich, der mit einer Wäscheleine zusammengeschnürt war. Sie gingen ein paar Schritte, der Junge rückwärts, dem Alten zugewandt, und ächzten unter dem Gewicht.

Plötzlich blieb der Alte stehen. «Die Tasche!», sagte er. «Die muss auch verschwinden.»

«Das kann die Kleine machen», antwortete der junge Mann. «Hey, Drecksgöre, komm raus! Du musst uns helfen!»

Nichts rührte sich.

«Ey, du kleines Miststück!», brüllte er noch lauter. «Setz dich in Bewegung! Hopp, hopp!»

Die Tür hinter dem Fahrersitz öffnete sich zaghaft. Ein Mädchen krabbelte aus dem Fond. Sie war vier, höchstens fünf Jahre alt, trug das kastanienbraune Haar zu zwei schulterlangen Zöpfen geflochten. Ihr Kleid war schmutzig, der rote Regenmantel hatte einen Riss am Ärmel.

«Hol die Tasche aus dem Kofferraum! Los, beeil dich!», befahl der junge Mann.

«Was machen wir mit der Kleinen?», fragte der Alte leise. Seine Finger klammerten sich um das Bündel, winzige Schweißperlen hatten sich auf seiner Stirn gebildet.

Der andere hob die Schultern. Er hatte einen Zahnstocher im Mundwinkel und kaute darauf herum. «Wir könnten sie verkaufen.»

«Bist du verrückt?» Dem Alten rutschte beinahe der Teppich aus den Händen. Hastig packte er zu.

«Pass doch auf!», herrschte der Junge ihn an.

Das Mädchen kam mit unsicheren Schritten auf die Männer zu. Sie hielt eine Damenhandtasche aus hellbraunem Wildleder vor den Bauch gepresst.

«Weiter geht’s!», befahl der mit dem Zahnstocher.

Sie stiegen die Böschung hinab zum Ufer. Unten angekommen, legten die Männer das Bündel ab und ließen das Mädchen Steine sammeln, so groß und schwer, wie sie nur tragen konnte. Die stopften sie von beiden Seiten in die Teppichrolle.

«Das muss genügen», erklärte der Alte schließlich und rieb sich die Hände an der Hose ab.

«Okay.» Der Junge schob die Schirmmütze in den Nacken. In dem Moment trat der Mond hinter einer Wolke hervor und erhellte sein Gesicht. Einem zufälligen Beobachter wäre sofort die Ähnlichkeit mit dem Alten aufgefallen. Doch weit und breit war niemand, der es hätte bemerken können. «Dann ab mit ihr», knurrte er.

Die beiden klemmten die Handtasche unter die Wäscheleine, die um den Teppich gewickelt war, und hoben das Bündel erneut an. Mit einem weiten Schwung warfen sie es in den Fluss. Blasen stiegen auf, während der Teppich langsam im Wasser versank.

Das kleine Mädchen trat näher ans Ufer, streckte die Hand aus. «Mama», flüsterte sie so leise, dass die Männer es nicht hören konnten. «Mama.»

38 Jahre später
Montag, 28. September, 00:17 Uhr

Georg Stadler knallte die Wagentür zu und schaute sich um. Schon lange war er nicht mehr in diesem Teil des Hafens gewesen. Die Straßenlaternen produzierten mehr Schatten als Licht, unterbrochen vom rotierenden Blau eines einzelnen Streifenwagens. Der Gebäudekomplex zeichnete sich unscharf gegen den Nachthimmel ab, unmöglich, seine Ausmaße zu erfassen. Die Papierfabrik hatte vor einigen Jahren dichtgemacht und stand seither leer. Stadler hielt nach seinen Kollegen Ausschau, doch nur die eingeschlagenen Scheiben des ausgebrannten Verwaltungsgebäudes starrten ihn mit toten Augen an.

Irgendwo in der Nähe ratterte ein Zug vorbei. Stadler schüttelte das mulmige Gefühl ab, umfasste die Maglite fester und marschierte auf den Streifenwagen zu.

Das Fahrzeug war verlassen. Stadler schaltete die Taschenlampe ein, ging um den Wagen herum. Nichts. Wo zum Teufel steckte die Besatzung?

Ein Knirschen. Schritte. Stadler fuhr herum.

«Herr Stadler?»

«Verdammt! Müssen Sie sich so anschleichen?»

«Ich habe den Nebeneingang überprüft.» Der Kollege von der Streife, ein junger Bursche, den Stadler nicht kannte, deutete vage ins Dunkel.

«Und?»

«Nichts.»

«Das meine ich nicht.» Stadler begann zu bereuen, dass er sich hatte breitschlagen lassen, mitten in der Nacht zu einem Tatort zu fahren, ohne zu wissen, worum es überhaupt ging. Er hätte die Sache der Kriminalwache überlassen sollen. «Was mache ich hier? Weshalb wurde ich hergerufen?»

«Das sehen Sie sich am besten selbst an. Der Streifenpolizist leuchtete mit seiner Taschenlampe auf ein halb heruntergelassenes Rolltor. «Da geht’s rein.» Er duckte sich unter dem Tor durch und wurde von der Dunkelheit verschluckt.

Stadler folgte ihm in das Gebäude. Der Lichtkegel der Maglite schaffte es nicht, die riesige Halle auch nur halbwegs auszuleuchten. Während Stadler die Lampe hin und her bewegte, blitzten Graffiti an den Wänden auf, die der Lichtschein zum Leben zu erwecken schien. Ein Schakal, der zum Sprung ansetzte, ein paar grinsende blaugelbe Köpfe, ein Sensenmann. Davor auf dem Boden leuchteten Spraydosen, Kabelrollen und Pizzakartons auf.

«Hier scheinen sich eine Menge Leute rumzutreiben», murmelte Stadler. Seine Stimme hallte dumpf von den Wänden wider.

Der junge Streifenpolizist drehte sich zu ihm um. «Anfangs war es noch ein Geheimtipp. Das Tor war dicht, der einzige Zugang ein kaputtes Fenster auf der Rückseite, wo die Bahngleise entlanglaufen. Aber inzwischen ist das Gelände so was wie eine Touristenattraktion. Hier treiben sich alle möglichen Leute herum. Machen Fotos, drehen Musikvideos oder hängen einfach nur ab. Wir tolerieren es, solange alles friedlich bleibt. Bleibt uns eh nichts anderes übrig.»

«Probleme mit Drogen?»

«Nur Bierdosen, Kippen und Grastütchen. Nichts Hartes. Für Junkies ist der Hafen wohl zu abgelegen.»

Sie durchquerten die Halle bis zur Mitte und gelangten zu einer Treppe, die auf eine weitere Ebene hochführte. Der Kollege leuchtete die Metallstufen hinauf. «Oben müssen Sie aufpassen. Da sind ein paar Löcher im Boden.»

Ihre Schritte dröhnten auf der Treppe. Wer das Licht bisher nicht bemerkt hatte, wusste spätestens jetzt, dass sie im Anmarsch waren. Wenige Schritte nachdem Stadler die obere Ebene erreicht hatte, verlor er beinahe das Gleichgewicht. Ein Brett, das jemand über ein Loch im Boden gelegt hatte, hob sich an, als er auf das eine Ende trat. Er sprang zurück, ruderte mit den Armen, die Taschenlampe flog ihm aus der Hand und kollerte geräuschvoll über den Beton. Lichtblitze erhellten rostige Stahlträger und eine Rinne mit dunkler Flüssigkeit. Glücklicherweise ging die Maglite nicht aus, sodass Stadler sie schnell wiederfand.

Der Kollege war schon ein ganzes Stück weiter, war nur anhand des kleiner werdenden Lichtkegels auszumachen. Er hatte offenbar gar nichts mitbekommen. Plötzlich verschwand das Licht ganz. Stadler beschleunigte seine Schritte, doch nur für ein paar Meter, dann hielt er unvermittelt inne. Hatte da nicht etwas geknackt? In seinem Rücken, wo das Brett war?

Stadler wechselte die Lampe in die linke Hand, griff mit der rechten ans Holster, drehte sich um und leuchtete nach hinten. Niemand. Aber das hieß gar nichts. Sein Verfolger konnte außerhalb des Lichtkegels stehen oder sich hinter einem der Stützpfeiler verborgen haben.

Konzentriert horchte Stadler. Schritte näherten sich aus der anderen Richtung, ein zweites Licht flackerte auf.

«Da sind Sie ja!» Der Streifenpolizist leuchtete ihm mitten ins Gesicht.

«Hey! Weg mit der Lampe!»

Der Lichtkegel senkte sich.

«Ist das Gebäude eigentlich gesichert?», fragte Stadler und nahm langsam die Hand von der Waffe. Der Kollege sollte ihn nicht für hysterisch halten.

«Na ja, so würde ich das nicht ausdrücken. Wir sind ja nur mit zwei Streifen hier. Der andere Wagen steht hinten neben den Gleisen. Die Kollegen bewachen die Rückseite der Halle. Mein Partner sichert oben den Tatort. Wir haben uns etwas umgeschaut. Aber hier gibt es so viele Treppenaufgänge, Nebengebäude, Rohre und Schächte, die kann man schon bei Tageslicht kaum überblicken. Im Dunkeln ist das unmöglich.»

«Verstehe.» Stadler leuchtete ein letztes Mal den Treppenaufgang und das Stück Halle um das Brett herum ab. Aber da war niemand. Womöglich hatte er ein Tier gehört. Hier wimmelte es bestimmt von Ratten.

«Können wir weiter?», fragte der Kollege.

«Klar doch.» Stadler signalisierte dem Mann voranzugehen. Je schneller er sich den Tatort angeschaut hatte, desto eher konnte er nach Hause fahren.

Es ging eine weitere Etage nach oben, auf eine Art Empore, diesmal über eine wackelige Holzleiter. Als Stadler wieder festen Boden unter den Füßen hatte, hörte er erneut ein Geräusch hinter sich. Er lauschte. Irgendwo tropfte Wasser. Gerade als er sich wieder in Bewegung setzen wollte, sah er aus den Augenwinkeln auf der unteren Ebene einen Schatten vorbeihuschen.

Blitzschnell zog er die Waffe. «Stehen bleiben!»

Der Lichtkegel der Maglite erfasste ein Gesicht mit weit aufgerissenen Augen.

«Polizei! Keine Bewegung!»

Die Gestalt rührte sich nicht, und im gleichen Augenblick erkannte Stadler, dass es sich um ein Graffito handelte, das einen Mann in einem langen schwarzen Mantel zeigte.

Aber da hatte sich doch etwas bewegt! Stadler leuchtete die untere Ebene ab, so gut es ging. Matten aus Glaswolle, die Rinne mit der trüben Flüssigkeit, auf deren Oberfläche Coladosen und anderer Müll schwammen. Die Stahlträger, die lange Schatten warfen.

Atemlos kam der Kollege herbei. Auch er hatte die Waffe gezogen. «Ist da jemand?»

«Ich habe eine Bewegung sehen. Als würde jemand vorbeilaufen.»

Der Streifenbeamte starrte nach unten. «Sollen wir noch mal runterklettern?»

Stadler zögerte. «Nein. War vermutlich nur ein streunender Köter.»

«Ja, das glaube ich auch.» Der Kollege wirkte erleichtert.

Sie bewegten sich in westlicher Richtung über die Empore, auf die Seite des Gebäudes zu, die an das Hafenbecken grenzte. Stadler spitzte die Ohren, doch er hörte nichts mehr außer den stapfenden Schritten seines Kollegen. Schließlich gelangten sie durch eine Verbindungstür in eine weitere ehemalige Produktionshalle. Im Schein der Lampe erkannte Stadler, dass ein Teil der Fläche mit Wänden aus Kalksandsteinen abgetrennt war und einen separaten Raum bildete. Vielleicht ein ehemaliges Lager. Oder ein Aufenthaltsraum für die Arbeiter. Am Eingang stand Dienstgruppenleiter Tom Gerling. In einer Hand hielt er eine Taschenlampe, in der anderen sein Smartphone, auf dem er mit dem Daumen herumtippte. Als er die beiden Kollegen kommen sah, stopfte er das Telefon in die Tasche.

Stadler watete durch eine Wasserlache auf ihn zu. «Hallo Tom. Ich hoffe, es gibt einen guten Grund dafür, dass du mich mitten in der Nacht antanzen lässt.»

«Hi Georg.» Gerling kratzte sich am kahlen Hinterkopf. «Womit genau wir es hier zu tun haben, kann ich dir nicht sagen. Da ist zunächst einmal das hier.» Er hob einen Klarsichtbeutel hoch und leuchtete ihn mit seiner Taschenlampe an. «Ein Rasiermesser. Und eine große Menge eingetrocknete rotbraune Flüssigkeit. Nicht nur an der Klinge, auch auf dem Boden und an der Wand.» Er deutete in den Raum hinter sich. «Ein anonymer Anrufer hat den Fund gemeldet. Als wir ankamen, war die Lache auf dem Boden noch feucht. Der Schnelltest hat bestätigt, dass es sich um Blut handelt. Aber um sicherzugehen, müssen erst die Experten mit dem Köfferchen anrücken. Jedenfalls dachte ich, dass du dir gern ein Bild machen würdest. Falls es ein Fall fürs KK 11 ist, willst du den Tatort bestimmt so unberührt wie möglich sehen.»

Und deshalb hättest du das Rasiermesser an Ort und Stelle liegen lassen sollen. Stadler verkniff sich den Rüffel, der ihm auf der Zunge lag. «Dann mal los.»

Er stieg über die Schwelle in den kleinen Raum. Mit der Maglite leuchtete er in alle Ecken. Fünf große Fenster aus Glasbausteinen entlang der Außenwand ließen tagsüber vermutlich reichlich Licht ins Innere. Jetzt aber war der Raum genauso finster wie die übrige Fabrik. Auch hier zierten Graffiti die Wände, im Vergleich zu dem, was Stadler auf dem Weg nach oben gesehen hatte, eher Schmiererei als Kunst. An der Stirnwand prangte ein aufgesprühtes riesiges, in der Mitte unterteiltes silberfarbenes Rechteck, das Stadler vage an den Schiebetürenschrank in seinem Schlafzimmer erinnerte. Nur dass an dem keine Blutspritzer klebten. Auch der Boden davor war mit Blut besprenkelt. In der Mitte sammelte es sich zu einer großen eingetrockneten Lache. Daneben lag ein runder Spiegel, dessen Glas zersprungen war.

«Ein Rasiermesser und ein Rasierspiegel», stellte Stadler fest. «Und das Bild eines Kleiderschranks. Habt ihr sonst noch was gefunden?»

«Jede Menge.» Gerling, der ihm gefolgt war, verdrehte die Augen. «Du hast doch gesehen, was in dem Gebäude alles rumliegt. In einem Raum stapeln sich sogar noch Aktenordner mit Arbeitsaufträgen und Rechnungen. Unmöglich, das alles zu sichten.» Er seufzte. «Das hier könnte allerdings interessant sein.» Er deutete auf ein Brett, das an der Wand lehnte. «Guck mal dahinter.»

Stadler leuchtete mit der Maglite hinter das Brett und zuckte zusammen. Die Maske einer älteren Frau starrte ihn an. «Ist das Margaret Thatcher?»

«Sieht ganz so aus.»

«Was, glaubst du, hat sich hier abgespielt?» Stadler ließ seinen Blick durch den Raum schweifen.

Gerling zuckte mit den Schultern. «Da fällt mir so einiges ein: Vielleicht haben hier ein paar kranke Typen ein satanistisches Ritual abgehalten und dabei Tierblut vergossen, oder jemand hat eine makabre Fotosession abgehalten …»

«… oder ein Killer mit einer Margaret-Thatcher-Maske hat sein Opfer mit einem Rasiermesser aufgeschlitzt.» Stadler zog sein Handy hervor. «Die KTU muss sich das ansehen. Und zwar sofort. Die sollen das Blut untersuchen. Und die Maske.»

Stadler riss Jürgen Tremmler, den Leiter der Kriminaltechnik, aus dem Schlaf und erklärte ihm die Situation. «Nehmt euch als Erstes das Blut vor. Und dann sichert ihr die anderen Spuren.»

«In der gesamten Fabrik?» Der Techniker klang schlagartig hellwach. «Das dauert Wochen. Und kostet ein Vermögen.»

«Du klingst wie unser Chef.» Stadler schnitt eine Grimasse. «Untersucht zuerst mal den Raum hier oben. Und vielleicht noch die Halle davor und die Treppe. Aber tütet nur ein, was eindeutig kürzlich von draußen mitgebracht wurde. Spraydosen, Zigarettenkippen, Bierflaschen. Mehr ist nicht zu bewältigen. Vielleicht könnt ihr feststellen, wie alt die Farbe an der Wand ist. Vor allem bei diesem Graffito, das aussieht wie ein Schrank.»

Stadler beendete das Gespräch, drehte sich weg, fuhr aber noch mal herum, weil er aus den Augenwinkeln etwas gesehen hatte. Ein weiteres Mal leuchtete er mit der Maglite die Wand ab. Knapp über dem Boden war etwas auf die silberne Farbe des Schranks gesprayt worden. Stadler beugte sich vor und entzifferte die schwarzen Zeichen: H78JC.

«Was entdeckt?», fragte Gerling.

«Möglich. Könnte eine Signatur sein.» Stadler zog sein Handy hervor und machte ein Foto.

«Vom Sprayer?»

«Keine Ahnung.» Stadler hielt die Maglite dicht vor die Wand. «Aber die Zeichen müssen irgendwas mit dem zu tun haben, was hier passiert ist. Sie sind über die Blutspritzer gesprayt worden.»

Montag, 28. September, 08:24 Uhr

Der Ford Mustang bog auf den Parkplatz des Präsidiums und glitt in eine Lücke. Alex Landorf trat unwillkürlich einen Schritt vom Fenster zurück, obwohl es unwahrscheinlich war, dass sein Kollege den Blick hob und ihn entdeckte. Georg Stadler blickte nie zu anderen auf, immer nur auf sie herab.

Landorf verschränkte die Arme vor der Brust. Hochmut kommt vor dem Fall, dachte er. Und Georg Stadler würde nicht einfach fallen, er würde ins Bodenlose stürzen. Er würde alles verlieren, nicht nur seinen Job. Sein Ansehen, den Respekt der Kollegen, das Vertrauen seiner Freunde. Geschah ihm recht.

Bisher hatte Stadler seinen Kopf jedes Mal aus der Schlinge gezogen. Mit seinem Ruf als Starermittler des KK 11 hatte er sich Verfehlungen leisten können, die anderen das Genick gebrochen hätten. So viele Fehlentscheidungen, so viele Erfolge auf Kosten anderer. Aber damit würde bald Schluss sein. Stadler hatte den Bogen überspannt.

Alex Landorf verzog verächtlich das Gesicht, als er sah, wie Stadler vor dem Eingang auf seine Expartnerin Birgit Clarenberg stieß und ihr zur Begrüßung die Hand auf den Arm legte. Er hatte noch nicht entschieden, ob Birgit mit Stadler über die Klinge springen würde. Kam darauf an, wie sie reagierte, wenn die Falle zuschnappte. Falls sie sich auf Stadlers Seite stellte, würde sie mit ihm untergehen.

Clarenberg und Stadler verschwanden im Gebäude. Landorf ging zurück zu seinem Schreibtisch und setzte sich. Einmal kurz fasste er an seine Hosentasche, ertastete den kleinen Gegenstand, der Georg Stadlers Schicksal besiegeln würde. Noch wusste Landorf nicht, wann und wie er die Aktion ins Rollen bringen sollte. Er vertraute darauf, dass er den richtigen Moment erkennen würde. Bis es so weit war, würde er die Füße stillhalten. Das fiel ihm nicht schwer. Sein Vater war Jäger gewesen. Er hatte ihm Geduld beigebracht, hatte ihn gelehrt, stundenlang reglos auf dem Hochsitz auszuharren, bis der Rehbock endlich vor die Flinte lief. Die Belohnung war das erhebende Gefühl, nicht nur die Beute, sondern auch sich selbst besiegt zu haben.

Genauso wie der Bock würde auch Georg Stadler früher oder später in sein Schussfeld laufen. Und wenn es so weit war, würde er, ohne zu zögern, durchladen und abdrücken.

Montag, 28. September, 10:23 Uhr

Birgit Clarenberg stieß die Wagentür auf. Bis eben hatte es noch genieselt, jetzt blinzelte die Sonne zwischen den Wolken hindurch. Glück gehabt. Sie stieg aus, sah sich um. Einige Bäume waren schon kahl, ein Werk des Sturms in der vergangenen Woche, doch die meisten trugen noch ihre Blätter. Das Laub leuchtete in Rot, Gelb und Orange. Es duftete nach feuchter Erde. Ein schöner Ort. Eigentlich.

Am anderen Ende des Parkplatzes entdeckte Birgit eine Frau um die fünfzig und einen alten Mann, der sich auf einen Stock stützte.

«Das könnten sie sein», sagte sie zu ihrem Kollegen Miguel Rodríguez, der gerade die Tür auf der Fahrerseite zuknallte.

«Jetzt bin ich aber gespannt.» Miguel setzte sich in Bewegung.

Birgit folgte ihm. «Und ich erst.»

Die Frau hatte vor einer halben Stunde die Polizei angerufen. Ihr Vater hatte angeblich einen Mordanschlag überlebt. Jemand hatte mit einem Gewehr auf ihn geschossen. Allerdings schon vor drei Tagen. Der Alte hatte offenbar so unter Schock gestanden, dass er seiner Tochter erst heute Morgen davon erzählt hatte. Nun sollte er Rodríguez und Clarenberg zum vermeintlichen Tatort führen, der irgendwo am Ufer des Unterbacher Sees lag. Birgit fragte sich, was der offensichtlich gehbehinderte Mann dort gewollt hatte. Und vor allem, wer jemandem wie ihm nach dem Leben trachten mochte.

Miguel wies sich aus und stellte Birgit und sich vor.

«Ich bin Gisela Scherenschmidt», antwortete die Frau. «Das ist mein Vater, Gustav Scherenschmidt.»

«Sie sind am vergangenen Freitag überfallen worden?» Miguel sah sich um.

Der Alte nickte.

«Wo war das genau?»

«Etwas weiter dahinten.» Der Mann deutete mit dem Stock einen Spazierweg entlang.

«Könnten Sie uns zu der Stelle führen?» Birgit versuchte, Vater und Tochter einzuschätzen. Er war korrekt gekleidet, trug Anzug und Krawatte, wirkte aber mit der Situation überfordert. Sie strahlte Entschlossenheit aus, trug ein cremefarbenes Kostüm, die grauen Haare waren zu einem akkuraten Pagenkopf geschnitten. An irgendwen erinnerte Birgit die Frau. Eine Schauspielerin oder Sängerin. Sie kam nicht darauf.

«Aber gern.» Gisela Scherenschmidt hakte sich bei ihrem Vater unter. «Komm, zeig uns den Weg.»

Wenige Minuten später erreichten sie ein Gestrüpp, das etwas abseits des Spazierwegs lag.

«Dahinter», sagte der alte Mann mit dünner Stimme.

«Gehen Sie voran», forderte Miguel ihn auf.

Der Alte rührte sich nicht vom Fleck.

«Was ist los, Vater? Ist es wegen Foxi?» Gisela Scherenschmidt sah zu dem Gebüsch und dann wieder zu ihrem Vater.

«Foxi? Wer ist Foxi?» Birgit tauschte einen Blick mit Miguel, der die Schultern hob.

«Foxi ist der Terrier meines Vaters. Dieser Irre hat ihn erschossen.»

Miguel zog die Brauen hoch. «Der Mann, der Sie mit dem Gewehr bedroht hat, hat Ihren Hund erschossen?»

Der Alte nickte, seine Augen füllten sich mit Tränen. «Er war auf der Stelle tot.»

«Liegt der Hund etwa immer noch dort?», fragte Birgit.

Scherenschmidt sah zu Boden und schwieg.

Miguel wandte sich an die Tochter. «Sie warten hier mit Ihrem Vater. Wir sehen uns das mal an.» Er drückte die Zweige zur Seite, sodass Birgit hindurchschlüpfen konnte, und kam dann hinterher.

Unvermittelt standen sie am Seeufer. Kein Boot war auf dem Wasser. Es hatte wieder zu nieseln begonnen, eine Brise kräuselte die graugrüne Seeoberfläche. Der schmale Streifen nackte Erde zwischen dem Gebüsch und dem Ufer war zertrampelt, unter einem Strauch lagen eine weiße Plastiktüte und zwei zerdrückte Bierdosen. Offenbar ein beliebtes Picknickplätzchen. Unter einem Baum entdeckte Birgit goldbraunes Fell. Sie näherte sich behutsam. Der Tierkadaver war bereits angefressen, Maden wimmelten in den blutigen Wunden, in Augen, Nase und Mundhöhle.

«Gut, dass der alte Mann nicht mit hergekommen ist.» Sie wandte sich schaudernd ab.

«Was hältst du von ihm?»

«Ich weiß nicht.» Birgit blickte zu Miguel hoch. Er hatte sich heute Morgen nicht rasiert, und die Strähne seiner dunklen Haare, die ihm immer in die Stirn fiel, kringelte sich in der feuchten Luft. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Seit er ihr vor wenigen Wochen das Leben gerettet hatte, hatte sie den Kampf gegen ihre heimliche Schwärmerei aufgegeben. Sie durfte sich nur nichts anmerken lassen. In Momenten wie diesem gar nicht so einfach.

«Auf mich wirkt er nicht wie ein Spinner. Etwas verwirrt vielleicht. Aber nicht verrückt.» Miguel deutete auf den Kadaver. «Und das könnte tatsächlich eine Schussverletzung sein. Sieht nach Schrot aus.»

«Aber wer erschießt einen Hund? Noch dazu während sein Herrchen danebensteht?»

«Irgendein durchgeknallter Hundehasser? Ein Jugendlicher, der das Gewehr seines Vaters ausprobieren will? Keine Ahnung.»

«Auf jeden Fall müssen wir den Hund abholen und untersuchen lassen.»

«Ich veranlasse das.» Miguel wandte sich ab, stockte, bückte sich. «Was haben wir denn hier?» Er hob den Gegenstand mit seinem Jackenärmel auf und ließ ihn vorsichtig in den Beweisbeutel gleiten, den Birgit ihm reichte. Eine Hülse. Großes Kaliber.

«Was schätzt du? Zwölf Millimeter?», fragte sie.

«Könnte hinkommen.» Er steckte den Beutel ein.

Sie kehrten zu Vater und Tochter zurück.

«Bitte erzählen Sie uns noch einmal, was passiert ist.» Birgit klappte ihren Notizblock auf.

Die Tochter setzte zu sprechen an, doch Gustav Scherenschmidt brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. «Ich war mit Foxi spazieren. Ein Stück am See entlang und wieder zurück, unser üblicher Weg. Hier gehen wir jedes Mal ans Ufer, und Foxi darf ein bisschen im Wasser planschen. Es war alles wie immer. Bis dieser – bis dieser Kerl auftauchte. Er wollte Geld. Meine Brieftasche.»

«Aber Vater, das hast du mir ja noch gar nicht erzählt!»

Er ging nicht auf den Einwurf seiner Tochter ein. «Ich sagte ihm, dass ich nichts dabeihätte, nur ein paar Leckerlis für Foxi. Er fuchtelte mit dem Gewehr herum. Er würde den Hund erschießen, wenn ich ihm kein Geld geben würde. Ich flehte ihn an.» Wieder wurden die Augen des Alten feucht. «Und dann schoss er. Einfach so. Foxi war sofort tot.»

Birgit schluckte die Wut hinunter, die in ihr hochkochte. Was für ein sinnloser Akt der Gewalt! «Es tut mir sehr leid», sagte sie mühsam beherrscht.

Miguel trat zu dem Mann. «Können Sie den Schützen beschreiben?»

Gustav Scherenschmidt schüttelte den Kopf. Er wirkte plötzlich verschlossen.

«Aber Sie müssen doch etwas gesehen haben! War er jung oder alt? Trug er eine Jacke? Eine Mütze? Sprach er vielleicht mit Akzent?»

«Ich habe nichts gesehen.»

Birgit sah fragend zu der Tochter. Mit einem Mal fiel ihr ein, an wen die Frau sie erinnerte: Erika Pluhar. Ihre Mutter war ein großer Fan der österreichischen Schauspielerin.

Gisela Scherenschmidt sah hilflos zu ihrem Vater. «Ich habe es auch schon versucht. Offenbar kann er sich nicht erinnern. Der Schock …»

«Kannten Sie den Schützen?», bohrte Miguel nach. «Ist es jemand, dem Sie schon einmal begegnet sind?»

«Nein.» Der Alte mied seinen Blick.

Birgit spürte, dass es etwas gab, was er sich nicht zu sagen traute. Sie legte Wärme in ihre Stimme. «Erzählen Sie es uns, Herr Scherenschmidt.»

«Sie werden mich auslachen.»

«Ganz bestimmt nicht. Versprochen.» Birgit klappte ihren Block zu und steckte ihn ein.

Die dünne Stimme des Alten war kaum zu verstehen. «Es war ein Astronaut.»

Montag, 28. September, 11:36 Uhr

«Was haben Sie gefühlt, als Sie zudrückten?»

«Nichts.»

«Sie haben gar nichts gespürt? Kein Mitleid? Oder Wut vielleicht? Die Frauen haben sich doch sicherlich zur Wehr gesetzt. Geschrien. Um sich geschlagen.»

«Wenn sich eine zu sehr gewehrt hat, habe ich fester zugedrückt. Dann war ganz schnell Schluss.»

«Warum haben Sie das getan? Warum haben Sie zugedrückt, bis Schluss war?»

«Weiß nicht. Ich wollte die einfach nur kaputt machen.»

Liz Montario schluckte. Dies war beileibe nicht ihr erstes Gespräch mit einem Serienmörder. Schließlich war es ihr Job, in die Gefühlswelt von solchen Menschen einzutauchen. Aber das hieß nicht, dass es mit der Zeit leichter wurde. Sie betrachtete Günther Scharnowski. Der Mann hatte acht Frauen überfallen, vergewaltigt und erwürgt. Man sah es ihm nicht an. Übergewichtig, ergrauter Vollbart, das lange Haar klebte am Kopf. «Was geschah nach der Tat?»

«Die Frau ins Gebüsch zerren und weg.»

«Warum haben Sie die Frau ins Gebüsch gezerrt?»

«Na, damit sie nicht rumliegt.»

«Haben Sie darüber nachgedacht, wie Sie Ihr Opfer hinlegen? Auf den Bauch? Auf den Rücken? Eine besondere Position für Arme und Beine?»

«Nee, das war mir egal. Hauptsache, sie wird nicht sofort gefunden.»

Liz warf einen Blick auf das Diktiergerät, um zu überprüfen, ob es noch aufzeichnete. «Es war Ihnen also gleich, was die Person, die die Leiche entdeckt, zuerst sieht.»

«Klar.»

«Und die Polizei? Was sollte die von Ihnen denken?»

«Ist mir doch egal. Ich bin ein Schwein. Ich muss es tun. Wenn ich es eine Weile nicht getan habe, dann kommt diese Unruhe. Dann ist es die ganze Zeit in meinem Kopf. Dann laufe ich durch den Wald oder durch einen Park, bis ich auf eine stoße, die allein unterwegs ist.»

Liz registrierte, dass Scharnowski ihre Frage nicht beantwortet hatte. Nicht direkt jedenfalls. «Wollten Sie, dass die Polizei Sie so sieht? Als Schwein?»

Scharnowski drehte die Zigarettenpackung auf dem Tisch hin und her. «Es ist halt in mir drin. Glauben Sie mir, Doc. Ich kann nicht anders. Wenn man mich hier rauslassen würde, würde ich es wieder machen.» Er hob den Blick, sah ihr in die Augen. «Es ist immer dadrin.» Er tippte auf seine Stirn.

Liz versuchte, nicht daran zu denken, dass Scharnowski sie womöglich gerade in Gedanken missbrauchte und erwürgte. Unwillkürlich blickte sie hoch zu der Kamera in der Zimmerecke. «Haben Sie jemals einen Gegenstand bei der Leiche zurückgelassen? Oder etwas so positioniert, dass es als Botschaft hätte verstanden werden können?»

«Warum sollte ich das tun? Wäre ja schön blöd, oder?»

Liz ging nicht auf seine Gegenfrage ein. «Haben Sie versucht, eine falsche Spur zu legen? Den Verdacht von sich abzulenken?»

Er fuhr sich über das strähnige Haar. «Nee, ich glaube nicht. Ich habe eigentlich gar nicht an die Polizei gedacht. An Spuren und so was. Hab nur gemacht, dass ich schnell wegkomme, wenn ich fertig war.»

«Aber Sie haben Vorkehrungen getroffen, um nicht gefasst zu werden. Indem Sie die Frau im Gebüsch versteckt haben, zum Beispiel.»

Scharnowski nahm eine Zigarette aus dem Päckchen, betrachtete sie, steckte sie zurück. «Nee, ich hab da nicht drüber nachgedacht. War mehr so ein Reflex. Das läuft alles automatisch: Frau sehen, schnappen, ausziehen, bumsen, kaltmachen und verschwinden. Da muss ich nicht bei denken.»

Liz senkte rasch den Blick auf ihre Notizen. Scharnowski sollte nicht sehen, wie sehr sie seine Worte schockierten. Ihre Finger waren feucht, in ihrem Hals saß ein dicker Kloß. Es war unprofessionell, derart emotional zu reagieren. Doch andererseits war sie überzeugt, dass sie gerade deshalb so gut in ihrem Job war, weil sie ihre Gefühle nicht von ihrer Arbeit abkoppelte. Auch wenn das oft sehr schmerzhaft war. Sie blickte auf die Uhr, die Zeit war fast um. Sie stellte noch ein paar letzte Fragen, dann verabschiedete sie sich von Günther Scharnowski. Als sich eine Viertelstunde später das Tor der Klinik hinter ihr schloss, atmete sie auf. Erst jetzt merkte sie, wie stark sie während des ganzen Gesprächs unter Anspannung gestanden hatte.

Ihr Chef, Professor Burntisland von der University of Liverpool, hatte sie in ihre alte Heimat geschickt, um Interviews mit Serienmördern zu führen. Ihre Kollegen machten das Gleiche in England. Gemeinsam forschten sie zu Täterbotschaften. Viele Mörder kommunizierten mit der Polizei, hinterließen bewusst oder unbewusst eine Nachricht am Tatort, die ihr Tun erklären oder rechtfertigen sollte. Manche wandten sich sogar direkt an die Ermittler. Aber es gab auch solche wie Günther Scharnowski, die einfach nur ihren Trieben folgten.

Während der Fahrt zurück nach Düsseldorf drehte Liz die Musik auf volle Lautstärke und versuchte, an nichts zu denken. Sie vermisste David, ihren Freund. David schaffte es immer irgendwie, sie zum Lachen zu bringen. Doch leider war er weit weg in Chester. Es waren Herbstferien, und er hütete seinen Sohn Sam, der sonst bei seiner Mutter in London wohnte.

Liz hatte Glück und fand einen Parkplatz auf der Poststraße, fast genau vor dem Haus, in dem die Universität eine Ferienwohnung für sie angemietet hatte. Bevor sie ausstieg, stellte sie ihr Handy wieder an. Keine Nachricht von David. Dafür zwei Anrufe in Abwesenheit von Georg Stadler.

Sie hatte seit Wochen nichts von ihm gehört. Abgesehen von einer kurzen, unverbindlichen SMS, nachdem sie ihm mitgeteilt hatte, dass sie in Düsseldorf zu tun habe. Gerade als Liz zurückrufen wollte, entdeckte sie einen Mann, der vor der Haustür stand und die Klingelschilder studierte. Sie erkannte Georg Stadler an der Körperhaltung. Groß, breitschultrig, aufrecht.

«Nanu, willst du zu mir?»

Er fuhr herum. «Oh, hallo Liz. Schön, dich zu sehen.» Er beugte sich vor und küsste sie auf die Wange. «Ich habe versucht, dich zu erreichen.»

«Ich weiß.» Sie zog den Schlüssel aus der Tasche. «Kommst du auf einen Kaffee mit rauf?»

«Keine Zeit, leider. Ich muss zurück ins Präsidium. Ich wollte dir das hier vorbeibringen.» Er hielt ihr einen Umschlag hin.

«Was ist das?»

«Fotos. Ich konnte sie dir nicht mailen, weil ich sie dir offiziell gar nicht geben darf. Sieh sie dir an und sag mir, was du denkst.»

«Inoffiziell also. Ich verstehe.» Und unbezahlt, dachte sie und verdrehte die Augen. «Sofort?»

«Wenn es geht?»

Sie stopfte den Schlüssel zurück in die Tasche und riss den Umschlag auf. «Du machst mich neugierig.»

«Die Fotos sind heute Nacht gemacht worden, in einer stillgelegten Papierfabrik im Hafen.»

Liz ging den Stapel Bilder durch. Mit Graffiti besprühte Wände, eine Maske, die die Politikerin Margaret Thatcher darstellte. Ein Rasiermesser in einem Beweisbeutel. Eine Blutlache auf dem Boden, daneben ein zersprungener Spiegel. Ein Abfolge aus Zahlen und Buchstaben, genau wie die Graffiti an die Wand gesprayt.

«Keine Leiche?»

«Bisher nicht.»

Liz schob die Fotos zurück in den Umschlag. «Was willst du von mir wissen?»

«Deine spontanen Eindrücke.»

«Puh.» Liz fuhr sich durch die Haare. «Wo lag das Messer ursprünglich?»

«In der Nähe der Blutlache. Leider hat der Kollege es eingetütet, ohne vorher ein Foto zu machen.»

«Wirkt inszeniert», sagte Liz zögernd. Sie legte sich nicht gern fest, bevor sie eine Sache gründlich durchdacht hatte.

«Wie genau meinst du das?»

«Weiß ich nicht. Du wolltest spontane Eindrücke, keine fertig ausgearbeitete Theorie.»

«Okay.» Er hob die Hände. «Würdest du dir den Code näher ansehen? Es könnte sich um eine Botschaft handeln.»

Liz hob die Schultern. «Ich kann’s versuchen. Aber dafür brauche ich alle Details zu dem Fall.»

«Viel mehr als das, was du in den Händen hältst, gibt es noch nicht.» Er blickte auf die Uhr. «Ich muss wieder.»

«Das war’s schon?»

«Du hast meinen Verdacht bestätigt.»

«Habe ich? Welchen Verdacht denn?»

«Ist noch geheim.» Er legte den Finger an die Lippen. «Ich treffe mich nachher mit jemandem.» Er grinste breit, als ginge es um ein Date, nicht um seinen Job. «Dabei wird sich herausstellen, ob ich richtigliege.»

Montag, 28. September, 20:22 Uhr

Georg Stadler erkannte die Frau sofort, als sie die Gaststätte betrat. In natura sah Helene Weigand sogar noch besser aus als auf den Fotos, die er im Internet gefunden hatte. Der dunkelgraue Trenchcoat über dem Minirock betonte ihre schlanke feminine Figur. Das schulterlange braune Haar betonte ihre feinen Gesichtszüge. Er erhob sich, gab ihr ein Zeichen.

Sie lächelte und näherte sich, einen kleinen Rollkoffer im Schlepptau. «Herr Stadler? Entschuldigen Sie, dass ich erst jetzt komme, mein Flieger hatte Verspätung.»

Sie reichte ihm die Hand und setzte sich.

«Sie sind gerade erst von einer Reise zurück? Das wusste ich nicht.» Helene Weigand hatte die Gaststätte in Flingern als Treffpunkt vorgeschlagen, mit der Begründung, dass sie in der Nähe ihrer Wohnung lag. Daraus hatte er geschlossen, dass sie von zu Hause kommen würde.

«Kein Problem. Wenn ich einen Interkontinentalflug hinter mir habe, bin ich immer total aufgedreht. Und ich sitze lieber mit Ihnen in der Kneipe als allein vor dem Fernseher. Deshalb habe ich mich gefreut, als mich irgendwo über dem Atlantik Ihre Nachricht erreichte.» Die Bedienung kam, sie orderte ein Glas Chardonnay und ein Wasser.

Stadler bestellte ein weiteres Alt. «Bestimmt haben Sie Hunger. Ich glaube, man kann hier ganz gut essen, Sie sind natürlich mein Gast.»

«Nein danke, ich habe im Flugzeug etwas bekommen.»

«Waren Sie im Urlaub?»

«Nein, beim Westlake Film Festival in Kalifornien.»

«Davon habe ich noch nie gehört.»

«Das Festival ist ganz jung. Da herrscht noch Gründerzeitstimmung. Es ist nicht alles perfekt organisiert, dafür ist die Atmosphäre klasse, man spürt die Begeisterung. Ich mag das.»

Die Getränke kamen. Sie stießen an.

«Und nun erzählen Sie mal», forderte Weigand ihn auf, nachdem sie an ihrem Wein genippt hatte. «Wie kann ich Ihnen helfen? Worum geht es?»

«Sie halten wohl nicht viel von Smalltalk?», fragte er schmunzelnd. Helene Weigand gefiel ihm immer besser.

«Ihre Mail klang dringend. Außerdem sind Sie bei der Mordkommission. Ich gebe zu, das hat mich neugierig gemacht. Was könnte ein Kriminalkommissar von einer Filmexpertin wollen? Wie sind Sie überhaupt auf mich gekommen?»

«Ich habe im Internet recherchiert. Dort bin ich ziemlich schnell auf Ihren Namen gestoßen.» Er nahm einen Schluck Alt, fixierte dabei ihre großen grünen Augen. «Ich gebe zu, Ihr Foto hat bei der Entscheidung geholfen.» Oh Gott, wie peinlich. Flirtete er etwa?

Ihr Lächeln wurde breiter. «Ach ja?»

«Entschuldigen Sie.» Er räusperte sich. «Am besten erzähle ich Ihnen einfach, worum es geht. Ich denke, ich muss nicht extra betonen, dass diese Informationen streng vertraulich sind und Sie mit niemandem darüber reden dürfen.»

«Selbstverständlich.»

Stadler schob sein Glas zur Seite. «Gestern Nacht wurden in einer leerstehenden Fabrik im Hafen einige merkwürdige Gegenstände gefunden. Unter anderem haben wir ein Rasiermesser, einen zerbrochenen Rasierspiegel und eine Margaret-Thatcher-Maske sichergestellt. An der Wand war ein Graffito, das eine Art Schrank zeigte.»

«Wie ungewöhnlich!» Sie blickte kurz in ihr Glas, trank jedoch nicht. «Aber findet sich in einem leerstehenden Gebäude nicht immer allerhand Müll?»

«Da haben Sie recht. An dem Fund wäre nichts Beunruhigendes, wenn wir nicht zusätzlich eine größere Menge Blut entdeckt hätten. Menschliches Blut, wie die Untersuchung erwiesen hat.»

«Eine tödliche Menge?»

«Eine beträchtliche. Da hat sich nicht einfach jemand in den Finger geschnitten.»

«Verstehe. Keine Leiche?»

«Wir haben das ganze Gebäude abgesucht. Bisher ohne Erfolg. Aber das heißt nichts. Das Gelände ist riesig und unübersichtlich. Es gibt Lüftungsschächte, Löcher im Boden, Schutthaufen und Gruben, die mit Wasser und Abfall gefüllt sind.»

«Haben Sie schon eine Spur?»

«Jetzt kommen Sie ins Spiel. Das Gebäude wird in letzter Zeit häufig als Kulisse genutzt. Für Fotoshootings, Werbefilme oder Musikvideos. Vorhin, als ich mir die Bilder noch mal angeschaut habe, hatte ich die Assoziation einer Filmszene. Vor allem der Spiegel kam mir bekannt vor. Fällt Ihnen dazu etwas ein?»

Helene Weigand runzelte die Stirn. «Ein Schrank, ein Rasierspiegel und ein Rasiermesser?»

«Und die Maske.»

«Margaret Thatcher. Nein, da klingelt nichts bei mir. Natürlich gibt es viele mehr oder weniger bekannte Filmmorde mit Rasiermessern. Das Auge. Sweeney Todd. Und natürlich Buñuels Ein andalusischer Hund. Aber mit einer Margaret-Thatcher-Maske? Nein, da fällt mir nichts ein. Ich kann mal recherchieren und mich umhören, wenn Sie mögen.»

«Bitte tun Sie das.» Er hatte sich nicht viel von dieser Idee versprochen. Dennoch konnte er seine Enttäuschung nicht ganz verbergen.

«Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht helfen kann. Ich freue mich trotzdem, Sie kennengelernt zu haben.» Sie hob ihr Glas und sah ihm in die Augen. «Darf ich Georg sagen?»

«Natürlich.» Vielleicht wurde es ja doch noch ein lohnender Abend. «Helene also.» Er leerte sein Glas und blickte zur Theke, um die Aufmerksamkeit der Bedienung auf sich zu lenken.

Verdammt! Ist das nicht diese …

Er kniff die Augen zusammen. Die lange schwarze Mähne, die billige Aufmachung, das grelle Make-up. Kein Zweifel. Das war sie. Wie hatte sie sich noch genannt? Tatjana. Genau. Vor einigen Wochen hatte er Tatjana aus einer Bar abgeschleppt. Nein, eher umgekehrt, sie hatte ihn abgeschleppt. Sie hatten die Nacht zusammen verbracht, zumindest nahm er das an. Erinnern konnte er sich nicht. Als er am nächsten Morgen mit einem heftigen Kater aufgewacht war, war Tatjana verschwunden, zusammen mit seiner Uhr, seinem Tablet und seinem iPod.

«Was ist los?»

«Entschuldige mich einen Augenblick, ich muss was klären.» Er erhob sich. Schon während er sich einen Weg zur Theke bahnte, ahnte er, dass es eine beschissene Idee war, Tatjana zur Rede zu stellen. Trotzdem marschierte er schnurstracks auf sie zu.

«Was für eine Überraschung», säuselte er.

Sie wandte sich um, in ihrem Gesicht arbeitete es. «Kennen wir uns?»

«Kennen wäre wohl übertrieben. Aber du schuldest mir was.»

«Ach ja?» Sie betrachtete gelangweilt ihre Fingernägel. «Kann es sein, dass du mich mit jemandem verwechselst?»

«Probleme?» Der Wirt beugte sich über die Theke. «Macht der Kerl Ihnen Ärger?»

«Halten Sie sich da raus», fuhr Stadler ihn an.

«Soll ich die Polizei rufen?»

«Die ist schon da.» Stadler hielt dem Mann seinen Ausweis unter die Nase. Dann zerrte er Tatjana in den Gang zu den Toiletten. «Du hast mich beklaut.»

Sie zog in aller Ruhe ein Päckchen Marlboro aus ihrer geräumigen Handtasche und fummelte eine Zigarette heraus. «Kannste das beweisen?»

«Verarsch mich nicht!» Er packte sie an den Oberarmen.

Sie blieb völlig ruhig. «Na, na! Was denkt deine neue Freundin wohl, wenn sie sieht, wie grob du mit Frauen umspringst?»

Stadler besann sich und ließ sie los. «Ich könnte dich auf der Stelle festnehmen und aufs Präsidium bringen.»

«Warum tust du es dann nicht?» Sie nahm ein Feuerzeug aus der Handtasche.