Heinz-Jörg Eckhold

Die Rundholtz


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Die Handlung und alle Personen in diesem Roman sind frei erfunden.

Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und unbeabsichtigt.

Vorwort

Schon lange hatte ich darüber nachgedacht, wie man die Geschichte einer ganz normalen Familie erzählen kann, deren Normalität bei näherem Hinsehen doch Tatbestände offen legte, die mir unerklärlich waren und mich erstaunen ließen.

So konnte man feststellen, dass es in dieser Familie einerseits liebevolle, fleißige, tapfere, hochbegabte und geschäftstüchtige Familienmitglieder gab, die es zu Ansehen in der Gesellschaft gebracht hatten. Andererseits fiel auf, dass es in jeder Generation aber auch Spieler, Bankrotteure und Selbstmörder gab, die durch ihre Taten den Familienverband erschütterten. Während die Männer als fleißige Arbeiter, treue Beamte oder tapfere Soldaten mehr den westfälisch/preußischen Typus darstellten, glänzten die gut aussehenden Frauen durch ihre wache Intelligenz, große Gefühlsstärke und gestaltenden Familiensinn.

Die Männer waren überwiegend von mittlerer bis großer Statur, die Haarfarbe blond bis mittelblond überwog und ihre offenen, ausgeprägten Gesichter spiegelten ihr freudiges oder trauriges Seelenleben gut erkennbar wider. Wer sie zum ersten Mal sah, der sagte nach ihrem Aussehen und der Art zu sprechen: „Das sind typische Westfalen.” Das war damals keine Seltenheit im Ruhrgebiet, denn die Zeit der Industrialisierung hatte zwar viele Menschen aus dem Osten in das Ruhrgebiet gezogen, doch neben den westfälischen „Ureinwohnern” waren auch viele Bauernsöhne von den Höfen des Münster- oder Oldenburgerlandes gekommen, denn für alle Familienmitglieder reichte der Ertrag des eigenen Hofes nicht mehr aus.

Da der älteste Sohn in der Regel zum Erbe des Hofes bestimmt wurde, mussten für die übrigen Geschwister andere Möglichkeiten des Erwerbslebens gesucht werden. Während die Mädchen oft durch Heirat in die Verantwortung eines anderen Mannes gegeben wurden, versuchten viele der Jungen vom Land in den neuen Industriebetrieben des Ruhrgebietes Arbeit und Lohn zu erreichen.

Auch die heutige Familie Rundholz hatte ihre Wurzeln im Münsterland, bevor Paul und Sophia in Oberhausen eine Familie gründeten.

 

 

 

 

 

ZURÜCK ZU DEN WURZELN

Familienbande

In Osterfeld, einem Stadtteil der heutigen Stadt Oberhausen, die am nordwestlichen Rand des Ruhrgebietes liegt, wurde am 16. August 1904 Paul Rundholz als fünftes Kind der Familie Theodor und Maria Rundholz geboren. Seine Eltern kamen aus dem Münsterland. Während der Vater in Herbern zur Welt kam, wurde seine Mutter, eine geborene Mersmann, in Stockum, genauer in der Bauernschaft Wessel, nahe bei Herbern, geboren.

Als Maria und Theodor vor den Traualtar traten, um zu heiraten, da brachte sie von ihrem kleinen elterlichen Bauernhof eine für damalige Verhältnisse gute Mitgift in die Ehe ein. Die schwarze Eichentruhe, die sie vom Hof mitnehmen durfte, war gefüllt mit guter Bettwäsche, Tischdecken, Handtüchern und anderen Gebrauchsgegenständen für den Hausgebrauch. Auch einige Taler unterstützten ihre ersten gemeinsamen Lebenswochen. Ihr Mann Theodor hingegen hatte nach seiner ersten Tätigkeit als Knecht auf einem Bauernhof bei der königlichen Reichsbahn eine Stelle erhalten, in der er nach einiger Zeit in den Beamtenstand aufgenommen wurde und als Rangierer seinen Dienst wahrnahm.

Anfang des 20. Jahrhunderts wurde der königliche Rangierführer zum Verschiebebahnhof Osterfeld versetzt. Mit seiner Frau und drei Kindern suchte er sich in Osterfeld auf der Michelstraße eine Wohnung. Bis zum Jahre 1918 gebar Maria Rundholz dreizehn lebende Kinder, von denen allerdings – auch bedingt durch die schwere Zeit nach dem I. Weltkrieg – sieben Kinder noch vor Erreichung des zwanzigsten Lebensjahres verstarben.

Im dreizehnten Lebensjahr wurde Sohn Paul, ihr fünftes Kind, für zwei Jahre als Kriegskind auf einen Bauernhof nach Vorhelm in Westfalen gegeben, denn zuhause war die Ernährung nicht mehr gewährleistet. 1916/1917 herrschte in Deutschland bittere Not und in den sogenannten Kohlrübenwintern starben viele Menschen an Unterernährung. Auf dem Bauernhof der Familie Nagel war Paul willkommen und er wurde behandelt wie ein Kind der Familie. Insbesondere Bäuerin Mutter Nagel nahm sich seiner an und sorgte dafür, dass er immer satt zu essen bekam.

In dieser Zeit lernte Paul auch den großen Bauernhof der Familie Wibbelt kennen, deren Sohn Augustin, katholischer Pfarrer und plattdeutscher Dichter des Münsterlandes, später im Leben des Paul Rundholz noch eine besondere Rolle spielen sollte.

Weil in dieser Kriegs- und Krisenzeit leider auch kein geregelter Schulbesuch möglich war, konnte Paul nach dem Krieg, als er wieder zuhause war, gerade sechs Schuljahre nachweisen. Als im Jahre 1919 seine beiden älteren Brüder mit 18 und 19 Jahren an der teuflischen Tuberkulose starben, musste er sich mit noch nicht 15 Jahren eine Tätigkeit suchen, um zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen. Vier Monate arbeitete er in einer Sandkuhle nahe der elterlichen Wohnung. Das Füllen der Loren mit Sand war eine schwere körperliche Arbeit, die insbesondere an regnerischen Tagen seine Körperkraft überforderte. Dann hörte er von einer Hilfsarbeiterstelle auf der Gutehoffnungshütte (GHH) in Sterkrade. Gesucht wurde ein junger Mann, der zum Kranführer ausgebildet werden sollte. Nachdem er sich im Personalbüro des großen Eisenwerkes gemeldet und vorgestellt hatte, erhielt er zu seiner Freude die Stelle. Von da an stand er jeden Morgen vor 5:00 Uhr auf, machte sich zu Fuß auf den Weg nach Sterkrade, um pünktlich um 6:00 Uhr auf der GHH seine Arbeit aufzunehmen. Schon bald war er bei den Kollegen in der Halle 3 des Brückenbaus ein beliebter und geschätzter Mitarbeiter, der verlässlich und immer pünktlich seinen Dienst versah.

Aber auch in seiner Freizeit machte er sich viele Freunde. Bei Wacker 04 Osterfeld war er als rechter Läufer kaum zu ersetzen, und als Leichtathlet lief er über 800 m auch ohne Training gute Zeiten. Besondere Freude bereitete ihm der Männergesang. Als sich aus dem Gesellenverein Adolf Kolpings, dem er mit achtzehn Jahren beigetreten war, ein Männerquartett bildete, übernahm er die Bassstimme, brachte sich selbst das Spielen der Laute bei und war fortan auch ein guter Solist.

Da er im Kranführerhäuschen des Öfteren auch zum Lesen Zeit hatte, nahm er sich Bücher und Gedichtbände mit, deren Sprache und Ausdruckskraft ihn innerlich beglückten. Eines Tages versuchte er seine Gedanken und Gefühle ebenfalls in Verse zu fassen. Ganz erstaunt stellte er fest, dass ihm das gut gelang und dass es viel Freude bereitete. So überraschte er in der Folgezeit an besonderen Geburtstagen oder Feierlichkeiten im häuslichen Rahmen oder des Gesellenvereins die Teilnehmer mit gereimten Versen, was ihm viel Beachtung einbrachte. „Das ist unser Heimat- und Arbeiterdichter”, sagten die Arbeitskollegen untereinander und belächelten ein wenig den aufgeschlossenen jungen Mann.

Als er Sophia Epke kennenlernte, da war er bereits 28 Jahre alt. Sofort war er Feuer und Flamme für diese schlanke, groß gewachsene, blonde junge Frau. Doch es sollte noch einige Zeit vergehen, bis sie sich näher kommen konnten.

Sophia Epke wohnte ganz in seiner Nähe auf der Waisenhausstraße in Osterfeld, das zur damaligen Zeit – wie auch Sterkrade, der Nachbarort – eine selbständige Gemeinde war. Ihre Eltern waren Franz und Helene Epke. Der Vater kam in Ahlen in Westfalen zur Welt, während ihre Mutter in Duisburg geboren wurde. Am 23.Mai 1905 heirateten sie in Oberhausen und wurden in Osterfeld sesshaft. Aus dieser Ehe gingen vier Kinder hervor: Franz, Sophia, Heinz und Emil. Den Lebensunterhalt für die Familie verdiente Vater Franz bei der königlichen Eisenbahn in Osterfeld als Zugführer. So verwundert es nicht, dass sich Rangierer Theodor Rundholz und Zugführer Franz Epke als Arbeitskollegen kannten.

Sophia Epke, 1909 geboren, wuchs mit ihren Brüdern in einem sehr gepflegten, aber einfachen Haushalt auf. Sie besuchte die nahe gelegene Volksschule und war eine gute Schülerin. Als sie gerade zehn Jahre alt war, verstarb sehr plötzlich ihre Mutter. Die Trauer in der Familie war groß, und die Kinder vermissten ihre geliebte Mutter sehr. Vater Epke hatte seine Frau geliebt und trauerte eine längere Zeit, doch dann entschloss er sich erneut zu heiraten. Ihm war immer bewusster geworden, dass er, der er selbst ein ruhiger und zurückhaltender Mann war, vor allem für die Kinder eine neue Bezugsperson finden wollte, die ihnen helfen konnte, erwachsen zu werden. Schon bald fand er in Mathilde Österholz eine neue Ehefrau und für seine Kinder den gewünschten „Mutterersatz.”

Die Kinder kamen mit ihr zurecht, doch die leibliche Mutter konnte sie nur unvollkommen ersetzen. Sie führte den Haushalt, war sehr korrekt und hatte den leichten Überheblichkeitsfimmel, wie ihn viele Beamtenfrauen wegen des Beamtenstatus ihrer Männer hatten. Eine zweite, beinahe religiöse Macke kam hinzu, denn sie wollte unbedingt, dass einer der Stiefsöhne das Priesteramt anstreben sollte. Beim ältesten Sohn Franz, Sophias Lieblingsbruder, kam sie mit ihrem Ansinnen zu spät, denn der hatte bereits eine Lehre als Schmied begonnen und ging danach zur Polizei. Anders verhielt es sich bei ihren Brüdern Heinz und Emil. Als diese die Schulbank verlassen hatten, wurden sie von Stiefmutter Mathilde so lange geistig bedrängt, bis sie einwilligten und als Brüder ins Kloster gingen.

Über ihre Zufriedenheit in dieser Zeit ist wenig bekannt; allerdings verließen beide das Kloster, als die Nationalsozialisten auch die wehrfähigen Männer aus den Klöstern zu den Waffen befahlen. Sophia wurde von Stiefmutter Mathilde zwar nicht ins Kloster gedrängt, doch auch sie sollte eine besondere Ausbildung erhalten. Weil schon früh zu erkennen war, dass Sophia alle Hausarbeiten mit großem Geschick erledigte, wurde sie zur Ausbildung als Hausangestellte und Küchenhilfe nach Dortmund in das ‘Josefinen-Stift’ geschickt. Hier wurden junge Frauen insbesondere darauf vorbereitet, Pfarrern und Vikaren den Haushalt zu führen. Es ist anzunehmen, dass Mutter Mathilde diese Ausbildung auch als Prüfung der Gemütslage bei Sophia ansah, ob sie nicht doch Nonne werden wollte?

Diese Hintergründe und Erwartungen in der Familie Epke kannte Paul selbstverständlich nicht, als er Sophia nach einem Hochamt in der St. Pankratius-Kirche zufällig traf und sofort von ihr irgendwie verzaubert war. Da auch seine jüngeren Schwestern mit ihm in der Kirche waren, fragte er sie, wer denn diese tolle Frau sei? „Das ist Sophia Epke. Die ist schon seit einiger Zeit in Dortmund und soll jetzt einem Pastor den Haushalt führen, bekam er von seiner Schwester Maria zu hören.

Danach schaffte er es in die Nähe Sophias zu kommen und stellte sich ihr als der Bruder von Maria, Josefine und Elly vor. Als das Gespräch auf den Gesellenverein Adolf Kolpings und dessen abendliche Veranstaltung am nächsten Samstag kam, sah Paul eine Chance, Sophia zu dieser Veranstaltung einzuladen. Er schaute sie freundlich an und sagte: „Ich war so überrascht, Sie hier zu treffen und wusste gar nicht, dass Sie meinen Schwestern bekannt sind. Ich bin auch Mitglied des Gesellenvereins und würde Sie gerne zur Abendveranstaltung in der nächsten Woche am Samstag einladen. Ich möchte Sie gerne wieder sehen.” Damit hatte Sophia wohl nicht gerechnet, obwohl auch sie Paul vom ersten Moment an als sehr ansprechend empfand. Doch ohne Scheu und Pauls freundliche Einladung annehmend antwortete sie: „Wenn es eben möglich ist, dann werde ich zum Gesellenverein kommen. Da ich in Dortmund arbeite, ist es notwendig, meine Zusage vor Ort abzuklären. Auch ich würde Sie gerne wieder sehen.” Danach gaben sie sich die Hand und machten sich auf den Heimweg.

Pauls Schwestern hatten die Verabredung ziemlich sprachlos mitbekommen. Erst auf dem Weg nach Hause meinten sie: „Du hast aber ganz schön Tempo gemacht. Du kanntest doch die Sophia gar nicht und hast sie sofort für nächsten Sonnabend eingeladen. Hat dich wohl Knall auf Fall verliebt, nicht wahr?” „Darauf werde ich euch nicht antworten, ich hoffe nur, dass sie kommen wird”, gab er zur Antwort. An der Art und Weise, wie er das sagte, erkannten sie, dass ihr Bruder für Sophia Ecke Feuer gefangen hatte.

Am besagten Samstag feierte der Gesellenverein sein Gründungsfest. Alle Mitglieder und auch deren Angehörige waren zu dieser Feier eingeladen. Der Ablauf der Feier war in zwei Programmpunkte gegliedert. Der erste Teil sollte der Gründung des Gesellenvereins und der zeitgemäßen Umsetzung des Ideengutes Adolf Kolpings gewidmet sein, danach sollte die Ehrung der Jubilare erfolgen. Mit Gesang, Musik und Tanz würde sich dann der zweite Teil der Veranstaltung anschließen.

Da Paul seit einigen Monaten in der Führung des Gesellenvereins als Senior für die Gruppe der unverheirateten Kolpingsöhne tätig war, musste er an diesem Abend die Leitung durch das Programm übernehmen. Hocherfreut konnte er vor Beginn der Feier Sophia Ecke begrüßen, die seiner Einladung gefolgt war. Sie kam in Begleitung von Maria und Elly, Pauls Schwestern, die diese Verabredung jedoch vor Paul geheim gehalten hatten. Sophia trug ein dunkelblaues Kleid, das durch einen weißen Kragen, durch eine weiß abgesetzte, aufgenähte Tasche und durch weiße Borde an den dreiviertellangen Armen ihre tadellose Figur unterstrich. Der faltige Rock bedeckte die Knie, so wie es damals Mode war, aber dennoch konnte man ihre wohlgeformten Beine sehen und erahnen. Paul begleitete Sophia und seine Schwestern an einen gemeinsamen Tisch, an dem für ihn – neben Sophia – ein Platz freigehalten wurde.

Danach leitete er die Veranstaltung souverän. Er beeindruckte alle Teilnehmer durch seine Kenntnis der Ideen Adolf Kolpings, ehrte die Jubilare mit einem Prolog, den er selbst gedichtet hatte und gab danach dem frohen Treiben bei Musik und Tanz Raum.

Er selbst war froh, dass er endlich neben Sophia Platz nehmen konnte. Diese wiederum war begeistert, mit welcher Selbstverständlichkeit Paul die Veranstaltung geleitet hatte. Dass er Senior des Gesellenvereins war, das hatten ihr zuvor Pauls Schwestern verraten. Im Verlauf des Abends tanzten Sophia und Paul einige Male. Dabei musste Sophia feststellen, doch dieses hatte er ihr auch bei der ersten Aufforderung zum Tanz sofort gesagt, dass er kein guter Tänzer war. Die Tanzschritte konnte er, auch der Takt stimmte, doch es fehlte die besondere Flüssigkeit, das geschmeidige Gleiten über den Tanzboden. Sophia war darüber überhaupt nicht verwundert, denn auch sie hatte bisher kaum Gelegenheit zum Tanzen. Gleichzeitig hatte sie auch festgestellt, dass ihr Tanzpartner nur wenige Zentimeter größer war als sie selbst.

Viel besser gefiel es ihnen, dass sie von Anfang an spürten, wie sehr sie sich zueinander hingezogen fühlten. Sie erzählten über ihre Familien, lachten über die Erlebnisse mit ihren Geschwistern, sprachen über ihren bisherigen Werdegang und über zukünftige Erwartungen.

Als die Feier zu Ende ging, da hatten sie das Gefühl, sich tief in die Seele geschaut zu haben. Bei einem Glas Wein vereinbarten sie das Du, was sie mit einem flüchtigen Kuss in aller Öffentlichkeit besiegelten. Später brachte Paul zusammen mit Sophia zuerst seine Schwestern nach Hause, um sie dann selbst zu ihrer Wohnung zu begleiten. Als sie sich verabschiedeten, nahmen sie sich in die Arme und küssten sich inniglich. Beide hatten das Gefühl auf einer Wolke zu schweben, in grenzenloser Vertrautheit. Sie vereinbarten, sich bald wieder zu sehen. Sophia wusste allerdings noch nicht, wann dieses möglich sein würde, denn zurzeit machte sie ein Berufspraktikum im Pfarrhaus des Pfarrers Herold in Dortmund. Paul versprach, dass er ihr schon bald einen Brief schreiben werde, aber dennoch hoffe, sie bald wieder zu treffen.

In den nächsten Tagen musste Paul oft an Sophia denken und er hoffte, dass es ihr genauso erging. Den ersten Brief schrieb er ihr sofort am Montagnachmittag, nachdem er von der Arbeit nach Hause gekommen war. Diese Frau hatte ihn in ihrer einfachen und schlichten Art verzaubert. Geflirtet hatte er immer sehr gerne, und es gab einige junge Frauen, die über eine engere Bindung an ihn erfreut gewesen wären. Doch bis zur Begegnung mit Sophia war es immer beim unverbindlichen Flirt geblieben. Als er seinen Brief an Sophia schrieb, da war ihm bewusst, dass er ihr seine Zuneigung gestehen wollte. Jetzt, 28 Jahre alt, hatte er die viel genannten Schmetterlinge im Bauch. Das Feuer der Liebe hatte ihn erfasst.

Aber auch Sophia ging es kaum anders. Während ihrer Hausarbeit im Pfarrhaus hatte sie so manche Gelegenheit sich in Gedanken nach Oberhausen zu versetzen und über die Begegnung mit Paul nachzudenken. Als Pfarrer Herold sie einmal ganz in Gedanken versunken stehen sah, fragte der alte Herr ohne jeden Hintergedanken: „Sophia, du hast wohl ein schönes Wochenende verbracht? Du strahlst so und siehst glücklich aus.” Sophia, zu diesem Zeitpunkt 23 Jahre alt, fühlte sich irgendwie ertappt, bekam einen roten Kopf und antwortete: „Es stimmt, ich hatte ein schönes Wochenende. Ich war auf dem Gründungsfest unseres Gesellenvereins, das im Pfarrsaal durchgeführt wurde.” „Na, das ist ja prima. Waren bestimmt auch fesche Gesellen dabei, meinte Pfarrer Herold und verließ das Zimmer ohne eine Antwort abzuwarten.

Sophia richtete es in den kommenden Tagen so ein, dass sie morgens dem Postboten die Tür öffnete und die Post entgegennahm. Am Mittwoch endlich war Pauls Brief dabei, den sie sofort in ihrer weißen Schürze verschwinden ließ, um ihn bei nächster Gelegenheit zu lesen. Es waren ganz liebe Zeilen, die er an sie gerichtet hatte, und sie hatte fast das Gefühl, dass er vor ihr stehe und sie in die Arme nehme. Zum Schluss schrieb er: „Wir kennen uns noch gar nicht sehr lange, doch ich habe das Gefühl, als hätten wir auf uns gewartet, um uns nicht mehr zu verlieren. Ich habe ständig Dein Bild vor Augen und möchte Dich sehr bald wieder sehen. Wenn Du nicht kommen kannst, dann komme ich gerne auch nach Dortmund, um Dich zu sehen und Dir nahe zu sein. Dein Dich liebender Paul.”

Als Sophias Antwortbrief auf der Michelstraße eintraf, war Paul noch auf der Arbeit. Seine Mutter nahm den Brief entgegen und stellte ihn auf die Ablage am Küchenschrank. Da seine Schwestern vor ihm zuhause waren, staunten sie nicht wenig darüber, dass Sophia Paul geschrieben hatte. „Da tut sich etwas”, gackerte Schwester Josefine hell lachend. „Ich glaube der Paul hat sich verliebt.” „Das scheint eine ernste Sache zu sein”, meinte Elly. „Der Paul ist ganz anders als sonst. Ich glaube, den hat es diesmal erwischt.” Mutter Maria hatte diese Bemerkungen mitbekommen und sagte darauf in aller Ruhe: „Der Paul ist alt genug und weiß, was er will. Ihr habt selbst gesagt, dass die Sophia Epke eine hübsche und angenehme Person ist. Haltet euch darum gegenüber Paul ein wenig zurück mit euren lästernden Reden.”

Von der Arbeit zurück sah Paul sofort den Brief auf der Ablage stehen, nahm ihn an sich, ging ins Wohnzimmer, öffnete ihn und las mit innerem Frohlocken, dass Sophia seine Gedanken und Gefühle teilte. Leider könne sie am Sonnabend nicht nach Sterkrade kommen, da die eigentliche Haushälterin des Herrn Pastor für einige Tage verreisen musste, sodass sie für diese Zeit den Haushalt zu führen habe. Sie würde sich aber sehr freuen, wenn er am Samstagnachmittag nach Dortmund kommen könne. Sie beendete den Brief, indem sie schrieb: „Ich warte auf Dich. Deine Dich liebende Sophia. P.S. Weil für eine briefliche Antwort von Dir die Zeit nicht mehr ausreicht, bitte ich Dich, mich hier im Pfarrhaus anzurufen.” Die Telefonnummer des Pfarrhauses hatte sie aufgeschrieben, sodass Paul sie schon zwei Stunden später anrufen konnte. Zuhause erklärte er nur, dass er am Samstag Sophia Epke in Dortmund besuchen werde.

Wie diese Liebesgeschichte danach in Einzelheiten weiter gegangen ist, das entzieht sich der Kenntnis des Schreibers dieser Zeilen. Richtig ist, dass sich Sophia und Paul, so oft es möglich war, in der Folgezeit getroffen haben. Sie waren ein verliebtes Paar und verlobten sich zu Weihnachten 1932. Von diesem Tag an sparten und rüsteten beide auch für eine baldige Hochzeit.

Als sie im April 1933 mit großem Glück die Zusage für eine kleine Mansardenwohnung in Sterkrade auf der Neumühler Straße erhielten, beschlossen sie im August des Jahres 1933 zu heiraten. Die Freude über die baldige gemeinsame Zukunft muss so groß gewesen sein, dass sich Sophia und Paul zum Ende des Frühjahres einander ganz nahe kamen und ihr erstes Kind zeugten.

Da Paul in der Zwischenzeit zum Pfarrer und Dichter Augustin Wibbelt in Mehr bei Kleve Kontakt aufgenommen hatte, den er seit seiner Zeit als Kriegskind in Vorhelm immer im „Blick” behalten hatte, um ihn zu bitten, seine ersten Gedichte und Erzählungen wohlwollend und kritisch bezüglich einer Veröffentlichung im Kirchenblatt der Diözese Münster zu prüfen, kam gleichzeitig die Idee auf, sich auch von ihm kirchlich trauen zu lassen. Pfarrer Wibbelt unterstützte das literarische Wirken von Paul auf seine Weise, indem er, als der dafür Verantwortliche, nacheinander einige Gedichte und Erzählungen im Kirchenblatt des Bistums Münster veröffentlichte. Auch freute er sich darüber, dass Sophia und Paul mit seinem priesterlichen Segen kirchlich heiraten wollten.

Für Sophia und Paul war es eine spannende und glückliche Zeit. Vom Standesbeamten in der neuen Großstadt Oberhausen, die nach einer Gebietsreform inzwischen aus den drei Stadtteilen Sterkrade, Osterfeld und Oberhausen gebildet worden war, wurde der Termin für die standesamtliche Hochzeit auf den 20. August 1933 festgelegt. Die feierliche kirchliche Trauung wurde für den 22. August 1933 vereinbart. Wie festgelegt, fand die standesamtliche Hochzeit am 20. Juli im Rathaus zu Oberhausen-Osterfeld statt. Der teilnehmende Kreis an Personen war bewusst klein gehalten worden, da sie allein die kirchliche Hochzeit in einem etwas erweiterten Rahmen feiern wollten. Die finanziellen Mittel waren in beiden Familien begrenzt, und Paul und Sophia gedachten ihre Ersparnisse für die Einrichtung der Wohnung aufzuwenden.

So waren zur Zeremonie im Standesamt beide Elternpaare und als Trauzeugen, Sophias Bruder Franz und Pauls Schwester Maria erschienen. Sophia trug ein blaues Kostüm, das sie gut kleidete und ihre schlanke Figur betonte. Paul war in einem schwarzen Anzug erschienen, den die Männer damals immer zu besonderen Anlässen trugen. Der Standesbeamte erledigte seine Aufgabe mit viel Routine und ermahnenden Worten, diesen Ehebund als tragfähige Grundlage für das weitere gemeinsame Leben zu begreifen. Maria und Franz bestätigten mit ihren Unterschriften das Heiratsdokument, und die Eltern beglückwünschten sich und ihre Kinder in der Hoffnung auf viele gemeinsame Jahre.

Zur kirchlichen Trauung in der Pfarrkirche zu Mehr bei Kleve waren neben den Eltern und den bekannten Trauzeugen auch Pauls Schwestern Josefine, Elly und Angela angereist. Seine älteste Schwester Grete, seit einigen Jahren mit dem Lokführer Heinrich Stein verheiratet und inzwischen Mutter von zwei Söhnen, hatte kurzfristig mitgeteilt, dass sie wegen einer Krankheit ihres Sohnes Theo nicht aus Hamm i. Westfalen kommen könne, was sie sehr bedaure. Sophias weitere Brüder Heinz und Emil waren damals im Noviziat des Ordens und hatten keine Erlaubnis zur Teilnahme erhalten. Dazu kamen noch drei Mitglieder des Männer-Quartetts, in dem Paul sang, sowie einige gute Freunde aus dem Gesellenverein und aus dem Kirchenchor, dem er ebenfalls angehörte.

Sophia hatte sich erneut für ein nicht ganz weißes, cremefarbenes Kostüm entschieden, dazu trug sie Handschuhe, einen zum Kostüm passenden mit Spitze abgesetzten Hut und cremefarbene Schuhe mit höheren Absätzen. In den Händen hielt sie einen kleinen Brautstrauß aus gelben Rosen. Paul trug wiederum seinen schwarzen Anzug, den am Revers ein kleines Blumensträußchen schmückte, dazu am Hals eine weiße Fliege. Seine volle Haarpracht hatte er zur Feier des Tages vom Friseur ordentlich beschneiden lassen. Alle weiteren Teilnehmer hatten sich dem Anlass entsprechend festlich aber einfach gekleidet. Pauls Schwestern waren in ihren luftigen Sommerkleidern herausgehobene Farbtupfer, denn beide Elternpaare trugen ohne Ausnahme die damals übliche dunkle Kleidung. Sophias Bruder Franz hatte einen hellgrauen Sommeranzug angezogen, der die sommerlichen Temperaturen erträglich machte und gut zu seiner sportlichen Figur passte. So erwarteten alle gemeinsam, vor der Kirche stehend, Pfarrer Wibbelt, der im Münsterland, am Niederrhein und vor allem im Bistum Münster wegen seiner plattdeutschen Gedichte und Erzählungen sehr bekannt war.

Als Pfarrer Augustin Wibbelt dann aus dem seitlich von der Kirche gelegenen Pfarrhaus gekommen war und nach einer freundlichen Begrüßung mit der Hochzeitgesellschaft seine Pfarrkirche betrat, ertönte die Orgel mit vielen Akkorden. Paul erkannte sofort am Orgelspiel, dass auch Organist und Chorleiter Krähenheide aus Osterfeld angereist sein musste, denn diese Passage aus einem Orgelkonzert Nr. 14 von Georg Friedrich Händel, spielte er meisterlich. Mit seinem Erscheinen hatte Paul nicht gerechnet, sodass diese Überraschung voll gelungen war.

Pfarrer Wibbelt, ein untersetzter und stets freundlich blickender älterer Herr, vollzog die kirchliche Trauung und fand dabei für Sophia und Paul sehr aufmunternde und auch persönliche Worte. Er wünschte Paul für seine weitere literarische Tätigkeit viel Erfolg und meinte, seinen Blick auf Sophia gerichtet: „Ich bin davon überzeugt, dass Sie mit dieser Frau an Ihrer Seite noch manche gute Eingebung haben werden und auch die Höhen und Tiefen des Lebens gemeinsam meistern werden. Gottes Segen auf allen Wegen möge Sie beide begleiten.”

Vor dem Auszug aus der Kirche sang das Männerquartett, verstärkt durch den Gesang und das Orgelspiel des Organisten Krähenheide, das Lied: „So nimm denn meine Hände und führe mich.” Pauls Schwestern, aber auch die anderen Teilnehmer dieser Trauung, waren gerührt und wischten verstohlen einige Tränen aus ihren Augen.

In einer nahe gelegenen Bauerngaststätte, die einen kleinen, separaten Saal hatte, aß die genau zwanzig Personen umfassende Hochzeitsgesellschaft zu Mittag. Auch Pfarrer Wibbelt war der Einladung gefolgt und nahm an dem Essen teil. Wie bei Hochzeitsgesellschaften üblich, drehten sich die Gespräche zuerst um die Zukunft des Brautpaares, danach um Erlebtes aus dem Alltag. In einer Gesprächspause verstand es Paul, Pfarrer Wibbelt zu Aussagen über sein gegenwärtiges literarisches Schaffen zu veranlassen: „Ich erlebe mit einiger Besorgnis, wie sich seit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten zu Beginn des Jahres Veränderungen in unserem Volk vollziehen. Noch weiß ich nicht, und wir alle kennen nur die offiziellen Reden und Verlautbarungen, wohin sich das Ganze entwickeln wird. Ich habe nur das vage Gefühl, wenn ich an das Buch Adolf Hitlers „Mein Kampf” denke, das Sie ja auch zur standesamtlichen Hochzeit erhalten haben, dass einige unserer christlichen und abendländischen Wertvorstellungen von den neuen Machthabern zugunsten ihrer Ideologie umgedeutet werden. Aus diesem Grunde werden sich meine nächsten Arbeiten mit bestimmten Wertvorstellungen wie z.B. der Treue, dem Gehorsam, der Liebe zu den Eltern oder aber auch mit den Fragen befassen: Was heißt Gefolgschaft oder ‘blinder Gehorsam’?” An dieser Stelle machte er eine kurze Pause, sah zu Paul und Sophia herüber und meinte dann schmunzelnd: „Das ist Ihr Tag, darum sollten wir nicht zu ernst und zu politisch werden.” Und sich zu Paul hinwendend fuhr er fort: „Wir können uns noch gerne ein wenig über Vorhelm, das ist ja mein Heimatort, und Ihre Erlebnisse in den Kriegsjahren 1917/1918 auf dem Bergeickel, dieser Ansammlung von Bauernhöfen, unterhalten. Das, was ich bisher von Ihnen darüber gelesen habe, das hat viele Erinnerungen in mir wachgerufen.”

Während Pfarrer Wibbelt sprach, hatten alle am Tisch zugehört. Da er sich mit seinen letzten Worten besonders an Paul gewandt hatte, nahm man danach wieder die eigenen Gespräche auf. Paul und Sophia, wie auch ihre Eltern, denen das Münsterland von Lüdinghausen bis Beckum gut bekannt war, vertieften hingegen den Gedankenaustausch mit Pfarrer Wibbelt. Dieser empfahl sich nach dem Mittagessen in die so genannte ‘Unterstunde’, was im Plattdeutschen die Mittagsruhe umschreibt. Zuvor lud Pfarrer Wibbelt Paul und Sophia ein, auch weiterhin zu ihm Kontakt zu halten. Er verabschiedete sich bei allen und machte sich dann auf den Weg zu seinem Pfarrhaus. Die übrige Hochzeitsgesellschaft trank noch gemeinsam Kaffee, gönnte sich einige Biere und Schnäpschen, um dann wieder nach Oberhausen aufzubrechen.

Alle Teilnehmer waren der Ansicht, an einer etwas anderen aber besonderen Hochzeit teilgenommen zu haben. Sophia und Paul bezogen an diesem Abend – müde aber glücklich – ihre eigene Mansardenwohnung, die für die nächsten vier Jahre ihr Refugium, ihr Zuhause sein sollte.

Am 18.Februar 1934, an einem Sonntag, gebar Sophia ihr erstes Kind. Die Geburt verlief ohne besondere Schwierigkeiten und auch alle anderen Umstände, die in Wirklichkeit keine waren, erweckten den Eindruck, dass hier ein Sonntagskind auf die Welt gekommen war, was sich im weitern Leben tatsächlich bestätigen sollte. Die stolzen und glücklichen Eltern waren sich darüber einig, dass der Sohn den Namen des Großvaters Theodor – und in Erinnerung an die Trauung mit Pfarrer Augustin Wibbelt – den Zweitnamen Augustin tragen sollte. Am 25.Februar 1934 wurde ihr Erstgeborener in der St. Marienkirche in Osterfeld-Rothebusch auf den Namen Theodor Augustin getauft.

Als am 29.April 1935 der zweite Sohn zur Welt gekommen war, wurde dieser am 5. Mai in der St. Marienkirche des Kapuzinerklosters in Sterkrade auf den Namen Franz-Josef getauft. Beide Söhne entwickelten sich in den folgenden Jahren prächtig. Doch je größer sie wurden, desto offensichtlicher wurde auch, dass die kleine Mansardenwohnung auf Dauer vom Platz her nicht mehr ausreichen würde. So verwundert es nicht, dass sich die Familie Rundholz zum Ende des Jahres 1936 auf die Suche nach einer größeren Wohnung machte.

Da es auch damals nicht leicht war, für eine Arbeiterfamilie mit Kindern eine gute und bezahlbare Wohnung zu finden, dauerte es bis zum Februar 1937, dass sie die Zusage für eine Wohnung auf der Steinbrinkstraße in Sterkrade bekamen. Mit dem Umzug im März 1937 begannen vierundzwanzig erlebnisreiche, glückliche und manchmal auch sehr schwierige Jahre des familiären Zusammenlebens.