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Ulrich Grober

DIE ENTDECKUNG DER
NACHHALTIGKEIT

Kulturgeschichte eines Begriffs

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag Antje Kunstmann

INHALT

EINS                »… EINE ANGEBORENE FÄHIGKEIT«?

Prolog

ZWEI               EIN SPERRIGER BEGRIFF

Begriffsverwirrung

Wortkörper

Formelsammlung

DREI                »… DER SCHÖNSTE STERN AM FIRMAMENT«

Ikone Erde

Stummer Frühling

Schrei des Schmetterlings

Die Pyramide der Bedürfnisse

Die Imagination an die Macht

VIER               URTEXTE

Sonnengesang

Die Schöpfung bewahren

Mord an Mutter Erde

FÜNF              EIN EUROPÄISCHER TRAUM

Astronautenperspektive 1440–1634

Aus den Fugen

Modell Descartes

Modell Spinoza

Die beste aller Welten

SECHS            VIRTUOSEN

Die Wälder der Serenissima

»…manage the woods discreetly!«

Die Forstreform des Sonnenkönigs

SIEBEN           DIE WORTSCHÖPFUNG

Ein barockes Silicon Valley

»… ein purer Spinozist«

Ein sächsischer Europäer

Wortschöpfung

Das Dreieck der Nachhaltigkeit

Blick nach Fernost

Versuchsfeld Weimar

In Goethes Wäldern

ACHT              DIE GEBURT DER ÖKOLOGIE

Linnés »oeconomia naturae«

Kosmos Weimar

»… ein Stern unter Sternen«

Lieder der Erde

Gegenentwürfe

Der erste Ökologe

»Oecologie« definieren

Umwelt und Entwicklung

NEUN             DIE VERMESSUNG DER WÄLDER

100 Hektar Urwald

Märchenwald und Realität

Die Arbeit am Begriff

Hochschule für Nachhaltigkeit

Den Forst »einrichten«

Der »normale« Wald

Frühe Warnungen

Die unsichtbare Hand des Marktes

Die Erfindung des Schädlings

ZEHN              FOSSIL, NUKLEAR, SOLAR

Holzmangel und »sea-coal«

Die unterirdischen Wälder

Tickende Zeitbombe

Solares Zeitalter

»Heller als 1000 Sonnen«

Die Entdeckung der Photovoltaik

ELF                  »NACHHALTIG« ÜBERSETZEN

Der helvetische Weg

Tharandt und Nancy

In den Wäldern des Nordens

»Sustained yield« im Dschungel

Die amerikanische Variante

Angekommen

ZWÖLF           ERDPOLITIK I: AUFBRÜCHE

Grenzen des Wachstums

»… ein dauerhaft bewohnbarer Planet«

»Siehe, ich mache alles neu«

Gaia

DREIZEHN     ERDPOLITIK II: DER GROSSE WURF

Lebendige Ressourcen

Entwicklung neu denken

Die Brundtland-Formel

Der Geist von Rio

VIERZEHN     UND JETZT?

EPILOG

Danksagung

Anmerkungen

Quellen (Auswahl)

EINS

 

»… EINE ANGEBORENE FÄHIGKEIT«?

Prolog

Die Ernte des Vorjahres war mager ausgefallen. Schon im März 2008 hatte in den Dörfern der Dürregebiete im westlichen Senegal die soudure eingesetzt. Das französische Wort für Schweißnaht, Lötstelle oder – im übertragenen Sinn – für etwas, was überbrückt werden muss, hat im frankofonen Afrika einen besonderen Beiklang. Es bezeichnet die Lücke zwischen dem Zeitpunkt, wo in den Dörfern die Vorräte aus der letzten Ernte zur Neige gehen, und dem Beginn der neuen Ernte. Ngekh sagt man in der Landessprache. Erfahrungsgemäß dauert diese Periode der Mangelernährung von Anfang Juni bis Mitte September. 2008 aber ließ die Regenzeit auf sich warten. Erst spät im Oktober kamen die ersten Früchte der neuen Ernte auf den Tisch.

In vielen Regionen Afrikas wiederholen sich Jahr für Jahr Szenen wie diese: Nach der Ernte füllt jede Familie lederne Säckchen mit Hirse, Gerste oder Reis. So kühl und so trocken wie möglich deponiert sie diese im hintersten Winkel ihres Speichers. Was die Bauern da für später zurücklegen – als Reserve vorhalten –, ist das Saatgut für das kommende Jahr, ihre Lebensversicherung, die einzige, die sie haben. Unsichtbar für begehrliche Blicke, unerreichbar für hungrige Mäuler, bleiben die Säckchen liegen. Auch dann noch, wenn die Erträge der letzten Ernte aufgezehrt sind.

Afrika ist ein großer Lehrmeister. Die menschliche Gemeinschaft, so sagt man hier, bestehe aus denen, die vor uns da waren, denen, die hier und heute leben, und denen, die nach uns kommen. Afrika erzieht zur Resilienz. Das ist die Fähigkeit, Schläge aller Art von sich abfedern zu lassen und Widerstandskräfte zu mobilisieren, um Perioden der Entbehrung nicht nur zu überstehen, sondern aktiv zu überwinden und dabei Lebensmut, Lebensfreude und Freundlichkeit zu bewahren und zu stärken. Die Hollywood-Ikone und Darfur-Aktivistin Mia Farrow sprach von der Resilienz der Seele. Das Wort lässt sich auch mit Unverwüstlichkeit übersetzen. Diese Eigenschaft werden wir in Zukunft dringend brauchen, und zwar überall auf der Welt.

In Zeiten von Dürrekatastrophen – wie in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts – zieht sich die soudure unerträglich lange hin. Dann lautet die eiserne Regel der Überlebenskunst: Bevor du die Rücklagen an Saatgut antastest, verkaufe alle deine Habseligkeiten. Schlachte dein Rind, deine Ziegen. Schicke deine Kinder zum Arbeiten in die Stadt. Geh selbst wandern, um anderswo etwas Geld oder Naturalien zu verdienen. Aber bewahre dein Saatgut. Erst wenn der Hunger lebensbedrohlich wird, hol das Säckchen hervor. Und dann denk lange darüber nach, ob du es öffnest. Wenn die Familien im Sahel und anderen Regionen Afrikas anfangen, ihre Reserven für die kommende Aussaat aufzuzehren, stehen sie am Abgrund. So begann Mitte der achtziger Jahre auf den Straßen und Pisten der Sahelzone ein Exodus, den viele nicht überlebten. Reporter und Helfer berichteten damals, wie Bäuerinnen ihr letztes Säckchen hervorholten und die Hirsekörner mit stolzer Gebärde, als wären es Diamanten, vor ihnen auf den Tisch häuften.

Im Dezember 2008 hörte ich Adama Sarr zu. Der junge Koordinator einer kleinen Nichtregierungsorganisation in einer Trockenregion des Senegals war zu einer Vortragsreise nach Deutschland gekommen. Jeden Abend erzählte er vor einem kleinen Publikum von der soudure. Wie ist unter dem bedrohlichen Vorzeichen des Klimawandels der Teufelskreis des chronischen Hungers zu durchbrechen? Sarr berichtete von den Aktivitäten in den zwölf Dörfern, in denen sein Netzwerk aus Kleinbäuerinnen, Viehzüchtern und Dorflehrern arbeitet. Wie die Mitglieder den Baobab, den Lebensbaum Afrikas, schützen, neue Bäume pflanzen, Hecken anlegen, um die Kulturen vor den heißen Winden zu schützen, wie sie Kleinstkredite beschaffen, den Bau von Kochherden anleiten, welche die offenen, holzfressenden Feuerstellen ersetzen, wie sie Kompostgruben einrichten, Brunnen bohren, die Menschen alphabetisieren. Was das Saatgut angeht, propagiert die Gruppe die Rückkehr zu traditionellen lokalen Kulturpflanzen, den einheimischen Hirsesorten beispielsweise. Denn das importierte industrielle Saatgut ist meist hybrid. Das heißt, es ist gar nicht mehr von selbst keimfähig, also unbrauchbar für die Aussaat.

Welche Vision steht hinter diesen Anstrengungen der senegalesischen Bauernorganisation? In dem Infoblatt, das ich von dem Vortragsabend mit nach Hause nahm, fand ich sie formuliert: accéder à un développement durable. Zu einer nachhaltigen Entwicklung gelangen.*

*

Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden. Zeitlose Weisheit und wunderbare Metapher für Nachhaltigkeit. Sie stammt freilich nicht aus Afrika, sondern aus der Feder Goethes. Der Dichter und Minister eines verarmten deutschen Zwergstaates hat sie aus seiner unmittelbaren Umwelt geschöpft. Die frühen Jahre seiner Amtszeit waren für die bäuerliche Bevölkerung Thüringens von Missernten und Hungersnöten geprägt. Selbst im grünen Herzen Deutschlands spitzte sich damals jeden Frühsommer die soudure zu. Im Juli des Jahres 1779 beispielsweise flehten ganze Dörfer die Weimarer »Cammer«, die herzogliche Finanzbehörde, um Steuererlass an. Man wisse nicht, heißt es in einem Bittbrief aus einem Dorf bei Jena, wo die armen Leute das Saamen Korn zur künftigen Aussaat hernehmen sollten. In jenen Jahren war Goethe als Minister mit der Arbeit der Kammer befasst. Erschüttert berichtete er aus Ilmenau seiner Freundin Charlotte von Stein über die Begegnung mit einem Mann, »der im Elende der Hungernoth seine Frau neben sich in der Scheune sterben« sah und sie »selbst einscharren« musste.

In die Welt gesetzt hat Goethe das Sinnbild in seinem Bildungsroman »Wilhelm Meisters Lehrjahre«. Ein rätselhafter Abbé, Mitglied einer geheimnisvollen »Turmgesellschaft«, in die Wilhelm Meister, der Held des Romans, hineingerät, überreicht ihm ein Schriftstück »von wichtigem Inhalt«. Dieser »Lehrbrief«, so wird ihm gesagt, beziehe sich auf die »Ausbildung des Kunstsinnes«. Sein zweiter Teil aber handele »vom Leben«. Er beginnt mit den Worten: »Die Kunst ist lang, das Leben kurz« und endet mit dem Satz: … gebackenes Brot ist schmackhaft und sättigend für Einen Tag; aber Mehl kann man nicht säen, und die Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden.

Als Goethe diese Zeilen niederschrieb, arbeitete das herzogliche Forstdepartement an einem gewaltigen Aufforstungsprogramm. Die Wälder des Herzogtums sollten – so hieß es schon 1761 in einer Anordnung der Herzogin Anna Amalia wörtlich – eine neue und nachhaltige Forsteinrichtung erhalten.

*

In den Tagen des September 2008 kollabierte das internationale Finanzsystem. Die Zeitungen druckten Weitwinkelaufnahmen von den Granitbauten der Bankpaläste. Finanzinstitute, die bis dahin solide wie das Urgestein ihrer Architektur gewirkt hatten, erschienen aus diesem Blickwinkel so einsturzgefährdet wie der Turmbau zu Babel. Sogenannte Wirtschaftsweise, die sich bis dahin damit gebrüstet hatten, bei der Sanierung ganzer Länder »ohne Narkose zu operieren«, wurden einen Moment lang kleinlaut. »Wo ist mein Geld?« fragte der Dokumentarfilmer Michael Moore eine Bankerin auf der Wallstreet. »Ich weiß es nicht«, antwortete sie. In diesen Tagen, so die englische Zeitung DAILY TELEGRAPH, erlebte sich der britische Kapitalismus als »Auslaufmodell«. Vor laufender Kamera sah man Milliardäre weinen. Politiker erzählten fassungslos, sie hätten in den »Abgrund« geblickt. Über Nacht spannten sie Rettungsschirme auf. Dann packten sie Konjunkturpakete. Die Geldsummen, die nun ins Spiel kamen, waren unfassbar. Um ein Vielfaches überstiegen sie die Beträge, die UN-Experten für die vollständige Befreiung der Menschheit von der Geisel des Hungers hochgerechnet hatten. Mit dem frischen Geld und den neuen Sicherheiten machten die Banken weiter – business as usual. Prompt folgte die europäische Schuldenkrise von 2011. »Ich sehe unser System in einem schmerz haften Prozess des Zusammenbruchs«, schrieb Paul Gilding, der frühere Direktor von Greenpeace. »Unser System des ökonomischen Wachstums, der ineffizienten Demokratie, der Überbelastung des Planeten Erde – unser ganzes System frisst sich selbst auf.«

Es gibt keine Alternative? Warum eigentlich nicht? Kaltblütig Strukturen, die nicht nachhaltig sind, kollabieren lassen, dafür den Einsatz erhöhen, um bestehende nachhaltige Strukturen zu stärken und neue in die Welt zu setzen. Wäre das nicht die bessere Strategie, um gestärkt aus der Krise hervorzugehen? Sie erfordert freilich, dass man zwischen nachhaltig und nicht nachhaltig präzise zu unterscheiden vermag.

*

In jenen Spätsommertagen war ich wandern. In der Bergwelt des hinteren Ötztals, unter einer azurblauen Himmelskuppel, bei 25 Grad im Schatten. Von den letzten Häusern des alten Tiroler Bergsteigerdorfes Vent kraxelte ich empor in die Gletscherzone. Vor mir lag auf 3000 Meter Höhe schmutzig grau das Gletschertor des Rofenkarferners. Von seinen Rändern quoll milchig grünes Wildwasser, das schäumend zu Tal stürzte, in der mittäglichen Sonnenglut wesentlich stärker anschwellend als am frühen Morgen. Wie alle Gletscher der Welt ist auch der Rofen rückläufig. Auf den saftigen Hochweiden links und rechts des steinigen Pfades blühten in voller Pracht Arnika und Eisenhut, Purpur-Enzian und Steinbrech. Nach Süden öffnete sich das Blickfeld zum Alpenhauptkamm.

Zum Greifen nahe lag die Texelgruppe mit Similaun und Hauslabjoch. Dort oben auf dem Grat, in einer Rinne im Gneis, hatte der namenlose Wanderer, den wir Ötzi nennen, an einem Frühsommertag vor rund 5300 Jahren sein Leben ausgehaucht und im scheinbar ewigen Eis seine vorerst letzte Ruhe gefunden. Er war einer von uns: Der erste Europäer, den wir von Angesicht zu Angesicht kennen. Die Saumpfade, auf denen er von Süden her über den Kamm ins Ötztal herüberwanderte, sind noch da. Auch die Quellen, aus denen er trank, und die Kräuter, mit denen er sich selbst, vielleicht auch andere heilte.

Bis Bozen sind es zu Fuß fünf Tagesetappen. Im Museum am Rande der Altstadt stehe ich vor einer tiefgekühlten Vitrine. Nur eine Glasscheibe trennt mich von dem Mann aus dem Eis. Die Mumie aus dem 4. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung ist überraschend schmalschultrig und feingliedrig. Die eingetrockneten Augen, denen noch anzusehen ist, dass ihre Iris einmal blau war, sind nach oben gerichtet. Die rechte Hand, mit der er das Beil führte und den Bogen spannte, greift ins Leere. Rings um den gläsernen Sarg sind die Überreste seiner Ausrüstung ausgestellt. Jedes Stück spiegelt seine halbnomadische Lebensweise. Alles ist bis ins Letzte durchdacht, alles perfekt seiner natürlichen Umwelt, seinen Bedürfnissen, seinen Zielen angepasst. Die Stiefel mit der Sohle aus Braunbärenfell, dem Oberteil aus Rindsleder und dem Innengeflecht aus Lindenbast sind absolut hochgebirgstauglich. Das Kupferbeil ist ein gusstechnisches Meisterstück, der Jagdbogen aus Eibenholz modernen Sportbögen an Reichweite und Durchschlagskraft beinahe ebenbürtig. Die Konstruktion des Außengestells am Rucksack gilt bei heutigen Outdoor-Ausrüstern als optimale Lösung für den Transport schwerer Lasten. Neun ein heimische Arten von Holz sind verarbeitet. Für jeden Zweck hat er exakt die am besten geeignete Sorte ausgewählt. Die Sorgfalt, mit der er das volle Spektrum der heimischen Ressourcen nutzte, und die Eleganz der Einfachheit, die jedes seiner Artefakte auszeichnet, geben über die Jahrtausende hinweg den Blick frei – auf einen schöpferischen Geist. Der Gletschermann – der archetypische homo sustinens? Einer aus der langen Ahnenreihe der Erfinder der Nachhaltigkeit?

Ein kleines, spät entdecktes Detail stört das Bild. In Ötzis linker Schulter steckt eine Pfeilspitze. Die hat ihn getötet, nicht Kälte, Schnee und Eis. Jäger nennen das einen Blattschuss. Offenbar war er auf der Flucht. Ein Opfer und Täter, Jäger und Gejagter in einer blutigen Stammesfehde? An dem Abend in Vent hatte ich im gut besetzten Speisesaal des größten Hotels am Platze einen Gletscherforscher aus Innsbruck referieren hören. Viele klimahistorische Befunde, so sagte er, deuten darauf hin, dass in Ötzis Epoche ein Kälteeinbruch den Alpenraum erreichte. Ötzis gewaltsamer Tod, so seine Hypothese, könnte mit dem Kampf um die schrumpfenden Weidegebiete zu tun haben. Ein Klimakrieg vor über 5000 Jahren? Merkwürdiger Gedanke angesichts der Vitrine im Museum: Sein Sarg aus Eis taut infolge der Erderwärmung auf und entlässt aus der Tiefe der Zeit einen stummen Boten in unsere Gegenwart.

Um den Zeithorizont zu verstehen: Zu Ötzis Lebzeiten war Babylon erst eine Ansammlung von Lehmbauten im Zweistromland. Aber viel weiter östlich, im Flussgebiet des Indus, besang man möglicherweise schon damals die alles tragende, fest gegründete, goldbrüstige Mutter Erde und betete: Was ich von dir, o Erde, ausgrabe, laß es schnell nachwachsen. Lass mich, o Reinigende, weder deinen Lebensnerv durchtrennen noch dein Herz durchbohren.

Kann man nicht auch diese, später in der vedischen Hymne an die Erde überlieferten Verse als eine Formel für Nachhaltigkeit lesen? Indira Gandhi, die damalige indische Ministerpräsidentin, hat sie 1972 in Stockholm auf der ersten großen Umweltkonferenz der Vereinten Nationen in diesem Sinne zitiert.

Eines scheint mir gewiss: Die Idee der Nachhaltigkeit ist weder eine Kopfgeburt moderner Technokraten noch ein Geistesblitz von Ökofreaks der Generation Woodstock. Sie ist unser ursprünglichstes Weltkulturerbe. Es war der britische Thronfolger Prinz Charles, der vor einigen Jahren die Frage aufwarf, ob nicht tief in unserem menschlichen Geist eine angeborene Fähigkeit existiert, nachhaltig im Einklang mit der Natur zu leben.

*

Aber was ist nachhaltig? Das von Joachim Heinrich Campe, dem Lehrer Alexander von Humboldts, 1809 herausgegebene »Wörterbuch der deutschen Sprache« definiert Nachhalt als das, woran man sich hält, wenn alles andere nicht mehr hält. Das klingt tröstlich. Wie eine Flaschenpost aus einer fernen Vergangenheit für unsere prekären Zeiten. Wir suchen nach einem Modell, das ein Weltsystem abbildet, das 1. nachhaltig (sustainable) ist ohne plötzlichen und unkontrollierbaren Kollaps; und 2. fähig ist, die materiellen Grundansprüche aller seiner Menschen zu befriedigen. Noch eine Flaschenpost. Diese ist in dem berühmten Bericht an den Club of Rome von 1972 über die Grenzen des Wachstums enthalten.

In beiden Fällen ist Nachhaltigkeit der Gegenbegriff zu »Kollaps«. Er bezeichnet, was standhält, was tragfähig ist, was auf Dauer angelegt ist, was resilient ist, und das heißt: gegen den ökologischen, ökonomischen und sozialen Zusammenbruch gefeit. Was frappiert: Die beiden Bestimmungen aus so unterschiedlichen Epochen sind annähernd deckungsgleich. Sie verorten »Nachhaltigkeit« im menschlichen Grundbedürfnis nach Sicherheit.

Um in den inneren Sinnbezirk dieses Wortes zu gelangen, sollte man weit ausgreifen. Dieses Buch will auf dem Weg über die Sprache und die Begriffsgeschichte zur Klärung und Sensibilisierung beitragen. Es erzählt davon, wie sich in langen Zeiträumen intuitives Vorsorgedenken zu einem Begriff kristallisierte. Wie unter dessen Schirm ein Wortfeld entstand, auf dem sich alltäglich gewordene Vokabeln wie Ökologie, Umwelt, Lebensqualität und sogar Management herausbildeten. Wie ein Wort kühne Träume und Hoffnungen aus allen Epochen der Menschheitsgeschichte speicherte und zu einer Zukunftsvision bündelte. Wie sich uraltes Überlebenswissen mit Errungenschaften unserer Hightech-Ära verknüpfte. Es handelt vom langsamen Wachstum einer Idee und von den komplexen Beziehungen zu den Lebenswelten, in denen sie sich entwickelte. Es benennt aber auch die Irrwege, die man dabei ging. »Der Tag ist abgegriffen. Lasst uns in den Morgen zu rücksteigen«, empfahl der Dichter Christian Morgenstern. Das Buch lädt dazu ein, einen Schritt zurückzutreten: Aus der dabei gewonnenen Distanz heraus Maß nehmen, Maßstäbe gewinnen, um die Gedankenwelt, den Begriff und das Wortfeld Nachhaltigkeit für sich selbst neu zu vermessen, seine Gravität, also seine Schwerkraft, aber auch seine Elastizität zu verstehen.

* Kursiv gesetzt sind in diesem Buch alle Zitate, in denen die Sprache der Nachhaltigkeit erscheint. Alle anderen Zitate stehen in Anführungszeichen. Die Nachweise finden sich im Anhang unter der jeweiligen Seitenzahl.

ZWEI

 

EIN SPERRIGER BEGRIFF

Begriffsverwirrung

Was assoziieren wir mit dem Wort Nachhaltigkeit? Ist es glasklar oder nebulös? Ist es vor allem ein Lichtblick, mit positiven Erwartungen besetzt? Oder ist es ein Langweiler? Setzt es Fantasien frei? Klärt es Zusammenhänge? Oder verschleiert es Abhängigkeiten? Wie auch immer man in seinem eigenen Wortschatz damit umgeht, man sollte möglichst genau wissen, wovon die Rede ist.

In den letzten Jahren ist die Klage über die »inflationäre Verwendung«, die Verwässerung, die Begriffsverwirrung zum Mantra geworden. Aus meiner journalistischen Arbeit kenne ich Leute, die das Wort nicht in den Mund nehmen, ohne dabei mit gekrümmten Zeige- und Mittelfingern Gänsefüßchen in die Luft zu malen. Das Wort ist in das mediale Feuerwerk der Reklamesprache geraten. »Nachhaltigkeit der Diät«, »nachhaltige Befreiung der Kopfhaut von Schuppen«, »nachhaltiger Ausbau der Kapitalkraft« – nichts ist unmöglich. In der Schweiz weihte man einen Monat vor dem Kopenhagener Klimagipfel »die nachhaltigste Autobahn aller Zeiten« ein.

Was meint, wer von »nachhaltigem Wachstum« spricht? Stetiges Wachstum des Bruttosozialprodukts oder eines Firmenimperiums mit allen damit verbundenen ökologischen und sozialen Kollateralschäden? Das Wachstum grüner Strukturen innerhalb einer womöglich schrumpfenden Ökonomie? Manchmal ist gedankliche und sprachliche Schlamperei im Spiel. Allzu oft freilich werden bewusst Nebelkerzen gezündet. »Greenwashing« nennt man das in den USA. In Anlehnung an das biblische »seine Hände in Unschuld waschen« – oder auch an die im Kalten Krieg aufgekommene Redewendung von der »Gehirnwäsche«. Aus der Verwirrung lässt sich Kapital schlagen.

Der Trick ist simpel, aber nicht ganz einfach zu durchschauen. Denn das Wort führt im Deutschen ein Doppelleben: einmal als allgemeinsprachliches Wort, dann als politischer Begriff. Was bedeutet »nachhaltig« auf der Ebene der Gemeinsprache? Zunächst einmal tatsächlich nichts weiter als »nachdrücklich«, »intensiv«, »dauerhaft«. Siehe Goethes Wortwahl im »Wilhelm Meister«-Roman von 1796: »Er schien nunmehr zum ersten Male zu merken, daß er äußerer Hülfsmittel bedürfe, um nachhaltig zu wirken.« So weit, so gut. Das Verwirrspiel setzt da ein, wo die Ebenen verwischt werden. Wo man in der Sache im Rahmen der alltags sprachlichen Bedeutung bleibt, jedoch suggeriert, man meine die neue, ökologisch aufgeladene Bedeutung des Begriffs. Eine schlich te Gewinnerwartung für die nächsten zwei, vielleicht drei Jahre mutiert so zu einer nachhaltigen, will sagen: ökologisch verantwortlichen und sozial gerechten Rendite. Fatal ist es, wenn »Nachhaltigkeit« gegen vermeintlich überzogene Forderungen von Umweltschützern in Anschlag gebracht wird: Man erklärt den Bau eines Kohlekraftwerks zur »nachhaltigen« Lösung, weil es sauberer sei als das alte und Arbeitsplätze erhalte.

Wo der Begriff seiner Substanz beraubt ist, lässt sich damit wenig – oder alles – machen. Noch den banalsten Vorgang, ja sogar die rücksichtsloseste Plünderung des Planeten, kann man mit diesem entkernten Begriff als »nachhaltig« ausgeben.

Das Wort ist auf den ersten Blick nicht sonderlich attraktiv. »Nach« und »halt«, »-ig« und »-keit« – das klingt statisch, sperrig, irgendwie dröge. Selbst unter Experten ist das Unbehagen weit verbreitet. Bei einer Fachtagung in Berlin hörte ich vor einigen Jahren den damaligen grünen Umweltminister händeringend an das Auditorium appellieren, ihm eine bessere Übersetzung für sustainability zu liefern. Nachhaltigkeit sei schwerfällig, nicht vermittelbar, einfach »nicht sexy«. Aber was ist, wenn sustainability historisch eine Übersetzung von Nachhaltigkeit war – und nicht umgekehrt? Bei meinem Gang durch die Wälder der Aufklärung komme ich darauf zurück. Und was ist, wenn in der »Sperrigkeit« des Begriffs Nachhaltigkeit gerade sein subversives Potenzial liegt?

Im Umfeld des Kopenhagener Klimagipfels von 2009 führten manche Thinktanks und Medien ein neues Vokabular ein. Von nun an soll eine klimagerechte Strategie den Weg in eine postkarbone Zivilisation bahnen. So notwendig der Übergang zu einer CO2-neutralen Entwicklung ist – dieses Vokabular kann das Wortfeld der Nachhaltigkeit ergänzen, den Hauptbegriff jedoch keineswegs ersetzen.

Eine kleine Szene aus »Alice hinter den Spiegeln«, Lewis Carrolls Kinderbuch aus dem England des 19. Jahrhunderts, beschreibt den Mechanismus von semantischen Machtspielen aller Art: »›Wenn ich ein Wort gebrauche‹, sagte Goggelmoggel in recht hochmütigem Ton, ›dann heißt es genau, was ich für richtig halte – nicht mehr und nicht weniger.‹ ›Es fragt sich nur‹, sagte Alice, ›ob man Wörter einfach etwas anderes heißen lassen kann.‹ ›Es fragt sich nur‹, antwortete Goggelmoggel, ›wer der Stärkere ist, weiter nichts.‹ Alice war zu verwirrt, um darauf noch eine Antwort zu finden…«

Wortkörper

Sustainability, hållbar utveckling, desarrollo sostenible, chi xu fa zhan, Nachhaltigkeit – im globalen Dorf ist das Wort allgegenwärtig. Speist man es nur in ein paar Sprachen als Suchbegriff bei Google ein, bekommt man innerhalb von Sekunden etliche Millionen Treffer. Es gibt, nimmt man das Internet als Messlatte, nicht viele Themen, die am Beginn des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts die Menschheit so stark beschäftigen.

Der moderne Begriff hat jedoch tiefe Wurzeln und eine lange Tradition. Alte Wörter sind in der Regel mit den vergangenen Bedeutungen aufgeladen. Diese archäologischen Schichten möchte ich freilegen, um an das Potenzial heranzukommen, das sich dagegen sperrt, mit unserer gegenwärtigen Normalität gleichgeschaltet zu werden. Dazu ist es notwendig, mehrsprachig zu verfahren. Werfen wir zunächst einen Blick auf den Wortkörper in der Gestalt, wie er 1987 im Brundtland-Bericht der UN definiert ist: Sustainable development.

Was genau bedeutet sustainable? Der eine Bestandteil der Wortbildung ist schnell erklärt. -able heißt können, fähig sein. Im Deutschen haben wir dafür das Suffix -bar. Holz kann brennen. Es ist brennbar. Komplexer ist das Verb sustain. Das Oxford English Dictionary aus den sechziger Jahren, also vor der neuen Begriffsbildung, behandelt es in mehreren Spalten und belegt es seit dem Mittelalter. Unter Punkt 4 erscheint die uns interessierende Bedeutungsebene. Sustain meint hier to keep in being. Übersetzt wäre das etwa im Dasein halten. Eine andere Umschreibung lautet: to cause to continue in a certain state, also: bewirken, dass etwas in einem bestimmten Zustand fortdauert. Dann: to keep or maintain at the proper level or standard etwa: auf dem angemessenen Stand erhalten. Und to preserve the state of, den Zustand von etwas bewahren. Demnach wäre sustainable wortgetreu zu übersetzen mit aufrechterhaltbar oder auf Dauer bewahrbar. Oder schlicht: tragfähig.

Die englische Sprache ist, salopp gesagt, eine Kreuzung aus Plattdeutsch und Vulgärlatein. Sustain ist ein Wort lateinischen Ursprungs. Im lateinischen Wörterbuch finden wir mit annähernd gleicher Bedeutung die Verben sustinere und sustentare. Die Grundwörter sind jeweils sub (unter) und tenere (halten, tragen). Für die deutsche Übersetzung bietet das Wörterbuch an: aushalten, aufrechterhalten, tragen, stützen, bewahren, etwas zurückhalten. Mit dem letzten Eintrag sind wir ganz dicht an nachhalten.

Wohl unterscheiden sich die Blickwinkel der beiden Wörter. Während sustentare mehr die Anordnung der Dinge im Raum, nämlich das Tragende, die Tragfähigkeit einer Struktur ins Visier nimmt, betont nachhalten die Zeitleiste, nämlich die Anlegung einer ausreichenden Reserve für die Zukunft. Semantisch aber – auf ihrer Bedeutungsebene – sind sich sustinere, sustainable und nachhalten, nachhaltig sehr nahe. Und das ist kein Zufall.

Das allgemeinsprachliche Wort nachhaltig ist im Deutschen schon sehr früh zu einem fachsprachlichen Terminus geworden. Vor fast 250 Jahren avancierte es zum Leitbegriff des deutschen Forstwesens. Es bezeichnet seitdem die Verpflichtung der Forstwirtschaft, Reserven für künftige Generationen nachzuhalten. Mitte des 19. Jahrhunderts übersetzte man nachhaltige Forstwirtschaft ins Englische: sustained yield forestry. In dieser sprachlichen Form und mit klar umrissener Bedeutung gelangte es in die internationale forstliche Fachsprache und kurz nach Gründung der Weltorganisation auch in das Vokabular der Vereinten Nationen. Dort diente es wiederum drei Jahrzehnte später als Vorbild und Blaupause für die moderne Begriffsbildung sustainable development. Von den verschlungenen Wanderwegen des Wortes seit seiner Prägung in der Epoche der Frühaufklärung wird noch die Rede sein.

Formelsammlung

Eine verbindliche und alles umfassende Definition von Nachhaltigkeit gibt es nicht. Dafür ist der Begriff zu komplex und zu dynamisch. Stattdessen sind einige Formeln in Umlauf gekommen, also mehr oder weniger verkürzte, näherungsweise Bestimmungen. Vier solcher Formeln haben den Diskurs bis heute geprägt: Am bekanntesten ist eine Stelle aus dem Brundtland-Bericht der UN von 1987: Nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung, welche die Bedürfnisse der gegenwärtigen Generation befriedigt, ohne die Fähigkeit zukünftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Das ist im Wortlaut die weltweit am häufigsten zitierte Formulierung der Grundidee. Nennen wir sie Formel eins.

Das Dreieck der Nachhaltigkeit ist eine Denkfigur, die nach dem Erdgipfel von Rio 1992 gebräuchlich wurde: Ökologie, Ökonomie und soziale Gerechtigkeit sind die drei Eckpunkte eines Dreiecks. Sie sind stets im Zusammenhang, also vernetzt zu denken.

Schlicht und anschaulich ist Formel drei: Nicht mehr Holz fällen als nachwächst. So erklären Forstleute seit 300 Jahren ihren, den klassischen Begriff von Nachhaltigkeit. Damit versucht man heute, auch das erweiterte und erneuerte Konzept anschaulich zu machen.

Formel vier: Die Schöpfung bewahren ist ein Rückgriff auf die Schöpfungsgeschichte der Bibel mit ihrem Gebot, die Erde zu bebauen und zu bewahren. Die Schöpfungsmythen anderer Kulturen haben ganz ähnliche Gebote.

Jede dieser Formeln erfasst Wesentliches. Aber wie bei allem Formelhaften besteht die Gefahr der Verkürzung und der Abnutzung. Tausend Mal gehört und gelesen, verlieren sie vollends ihre inspirierende Kraft.

Doch diese vier Leitsätze lassen sich hervorragend als Navigationssystem nutzen, um in die Geschichte des Begriffs und damit in seine Tiefenschichten einzudringen. Unsere Zeitreise führt in die scheinbar heile Welt der mittelalterlichen Klöster und die Zeit der Kathedralen (Formel vier). Von dort geht es in die geometrisch vermessenen Wälder der Aufklärung (Formel drei), dann in die Epoche unserer Kulturgeschichte, als man »zurück zur Natur« wollte und dabei den Zusammenhang von Ökologie und Ökonomie entdeckte (Formel zwei). Sie kehrt zurück in unsere Gegenwart der umfassenden Krise, der Erdpolitik und der großen Transformation (Formel eins).

*

Unsere Reise beginnt in der so turbulenten und kreativen Zeit um 1968. Warum da? Das hat mit den geistigen und spirituellen Defiziten der Gegenwart zu tun. Wir haben keine große Erzählung mehr, keine Visionen, die uns beflügeln und antreiben. Dieses Vakuum ist nicht gut. Um die Klimakatastrophe noch im letzten Moment abzubremsen, sagen uns die Experten, bräuchten wir ein neues »Apollo-Projekt«: eine überwölbende Idee, die in kürzester Zeit große Potenziale aktiviert für etwas, das wir machen, koste es, was es wolle. In den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts war das die Vision, noch in diesem Jahrzehnt Menschen auf den Mond zu bringen – und zurück. Wir brachen auf, um den Mond zu erkunden, aber tatsächlich entdeckten wir die Erde. Der berühmte Satz des Astronauten Eugene Cernan brachte die unverhoffte, die eigentliche Wirkung des Apollo-Projekts zum Ausdruck. So wie in der harten, grauen Schale der Muschel eine zarte, leuchtende Perle entsteht, entsprang einer wachstumsbesessenen, technikgläubigen, expansionistischen Kultur aus der Umkehrung des Blicks ein neuer, erdverbundener zivilisatorischer Entwurf. Sein Leitmotiv wurde: Nachhaltigkeit. Sein Fundament war die Überzeugung: Die Erde ist der schönste Stern am Firmament. Daran lässt sich anknüpfen.

Arbeit am Begriff geht stets Hand in Hand mit der Lust am Bild. Die Bilder – und Ikonen – aus den kulturrevolutionären Bewegungen der sechziger Jahre sind noch präsent. Im kollektiven Gedächtnis der Menschheit abgespeichert, millionenfach reproduziert im Cyberspace des Internet. Mit ein paar Mausklicks lässt sich eine kleine, faszinierende Galerie abrufen. Earthrise – Erdaufgang ist ein erster Suchbegriff.

DREI

 

»… DER SCHÖNSTE STERN AM FIRMAMENT«

Ikone Erde

Ein paar kalifornische Hippies kamen zuerst auf die Idee. Zeigt uns whole earth, die ganze Erde! So wie sie aus dem Weltall zu sehen ist. Die Botschaft an die NASA, Mitte der sechziger Jahre von einigen Langhaarigen auf Buttons und Aufklebern an der amerikanischen Westküste verbreitet, war ausgesprochen zeitgeistig. Von einem Foto des blauen Planeten versprach man sich in den Hochburgen der Gegenkultur eine bewusstseinserweiternde Wirkung, wie von einer euphorisierenden Droge. Die NASA war zunächst an ganz anderen Bildern interessiert: an Aufnahmen von potenziellen Landeplätzen, letztlich an einem Foto der amerikanischen Flagge auf dem Mond. Doch sehr bald kam es auch dort zu einer Kursänderung.

1968 war es so weit. An Heiligabend sah die Menschheit sich selbst und ihren Planeten zum ersten Mal von außen. Über dem Horizont einer grauen, steinernen, öden Mondlandschaft hob sich die Erde aus der Schwärze des Weltalls. Auf der 400.000 Kilometer entfernten Erde läuft in diesem Moment die Tag-Nacht-Grenze in einem Halbkreis durch Afrika und berührt an ihrem linken Rand die Antarktis. Der Atlantik ist zu sehen. Amerika, der Nordpol und Europa liegen unter dichten Wolkenwirbeln verborgen. Das Raumschiff Apollo 8 befindet sich auf einer Umlaufbahn um den Mond, etwa 100 Kilometer über der Oberfläche. Die NASA sucht nach einem geeigneten Platz für die erste Mondlandung, die für 1969 geplant ist. Stunden später – immer noch Heiligabend – sendet Apollo 8 Fernsehbilder zur Erde. Anders und Lovell, die Astronauten, begleiten sie mit einer Lesung aus der Schöpfungsgeschichte. »Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde …« Sie schließen mit den Worten: »Und Gott sah, dass es gut war.« Sekunden später verschwindet ihr Raumschiff hinter der erdabgewandten Seite des Mondes.

Das Foto vom Erdaufgang hatte eine mobilisierende Wirkung. Ein neues Weltbild, Bild des Planeten, Bild der Menschheit von sich selbst, nahm Konturen an. Der amerikanische Dichter Archibald MacLeish, damals 77 Jahre alt, Veteran des Ersten Weltkriegs, Propagandist von Roosevelts New Deal, hat es in der New York Times verkündet:

Die Erde so zu sehen, wie sie wirklich ist, blau und schön, ein winziges Etwas, das in der lautlosen Ewigkeit schwebt, das bedeutet, dass wir uns selbst gemeinsam als Passagiere der Erde sehen, als Brüder auf diesem leuchtenden Planeten inmitten der ewigen Kälte des Alls, als Brüder, die nun endlich wissen, dass sie wahrhaftig Brüder sind.

Dantes mittelalterliche Vorstellung von Himmel und Hölle und dem Menschen als Gegenüber Gottes und Mittelpunkt des Universums sei überwunden. Aber auch die moderne nihilistische Vorstellung von der absurden Existenz des Menschen am Rande einer bedeutungslosen Milchstraße, preisgegeben einer sinnlosen Logik der Gewalt, sei hinfällig. Alle Menschen werden Brüder. An klänge an Schillers Ode »An die Freude« sind unüberhörbar. Der greise Poet artikulierte jedoch den Zeitgeist von 1968: Die euphorische Zuversicht, man erlebe den Anbruch eines new age, eines neuen Zeitalters, oder wie es damals in dem Hippie-Musical Hair hieß: the dawning of the age of Aquarius, die Morgenröte der Wassermann-Ära.

Mit dem Foto vom Earthrise gewann die globale Kultur ein machtvolles Gegenbild zur Ikone des Weltuntergangs, deren düstere, albtraumhafte Macht Denken und Fühlen einer ganzen Generation beherrscht hatte: »Mushroom Cloud«, das apokalyptische Bild des Atompilzes, der alles menschliche Leben auf der Erde auszulöschen droht. Diese nekrophile Bilderwelt entstand zwischen 1944, der ersten Zündung einer Atombombe in der Wüste von New Mexico, und 1963, als ein internationaler Vertrag überirdische Atomtests verbot. Die Fotos zeigen den Moment nach dem Atomblitz. Eine schlanke Säule aus Wasserdampf oder Wüstenstaub steigt von »Ground Zero«, der Stelle, wo die Bombe aufschlug, in den Himmel, dehnt sich wie der Schirm eines Pilzes in die Atmosphäre, bevor sie in Form von todbringenden nuklearen Niederschlägen zur Erde zurückkehrt. Die dunkle Majestät dieser Fotos aus dem Kalten Krieg wirkte lange nach, unterschwellig bis heute. Erst im Kontrast mit der Ikone der Zerstörung lässt sich die befreiende Kraft des Earthrise-Fotos erahnen. Verdoppelt wurde sie durch ein Foto, das vier Jahre später entstand.

Am 7. Dezember 1972, kurz nach Mitternacht Ortszeit, läuft im Kennedy Space Center der Countdown für Apollo 17, den bis heute letzten bemannten Flug zum Mond. Die Abschussrampe ist in gleißendes Flutlicht getaucht. Es beleuchtet die turmhohe, schneeweiße Saturn-V-Trägerrakete mit dem winzigen Raumschiff in der Spitze. Wernher von Brauns Wunderwerk der Technik, die Antwort der Moderne auf die Pyramiden Ägyptens. Ein Millionenpublikum hat sich an der Küste Floridas versammelt, um das grandiose Spektakel aus Licht, Lärm und menschlicher Kühnheit live zu erleben – das Woodstock der Raumfahrt-Freaks. »Liftoff«. Eine Schockwelle bringt die Umgebung zum Beben. In dem Inferno aus Donner, Rauch und Stichflammen hebt die Rakete vom Boden ab, durchstößt den selbst erzeugten Feuerball und entschwindet, einen riesenhaften Schweif aus brennendem Kerosin und Sauerstoff ausstoßend, in südöstlicher Richtung in den dunklen Himmel über der Karibik.

Der perfekte Moment für die Aufnahme kommt sehr bald, nachdem das Raumschiff die Erdumlaufbahn verlassen hat und auf seine elliptische Bahn in Richtung Mond eingeschwenkt ist. Eben noch unter dem enormen Druck, der Körper und Psyche beim Startvorgang belastet, legen die Männer an Bord ihre Raumanzüge ab und tauchen in den Zustand der Schwerelosigkeit ein. In diesem Moment der Loslösung von der Erde wenden sie den Blick zurück. »Ja, der Mond ist da«, berichtet Evans laut NASA-Protokoll 4 Stunden, 47 Minuten und 45 Sekunden nach dem Start an die Bodenstation. Und dann, ekstatisch: »Die Erde ist … das ist die Erde. Wow, was für eine Schönheit.« Minuten später meldet Kommandant Cernan, jetzt sehe er die Erde so voll, wie man sie noch nie gesehen habe. »Und weißt du, sie hängt an keinen Stricken. Sie ist da draußen ganz allein.« Harrison Schmitt gerät ins Schwärmen über dieses »zart aussehende Stück Bläue im Weltraum«. Was ihn und seine Kameraden in den Zustand der Entrückung versetzt, ist der Anblick der von der Sonne voll erleuchteten Tagseite der Erdkugel. Sie sind schon weit genug im All, um die ganze Erde mit einem Blick zu erfassen, aber noch nahe genug, um Wolkenwirbel und Landmassen und die zeitlupenhaft langsame Drehung der Erde erkennen zu können. Noch liegt Afrika in voller Größe im Blickfeld. Gleich wird die östliche Spitze Südamerikas auftauchen. In diesem Augenblick entsteht das klassisch gewordene Foto. Vermutlich ist es Harrison Schmitt, der auf den Auslöser der Hasselblad-Bordkamera drückt. Fünf Stunden nach dem Start, etwa 45.000 Kilometer von der Erde entfernt.

Auf dem Rückflug überfliegt das Raumschiff die Ödnis der erdabgewandten Seite des Mondes. Dann kommt der blaue Planet wieder ins Blickfeld. »Du siehst aus dem Fenster« – erzählte Cernan später –»und blickst, durch 400.000 Kilometer schwarzen Weltraum, zurück auf den schönsten Stern am Firmament. Du verfolgst, wie er sich dreht … und er bewegt sich in einer Schwärze, die nahezu unvorstellbar ist … Du kannst es das Universum nennen. Aber es ist die Unendlichkeit des Raumes und die Unendlichkeit der Zeit.«

Die Landung erfolgt 302 Stunden nach dem Start, 59 Sekunden nach dem vorausberechneten Zeitpunkt, punktgenau im Zielgebiet südwestlich der Samoa-Inseln im südlichen Pazifik. Eine Kapsel von drei Metern Durchmesser, zerbeult, zerschrammt, rußgeschwärzt. Das ist alles, was zwölf Tage nach dem Aufbruch ins All übrig ist. Die drei Astronauten sind laut ersten Untersuchungen bei bester Gesundheit und … extrem glücklich. Am 23. Dezember, pünktlich zu Weihnachten, gibt die NASA ein Foto frei, das Apollo 17 mitgebracht hat. Blue marble avancierte zum meistpublizierten Foto der Mediengeschichte. Was verlieh der Aufnahme seine einzigartige Aura?

Die Flugbahn des Raumschiffs kreuzt im Moment der Aufnahme gerade die imaginäre Verbindungslinie zwischen Sonne und Erde. Die Sonne steht so direkt hinter dem Raumschiff, dass sie die Tagseite der Erde voll erleuchtet. Ihr Licht erfasst die ganze Erde, die gesamte Gestalt, fast ohne beschattete Dämmerungszone. Der Planet schimmert blau. In dieser Farbe erscheint die Atmosphäre, deren Luftmoleküle die Blauanteile des Sonnenlichts zurück werfen. Ein zartblauer Schleier überzieht die Landmassen. In tiefer Bläue leuchten die Ozeane. Zu sehen sind weite Teile des Indischen Ozeans und des südlichen Atlantik. Weiße Wolkenbänder ziehen in riesenhaften Wirbeln durch die Westwindzonen. Die Dynamik der großen Windsysteme wird sichtbar und lässt die zugrunde liegenden Kräfte, die Wirkung der ozeanischen Strömungen und die Macht der Erddrehung ahnen. Der Südpol ist der Sonne zugeneigt. Gletscher und Eisschelf der Antarktis liegen, von Zyklonen umkreist, blendend weiß im Sonnenlicht. Zu sehen ist ganz Afrika, die Wiege der Menschheit, und – am oberen Rand der Erdkugel – Nildelta und Sinai, die Arabische Halbinsel und das östliche Mittelmeer, Zentren früher Hochkulturen. Am Äquator bauen sich Wolkentürme auf und verdecken die Erdoberfläche. Nur schwach dringt das Grün des tropischen Regenwaldgürtels hindurch. Tiefdruckgebiete wechseln mit Hochdruckzonen. Die Atmosphäre ist wolkenlos über der Sahara und dem Sahel im Norden und der Kalahari im Süden. Deutlich treten die warmen, erdigen, rot-gelb-braunen Farbtöne der Wüsten hervor. Die lebenserhaltende Lufthülle der Erde wirkt transparent und hauchdünn, das Pflanzenkleid wie ein zarter Flaum. Nirgendwo wird ein Artefakt als Anzeichen menschlicher Existenz erkennbar. Es ist vielmehr die Biosphäre der Erde, die sie vor allen anderen Gestirnen heraushebt, sie einzigartig macht. Der blaue Planet schwebt, sich um die eigene unsichtbare Achse drehend, in der Leere und Schwärze des unendlichen Alls. Sein Schwebezustand erhöht den Eindruck von traumhafter Schönheit, völliger Einsamkeit und Einzigartigkeit und – nicht zuletzt – großer Verletzlichkeit. Nirgendwo sonst im All eine Spur von Leben. Nur eine Erde. Wir sind allein.

Fragil – zerbrechlich, zart, verletzlich – ist ein Schlüsselbegriff bei der zeitgenössischen Deutung der grandiosen Bilder. An die zwischen 1968 und 1972 entstandenen overview-Fotos koppelten sich die Berichte der Augenzeugen, der amerikanischen Astronauten und russischen Kosmonauten. Sie verstanden sich als ausgestreckte Fühler der Menschheit und deuteten ihre starken Eindrücke mit weitgehend identischen Metaphern. Sehr schnell verdichteten sich diese zu einer großen Erzählung aus wenigen Worten. Darin ist die Rede von der grenzenlosen Majestät, die das funkelnde blauweiße Juwel ausstrahle. Als eine zarte himmelblaue Sphäre, umkränzt von langsam wirbelnden Schleiern, steige die Erdkugel wie eine Perle unergründlich und geheimnisvoll aus einem tiefen Meer empor – ein Saphir auf schwarzem Samt. Blau ist die Farbe, die entsteht, wenn das Sonnenlicht die Lufthülle des Planeten erreicht, wenn sich – bildhaft gesprochen – Himmel und Erde durchdringen. Es ist die Farbe der Mystik, der Transzendenz. Zutiefst beunruhigend erscheint dagegen die Schwärze des Weltraumes in seiner unendlichen Tiefe und völligen Lautlosigkeit. Der starke Kontrast zwischen der Leuchtkraft der Erde, der schwarzen Leere des Alls und der kalten Pracht der Sterne macht die absolute Einzigartigkeit der Erde bewusst. Aber unser gesamter Daseinsbereich ist mit einem einzigen Blick zu erfassen. So eng begrenzt und winzig ist er. Und auf einen Blick ist zu sehen, dass die Erde nicht dem Menschen untertan ist. Aus dem Weltraum ist zu erkennen, dass alle Systeme auf der Erde miteinander verbunden sind. Atmosphäre, Landmassen, Ozeane formen zusammen mit der Biosphäre den Raum des Lebens. Vom Menschen aber – keine Spur. Er ist zu klein, als dass sein Fußabdruck von außen wahrnehmbar wäre. Dieses »einsame, marmorierte, winzige Etwas« aus uralten Meeren und Kontinenten, heißt es in einem Bericht, ist unsere Heimat, während wir durch das Sonnensystem reisen. »Ich habe dabei den ganzen Planeten umarmt und alles Leben auf ihm«, erzählt der Astronaut Russell L. Schweickart, »… und es hat diese Liebkosung erwidert.« Sein russischer Kollege Boris Wolynow ergänzt: »Wenn du die Sonne, die Sterne und unseren Planeten ansiehst … bekommst du eine innigere Beziehung zu allem Lebendigen.«

Der Ton von Staunen und Ehrfurcht, diese Haltung der Demut bei Menschen, die auf ihren Entdeckungsreisen ins All extremen persönlichen Mut bewiesen hatten, verknüpfte sich unlösbar mit den Fotos. Die Herausforderung an uns alle, so Harrison Schmitt, der Fotograf von blue marble, ist es, diese Heimat zu behüten und zu schützen. Gemeinsam. Als Menschen dieser Erde. Das kühne Abenteuer, das technische Wunder, das ästhetische Faszinosum bekam in dieser modernen Saga eine ethische und spirituelle Dimension. Millionenfach reproduziert wurden die Bilder den Bewohnern des entstehenden globalen Dorfes zugänglich. Sie erforderten kein Wissen über Astronomie, Geografie oder Ökologie. Jeder und jede, auch jeder Analphabet konnte sie betrachten, bestaunen, unmittelbar verstehen. Die Umkehr des Blicks erzeugte ein Wir-Gefühl, das nun nicht mehr nur auf einen Nahraum begrenzt war, sondern die ganze Erde einschloss.

Als ozeanisches Gefühl hatte Sigmund Freud 1930 »die Empfindung der Ewigkeit« beschrieben: als ein Gefühl »wie von etwas Unbegrenztem, Schrankenlosem, gleichsam Ozeanischem«. Dieser Ausnahmezustand der Selbstentgrenzung, der Ausweitung des Ichs in die Welt hinein, sei, so Freud, jenseits aller Religionssysteme, jenseits jeden Glaubens und jeder Illusion als »religiös« zu bezeichnen. Man hat die beiden Fotos aus dem All als Ikonen unserer Epoche bezeichnet. Eine Ikone ist im Verständnis der russisch-orthodoxen Kirche, aus der die Ikonenverehrung kommt, mehr als ein Abbild. Auch mehr als ein Sinnbild. Ihre Bildmagie gebe vielmehr die Sicht auf das Geheimnis frei. Sie öffne ein Fenster zur Ewigkeit. Auf eine unerklärliche Weise sei in dem Bild das Heilige selbst anwesend. In der Ikone aus dem Kosmos sahen wir zum ersten Mal das Antlitz von Gaia – Mutter Erde.

15 Jahre nach dem letzten Mondflug erschien der Brundtland-Bericht der UN. Seine ersten Sätze zeigen, wie stark der Entwurf der Nachhaltigkeit von dem neuen Weltbild geprägt war:

In der Mitte des 20. Jahrhunderts sahen wir zum ersten Mal unseren Planeten aus dem Weltall… Was wir aus dem All sehen, ist eine kleine und zerbrechliche Kugel, die nicht von menschlichen Aktivitäten und Bauwerken dominiert ist, sondern von einem Muster aus Wolken, Ozeanen, grüner Vegetation und Böden… Die Unfähigkeit der Menschheit, ihr Verhalten diesem Muster anzupassen, verändert die planetarischen Systeme fundamental. Viele dieser Veränderungen sind begleitet von lebensbedrohlichen Gefahren. Diese neue Realität, der wir nicht entfliehen können, müssen wir erkennen und steuern.

Stummer Frühling

Silent spring – Stummer Frühling. Eine geniale Metapher, Titel eines Buches der amerikanischen Meeresbiologin Rachel Carson. Ihr Thema war der Krieg des Menschen gegen die Natur. 1962 ist das Buch erschienen und trug weltweit zum Erwachen des Umweltbewusstseins bei. Stummer Frühling – das bezog sich auf ein zartes Klanggebilde, die so innigen, melodischen, von sehr hoch bis tief auf- und absteigenden Tonketten des Rotkehlchens. Das Tirilieren und Flöten dieses kleinen Singvogels, schon sehr früh morgens und noch spät abends vom Männchen, aber auch vom Weibchen zu hören, empfindet unsere Psyche als ganz besonders aufmunternd. In dieser Metapher ist die einfache Frage aufgehoben: Was verlieren wir, wenn – beispielsweise – der Gesang des Rotkehlchens aus unserer Umwelt (environment) verschwindet? Man kann mit Fug und Recht sagen: Der Entzug von Naturschönheit hat die moderne Umweltbewegung in Gang gesetzt.

Es war einmal eine Stadt im Herzen Amerikas, in der alles Leben in Harmonie mit seiner Umgebung zu leben schien. So setzt die Fabel für morgen im Anfangskapitel von Rachel Carsons Buch ein. Das Städtchen lag inmitten blühender Farmen mit Kornfeldern, deren Gevierte an Schachbretter erinnerten, und mit Obstgärten an den Hängen der Hügel, wo im Frühling Wolken weißer Blüten über die grünen Felder trieben… Das Bild einer heilen Welt, und dann der Schock: Eine seltsame Seuche tauchte in der Gegend auf und unter ihrem Pesthauch begann sich alles zu verwandeln. Der nächste Frühling kam. Es herrschte eine ungewöhnliche Stille… Die wenigen Vögel, die sich noch irgendwo blicken ließen, waren dem Tode nah; sie zitterten heftig und konnten nicht mehr fliegen. Es war ein Frühling ohne Stimmen… Schweigen lag über Feldern, Sumpf und Wald.

Die Idylle ist kontaminiert. Das Wort, das Rachel Carson hier benutzt, bedeutet im lateinischen Ursprung nicht nur verschmutzt oder vergiftet, sondern auch: befleckt, besudelt, entweiht. Silent Spring ist die erste frontale Attacke auf die »Todeselixiere« der chemischen Industrie, die ab Mitte der fünfziger Jahre von Flugzeugen aus an vielen Orten der USA flächendeckend versprüht wurden. Zur »Schädlingsbekämpfung«, zum »Schutz« von Pflanzen. Es waren vor allem Frauen, die sich Ende der