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INHALT

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ÜBER DEN AUTOR

Sir Arthur Conan Doyle wurde am 22. Mai 1859 in Edinburgh geboren. Er studierte Medizin und praktizierte von 1882 bis 1890 in Southsea. Reisen führten ihn in die Polargebiete und nach Westafrika. 1887 schuf er Sherlock Holmes, der bald seinen »Geist von besseren Dingen« abhielt. 1902 wurde er zu Sir Arthur Conan Doyle geadelt. In seinen letzten Lebensjahren (seit demTod seines Sohnes 1921) war er Spiritist. Er starb 1930 in Crowborough/Sussex.

ÜBER DAS BUCH

Baker Street 221b: Geheimnisvolle Besucher erscheinen bei Sherlock Holmes und haben Merkwürdiges zu berichten … Erst die kriminalistische Präzision des Meisterdetektivs bringt Licht in zwölf verworrene Fälle.

INHALTSVERZEICHNIS

Ein Skandal in Böhmen

Die Liga der Rotschöpfe

Eine Frage der Identität

Das Rätsel von Boscombe Valley

Die fünf Orangenkerne

Der Mann mit der entstellten Lippe

Der blaue Karfunkel

Das gesprenkelte Band

Der Daumen des Ingenieurs

Der adlige Junggeselle

Die Beryll-Krone

Die Blutbuchen

Meinem
alten Lehrer

JOSEPH BELLA1, M. D. etc.
von
2 Melville Crescent, Edinburgh

 

EIN SKANDAL IN BÖHMEN

I

Für Sherlock Holmes bleibt sie immer die Frau. Selten habe ich ihn sie mit einem anderen Namen erwähnen hören. In seinen Augen überstrahlt und beherrscht sie ihr gesamtes Geschlecht. Keineswegs war es so, daß er für Irene Adler eine mit Liebe verwandte Empfindung gehegt hätte. Alle Gefühle, und dieses ganz besonders, waren seinem kalten, genauen, aber wundervoll ausgewogenen Geist zuwider. Für mich war er die vollkommenste Denk- und Beobachtungsmaschine, die die Welt je gesehen hat; als Liebhaber hätte er sich jedoch in eine falsche Position begeben. Über die sanfteren Leidenschaften sprach er niemals anders denn mit einer höhnischen oder spöttischen Bemerkung. Als Beobachter kamen ihm diese Regungen prächtig zupaß – sie eigneten sich vorzüglich dazu, den Schleier über den Beweggründen und Handlungen der Menschen zu lüften. Dem geübten Denker hingegen wäre das Zulassen solcher Einflüsse in sein kompliziertes und feinstens austariertes Seelenleben gleichbedeutend gewesen mit der Einführung eines Ablenkungsfaktors, der all seine geistigen Erträge zweifelhaft machen mußte. Sand in einem empfindlichen Instrument oder ein Sprung in einem seiner starken Vergrößerungsgläser könnten für eine Natur wie die seine nicht störender sein als eine starke Gefühlsregung. Und dennoch gab es für ihn nur eine Frau, und diese Frau war die inzwischen verstorbene Irene Adler, zweifelhaften und fragwürdigen Angedenkens.

In letzter Zeit hatte ich Holmes kaum zu Gesicht bekommen. Meine Heirat hatte uns auseinandertreiben lassen. Mein vollkommenes Glück und die auf die unmittelbare Umgebung bezogenen Interessen, die dem Mann erwachsen, der sich erstmals Herr eines eigenen Hausstands findet, reichten aus, um meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen; Holmes dagegen, der jede Form von Gesellschaft mit seiner ganzen Bohème-Seele verabscheute, blieb in unserer Behausung in der Baker Street, vergrub sich zwischen seinen alten Büchern und verbrachte die Wochen abwechselnd mit Kokain und Ehrgeiz, der Schläfrigkeit der Droge und der unbezähmbaren Tatkraft seines lebhaften Wesens. Wie zuvor zog ihn das Studium des Verbrechens zutiefst an, und er verwandte seine gewaltigen Geistesgaben und seine außerordentlichen Beobachtungskünste darauf, jenen Hinweisen nachzugehen und jene Rätsel zu lösen, die von der Polizei als hoffnungslos aufgegeben worden waren. Von Zeit zu Zeit hörte ich vage Berichte über seine Taten: über seine Einladung nach Odessa im Mordfall Trepoff, seine Aufklärung der einzigartigen Tragödie der Brüder Atkinson in Trincomalee, schließlich über den Auftrag, den er für das holländische Herrscherhaus mit so viel Feingefühl und Erfolg erfüllte. Über diese Anzeichen seiner Aktivität hinaus, an denen ich den gleichen Anteil hatte wie alle Leser der Tagespresse, wußte ich jedoch kaum etwas über meinen früheren Freund und Gefährten.

Eines Abends – es war der 20. März 1888 – kehrte ich eben von der Fahrt zu einem Patienten zurück (denn ich hatte wieder im zivilen Bereich zu praktizieren begonnen), als mein Weg mich durch die Baker Street führte. Beim Passieren der wohlbekannten Tür, die in meinem Herzen stets mit der Zeit meines Werbens und mit den düsteren Ereignissen im Zusammenhang mit der Studie in Scharlachrot verbunden sein wird, befiel mich der lebhafte Wunsch, Holmes wiederzusehen und zu erfahren, worauf er zur Zeit seine außergewöhnlichen Fähigkeiten verwandte. Seine Räume waren strahlend hell erleuchtet, und noch als ich emporschaute, sah ich seine große hagere Gestalt zweimal als dunkle Silhouette an der Gardine vorbeigehen. Er schritt schnell und versunken im Raum auf und ab, das Kinn auf der Brust, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Mir, der ich alle seine Stimmungen und Angewohnheiten kannte, erzählten seine Haltung und sein Verhalten ihre Geschichte. Er war wieder bei der Arbeit. Er hatte sich aus den von der Droge erschaffenen Träumen erhoben und war einem neuen Problem eng auf der Fährte. Ich zog an der Türglocke und wurde zu dem Zimmer emporgeführt, das früher teilweise mein eigenes gewesen war.

Er war nicht gerade überschwenglich. Das war er selten; ich glaube aber, daß er sich freute, mich zu sehen. Fast ohne ein Wort zu sagen, aber mit freundlichen Blicken wies er mir einen Lehnstuhl an, warf mir seine Zigarrenkiste zu und deutete auf eine Ecke, in der sich ein Kabinett mit alkoholischen Getränken und eine Flasche Sodawasser A2 befanden. Dann stand er vor dem Kamin und musterte mich in seiner merkwürdig eindringlichen Weise.

»Der Ehestand bekommt Ihnen gut«, bemerkte er. »Ich glaube, Sie haben siebeneinhalb Pfund zugenommen, seit ich Sie zuletzt gesehen habe, Watson.«

»Sieben«, gab ich zurück.

»So? Ich hätte gedacht, es wäre ein wenig mehr. Natürlich nur ein kleines bißchen mehr, schätze ich, Watson. Und Sie praktizieren wieder, wie ich sehe. Sie haben mir doch gar nichts davon erzählt, daß Sie wieder in die Sielen steigen wollten.«

»Woher wissen Sie es dann?«

»Ich sehe es, ich deduziere es. Woher weiß ich denn wohl, daß Sie vor kurzem sehr naß geworden sind und daß Sie ein sehr ungeschicktes und unaufmerksames Dienstmädchen haben?«

»Mein lieber Holmes«, sagte ich, »das ist mir zu hoch. Wenn Sie vor ein paar Jahrhunderten gelebt hätten, wären Sie bestimmt verbrannt worden. Ich habe zwar am Donnerstag einen Spaziergang über Land gemacht und schlimm ausgesehen, als ich nach Hause kam; da ich aber meine Kleidung gewechselt habe, weiß ich wirklich nicht, wie Sie das deduziert haben. Was Mary Jane angeht, die ist unverbesserlich, und meine Frau hat ihr gekündigt; aber auch hier begreife ich nicht, wie Sie dahintergekommen sind.«

Er lachte in sich hinein und rieb seine langen, nervigen Hände.

»Nichts einfacher als das«, sagte er; »meine Augen sagen mir, daß auf der Innenseite Ihres linken Schuhs, gerade dort, wo das Licht des Feuers hinfällt, das Leder von sechs fast parallelen Streifen markiert ist. Offensichtlich stammen sie daher, daß jemand um die Kanten der Sohle herum gekratzt hat, um verkrusteten Lehm zu entfernen. Daher also meine doppelte Deduktion, daß Sie bei üblem Wetter unterwegs gewesen sind und daß Sie es mit einem besonders schlimmen schuhschänderischen Exemplar der Gattung Londoner Kratzbürste zu tun haben. Was Ihr Praktizieren angeht – wenn ein Gentleman meine Räumlichkeiten betritt, nach Jodoform riecht, am rechten Zeigefinger einen schwarzen Silbernitratfleck hat und eine Ausbuchtung an der Seite seines Zylinders mir zeigt, wo er sein Stethoskop versteckt, dann müßte ich wirklich stumpfsinnig sein, wenn ich ihn nicht zum aktiven Mitglied der ärztlichen Zunft erklärte.«

Die Mühelosigkeit, mit der er seinen Deduktionsprozeß erläuterte, brachte mich zum Lachen. »Wenn ich höre, wie Sie Ihre Gründe anführen«, bemerkte ich, »scheint mir die Sache immer so lächerlich einfach, daß ich es leicht selbst machen könnte, und trotzdem bin ich bei jedem neuen Beweis Ihrer Denkprozesse wieder verblüfft, bis Sie mir die Einzelschritte erklären. Und bei alledem glaube ich immer noch, daß meine Augen ebenso gut sind wie Ihre.«

»Sicher sind sie es«, antwortete er; er zündete eine Zigarette an und warf sich in einen Lehnsessel. »Sie sehen, aber Sie beobachten nicht. Der Unterschied ist klar. Zum Beispiel haben Sie doch die Stufen, die von der Diele zu diesem Raum heraufführen, häufig gesehen.«

»Oft.«

»Wie oft?«

»Also, einige hundert Mal.«

»Und wie viele sind es?«

»Wie viele! Das weiß ich nicht.«

»Sehen Sie? Sie haben nicht beobachtet. Und trotzdem haben Sie gesehen. Darauf wollte ich hinaus. Nun, ich dagegen weiß, daß es siebzehn Stufen sind, weil ich sie sowohl gesehen als auch beobachtet habe. Übrigens: Da Sie sich für diese kleinen Probleme interessieren und da Sie so freundlich waren, eine oder zwei von meinen nebensächlichen Erfahrungen aufzuzeichnen, könnte es sein, daß das hier Sie interessiert.« Er warf mir ein Blatt dicken, rosafarbenen Briefpapiers zu, das offen auf dem Tisch gelegen hatte. »Das ist mit der letzten Post gekommen«, sagte er. »Lesen Sie es laut.«

Die Note trug weder Datum noch Unterschrift, noch Adresse.

»›Heute abend um Viertel nach acht wird ein Gentleman Sie aufsuchen, der Sie in einer Angelegenheit von allergrößter Bedeutung zu konsultieren wünscht. A3 Ihre jüngsten Dienste an einem der Königshäuser Europas haben gezeigt, daß Ihnen unbesorgt Angelegenheiten anvertraut werden können, deren Bedeutsamkeit kaum zu übertreiben ist. Diese Einschätzung Ihrer Person haben wir allenthalben vorgefunden. Seien Sie also zur genannten Stunde in Ihren Räumen, und nehmen Sie keinen Anstoß daran, daß Ihr Besucher möglicherweise eine Maske trägt.‹ – Das ist wirklich mysteriös«, bemerkte ich. »Haben Sie eine Vorstellung davon, was es bedeuten könnte?«

»Ich habe noch keine Tatsachen. Es ist ein schwerer Fehler, Theorien aufzustellen, bevor man Tatsachen hat. Dann fängt man unmerklich an, die Tatsachen zu verdrehen, bis sie zu den Theorien passen, statt die Theorien den Tatsachen anzupassen. Aber die Note selbst. Was können Sie daraus ableiten?«

Sorgfältig untersuchte ich den Text und das Papier, auf dem er geschrieben war.

»Der Mann, der das geschrieben hat, ist vermutlich wohlhabend«, bemerkte ich; ich versuchte, die Denkprozesse meines Gefährten zu imitieren. »Solch ein Papier bekommt man nicht unter einer halben Krone pro Päckchen. Es ist eigenartig dick und steif.«

»Eigenartig – das ist genau das Wort«, sagte Holmes. »Es ist gar kein englisches Papier. Halten Sie es vor das Licht.«

Ich hielt es hoch und sah ein großes E mit einem kleinen g, ein P und ein großes G mit einem kleinen t ins Papier eingewirkt.

»Was schließen Sie daraus?« fragte Holmes.

»Das ist ohne Zweifel der Name des Herstellers; oder eher sein Monogramm.«

»Keineswegs. Das G mit dem kleinen t steht für das deutsche Wort ›Gesellschaft‹. Die Abkürzung ist so üblich wie unser Co. für Company. P steht natürlich für ›Papier‹. Nun zu dem Eg. Werfen wir einen Blick in unser Handbuch des Kontinents.« Er nahm einen schweren braunen Band aus dem Regal. »Egeln, Egelsee – da haben wir’s, Eger. Es liegt in einem deutschsprachigen Land – in Böhmen, nicht weit von Karlsbad entfernt. ›Bekannt als Schauplatz von Wallensteins Tod sowie für seine zahlreichen Glasbläsereien und Papiermühlen.‹ Ha, ha, mein Junge, was halten Sie davon?« Seine Augen sprühten, und von seiner Zigarette ließ er eine große blaue Wolke des Triumphs aufsteigen.

»Das Papier ist in Böhmen hergestellt worden«, sagte ich.

»Genau. Und der Mann, der darauf geschrieben hat, ist ein Deutscher. Fällt Ihnen der merkwürdige Satzbau auf – ›Diese Einschätzung Ihrer Person haben wir allenthalben vorgefunden‹? Kein Franzose oder Russe könnte das geschrieben haben. Nur der Deutsche ist seinen Verben gegenüber so unhöflich. Also bleibt nun nur noch zu entdecken, was dieser Deutsche will, der auf böhmischem Papier schreibt und lieber eine Maske trägt, als sein Gesicht zeigt. Und da kommt er schon, wenn ich mich nicht irre, um uns aus allen Zweifeln zu erlösen.«

Noch während er sprach, hörten wir deutlich den harten Klang von Pferdehufen und Wagenräder, die am Bordstein entlangknirschten, gefolgt von einem scharfen Läuten der Türglocke. Holmes pfiff.

»Doppelgespann, dem Klang nach«, sagte er. »Ja«, meinte er dann, als er aus dem Fenster schaute. »Ein nettes kleines Coupé und ein Paar schöner Tiere. Einhundertfünfzig Guineen pro Stück. In diesem Fall steckt Geld, Watson, wenn auch vielleicht sonst nichts.«

»Ich glaube, ich gehe wohl besser nach Hause, Holmes.«

»Kommt nicht in Frage, Doktor. Bleiben Sie, wo Sie sind. Ohne meinen Eckermann bin ich verloren. Und die Sache verspricht, interessant zu werden. Es wäre ein Jammer, wenn sie Ihnen entginge.«

»Aber Ihr Klient …«

»Kümmern Sie sich nicht um ihn. Ich könnte Ihre Hilfe benötigen, und er vielleicht auch. Da kommt er. Setzen Sie sich in diesen Lehnstuhl da, Doktor, und schenken Sie uns Ihre ganze Aufmerksamkeit.«

Ein langsamer, schwerer Schritt, den wir schon auf der Treppe und im Korridor gehört hatten, hielt unmittelbar vor der Tür inne. Dann folgte ein lautes, gebieterisches Klopfen.

»Herein!« sagte Holmes.

Ein Mann trat ein, der kaum kleiner als sechs Fuß sechs Zoll sein konnte, mit Brust und Gliedern eines Herkules. Seine Kleidung war in einer Weise kostbar, die in England als schlechter Geschmack gegolten hätte. Sein zweireihiger Rock war vorn und an den Ärmeln mit schweren Streifen von Astrachanpelz besetzt, während der tiefblaue Umhang, den er über die Schultern geworfen hatte, von flammenfarbener Seide gesäumt und am Hals mit einer Brosche befestigt war, die aus einem einzigen lodernden Beryll bestand. Stiefel, die bis zur Hälfte seiner Waden reichten und deren Schäfte mit schwerem braunem Pelz geschmückt waren, vervollständigten den Eindruck barbarischen Reichtums, der von seiner ganzen Erscheinung ausging. Er trug einen breitkrempigen Hut in der Hand, und die obere Hälfte seines Gesichts bis unterhalb der Wangenknochen war mit einer schwarzen visierartigen Maske bedeckt, die er anscheinend eben erst zurechtgerückt hatte, denn als er eintrat, lag seine Hand noch an der Larve. Dem unteren Teil seines Gesichts nach schien er ein Mann mit kraftvollem Charakter zu sein, mit schwerer, hängender Unterlippe und einem geraden, ausgeprägten Kinn, das Entschlossenheit bis hin zur Starrköpfigkeit andeutete.

»Sie haben meine Note erhalten?« fragte er mit einer schroffen, tiefen Stimme und einem sehr merklichen deutschen Akzent. »Ich habe Ihnen geschrieben, ich würde kommen.« Er blickte zwischen uns hin und her, als sei er unsicher, an wen er sich wenden solle.

»Bitte nehmen Sie Platz«, sagte Holmes. »Das ist mein Freund und Kollege Dr. Watson, der bisweilen so freundlich ist, mir bei meinen Fällen zu helfen. Mit wem habe ich die Ehre?«

»Sie können mich Baron von Kramm nennen; ich bin ein böhmischer Edelmann. Ich nehme an, dieser Gentleman, Ihr Freund, ist ein Mann von Ehre und Verschwiegenheit, dem ich in einer Angelegenheit von allergrößter Bedeutung trauen kann. Falls nicht, zöge ich es vor, mit Ihnen allein zu sprechen.«

Ich erhob mich, um zu gehen, aber Holmes ergriff mein Handgelenk und drückte mich wieder in meinen Stuhl. »Beide oder keiner«, sagte er. »Alles, was Sie mir zu sagen haben, können Sie auch vor diesem Gentleman sagen.«

Der Graf zuckte mit seinen breiten Schultern. »Dann muß ich beginnen«, sagte er, »indem ich Sie beide für zwei Jahre zu absoluter Geheimhaltung verpflichte; nach dieser Zeit wird die Angelegenheit keinerlei Bedeutung mehr haben. Gegenwärtig übertreibe ich nicht, wenn ich sage, daß sie von einem solchen Gewicht ist, daß sie die europäische Geschichte beeinflussen könnte.«

»Ich verspreche es«, sagte Holmes.

»Ich ebenfalls.«

»Sie werden diese Maske entschuldigen«, fuhr unser seltsamer Besucher fort. »Die erhabene Person, in deren Diensten ich stehe, wünscht, daß ihr Agent Ihnen unbekannt bleibe, und ich will gleich zugeben, daß der Titel, mit dem ich mich Ihnen eben vorgestellt habe, nicht wirklich der meine ist.«

»Das war mir klar«, sagte Holmes trocken.

»Die Umstände sind überaus heikel, und man hat alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen, um etwas im Keime zu ersticken, was sich zu einem ungeheuren Skandal auswachsen und eine der herrschenden Familien Europas ernstlich kompromittieren könnte. Um es deutlich zu sagen, die Angelegenheit betrifft das hohe Haus Ormstein, das Haus der erblichen Könige von Böhmen.«

»Auch das war mir klar«, murmelte Holmes; er machte es sich in seinem Lehnstuhl bequem und schloß die Augen.

Unser Besucher betrachtete mit offensichtlicher Überraschung die matt daliegende Gestalt des Mannes, der ihm ohne Zweifel als der schärfste Denker und energischste Detektiv Europas dargestellt worden war. Holmes öffnete seine Augen langsam wieder und sah seinen riesigen Klienten ungeduldig an.

»Wenn Sie sich dazu herablassen wollten, Ihr Anliegen darzulegen, Majestät«, bemerkte er, »könnte ich Sie besser beraten.«

Der Mann sprang aus seinem Sessel auf und begann, in nicht zu unterdrückender Erregung im Raum hin und her zu gehen. Mit einer Gebärde der Verzweiflung riß er sich schließlich die Maske vom Gesicht und schleuderte sie zu Boden. »Sie haben recht«, rief er, »ich bin der König. Wozu sollte ich versuchen, es zu verheimlichen?«

»Tatsächlich, wozu?« murmelte Holmes. »Ihre Majestät hatten noch nichts gesagt, als mir schon klar war, daß ich mit Wilhelm Gottsreich Sigismund von Ormstein, dem Großherzog von Kassel-Falstein und erblichen König von Böhmen sprach.«

»Sie werden aber verstehen«, sagte unser seltsamer Besucher, wobei er sich wieder niederließ und mit der Hand über seine hohe weiße Stirn fuhr, »Sie werden verstehen, daß ich nicht daran gewöhnt bin, solche Geschäfte persönlich abzuwickeln. Die Sache ist jedoch so heikel, daß ich sie keinem Beauftragten anvertrauen konnte, ohne mich ihm dadurch auszuliefern. Ich bin incognito aus Prag hergekommen, um Sie zu konsultieren.«

»Dann konsultieren Sie doch bitte«, sagte Holmes; er schloß seine Augen wieder.

»Dies sind zusammengefaßt die Umstände: Vor etwa fünf Jahren lernte ich während eines längeren Aufenthalts in Warschau die bekannte Abenteurerin Irene Adler kennen. Sie haben diesen Namen sicherlich schon gehört.«

»Suchen Sie sie doch bitte in meinem Index, Doktor«, murmelte Holmes, ohne die Augen zu öffnen. Vor vielen Jahren hatte er sich ein System zurechtgelegt, um alle Daten über Personen und Dinge übersichtlich zu erfassen, so daß es schwierig war, ein Thema oder einen Menschen zu erwähnen, zu dem er nicht sogleich Informationen liefern konnte. In diesem Fall fand ich ihre Biographie eingeklemmt zwischen der eines Rabbiners und der eines Stabscommanders, der eine Monographie über Tiefseefische geschrieben hatte.

»Lassen Sie mal sehen«, sagte Holmes. »Hm! Geboren in New Jersey im Jahre 1858. Kontra-Alt – hm! La Scala, hm! Primadonna der Kaiserlichen Oper Warschau – Ja! Rücktritt von der Opernbühne – ha! Lebt in London – aha, genau! Wenn ich mich nicht irre, Majestät, haben Sie sich mit dieser jungen Person eingelassen, ihr einige kompromittierende Briefe geschrieben, und nun wünschen Sie, diese Briefe zurückzubekommen.«

»Das ist richtig. Aber wie …«

»Hat es eine geheime Eheschließung gegeben?«

»Nein.«

»Keine rechtsgültigen Papiere oder Urkunden?«

»Keine.«

»Dann kann ich Majestät nicht folgen. Wenn diese junge Person Ihre Briefe für eine Erpressung oder andere Zwecke sollte benutzen wollen, wie soll sie ihre Echtheit beweisen?«

»Die Handschrift.«

»Ah, bah! Fälschung.«

»Mein privates Briefpapier.«

»Gestohlen.«

»Mein persönliches Siegel.«

»Nachgemacht.«

»Meine Photographie.«

»Gekauft.«

»Wir sind beide auf der Photographie zu sehen.«

»O du liebe Güte! Das ist sehr schlimm! Majestät haben da wirklich eine Indiskretion begangen.«

»Ich war verrückt – wahnsinnig.«

»Sie haben sich ernstlich kompromittiert.«

»Ich war damals nur Kronprinz. Ich war jung. Ich bin heute erst dreißig.«

»Das Bild muß beschafft werden.«

»Wir haben es versucht und sind gescheitert.«

»Majestät müssen bezahlen. Man wird es kaufen müssen.«

»Sie will es nicht verkaufen.«

»Dann muß man es stehlen.«

»Fünf Versuche sind unternommen worden. Zweimal haben Einbrecher, die in meinem Sold standen, ihr Haus durchwühlt. Einmal haben wir ihr Gepäck fehlgeleitet, als sie reiste. Zweimal hat man ihr aufgelauert. Alles ohne Ergebnis.«

»Niemand hat das Bild zu Gesicht bekommen?«

»Absolut niemand.«

Holmes lachte. »Das ist wirklich ein nettes kleines Problem«, sagte er.

»Für mich aber ein sehr ernstes«, sagte der König vorwurfsvoll.

»Natürlich. Und was hat sie mit der Photographie vor?«

»Mich ruinieren.«

»Aber wie?«

»Ich werde bald heiraten.«

»Ich habe davon gehört.«

»Und zwar Clothilde Lothman von Sachsen-Meningen, die zweite Tochter eines skandinavischen Königs A4. Vielleicht ist Ihnen bekannt, daß ihre Familie sehr strenge Prinzipien hat. Sie selbst ist die Inkarnation der Feinfühligkeit. Der Schatten eines Zweifels, was mein Verhalten angeht, brächte der Angelegenheit ein jähes Ende.«

»Und Irene Adler?«

»Sie droht, ihnen die Photographie zu senden. Und sie wird es tun. Ich weiß, daß sie es tun wird. Sie kennen sie nicht, aber sie hat eine eherne Seele. Sie hat das Gesicht der schönsten aller Frauen und den Verstand des entschlossensten aller Männer. Es gibt nichts, was sie nicht unternähme, um mich davon abzuhalten, eine andere Frau zu heiraten – nichts.«

»Sind Sie sicher, daß sie das Bild noch nicht abgeschickt hat?«

»Ich bin sicher.«

»Und warum?«

»Weil sie gesagt hat, sie würde es an dem Tag abschicken, an dem das Verlöbnis öffentlich proklamiert wird. Das wird am kommenden Montag geschehen.«

»Oh, dann bleiben uns noch drei Tage«, sagte Holmes mit einem Gähnen. »Das ist sehr erfreulich, da ich mich gegenwärtig noch um eine wichtige Angelegenheit oder zwei zu kümmern habe. Majestät werden natürlich vorerst in London bleiben?«

»Gewiß. Sie können mich im ›Langham‹ finden, unter dem Namen des Grafen von Kramm.«

»Dann werde ich Sie schriftlich wissen lassen, welche Fortschritte wir machen.«

»Ich bitte darum. Ich weiß nicht mehr aus noch ein.«

»Nun zur Frage des Geldes.«

»Sie haben carte blanche

»Absolut?«

»Ich sage Ihnen, ich würde eine der Provinzen meines Königreiches geben, wenn ich damit die Photographie bekäme.«

»Und für anfallende Ausgaben?«

Der König holte einen schweren sämischledernen Beutel unter seinem Umhang hervor und legte ihn auf den Tisch.

»Hier sind dreihundert Pfund in Gold und siebenhundert in Banknoten«, sagte er.

Holmes kritzelte eine Empfangsbestätigung auf ein Blatt aus seinem Notizbuch und reichte es ihm.

»Und die Adresse von Mademoiselle?« fragte er.

»Sie lautet Briony Lodge, Serpentine Avenue, St. John’s Wood.«

Holmes notierte es. »Noch eine Frage«, sagte er. »War die Photographie größer als eine Visitenkarte?« A5

»Ja.«

»Dann wünsche ich gute Nacht, Majestät, und ich bin sicher, daß wir bald gute Nachrichten für Sie haben werden. Und auch Ihnen gute Nacht, Watson«, setzte er hinzu, als die Räder des königlichen Coupés die Straße hinabrollten. »Wenn Sie so freundlich sein wollen, morgen am Nachmittag vorbeizukommen, um drei Uhr, dann würde ich gern mit Ihnen über diese kleine Angelegenheit plaudern.«

II

Genau um drei Uhr stellte ich mich in der Baker Street ein, aber Holmes war noch nicht zurückgekehrt. Die Hauswirtin teilte mir mit, er sei kurz nach acht Uhr morgens aus dem Haus gegangen. Ich ließ mich jedoch neben dem Kamin nieder in der Absicht, auf ihn zu warten, gleich, wie lang es dauern mochte. Ich war von dieser Untersuchung längst gefesselt, denn wenn sie auch keinen der grimmen und merkwürdigen Züge aufwies, die die zwei von mir an anderer Stelle aufgezeichneten Verbrechen A6 umgaben, so erhielt die Untersuchung doch durch die Art des Falles und die hohe Stellung von Holmes’ Klienten einen ganz eigenen Charakter. Abgesehen von den Eigentümlichkeiten dieser Nachforschung, mit der sich mein Freund befaßte, gab es da etwas in seiner meisterhaften Erfassung der Lage und seinem kühlen, scharfen Denken, das es mir zu einem Vergnügen machte, seine Arbeitsweise zu studieren und die schnellen, feinsinnigen Griffe zu verfolgen, mit denen er die verwickeltsten Rätsel entwirrte. So sehr war ich an seine ständigen Erfolge gewöhnt, daß auch nur die Möglichkeit eines Scheiterns mir längst nicht mehr in den Kopf kam.

Es war fast vier Uhr, als sich endlich die Tür öffnete und ein Mensch, der ein betrunkener Pferdeknecht hätte sein können, mit wirrem Haar und Backenbart, rotglühendem Gesicht und verkommener Kleidung den Raum betrat. Obwohl ich doch meines Freundes erstaunliche Fähigkeiten bei der Verwendung von Verkleidungen kannte, mußte ich dreimal hinschauen, bevor ich sicher war, daß es sich wirklich um ihn handelte. Er nickte mir zu und verschwand im Schlafraum, aus dem er fünf Minuten später im Tweedanzug und respektabel wie eh und je zurückkehrte. Er steckte die Hände in die Taschen, streckte seine Beine vor dem Feuer aus und lachte eine ganze Weile herzhaft.

»Nein, wirklich!« rief er und verschluckte sich; dann lachte er wieder, bis er sich schlaff und hilflos im Lehnstuhl zurückfallen lassen mußte.

»Was gibt es denn?«

»Es ist einfach zu lustig. Ich wette, Sie kämen nie darauf, wie ich meinen Vormittag zugebracht oder was ich zuletzt getan habe.«

»Ich habe keine Ahnung. Ich nehme an, Sie haben die Gewohnheiten und vielleicht das Haus von Miss Irene Adler beobachtet.«

»Das habe ich, aber was dann kam, war ziemlich ungewöhnlich. Ich will es Ihnen aber erzählen. Ich bin heute morgen kurz nach acht Uhr aus dem Haus gegangen, als arbeitsloser Pferdeknecht. Unter Pferdeleuten herrschen wunderbares Einvernehmen und Freizügigkeit. Wenn Sie einer von ihnen sind, werden Sie bald alles wissen, was zu wissen ist. Ich habe Briony Lodge schnell gefunden. Ein Schmuckstück von einer Villa, mit einem rückwärtigen Garten, aber vorn bis an die Straße gebaut, zwei Stockwerke. Ein Chubb-Schloß A7 an der Tür. Rechts ein großer Wohnraum, gut möbliert, mit langen Fenstern fast bis zum Boden und diesen albernen englischen Fensterriegeln, die ein Kind öffnen könnte. Dahinter war nichts Bemerkenswertes, abgesehen davon, daß man das Korridorfenster vom Dach der Remise aus erreichen kann. Ich habe einen Rundgang gemacht und alles aus allen möglichen Blickwinkeln gründlich untersucht, konnte aber sonst nichts Interessantes feststellen.

Dann bin ich die Straße hinabgeschlendert und habe wie erwartet einen Pferdestall an einer Straße gefunden, die an einer der Gartenmauern verläuft. Ich habe den Stallburschen beim Abreiben der Pferde geholfen, und als Gegenleistung habe ich zwei Pence, ein Glas halb Porter halb Ale, zwei Pfeifen voll Shag und über Miss Adler so viele Informationen bekommen, wie ich mir nur wünschen konnte, ganz zu schweigen von einem halben Dutzend anderer Leute in der Nachbarschaft, an denen ich nicht im geringsten interessiert war, deren Biographien ich mir aber anhören mußte.«

»Und was ist mit Irene Adler?« fragte ich.

»Oh, die hat in der Gegend allen Männern den Kopf verdreht. Auf diesem Planeten ist sie das süßeste Ding, das eine Haube trägt. So heißt es im Serpentine-Stall, wie aus einem Mund. Sie führt ein ruhiges Leben, singt bei Konzerten, fährt jeden Tag um fünf Uhr aus und kommt Punkt sieben zurück zum Dinner. Zu anderen Zeiten geht sie selten aus, außer wenn sie singt. Sie hat nur einen männlichen Besucher, den aber oft. Er ist dunkelhaarig, hübsch und schneidig; er kommt nie seltener als einmal pro Tag und oft auch zweimal. Er ist ein Mr. Godfrey Norton, vom Gericht am Inner Temple. Sie sehen, wie gut es ist, einen Kutscher als Vertrauensmann zu haben. Sie haben ihn ein Dutzend Mal vom Serpentine-Stall nach Hause gefahren und wissen alles über ihn. Nachdem ich mir alles angehört hatte, was sie erzählen konnten, bin ich wieder in der Nähe von Briony Lodge auf und ab gegangen und habe mir meinen Schlachtplan zurechtgelegt.

Dieser Godfrey Norton ist offenbar ein wichtiger Faktor in der Angelegenheit. Er ist Anwalt. Das klingt ominös. Wie sieht ihre Beziehung aus, und was ist der Sinn seiner wiederholten Besuche? Ist sie seine Klientin, seine Freundin oder seine Maitresse? Im ersten Fall hat sie ihm vermutlich die Photographie zur Aufbewahrung übergeben, im letzten ist das weniger wahrscheinlich. Von der Beantwortung dieser Frage hing nun ab, ob ich meine Arbeit in Briony Lodge fortsetzen oder meine Aufmerksamkeit den Räumlichkeiten des Gentleman im Temple zuwenden sollte. Das war ein heikler Punkt, und er dehnte den Bereich meiner Nachforschungen aus. Ich fürchte, ich langweile Sie mit diesen Einzelheiten, aber ich muß Ihnen meine kleinen Schwierigkeiten vor Augen führen, damit Sie die Situation begreifen können.«

»Ich kann Ihnen ganz gut folgen«, antwortete ich.

»Ich war immer noch damit beschäftigt, die Sache im Geiste abzuwägen, als eine Droschke vor Briony Lodge vorfuhr und ein Gentleman heraussprang. Er war ein bemerkenswert gutaussehender Mann, dunkelhaarig, mit Adlernase und Schnurrbart – augenscheinlich der Mann, von dem ich so viel gehört hatte. Er schien in großer Eile zu sein, rief dem Kutscher zu, er solle warten, und dann ist er an dem Mädchen, das die Tür öffnete, vorbeigestürmt wie einer, der sich sehr gut auskennt.

Er ist ungefähr eine halbe Stunde im Haus geblieben, und ich konnte ihn hin und wieder sehen, wie er hinter den Fenstern des Wohnraums auf und ab ging, erregt redete und mit den Armen fuchtelte. Dann kam er wieder heraus und sah noch gehetzter aus als zuvor. Als er zum Wagen ging, hat er eine goldene Uhr aus der Tasche gezogen und sie besorgt angesehen. ›Fahren Sie wie der Teufel‹, hat er gerufen, ›erst zu Gross and Hankey’s in der Regent Street und dann zur Kirche St. Monica in der Edgware Road. Eine halbe Guinee, wenn Sie es in zwanzig Minuten schaffen!‹

Damit sind sie losgebraust, und ich überlegte mir gerade, ob ich ihnen nicht besser folgen sollte, als ein hübscher kleiner Landauer die Straße heraufkam; der Kutscher hatte seine Jacke nur zur Hälfte zugeknöpft und die Krawatte saß unter dem Ohr, und alle Riemen starrten aus den Schnallen des Geschirrs heraus. Der Wagen stand noch nicht, als sie auch schon aus der Tür geschossen kam und einstieg. Ich habe in diesem Moment nur einen kurzen Blick auf sie werfen können, aber sie ist eine wunderschöne Frau, mit einem Gesicht, für das mancher Mann sein Leben hingäbe.

›Die St.-Monica-Kirche, John‹, rief sie, ›und einen halben Sovereign, wenn wir in zwanzig Minuten dort sind.‹

Die Gelegenheit war zu gut, um sie verstreichen zu lassen, Watson. Ich habe noch überlegt, ob ich laufen oder hinten auf ihrem Landauer aufsitzen soll, als eine Mietdroschke die Straße herunterkam. Der Fahrer hat seinen schäbigen Fahrgast mißtrauisch angesehen, ich bin aber in den Wagen gesprungen, bevor er Einwände erheben konnte. ›Die St.-Monica-Kirche‹, habe ich gesagt, ›und einen halben Sovereign, wenn Sie es in zwanzig Minuten schaffen.‹ Es war fünfundzwanzig Minuten vor zwölf, und natürlich war mir klar, was in der Luft lag.

Mein Kutscher ist sehr schnell gefahren. Ich glaube nicht, daß er jemals schneller gefahren ist, aber die anderen waren vor uns dort. Droschke und Landauer mit dampfenden Pferden standen vor der Tür, als ich ankam. Ich habe den Mann bezahlt und bin in die Kirche gestürzt. Keine Menschenseele war in der Kirche, außer den beiden, denen ich gefolgt war, und einem Priester im Chorhemd, der ihnen Vorhaltungen zu machen schien. Sie standen alle drei dicht zusammen vor dem Altar. Ich bin durch den Seitengang nach vorn geschlendert wie ein beliebiger Müßiggänger, der zufällig in eine Kirche hineinschaut. Zu meiner Überraschung drehen sich die drei am Altar plötzlich zu mir um, und Godfrey Norton kommt zu mir gestürmt, so schnell er kann.

›Gott sei Dank!‹ ruft er, ›Sie können uns helfen. Kommen Sie! Kommen Sie!‹

›Was gibt’s denn?‹ frage ich.

›Kommen Sie, Mann, kommen Sie, nur noch drei Minuten, sonst ist es nicht rechtsgültig.‹

Er hat mich förmlich zum Altar gezerrt, und bevor ich so recht wußte, wo ich war, murmelte ich schon Antworten, die man mir ins Ohr flüsterte, und verbürgte mich für Dinge, von denen ich nichts wußte, und im übrigen half ich dabei, die Jungfer Irene Adler fest und sicher an den Junggesellen Godfrey Norton zu binden. Alles war im Nu erledigt, und da standen der Gentleman auf einer und die Lady auf der anderen Seite und dankten mir, und der Priester strahlte mich von vorn an. Es war die lächerlichste Situation, in der ich mich in meinem Leben je befunden habe, und beim Gedanken daran habe ich vorhin so gelacht. Anscheinend hatte es in ihren Papieren einen Formfehler gegeben, so daß der Priester sich kategorisch weigerte, sie ohne einen Zeugen zu vermählen, und mein glückliches Auftauchen hat den Bräutigam davor gerettet, einen Ausfall auf die Straße unternehmen und einen Brautführer suchen zu müssen. Die Braut hat mir einen Sovereign gegeben, und ich beabsichtige, ihn als Andenken an dieses Ereignis an meiner Uhrkette zu tragen.«

»Die Sache nimmt einen reichlich unerwarteten Verlauf«, sagte ich; »und was ist dann geschehen?«

»Nun ja, meine Pläne waren natürlich vom Scheitern bedroht. Es sah so aus, als könnte das Paar sich sofort auf eine Reise begeben, was umgehende und energische Maßnahmen meinerseits erfordert hätte. Sie trennten sich aber an der Kirchentür; er ist zurückgefahren zum Temple und sie zu ihrem Haus. ›Ich werde wie üblich um fünf im Park ausfahren‹, sagte sie, als sie von ihm wegging. Mehr habe ich nicht gehört. Sie sind in verschiedene Richtungen gefahren, und ich bin aufgebrochen, um meine eigenen Vorkehrungen zu treffen.«

»Welcher Art?«

»Kaltes Rindfleisch und ein Glas Bier«, antwortete er, wobei er die Glocke betätigte. »Ich war zu beschäftigt, um an Essen zu denken, und wahrscheinlich werde ich heute abend noch beschäftigter sein. Übrigens, Doktor, ich brauche Ihre Mitwirkung.«

»Mit dem größten Vergnügen.«

»Macht es Ihnen etwas aus, das Gesetz zu übertreten?«

»Nicht im mindesten.«

»Oder möglicherweise verhaftet zu werden?«

»Nicht, wenn es für eine gute Sache ist.«

»Oh, es ist eine ganz ausgezeichnete Sache!«

»Dann bin ich dabei.«

»Ich war sicher, daß ich mich auf Sie würde verlassen können.«

»Aber was haben Sie denn vor?«

»Ich werde es Ihnen erklären, wenn Mrs. Turner das Tablett gebracht hat. – So«, sagte er, als er sich hungrig auf die einfache Mahlzeit stürzte, die unsere Wirtin beschafft hatte, »wir müssen das besprechen, während ich esse, ich habe nämlich nicht viel Zeit. Es ist jetzt fast fünf. In zwei Stunden müssen wir auf dem Schauplatz sein. Miss Irene, oder genauer Madame, kommt um sieben Uhr von ihrer Ausfahrt zurück. Wir müssen in Briony Lodge sein, um sie zu treffen.«

»Und was dann?«

»Das müssen Sie mir überlassen. Ich habe schon für alles Vorkehrungen getroffen. Es gibt nur einen Punkt, auf dem ich bestehen muß. Sie dürfen sich nicht einmischen, ganz gleich, was geschieht. Haben Sie das verstanden?«

»Ich soll unbeteiligt bleiben?«

»Sie sollen gar nichts tun. Vermutlich werden sich einige kleine Unfreundlichkeiten ereignen. Halten Sie sich heraus. Es wird damit enden, daß man mich ins Haus schleppt. Vier oder fünf Minuten später wird sich das Fenster des Wohnraums öffnen. Sie sollen sich nahe bei diesem offenen Fenster aufhalten.«

»Ja.«

»Und Sie sollten mich im Auge behalten, denn Sie werden mich sehen können.«

»Ja.«

»Und wenn ich meine Hand hebe – so –, werden Sie etwas in den Raum werfen, was ich Ihnen gebe, und gleichzeitig werden Sie ›Feuer‹ rufen. Können Sie mir folgen?«

»Ich kann.«

»Es ist nichts besonders Großartiges«, sagte er; er nahm eine längliche, zigarrenförmige Walze aus der Tasche. »Das ist eine gewöhnliche Rauchpatrone, wie Klempner sie zum Aufspüren von Rohrbrüchen benutzen, auf jeder Seite eine Kappe zur Selbstzündung. Das ist alles, was Sie zu tun haben. Wenn Sie ›Feuer‹ rufen, wird eine ganze Menge Leute in den Schrei einstimmen. Danach können Sie zum Ende der Straße gehen, und ich werde innerhalb von zehn Minuten zu Ihnen stoßen. Ich hoffe, ich habe mich verständlich ausgedrückt?«

»Ich soll unbeteiligt bleiben, in die Nähe des Fensters kommen, Sie im Auge behalten und auf Ihr Zeichen hin diesen Gegenstand in den Raum werfen, dann ›Feuer‹ schreien und an der Straßenecke auf Sie warten.«

»Ganz genau.«

»Wenn das alles ist, können Sie sich voll und ganz auf mich verlassen.«

»Ausgezeichnet. Ich glaube, es ist fast an der Zeit, mich auf meine neue Rolle vorzubereiten.«

Er verschwand in seinem Schlafgemach und kam einige Minuten später als freundlicher und einfältig dreinblickender nonkonformistischer Geistlicher A8 zurück. Sein breiter schwarzer Hut, die ausgebeulten Hosen, das weiße Beffchen, das sympathische Lächeln und der allgemeine Ausdruck spähender und wohlwollender Neugier ließen ihn wie die Bilderbuchausgabe eines betulichen Priesters erscheinen. Nicht, daß Holmes nur seine Kleidung gewechselt hätte. Sein Ausdruck, seine Haltung, ja seine Seele schien sich mit jeder neuen Rolle, in die er schlüpfte, zu verändern. Die Bühne verlor einen prächtigen Schauspieler und die Wissenschaft verlor einen scharfen Denker, als er zum Verbrechensexperten wurde.

Es war Viertel nach sechs, als wir aus dem Haus in der Baker Street gingen, und zehn vor sieben, als wir Serpentine Avenue erreicht hatten. Die Abenddämmerung war bereits gefallen, und man zündete gerade die Lampen an, während wir vor Briony Lodge auf und ab wanderten und auf die Heimkehr der Bewohnerin warteten. Das Haus war genau so, wie ich es mir nach Sherlock Holmes’ bündiger Beschreibung vorgestellt, doch schien die Lage weniger abgeschieden zu sein, als ich erwartet hatte. Im Gegenteil: Für eine kleine Straße in ruhiger Gegend war sie auffallend lebhaft. Eine Gruppe schäbig gekleideter Männer rauchte und lachte an einer Ecke, da war ein Scherenschleifer mit seinem Schleifstein, zwei Gardisten schäkerten mit einem Kindermädchen, und mehrere gutgekleidete junge Männer mit Zigarren schlenderten hin und her.

»Sie sehen«, bemerkte Holmes, während wir vor dem Haus auf und ab gingen, »diese Eheschließung vereinfacht die Sache entschieden. Damit wird die Photographie zu einer zweischneidigen Waffe. Es besteht die Möglichkeit, daß die Dame ebenso dagegen ist, daß Mr. Godfrey Norton das Bild sieht, wie unser Klient dagegen ist, daß es seiner Prinzessin zu Augen kommt. Nun ist allerdings die Frage: Wo können wir die Photographie finden?«

»Ja, das stimmt. Wo?«

»Es ist nicht wahrscheinlich, daß sie sie bei sich trägt. Sie ist fast so groß wie eine Postkarte. Zu groß, um irgendwo in der Kleidung einer Frau versteckt zu werden. Sie weiß, daß der König imstande ist, ihr auflauern und sie durchsuchen zu lassen. Zwei derartige Versuche sind schon unternommen worden. Wir können also wohl davon ausgehen, daß sie sie nicht bei sich trägt.«

»Wo hat sie sie denn dann?«

»Bei ihrem Bankier oder ihrem Anwalt. Diese doppelte Möglichkeit gibt es. Ich glaube aber eher, daß keine von beiden zutrifft. Frauen sind von Natur aus Geheimniskrämer, und sie möchten ihre Geheimnisse für sich behalten. Warum sollte sie das Bild jemandem übergeben? Sich selbst kann sie vertrauen, aber sie könnte niemals sicher sein, daß nicht indirekt oder politisch Einfluß auf einen Geschäftsmann ausgeübt wird. Und denken Sie außerdem daran, daß sie sich entschlossen hat, das Bild innerhalb der nächsten Tage zu verwenden. Es muß an einer Stelle sein, an der sie es sofort findet. Es muß in ihrem eigenen Haus sein.«

»Aber da ist doch zweimal eingebrochen worden.«

»Pah! Die wissen nicht, wie man gründlich sucht.«

»Und wie wollen Sie suchen?«

»Ich werde nicht suchen.«

»Was denn?«

»Ich werde sie dazu bringen, es mir zu zeigen.«

»Sie wird sich bestimmt weigern.«

»Das wird sie gar nicht können. Aber ich höre Räder rattern. Das ist ihr Wagen. Führen Sie nun bitte meine Anweisungen buchstabengetreu aus.«

Noch während er sprach, kam das Leuchten der Seitenlampen einer Kutsche um die Biegung der Avenue. Es war ein ansehnlicher kleiner Landauer, und er ratterte bis zur Tür von Briony Lodge. Als der Wagen zum Stehen kam, stürzte einer der herumlungernden Männer von der Ecke vor, um die Tür zu öffnen, in der Hoffnung, eine Kupfermünze zu verdienen; er wurde jedoch von einem anderen Faulenzer beiseite gestoßen, der in der gleichen Absicht zum Wagen gerannt war. Ein heftiger Streit brach aus, der noch größere Ausmaße annahm, weil die beiden Gardisten sich auf die Seite eines der Lungerer schlugen und der Scherenschleifer sich mit gleicher Hitzigkeit auf die andere stellte. Schläge wurden ausgeteilt, und innerhalb eines Augenblicks war die Dame, die aus der Kutsche gestiegen war, der Mittelpunkt eines Knäuels zornroter, kämpfender Männer, die einander wild mit Fäusten und Stöcken bearbeiteten. Holmes stürzte sich in die Menge, um die Dame zu schützen; genau in dem Moment jedoch, da er sie erreichte, stieß er einen Schrei aus und stürzte zu Boden, und Blut strömte über sein Gesicht. Bei seinem Sturz zahlten die Gardisten Fersengeld nach der einen, die Lungerer nach der anderen Seite, wogegen eine Anzahl besser gekleideter Leute, die dem Handgemenge zugesehen hatten, ohne sich zu beteiligen, sich nun herandrängten, um der Dame zu helfen und sich um den verletzten Mann zu kümmern. Irene Adler, wie ich sie immer noch nennen will, war die Stufen hinaufgeeilt; nun jedoch stand sie oben auf der Treppe und blickte zurück zur Straße, und ihre herrliche Gestalt war umrissen von der Beleuchtung der Eingangshalle.

»Ist der arme Gentleman schlimm verletzt?« fragte sie.

»Er ist tot«, riefen mehrere Stimmen.

»Nein, nein, er lebt noch«, schrie eine andere. »Aber er wird hinüber sein, bevor man ihn ins Hospital bringen kann.«

»Er ist ein tapferer Kerl«, sagte eine Frau. »Wenn er nicht gewesen wäre, dann hätten sie die Börse und die Uhr der Lady bekommen. Das muß eine Bande gewesen sein, und rauh außerdem. Ah, er atmet noch.«

»Er kann nicht hier auf der Straße liegenbleiben. Können wir ihn reinbringen, Ma’m?«

»Natürlich. Bringen Sie ihn in den Wohnraum. Da steht ein bequemes Sofa. Hier entlang, bitte!«

Langsam und feierlich trugen sie ihn nach Briony Lodge hinein und legten ihn im großen Raum nieder, während ich die Vorgänge weiterhin von meinem Posten beim Fenster aus beobachtete. Die Lampen waren angezündet worden, aber man hatte die Gardinen nicht zugezogen, so daß ich Holmes auf der Couch liegen sehen konnte. Ich weiß nicht, ob er in diesem Moment Gewissensbisse wegen der von ihm gespielten Rolle verspürte, ich weiß aber, daß ich mich in meinem ganzen Leben nie so sehr geschämt habe wie in diesem Augenblick, als ich das wunderschöne Geschöpf sah, gegen das ich konspirierte, und die Anmut und Güte, mit der die Frau sich um den verletzten Mann kümmerte. Und dennoch wäre es der finsterste Verrat an Holmes gewesen, wenn ich mich nun von der mir anvertrauten Aufgabe fortgestohlen hätte. Ich verschloß mein Herz und zog die Rauchpatrone unter meinem Ulster hervor. Wenigstens, dachte ich bei mir, fügen wir ihr keinen Schaden zu. Wir hindern sie nur daran, einem anderen zu schaden.

Holmes hatte sich auf der Couch aufgerichtet, und ich sah ihn gestikulieren wie einen, der keine Luft bekommt. Ein Dienstmädchen stürzte ans Fenster und riß es auf. Im gleichen Augenblick sah ich, wie er die Hand hob, und auf das Zeichen hin warf ich mit dem Schrei »Feuer« meine Patrone in den Raum. Ich hatte das Wort noch kaum gerufen, als auch schon die ganze Menge der Zuschauer, gut und schlecht Gekleidete – Gentlemen, Stallknechte und Dienstmädchen – allesamt »Feuer« zu schreien begannen. Dicke Rauchwolken bildeten sich im Raum und quollen aus dem Fenster. Undeutlich sah ich eilende Gestalten, und einen Augenblick später hörte ich Holmes’ Stimme im Haus, wie sie alle damit beruhigte, daß es ein falscher Alarm sei. Ich schlüpfte durch die rufende Menge und begab mich zur Straßenecke, und zehn Minuten später fühlte ich zu meiner Erleichterung den Arm meines Freundes in meinem, und wir entfernten uns von der Szene des Aufruhrs. Einige Minuten lang schritt Holmes schnell aus und schwieg, bis wir in eine der ruhigen Straßen eingebogen waren, die zur Edgware Road führen.

»Das haben Sie sehr gut gemacht, Doktor«, bemerkte er.

»Es hätte nicht besser sein können. Alles ist in Ordnung.«

»Dann haben Sie die Photographie?«

»Ich weiß, wo sie ist.«

»Und wie haben Sie das herausgefunden?«

»Sie hat sie mir gezeigt, wie ich es Ihnen vorausgesagt habe.«

»Ich begreife noch immer nichts.«

»Ich will kein Geheimnis daraus machen«, sagte er lachend. »Die Sache war ganz einfach. Sie haben natürlich sofort gesehen, daß alle auf der Straße Komplizen waren. Ich hatte sie alle für diesen Abend engagiert.«

»Soviel hatte ich mir gedacht.«

»Als dann das Durcheinander losging, hatte ich ein wenig feuchte rote Farbe in der Handfläche. Ich bin losgerannt, gestürzt, habe die Hand vors Gesicht geschlagen und wurde zu einem erbarmungswürdigen Anblick. Das ist ein alter Trick.«

»Auch das habe ich noch durchschaut.«

»Dann hat man mich hineingetragen. Sie mußte mich natürlich ins Haus holen. Was hätte sie sonst tun können? Und in ihren Wohnraum, und das ist genau der Raum, den ich in Verdacht hatte. Das heißt, dieser oder ihr Schlafraum, und ich war entschlossen, herauszufinden, welcher es war. Man hat mich auf eine Couch gelegt, ich habe so getan, als bekäme ich keine Luft, sie mußten das Fenster öffnen und das war Ihre Gelegenheit.«

»Inwiefern hat Ihnen das geholfen?«

»Das war das Wichtigste überhaupt. Wenn eine Frau glaubt, ihr Haus stehe in Flammen, dann läßt ihr Instinkt sie zuerst zu dem Objekt laufen, das sie am höchsten schätzt. Dieser Impuls ist unwiderstehlich, und ich habe mehr als nur einmal meinen Nutzen daraus gezogen. Im Fall des Skandals um die Darlington-Unterschiebung hat er mir genutzt und ebenso in der Sache Answorth Castle. Eine verheiratete Frau greift nach ihrem Baby – eine unverheiratete nach ihrer Schmuckschatulle. Nun war mir klar, daß unsere heutige Dame nichts für sie Kostbareres im Haus hatte als das, was wir suchen. Sie würde also loslaufen, um es in Sicherheit zu bringen. Der Feueralarm war hervorragend gemacht. Der Rauch und das Geschrei reichten völlig aus, um auch Nerven aus Stahl zu erschüttern. Sie hat wunderbar reagiert. Die Photographie befindet sich in einer Höhlung hinter einer beweglichen Täfelung, gerade oberhalb des rechten Glockenzugs. Sie war im Nu da, und ich konnte einen Blick auf das Bild erhaschen, als sie es halb aus dem Versteck zog. Als ich dann rief, daß es ein falscher Alarm gewesen sei, hat sie es wieder zurückgesteckt, die Patrone angestarrt, dann ist sie aus dem Raum gestürzt, und seither habe ich sie nicht gesehen. Ich bin aufgestanden, habe mich entschuldigt und das Haus verlassen. Ich habe überlegt, ob ich nicht sofort versuchen sollte, das Bild in Sicherheit zu bringen; inzwischen war aber der Kutscher hereingekommen, und da er mich mißtrauisch beobachtet hat, schien es mir besser, zu warten. Ein wenig Übereiltheit kann alles ruinieren.«

»Und nun?« fragte ich.

»Unsere Aufgabe ist fast erledigt. Ich werde morgen mit dem König dort vorsprechen, mit Ihnen zusammen, wenn Sie mit uns kommen mögen. Man wird uns in den Wohnraum führen, wo wir auf die Lady warten können, aber es steht zu vermuten, daß sie, wenn sie kommt, weder uns noch die Photographie antrifft. Es könnte Seiner Majestät eine besondere Befriedigung sein, das Bild eigenhändig wiederzubeschaffen.«

»Und wann wollen Sie dort vorsprechen?«

»Um acht Uhr morgens. Sie wird noch nicht auf sein, wir werden also freies Spiel haben. Außerdem müssen wir schnell sein, denn diese Heirat könnte eine völlige Umstellung in ihrem Leben und ihren Gewohnheiten bedeuten. Ich muß unverzüglich dem König drahten.«

Wir hatten die Baker Street erreicht und waren vor der Tür stehengeblieben. Er suchte in seinen Taschen nach dem Schlüssel, als ein Passant sagte:

»Gute Nacht, Mister Sherlock Holmes.«

Zu dieser Zeit waren mehrere Leute auf dem Gehweg, aber der Gruß schien von einem schmächtigen Jüngling in einem Ulster zu kommen, der an uns vorbeigeeilt war.

»Die Stimme habe ich schon einmal gehört«, sagte Holmes; er starrte die undeutlich erhellte Straße hinab. »Also, ich wüßte gern, wer zum Teufel das gewesen sein mag.«

III

Ich schlief diese Nacht in der Baker Street, und wir saßen bei unserem Toast und Kaffee, als der König von Böhmen ins Zimmer gestürmt kam.

»Sie haben das Bild wirklich!« rief er; er packte Sherlock Holmes an beiden Schultern und starrte aufgeregt in sein Gesicht.

»Noch nicht.«

»Aber Sie sind hoffnungsvoll?«

»Das bin ich.«

»Dann kommen Sie; ich kann es kaum erwarten.«

»Wir brauchen eine Droschke.«

»Nein, mein Wagen wartet unten.«

»Das vereinfacht die Sache.«

Wir gingen hinab und machten uns abermals auf den Weg zu Briony Lodge.

»Irene Adler ist verheiratet«, bemerkte Holmes.

»Verheiratet! Seit wann?«

»Seit gestern.«

»Mit wem denn nur?«

»Mit einem englischen Anwalt namens Norton.«

»Sie kann ihn aber doch nicht lieben?«

»Ich hoffe doch sehr, daß sie es tut.«

»Und warum hoffen Sie?«

»Weil das Majestät von aller Furcht vor künftiger Behelligung befreien würde. Wenn die Dame ihren Gatten liebt, liebt sie Majestät nicht. Wenn sie Majestät nicht liebt, gibt es keinen Grund, weshalb sie sich in die Pläne von Majestät einmischen sollte.«

»Das stimmt. Und dennoch –! Nun gut! Ich wollte, sie wäre meines eigenen Standes gewesen! Welch eine Königin sie abgegeben hätte!« Er fiel in melancholisches Schweigen, das nicht gebrochen wurde, bis wir die Serpentine Avenue erreicht hatten.

Die Tür von Briony Lodge war offen, und eine ältere Frau stand auf den Stufen. Sie betrachtete uns mit einem sardonischen Gesichtsausdruck, während wir aus dem Coupé stiegen.

»Mr. Sherlock Holmes, nehme ich an?« sagte sie.

»Ich bin Mr. Holmes«, antwortete mein Gefährte; er musterte sie fragend und fast erschrocken.

»üü  «