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ÜBER DEN AUTOR

Philipp Tingler wurde 1970 in Berlin (West) geboren. Studium der Wirtschaftswissenschaften und Philosophie in St. Gallen, London und Zürich. Hochbegabten-Stipendium, Doktorarbeit über Thomas Mann und den transzendentalen Idealismus Immanuel Kants. Diverse Beiträge für Anthologien sowie für Zeitungen, Zeitschriften, Rundfunk und Fernsehen, u. a. für den Westdeutschen Rundfunk, Schweizer Radio DRS, Vogue, Stern, Neon und NZZ am Sonntag. Kolumnen u. a. in GQ und Welt am Sonntag. 2001 Ehrengabe des Kantons Zürich für Literatur, 2008 Kasseler Literaturpreis für komische Literatur.

Weitere Titel von Philipp Tingler bei Kein & Aber: Juwelen des Schicksals (2005), Leute von Welt (2006), Fischtal (2007), Stil zeigen! (2008), und Leichter Reisen (2011) sowie die CD Das Abc des guten Benehmens (2008).

Der Autor lebt in Zürich.

www.philipptingler.com

ÜBER DAS BUCH

Oskar Canow ist Schriftsteller und scheint ein Leben auf der Sonnenseite zu führen: Bücher, die sich verkaufen, Kolumnen in Hochglanzmagazinen, attraktive Freunde aus den besten Kreisen, eine bezaubernde, verständnisvolle Ehefrau aus England und ein Zuhause, das für Stilbeilagen fotografiert wird. Das alles ist Oskar nicht zugeflogen, vielmehr glaubt er fest an Pflicht und Leistung. Ferner glaubt er an den lieben Gott und an die gute Form. Deswegen offeriert er auch Käsebällchen, als unversehens der Teufel an der Tür klingelt, um ihm ein Geschäft vorzuschlagen. Oskar lässt sich auf einen Pakt auf Probe ein. Und schon bricht die Hölle los. Von Unterwäsche-Modenschauen und wilden Autofahrten über einen Hosenkauf mit dem Herrn der Finsternis bis zur Herzattacke auf der Bühne des Zürcher Schauspielhauses – dieser Roman ist temporeich, opulent, dramatisch und bisweilen umwerfend komisch.

»Ein sehr kluger und sehr komischer Gesellschaftsroman.«

Uwe Wittstock, Die Welt

Für den besten Ehemann von allen.

Seelenleiden sind reinlich und wundervoll.

1. KAPITEL

Jeder kennt jeden

»Das darf doch nicht wahr sein!«, sagte Oskar gepresst. Und bei diesen Worten schien unsere kaum vierzigjährige Hauptfigur mit einem Mal ganz alt geworden zu sein; sogar Oskars Stimme hatte sich verwandelt, und zwar zu ihrem Nachteil, nämlich in eine Art hysterisches Krächzen. Obendrein sah er geradezu gebeugt aus.

»Es tut mir wirklich leid. Ich habs im Kühlschrank vergessen … in unserer Praxis am Flughafen«, erklärte Doktor Feingarten. Worauf eine Pause eintrat. Doktor Feingarten lächelte ein Arztlächeln. »Das ist überhaupt kein Problem«, stellte er fest und nahm einen Schluck Roederer Cristal, »ich kenne quasi den Botox-Oberverteiler von ganz Deutschland, es ist überhaupt kein Problem, morgen schnell die Dosis zu organisieren, und dann machen wir die Sitzung einfach bei Kitty zu Hause. Ich nehme an, alles andere käme Ihnen ungelegen?«

Die froissierte Miene Oskars machte eine Antwort überflüssig. Und Botox-Injektionen im Grunde ebenfalls. Allerdings konnte Oskar auch deswegen nicht mehr antworten, weil sich in diesem Moment jemand einmischte und nach seinem Befinden erkundigte. Es war eine Dame schwer bestimmbaren Alters mit teuer frisiertem, falschblondem Haar, einer Stumpfnase und einem selbstbräunerimprägnierten Silikondekolleté, das an zwei schlecht gewordene (und obendrein schlecht verpackte) Apfelsinen erinnerte. Oskar hatte nicht die geringste Ahnung, um wen es sich handelte, nicht zuletzt, weil es um ihn herum aussah, als wäre eine mit solchen Damen gefüllte Bombe explodiert: Die Gesellschaft, die ihn umgab, bestand augenblicklich zu einem überwiegenden Teil aus mageren, aschblonden, kunstbraunen, stupsnäsigen und kurzsichtigen Frauen in Chanel-Kostümen. Denn Oskar stand auf einem Stehempfang zur Feier des fünfzigsten Geburtstages des Bicolor-Schuhs bei Chanel am Kurfürstendamm in Berlin – ein Anlass, der, obschon er offenbar für gewisse Kreise eine gewisse Tragweite hatte, unserem Protagonisten bis vor kurzem noch unbekannt gewesen war. Er begleitete seine Tante Kitty, die wiederum ihre alte Freundin, Botschaftsrätin Bittenhumpler, begleitete.

Die blonde Dame sprach sehr leise. Wahrscheinlich drückte das Gewicht der Silikon-Kissen auf ihre Lungen. Oskar führte mit ihr fünf Minuten lang ein Gespräch von hoher Allgemeinheit über die faltenreduzierenden Vorzüge einer Tiefkühltherapie in der Slowakei (im Vergleich zu Kohlendioxid-Injektionen), und während er dieses Gespräch um des Gespräches willen unterhielt, betrachtete er mit seitwärts geneigtem Kopf die maskenhafte Starrheit des Gesichts der blonden Dame, das von Kälte und Fühllosigkeit wie von einer Kruste überzogen und von Weichheit, Träumerei und ähnlichen überholten Empfindungen nichts zu wissen schien.

»Jesus«, dachte Oskar, »ich bete, dass dieser Botox-Termin morgen zustande kommt.«

»Ich muss unbedingt mal ein Buch von Ihnen lesen, Herr Canow«, beabsichtigte die Dame, »alle hier sprechen über Ihren Essay in der letzten Ausgabe von Mode

»Ich bezweifle, dass sie irgendwas Längeres als eine Einladung lesen kann«, dachte Oskar, während er gleichzeitig sagte: »Das ist sehr freundlich von Ihnen, vielen Dank. Ich bin normalerweise nur von weitem beliebt.«

»Sie sind zu bescheiden«, sprach die Dame.

»Das«, erwiderte Oskar, »ist ein Vorwurf, den ich selten höre.«

»Ich dagegen habe viel Gutes über Sie gehört«, fuhr die Dame etwas unlogisch fort und vollführte dazu eine leicht ungebärdige Bewegung, die Oskar vermutlich Wohlwollen bedeuten sollte. Dabei verbreitete sie alle Wohlgerüche Arabiens um sich.

»Wie«, erwiderte Oskar etwas zu schnell, »– von den Leuten hier?«

»Verzeihung«, sagte er anschließend in die darauf entstandene kleine Pause hinein, »das sind die Entzugserscheinungen. Ich bin dem Alkohol verfallen, und es dauert hier so lange, bis die Gläser nachgefüllt werden. Da habe ich mich mit irgendeiner Tablette beruhigt, die ich auf dem Boden gefunden habe, in der Nähe der Handtaschen dort hinten.«

Und Oskar hob wie zum Beweis sein fast leeres Glas in die Höhe. Das Glas wurde sofort von einem der livrierten Kellner wieder aufgefüllt.

»Entschuldigen Sie!«, verlangte die Dame und verschwand.

Nunmehr erschien Oskars Tante Kitty. Kitty war Nervenärztin und hatte für Umständlichkeiten gar kein Organ. In der Hand trug sie auf einem winzigen Teller ein noch winzigeres Amuse-Gueule in der Form einer kleinen Palme. Mit Kokosnüssen.

»Kitty«, sagte Oskar leise, »du wirst nicht glauben, was ich eben gehört habe.«

»Es wird wohl kaum unglaublicher sein als die Geschichte mit dem Nierenstein, die mir dieser Werbefritze da hinten gerade erzählt hat!«, erwiderte seine Tante. Worauf sie das Amuse-Gueule inspizierend in die Höhe hob und sagte: »Das hier soll Schwarzbrot sein. Ist das nicht zum Totlachen?«

»Feingarten hat das Botox vergessen«, flüsterte Oskar, »am Flughafen!«

»Ach du liebe Zeit«, zischelte Kitty, indem sie die kleine Palme verschlang, »ich denke, er nimmt das Zeug immer mit ins Handgepäck?«

»Wo ist eigentlich Lauren?«, erkundigte sich an dieser Stelle höflich die ebenfalls in der Nähe stehende Botschaftsrätin Bittenhumpler, denn in ihren Kreisen machte man Konversation auf Partys und flüsterte nicht. Die Botschaftsrätin war nicht nur eine treue Freundin von Kitty, sondern auch eine nicht weniger treue Kundin bei Chanel. Im Moment trug sie ein rahmfarbenes Kostüm mit abgesetzten Kragensäumen, das ihren sportlich ertüchtigten, ebengewachsenen Leib vorteilhaft umschloss.

»In Zürich geblieben«, antwortete Oskar. »Genauer gesagt: Sie ist nach Lech gegangen, zum Skifahren.«

Dabei dachte er daran, wie er mit Lauren über diese Einladung verhandelt hatte. Das war nichts Ungewöhnliches, denn Oskar und seine Ehefrau pflegten eine pragmatische Einstellung zu gesellschaftlichen Verpflichtungen und taten also das, was die meisten Paare in ihrer Sphäre taten: Sie handelten sie aus. Zum Beispiel sagte Oskar: »Ich habe hier eine Einladung zu einer Schiffstaufe, und die Tochter des Eigners war damals meine Tischdame bei dieser Gartenparty in Küsnacht, you know, bei diesen Leuten, die wir auf diesem Hochzeitsempfang im Palace in Gstaad kennengelernt haben, du weißt schon, Kleines, diese Hochzeit von Dings, so, anyhow, would you please come?«, worauf seine Gattin erwiderte: »No way!« Manchmal fügte Lauren auch noch etwas hinzu wie: »Lieber stelle ich mich in den Garten und starre mit offenen Augen in die Sonne!«

Es verhielt sich nämlich, wie der Leser an dieser Antwort wohl schon ablesen kann, so, dass Oskars Ehefrau eine eher desinteressierte, um nicht zu sagen: streng distanzierte Haltung einnahm zu all den Modenschauen, Geschäftseröffnungen, Botschaftsempfängen, Filmpremieren, Wohltätigkeitsauktionen und ähnlichen Veranstaltungen, die auf der Agenda ihres Ehemannes standen und deren Publikum Lauren mit der ihr eigenen Prägnanz üblicherweise charakterisierte als »die perfekte Kombination aus nervtötend und langweilig«. Tatsächlich war Laurens Abneigung gegen derartige gesellschaftliche Termine von verbietender Ausgesprochenheit, und Oskar kannte genau das verächtlich angewiderte und abwehrende Sichverziehen ihres Gesichts, wenn eine Verhandlung über dergleichen Pflichten auch nur im Anzuge war, begleitet von einem leisen, aber deutlich hörbaren Ausstoßen der Luft durch Mund und Nase bei gleichzeitigem Zurückwerfen des Kopfes, knapp, kühl und geringschätzig.

Die Kundschaft bei Chanel hatte Lauren in ebendieser Art schlankweg als »blondiertes Kobold-Universum« bezeichnet, und als Oskar trotzdem versucht war, seiner Gattin einen Fünfzehn-Minuten-Auftritt schmackhaft zu machen, hatte diese erwidert: »Sweetness, die Minuten werden mir dort wie Stunden vorkommen! Hours of boredom. Interrupted by moments of unbelievable horror. Nein, danke.«

Dergestalt war also Laurens Erwiderung ausgefallen, wobei sie, wie es besonders bei Erregung ihrer Art entsprach, gelegentlich in ihre Muttersprache zurückfiel. Lauren war Engländerin, doch darüber werden wir später mehr erfahren. Jetzt wenden wir uns erst einmal wieder Oskar zu, der sich seinerseits Doktor Feingarten zuwandte, um eine weitere Frage bezüglich des Botox-Vorfalls an ihn zu richten – aber Feingarten wurde just in diesem Moment von einer Dame mit französisch manikürten Fingernägeln in Beschlag genommen. Die Dame, die sich mit den Worten »Herr Doktor, verzeihen Sie die Störung!« in die Runde warf, hatte ihren Pelzmantel anbehalten.

»Als Schönheitschirurg ist man hier unglaublich gefragt«, stellte Oskar fest.

»Ja«, erwiderte Kitty, »früher waren Dermatologen auf Partys populär. Aber Hautärzte rangieren offenbar heutzutage nur noch eine unmerkliche Stufe über dem Clinique-Stand. Es ist überhaupt fürchterlich, wie wenig Ärzte heute gelten. Früher waren wir Götter – oder wenigstens Abgötter. Und heute sind wir rezeptschreibende, wandelnde Kunstfehlerprozesse, die insgesamt wesentlich schlechter Bescheid wissen als jedes Mobiltelefon mit Internetzugang.«

»Andererseits«, gab Oskar zu bedenken, »sollten wir der plastischen Chirurgie dankbar sein. Immerhin werden wir dank der Errungenschaften in dieser Profession nicht länger durch den Anblick natürlich alternder Frauen terrorisiert. Das verdanken wir den Fortschritten in der Schönheitsmedizin und einigen Pionierinnen unter ihren Patienten, die sich für ebendiesen Fortschritt geopfert haben, wie zum Beispiel die Figur da hinten mit dem Gesicht wie aus dem Windkanal.«

»Wer?«

»Da drüben. Auf neun Uhr.«

»Wo?«

»Jetzt ist sie zwischen den Sonnenbrillen. Auf zwölf Uhr.«

»Oskar«, seufzte Kitty und atmete hörbar aus, »kannst du mit diesen Uhrzeiten aufhören? Wir stehen hier nicht auf der Kommandobrücke irgendeiner Panzerfregatte.«

»Okay«, sagte ihr Neffe, »ich meine die Person da hinten in dem schwarzen Kleid mit weißem Umlegekragen und Manschetten, zwischen dem fürchterlich lauten Wesen links mit der riesigen Handtasche und der Frau von diesem netten griechischen Waffenhändler … da hinter den blondierten Damen, die vor den rahmfarbenen Kostümen stehen und rauchen und geräuschvoller kreischen als eine Wagenladung chinesischer Affen.«

»Jesus!«, machte Kitty. »Jetzt sehe ich sie! Vierzig Prozent ihres Gesichtes sind hinter ihren Ohren versteckt!«

»Da wir von Ohren reden«, erwiderte Oskar, »wenn ich noch eine weitere Geschichte über die sogenannte Berliner Fashion Week hören muss oder über irgendein Ferienanwesen in Antibes, werde ich wohl anfangen, aus den Ohren zu bluten. Wie lange willst du noch hier bleiben?«

»Oh«, antwortete seine Tante nach einem kontrollierenden Blick auf ihre Tank Watch von Cartier, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte, »wir können so lange bleiben, wie wir wollen. Ich habe meine Medikamente alle schon eingeworfen.«

»Ich sage Ihnen, einen echten Blasenstein auszuscheiden, ist das männliche Äquivalent des Gebärens!«, erklärte in diesem Moment ein Herr schwer bestimmbaren Alters, der über ein wenig glotzende Augen verfügte sowie über ein erfolglos auf Flottheit aspirierendes Schnurrbärtchen, das gestutzt war wie eine Hecke. Der Mensch hatte sich vor Kitty geschoben und fixierte sie begeistert. Das war der Werbefritze.

»Ahh-ha-ha-hah!«, machte Kitty.

»Du musst dein falsches Lachen trainieren«, wisperte Oskar, »das klingt ja grauenvoll.«

Dazu stellte er sein Glas auf der nächstbesten Fläche ab. Es war, wie immer, nicht ganz ausgetrunken.

Laut sagte er: »Wir müssen nun leider gehen. Wir haben Karten für die Vagina-Monologe

Der pelzverbrämten Dame, die sehr lieb dastand, kam ein klagendes Ach aus dem Munde.

Und so verließen Oskar und seine Tante Kitty den Anlass und traten hinaus in die winterliche Kühle auf den Kurfürstendamm (es war frisch draußen, obschon der Frühling vor der Tür stand), und dort trennten sie sich. Kitty fuhr zurück Richtung Westend, und Oskar war mit Gitta Blankenburg verabredet, der Kulturredakteurin der Morgenzeitung, die er neulich bei der Ausstellungseröffnung mit Herrn Lagerfeld in der Turnhalle des ehemaligen Postfuhramtes in Mitte getroffen hatte, wo sie in Begleitung von Julius Porz aufgetaucht war, dem Chefredakteur der Kunstzeitschrift Monoman, mit dem Oskar wiederum kurz zuvor im Restaurant Borchardt (oder, wie man neuerdings sagte: im Borchi) zu Mittag gegessen hatte, und zwar in Gesellschaft von Oskars alter Freundin Dagmar Freiin von Raute, der Chefreporterin der Zeit am Sonntag. Jeder kannte jeden. Die Welt war entsetzlich klein. Bei jenem Lunch hatte Julius Porz ausführlich über eine Literaturbeilage zur Frankfurter Buchmesse erzählt, in der die soundso viel wichtigsten Leute im deutschsprachigen Literaturbetrieb aufgelistet wurden und bei der es einen Eklat gegeben hatte, weil eine Autorin dort mit dem Satz »Ich schlafe mich durchs Alphabet« vorgestellt worden war (so lautete offenbar der erste Satz ihres letzten Buches), worauf ihr Ehemann, selbst Herausgeber einer anderen Zeitung, verlangte, dass für diese Apostrophierung jemand gefeuert würde. Während Oskar sich fragte: »Wieso bin ich eigentlich nicht auf der Liste der soundso viel wichtigsten Leute im deutschsprachigen Literaturbetrieb?«, und Dagmar von Raute den Maître d’ heranwinkte und sich erkundigte: »Kann ich etwas Eis mitnehmen? Ich bin heute Abend eingeladen und muss das Dessert mitbringen.«

Ursprünglich hatte Oskar verabredet, mit Frau Blankenburg einen vom Hochganzmagazin Architectural Finest veranstalteten Cocktailempfang in der Villa Harteneck in Grunewald zu besuchen. Aber das schien ihm jetzt nach Chanel doch etwas viel zu sein. Deshalb rief er Frau Blankenburg an.

»Ich will nicht behaupten, dass ich irgendwelchen Tiefgang hätte«, sagte er, »aber mein Bedarf an Menschen, die, wo andere ein Herz haben, bloß ein verstärktes Dekolleté tragen, ist für heute erschöpft. Ganz zu schweigen von Personen, deren gebleichte Zähne im Dunkeln leuchten und die so viel Make-up auflegen, wie die Schwerkraft erlaubt. Und ich spreche hier von Männern. Ich würde gern einmal wieder ein paar normale Leute sehen. Vielleicht könnten wir irgendwo anders hingehen.«

»Das ist eine ganz fabelhafte Idee«, erwiderte Frau Blankenburg, »wir treffen uns in der Green Door Bar am Winterfeldtplatz!«

Als Oskar in Schöneberg aus dem Taxi stieg, winkte ihm Frau Blankenburg bereits zu. Genauer gesagt: Sie winkte ihn zu sich heran. Und zwar saß sie rauchend und telefonierend in einem flaschengrünen Mercedes, aus dem laute türkische Musik drang. Sie war bekleidet mit einer riesigen Sonnenbrille und einem nicht weniger riesigen Nerzmantel – was wenigstens Oskar immerhin etwas ungewöhnlich schien für die Redakteurin eines klassenkämpferischen Blattes wie der Morgenzeitung. »Aber vielleicht«, dachte Oskar, »ist die Morgenzeitung auch nur noch in meiner Welt klassenkämpferisch. Ich bin womöglich ein bisschen von gestern.«

»Sie sehen wunderbar aus«, sagte er zur Begrüßung.

»Danke«, erwiderte Frau Blankenburg, »das sag ich mir auch schon den ganzen Abend.«

»Der Nerz und der Merz sind Erbstücke«, erklärte Gitta Blankenburg einen Moment später, nachdem sie das Auto abgestellt, den Pelzmantel abgeworfen und sich an der Bar platziert hatte, »sie sind mir in den Schoß gefallen. Was trinken Sie?«

»Wodka Martini«, erwiderte Oskar.

»Das darf doch nicht wahr sein!«, krächzte eine heisere Stimme hinter ihm. Oskar drehte sich um – und sah in die Augen von Martin Krügchen. Er erkannte ihn augenblicklich, obschon er ihn Jahre nicht mehr gesehen hatte: die leicht gedrungene Statur, das ovale Gesicht mit den etwas fleischigen, apoplektisch bläulichen Wangen (wiewohl Krügchen für Apoplexie viel zu jung war), die kleinen Augen unter der niedrigen Stirn, die etwas Drohendes hatte, was gar nicht zu Krügchen passte, denn dieser war durch und durch jovial. Oskar hatte ihn an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich kennengelernt, wo sie beide die Wirtschaftswissenschaften studiert hatten. Dann jedoch war Oskar nach England gegangen, und Krügchen hatte die Examen nicht bestanden und dies seiner Familie verheimlicht, auch als er die Schweiz verlassen musste und nach Berlin zog und dort vom Brötchenbacken und Zeitungsaustragen lebte. Er tat immer so, als würde er weiterhin studieren, worauf ihm seine armen Eltern auch noch ein Auto kauften – oder so ungefähr ging die Fama. »Verkracht« jedenfalls war das Prädikat, das mit Krügchen zu assoziieren war, wenigstens in Oskars Welt. Denn obwohl Oskar Canow sein Geld als Schriftsteller verdiente und damit eigentlich nicht weit von den Zigeunern im grünen Wagen entfernt war, so hatte er mit den Jahren doch zu jener Auffassung zurückgefunden, die ihm in der Kühle seines preußischen Elternhauses gepredigt worden war: Es gehört zu den wichtigsten Dingen im Leben, einen festen, achtunggebietenden Boden unter die Füße zu bekommen. Und aus dieser Überzeugung, aus einer gewissen bürgerlichen Rückständigkeit seines Lebensgefühls und etwas pathetischen Vorstellungen von Ordentlichkeit und So-hat-es-zu-sein, erklärten sich Oskars Vorbehalte gegenüber allem, was ihm leichtlebig, unseriös, tändelnd und zukunftslos vorkam. Oskar Canow hielt fest an seinen bürgerlichen Reservationen aus dem Bewusstsein heraus, dass das Aktive, Beherrschende und Ordentliche auch das Lebensnützliche war, um das er sich übrigens selbst, einer gewissen entgegengerichteten Neigung und Veranlagung zum Trotz, permanent zu bemühen hatte; und so achtete er auf einen aufgeräumten Schreibtisch und artige Umgangsformen, mit denen er es im Übrigen ganz wunderbar in Einklang zu bringen verstand, mitunter bis zum frühen Morgen in mehr oder weniger zweifelhaften Lokalen in mehr oder weniger dubioser Gesellschaft zu verkehren – solange man ihm dabei nicht zu nahe kam.

»Wir haben uns ewig nicht gesehen!«, krächzte Krügchen.

»Allerdings«, erwiderte Oskar, »wie geht es dir?«

»Danke«, erklärte Krügchen und schien ein wenig blau zu werden, »ich habe inzwischen eine Tochter. Wir wohnen jetzt in Zehlendorf. Ich bin Unternehmensberater. Unter anderem berate ich diese Bar hier.«

»Das ist ja auch ein Unternehmen«, konstatierte Frau Blankenburg und zündete sich eine Zigarette an.

»Ich habe neulich was von dir in Park Avenue gelesen«, fuhr Krügchen fort und klopfte Oskar jovial auf die Schulter, »es wäre mir ein Vergnügen, die Dame und dich einzuladen. Alle Drinks aufs Haus!«

»Das ist ja süß«, erwiderte Oskar, »danke sehr.«

»Einen Doppelten, Smitty!«, rief Frau Blankenburg, an den Barmann gewandt. »– Und streuen Sie ein bisschen Muskat drüber!«

»Ich heiße nicht Smitty«, antwortete der Barmann.

»Wir sehen uns«, sagte Oskar zum Abschied zu Krügchen, der sich entschuldigte, womöglich, um ein anderes Unternehmen zu beraten. Und dabei dachte unser Held ungefähr das Folgende: »Nun bezahlt also jemand, der nach allen bürgerlichen Kategorien verkracht und gescheitert ist und dessen geplatzte Kapillaren auf der Nasenspitze ein wenig seinen Behauptungen vom Glück widersprechen, meine Wodka Martinis. Was mir im Übrigen gelegen kommt, denn ich glaube nicht, dass noch besonders viel auf der American-Express-Karte ist. Schließlich haben wir die gesamte neue Küche für die Wohnung in Barcelona damit bezahlt. Hoffentlich hat Lauren ihren Vater nach den zweihunderttausend gefragt.«

Gitta Blankenburg war blond und braunäugig, sehr schlank, hochgewachsen und agil. Sie rauchte unentwegt und hatte die Angewohnheit, beim Zuhören manchmal ein wenig das Kinn zu heben und ihr Gegenüber aus halb geschlossenen Lidern zu fixieren, als prüfe sie den Wert der an sie gerichteten Worte.

»Wir machen gerade so eine Art Gruppentherapie mit dem Redaktionskollektiv von der Morgenzeitung«, erklärte sie und blies den Rauch ihrer Zigarette in die Luft, »dabei lernen wir, miteinander zu reden.«

»Oho«, erwiderte Oskar, »das ist mal was anderes.«

»Allerdings«, seufzte Frau Blankenburg, »ich bin auch gar nicht mehr daran gewöhnt. Sämtliche meiner Freunde und Bekanntschaften sind entweder tot oder schlafen ein, wenn wir uns unterhalten. Das gilt auch für meinen Therapeuten.«

»Ja«, sagte Oskar, »ich hatte auch mal einen Therapeuten. Was soll man machen? Man kann ja nicht dauernd seine Freunde mit diesem ganzen Schrott behelligen. Zuerst versuchte er ständig, mich zu verbessern, dann ist irgendwas in ihm gestorben, und der Rest der Therapie verlief völlig problemlos. Wobei ich immer noch – oder besser gesagt: wieder – der Auffassung bin, dass einem eine Flasche Gin und eine Packung Taschentücher genauso weiterhelfen können. Ich meine, Sie wissen schon, all diese Leute, die immer sofort irgendjemanden konsultieren müssen, das ist doch albern. All diese Leute, die plötzlich feststellen: Mein Gott, ich habe verlernt, wie man aufrichtig und loyal eine Beziehung zu anderen Menschen aufbaut, also brauche ich sofort einen Therapeuten, Medizinmann, Sherpa, Swami oder wenigstens einen vernarbten Schamanen mit Tellern in den Ohrläppchen. Als müsste man sein Seelenheil nach allen Richtungen absichern. Ein bisschen Buddhismus mit Kabbala und Beruhigung von Indianergeistern, ein kleiner Ausflug in die Welt der katholischen Ikonen, so vorsichtshalber, falls von oben wirklich jemand zusieht. Oder von sonst wo. Als ob der Himmel eine Party wäre und man unbedingt auf die Gästeliste wolle. Das endet dann mit einem einzigen makropsychotischen Karmadesaster. So viel steht wohl fest.«

»Genau!«, rief Frau Blankenburg, vielleicht eine Spur zu laut. »Man kommt Gott sowieso nicht näher mit diesem Esoterik-Mist!«

»Gott?«, sagte Oskar erschrocken. »Wieso Gott?«

»Vielmehr: der Erleuchtung«, verbesserte sich Frau Blankenburg unter Zuhilfenahme einer etwas fahrigen Geste, »oder – irgendeinem Ziel. Sie wissen schon. Irgendwas. Man könnte es ja auch erst mal mit Tabletten probieren. Ich bin ja völlig unbescholten auf diesem Gebiet. Früher hieß das auch nicht Drogen. Soweit ich mich erinnere, hieß das Hausapotheke. Tranquilisan, Captagon, Repressitol, für jede Gelegenheit die passende Pille. Runtergespült mit Wodka Martini. Das ist Ihr Stichwort, Smitty – und ich pass auf, dass Sie nichts Billiges reinschütten!«

Mit diesen letzteren Worten präsentierte Frau Blankenburg dem Barmann ihr leeres Martini-Glas.

»Mein Name ist nicht Smitty«, erwiderte dieser.

2. KAPITEL

Schätze und Hasen

Oskar durchquerte den Flughafen in Berlin mit einem Iced Triple Venti Latte von Starbucks in der Hand. Er war auf dem Weg zu seinem Flugsteig und fühlte sich frisch und zuversichtlich, was einerseits daran lag, dass er froh war, wieder nach Zürich, also nach Hause zu kommen, zu Lauren, die er immer vermisste, wenn er sie länger als drei Tage nicht sah. Und andererseits ging es Oskar stets ganz hervorragend nach Botox-Injektionen. Dieses Gift war famos, denn es schien die Zeit aufzuhalten. Jedenfalls machte es deren Spuren ungeschehen. »Ein bisschen wie ein Handel mit dem Teufel«, dachte Oskar, »bloß ohne Preis.« Abgesehen von ein paar hundert Euro und einer eventuellen Gesichtslähmung, aber nur, wenn Feingarten den falschen Nerv traf, und Feingarten traf selbstverständlich nie den falschen Nerv. Und so ein winziges, vernachlässigbares Risiko war wohl überhaupt kein zu hoher Tarif dafür, dass vergangene Sünden ausradiert wurden.

»Andererseits«, so dachte Oskar weiter, »andererseits: Was für Sünden? Ich mache doch eigentlich nur noch harmlose Sachen. Oder habe ich im Grunde immer nur harmlose Sachen gemacht?«

Und er erinnerte sich daran, was er hinter sich gebracht hatte, in den letzten paar Tagen: Einen Lunch im Restaurant San Nicci mit seiner Freundin Anne Stefani von Vanity Fair, die ihm erzählte, wie sie in Kitzbühel in Manolo Blahniks und Pailletten durch den Schnee gestakst war und so gefroren hatte wie noch nie. Darüber hinaus war es noch um die letzte Mailänder Fashion Week gegangen, und Mailand war auch Thema bei Dagmar von Rautes Geburtstagsparty im Grill Royal gewesen, sowie bei Oskars Lunch mit Simone Groll, Stilchefin der Illustrierten Komet, die zu ihrer Verabredung im Borchardt etwas verspätet erschien, weil sie als junge Mutter vorher unbedingt noch diesen Spielwarenladen hatte aufsuchen müssen, in dem neulich erst Brad Pitt und Angelina Jolie eingekauft hatten. Darauf war Frau Groll, kaum dass sie sich gesetzt hatte, auch noch ein Knopf von ihrer Chloé-Bluse abgefallen, und Oskar half ihr, provisorisch die Manschette mit einer Haarspange zu fixieren. Anschließend hatte er erneut ein Taxi Richtung San Nicci genommen, wo er zum Abendessen die Drehbuchautorin Anika Becker traf, die er über ihren gemeinsamen Freund Oliver Ross kannte, den Kreativchef der Werbeagentur Jung Bingo Schach.

»Ich geh mal Zigaretten holen«, sagte Anika nach dem Salat.

Ein paar Minuten später war sie zurück und legte fünf Packungen Marlboro Rot auf den Tisch.

»Ich rauche so viel, bis die Leute sagen: ›Mein Gott, bist du dünn‹«, erklärte Anika, »dann höre ich wieder auf und nehme fünf Kilo zu.«

»Klingt vernünftig«, sagte Oskar.

Ungefähr so hatte Oskar seine Tage in Berlin verbracht, und schließlich hatte er in Gesellschaft seiner Tante Kitty einer weiteren Premiere der Dreigroschenoper beigewohnt und war bei dieser Gelegenheit unter anderem Julia Klinkenbach begegnet, der Stilchefin der Zeit am Sonntag.

Frau Klinkenbach sagte: »Wir müssen unbedingt mal wieder Mittag essen gehen.«

»Sehr gerne«, erwiderte Oskar, »aber bitte nicht schon wieder ins Borchardt.«

Das war die Art von Gesellschaft, von der Oskar in den letzten Tagen umgeben gewesen war und mit der er sich überhaupt häufig umgab. Jene Sorte von Gesellschaft, wo sich »junge Mutter« in erster Linie auf das Alter des Kindes bezog. Wo man das Taxi mit laufendem Motor vor dem Spielwarenladen warten ließ, weil Angelina Jolie da eingekauft hatte. Jene Sorte von Gesellschaft, die das Eis bei Borchardt holte und in der man sich darüber unterhielt, welches Geräusch idealerweise beim Öffnen von Crèmedosen entstehen sollte, welcher Bürgermeister ein Alkoholproblem hatte und wer bei welchem Verlagshaus in Schwierigkeiten geraten war, weil er seinen iMac vor allem zum Pornografiekonsum genutzt hatte. Jene Sorte von Gesellschaft, wo man Spesen verrechnete und niemals Bargeld mit sich führte, wo man »Schatz« und »Hase« zueinander sagte, und wo man auf Komplimente wie »Hübsche Jacke!« erwiderte: »Michael Kors.« Wo gespenstisch aufgestutzte homosexuelle Lebegreise in jammervollem Übermut mit Jungmännerfrisuren und Louis-Vuitton-Umhängetaschen herumstolzierten – oder sogar mit Birkin Bags. Wo manche Dame im Laufe der Nacht dramatisch verfiel und schließlich die Reste ihrer aufgemalten Jugend auf irgendeinem Fünf-Sterne-Kopfkissen zurückließ. Wo Gesichter, gefangen im ewigen Kreislauf aus Detox und Retox, wenn sie sich unbeobachtet glaubten, von Langeweile entstellt wurden und ihre Blicke so vakant wie bei lebenslänglich Inhaftierten. Wo Gestalten, die für geschmackssicher und unkonventionell gelten wollten, in der Tat aussahen wie Schießbudenfiguren – um ein Urteil von Livia Hegtaler zu zitieren, einer der reichsten Stützen der Zürcher Gesellschaft und einer alten Freundin von Oskar, die jene Feststellung anlässlich eines der diversen von PR-Agenturen organisierten Dinners getroffen hatte, bevor sie sich ihr Päckchen Mentholzigaretten zurück in den Ausschnitt steckte und darüber fortfuhr, wie figurschädigend die Wickelkleider von Diane von Fürstenberg seien.

Derart also verfasst war die Gesellschaft, in der Oskar sich bewegte und in der die meisten Leute ihrer eigenen Meinung keinerlei Wert beimaßen, aber vor den Ansichten einiger Dummköpfe zitterten. In der viel zu viel geredet wurde, denn die Menschen hatten Angst vor dem Schweigen, weil jeder die Gedanken des anderen fürchtete wie eine Beleidigung, vor der man sich nur durch pausenloses Sprechen schützen konnte. Wo jedes Geheimnis immer mindestens einer Person weitererzählt wurde, wo man die Fehltritte flüchtigster Bekanntschaften kannte (und noch mehr Transgressionen von Leuten, mit denen man überhaupt nicht bekannt war); Verfehlungen, die zu anderen Zeiten als Sünden durchgingen und neuerdings höchstens Ausrutscher waren. Klatsch wurde hier als Purgatorium und Gesellschaftsspiel betrieben, und die Lebensdauer der Wahrheit hing davon ab, wie viel man redete.

»Aber so«, dachte Oskar, »so funktioniert wohl jede Gesellschaft, oder jedenfalls jede, die ich kenne, ob sie sich nun im Borchardt trifft, an der London School of Economics oder auf der Frankfurter Buchmesse. Die Menschen sind manipulierbar und leicht zu beeindrucken, und sie glauben, was man sie glauben macht.« So ungefähr dachte Oskar. Und wenn die Leute, die ihn umgaben, auch über viele Dinge im Irrtum waren, so teilten sie doch eine bestimmte Geistigkeit, eine Auffassung der Welt. Nicht selten kann ja gerade die objektive Irrigkeit von Ansichten jene andere Wahrheit, nämlich die über den geistigen Typus, der sie trägt, umso tiefer und deutlicher offenbaren, das typische Sein, das in diesen Behauptungen lebt und sich offenbart. Was aber hatte diese Gesellschaft für ein typisches Sein? Dass man erst mal alle Einladungen akzeptierte und sich dann die beste raussuchte? Dass man umso beliebter wurde, je weniger man zurückrief? Dass unter diesem dünnen Belag von Oberflächlichkeit eine Schicht verborgen lag, die noch viel dünner war?

»Diese Leute verwechseln ständig Inhalt und Form«, dachte Oskar, »wenn man ihre geistige Bewegung und Verfassung auf den einen Punkt bringen will, aus dem man alles andere ableiten kann, dann ist es wohl dieser.«

In diesem Moment wurde er abgelenkt, und zwar durch eine Erscheinung, die seinen Gedanken eine völlig andere Richtung gab. Denn soeben passierte er die große Anzeigetafel für die An- und Abflüge, und direkt darunter, mitten in der Halle, war eine Bühne aufgebaut, ein kleines, behelfsmäßiges und ziemlich armselig verbrämtes Konstrukt, auf dem sich verschiedenste Gegenstände befanden: eine Art Stehpult, ein paar großformatige, kartonierte Bilder von Flugzeugen und einige nicht sehr liebevoll eingepackte Geschenke. Der Flughafen beging irgendein Jubiläum oder eine sonstige Festlichkeit, und auf der kleinen Bühne agierte ein Conférencier, der das mehr oder weniger geschäftig vorbeieilende Publikum zur Teilnahme an kleinen Ratespielchen zu animieren hatte, bei denen man zur Feier des Tages etwelche Einkaufsgutscheine gewinnen konnte oder, falls man besonderes Glück hatte, eines der lieblos verpackten Geschenke.

Dieser Conférencier war wohl ungefähr so alt wie Oskar, vielleicht sogar etwas jünger. Er trug einen fadenscheinigen Anzug von billigster Güte und eine leicht zerknitterte, schlecht gebundene Krawatte und bemühte sich insgesamt, wichtig, frisch und angeregt zu wirken, indem er sich mit etwas krähender Stimme pflichtschuldig hervortat. Etwas an seinem Auftritt fesselte Oskar auf eine seltsame und unschöne Weise. So blieb er, trotz des regen Betriebs in der Halle, einen Augenblick lang stehen und sah der Sache zu.

Er stand zwischen einer überelegant gekleideten Frauensperson mit gewaltsam gezogenem Mittelscheitel und zwei skandinavischen Geschäftsreisenden mit trockenen und langen Mienen, und vorbei strömte das internationale Reisepublikum, eine ganz besondere Form der menschlichen Gesellschaft, der vielfältiges exotisches Zubehör ein Gepräge des Fremdländischen und Weitherkommenden verleiht. Trotz des Massenaufkommens hatte es der Conférencier, der auf der Bühne mit den Floskeln seines Fachs und etwas meckerndem Gelächter um Aufmerksamkeit buhlte, nicht leicht. Nur wenige Passanten blieben stehen, die meisten beschleunigten in der üblichen zivilisierten Reaktion auf ein derartiges Spektakel gar den Schritt oder wichen weitestmöglich aus. Eventuell hatte es dieser Mensch auf der Bühne überhaupt noch nie leicht gehabt, denn als Oskar den Animateur ein wenig genauer ins Auge fasste, erkannte er, dass sein Haar gefärbt und sein Hals schon im Ansatz verfallen und sehnig war. Das Gesicht wirkte verlebt und unangenehm, und dazu kam, dass sein Ausdruck etwas Skurril-Wildes und Lächerlich-Dämonisches an sich hatte, die Augen waren milchig und blutunterlaufen und der Zahnbestand ganz offenbar gewaltig, so dass sich der Mund überhaupt nie richtig zu schließen vermochte, sondern der Mensch vielmehr ständig seine Zähne bleckte, gelb und lang und bis zum Zahnfleisch bloßgelegt. Mit einem Überbiss, mit dem man eine Dose Motoröl aufmachen konnte. Und mit einer Art von Entsetzen stellte Oskar fest, dass der Figur auf der Bühne an prominenter Stelle ein Zahn fehlte. Dies alles erschien merkwürdig, und unserem Helden war für einen Moment, als beginne eine träumerische Entfremdung, eine Entstellung der Welt ins Sonderbare um sich zu greifen, der vielleicht Einhalt zu tun wäre, wenn er sein Gesichtsfeld ein wenig verdunkelte, die Augen mit der Hand beschattete und aufs Neue um sich schaute. Er hatte manchmal solche Anwandlungen, obschon er zimperliche Schriftsteller hasste. (Oskar konnte Schriftsteller sowieso nicht gut leiden. Jedenfalls die, die am Leben waren.)

Doch als er wieder hinsah, wurde er schauerlich angemutet Zeuge, wie das Antlitz des Conférenciers, der sich einen Sekundenbruchteil unbeobachtet glaubte, in einem Ausdruck grauenvollen Überdrusses entgleiste. Seine falsche Fröhlichkeit war dem Menschen zwar zweite Natur geworden, er belog sich und die Welt damit, aber offensichtlich beide Parteien nicht sehr überzeugend. Doch umso forcierter hielt er fest an seinem erbärmlichen Überschwang, hielt jeden, der sich ihm auch nur vage näherte, zum Mitspielen an, zwinkerte, lachte meckernd, hob seinen beringten Zeigefinger zu alberner und ein wenig widerlicher Neckerei, mit Schweißperlen auf der Stirn und Knechtung im milchigen Blick.

Übrigens war es wohl möglich, dass Oskar bei seiner halb forschenden, halb irritierten Musterung des Conférenciers es an Rücksicht hatte fehlen lassen, denn plötzlich ward er gewahr, dass jener seinen Blick erwiderte, und zwar so kriegerisch, so gerade ins Auge hinein, so offenkundig gesonnen, die Sache aufs Äußerste zu treiben, dass unser Held augenblicklich alarmiert war. Schließlich stand der andere auf einer Bühne und konnte ihn jederzeit aufrufen. Das passierte Oskar sowieso dauernd. Also versteckte er sich hinter einem Herrn, der links neben ihm aufgetaucht war (die Geschäftsreisenden mit den trockenen Mienen hatten sich längst entfernt). Der Herr war vielleicht Mitte siebzig und verfügte über weiches, kurz gehaltenes Haar und recht große Ohren. Groß war auch sein Krawattenknoten. »Ich kenne ihn«, dachte Oskar, »ich erinnere mich an das plastische Muttermal auf dem Scheitel des linken Tränensacks.«

Allein, für Randprobleme war jetzt keine Zeit, die Lage war zu ernst, um einen Katalog von Bekanntschaften mit dem krawattierten Herrn abzugleichen, denn Oskar hatte das bestimmte Gefühl, dass das krähende Lachen immer näher kam, dass es sozusagen längst bloß noch ihm galt, und so warf er den Starbucksbecher in den nächsten Abfalleimer und begab sich raschen Schrittes zu seinem Flugsteig. Die girrenden und schäkernden Berufsäußerungen des Animateurs in seinem Rücken wurden leiser und verhallten, und Oskar hatte den Menschen im nächsten Moment vergessen.

***

Als Oskar sein Zuhause am Fuße des Zürichbergs betrat, stolperte er beim Hereinkommen über eine riesige, pokalförmige Bodenvase aus preußischem Porzellan, die zwar zum Inventar gehörte, aber gewiss nicht hierher, direkt neben die Türe. Oskar fing sich im letzten Augenblick, verursachte jedoch erhebliches Geräusch.

»Hallo, Kleines«, sagte Lauren, die, angelockt durch den Lärm, in den Eingang trat, »bist du okay? Es tut mir leid. Die Leute von der Inneneinrichtungszeitung waren hier und haben alles umgeräumt. Und Consuela kommt erst morgen.«

Oskar gab Lauren einen Kuss, und sie klopfte ihm liebevoll auf den Rücken.

»Alles bestens. Ich bin froh, dass ich wieder hier bin«, sagte er.

»Ich auch, Chickie«, sagte sie.

Lauren war außerordentlich hübsch, aber die Schönheit war nicht ihr hervorstechendstes Merkmal. In Gesellschaft konnte sie, wenn sie sich langweilte, wortkarg und kalt auftreten, aber dennoch lag nicht nur in ihrem Äußeren, sondern auch in ihrer Haltung und in ihrem Wesen etwas Anziehendes, etwas schwer zu Fassendes, das viele Leute für sie einnahm. Ihr schmales Gesicht, bleich und anmutig verschlossen, von brünettem Haar eingefasst, das Lauren entweder zurückgenommen oder zur Seite gescheitelt trug, wirkte mit den mandelförmigen Augen, der gerade abfallenden Nase und den hohen Wangenknochen vollkommen symmetrisch und erinnerte an griechische Bildwerke aus klassischer Zeit. Aber nur auf den ersten Blick, denn bei Vollendung der Form war es von so einmalig persönlichem Reiz, dass dem Schauenden Laurens Schönheit nicht kühl und ebenmäßig vorkam, sondern ein wenig undurchsichtig und abgeklärt. Etwas Verneinendes, etwas Spöttisches und Distanziertes umgab ihr Wesen und war offenbar der Mittelpunkt ihrer Seele, das, was sie ausmachte. Denn die Seele hat zwar vielfältige Fähigkeiten, aber es ist ein Kern in ihr, eine Essenz, die sie bestimmt und die von keiner kreatürlichen Mannigfaltigkeit berührt wird, das Fünkchen, der eigentliche Geist, wenn man so will, und dieser Geist hieß bei Lauren: Abstand, Abstand zur Welt und ihren Erscheinungen, Abstand auch zu sich selbst, Abstand zu allem. Eine Allüre der Distanz ging von ihr aus, die manche Leute als entschieden eisig bezeichnet hätten – als würde sie das Geschehen von außen betrachten, als verfügte sie über Standpunkte und Verankerungen jenseits der Wirklichkeit. Dazu passte es, dass Laurens Haltung und Bewegungen ihrer gesamten Gestalt etwas Reiches und Verwöhntes verliehen, so wie man Privilegiertheit den Menschen eben immer anmerkt, selbst wenn die Umstände sie ganz woanders hinversetzt haben (was bei Lauren gar nicht der Fall war). Und mit ebendieser Haltung setzte sich Lauren nun in einen schweren, unbequemen Barcelona-Sessel, der in jenem Zimmer stand, das man in diesem Milieu »Drawing Room« nennt. Sie setzte sich, einen Fuß in den Zehn-Zentimeter-Absätzen leicht vor den anderen gestellt, einen Ellenbogen aufs Knie gestützt, die Wange an die geschlossene Hand geschmiegt, und fragte: »Wie war die Reise, Kleines?«

»Okay«, erwiderte Oskar, »aber irgendwie klingen an deutschen Flughäfen auch freundlich gemeinte Durchsagen immer ein bisschen martialisch.«

»Aww, the Germans«, machte Lauren und zündete sich eine amerikanische Mentholzigarette an, »they can’t fake polite.«

»Und wie lief hier alles?«, erkundigte sich Oskar.

»Fabelhaft«, antwortete Lauren und blies den Rauch ihrer Zigarette in die Luft, »ich hatte heute einen ruhigen, netten Lunch mit vier Anwälten meines Vaters in einem geschmackvollen Konferenzzimmer bei Jacob Safra am Paradeplatz.«

»Oh«, sagte Oskar, »was ist dabei rausgekommen?«

»Nun«, erwiderte seine Ehefrau, nachdem sie hörbar Luft geholt hatte, »zunächst ist rausgekommen, dass mein Vater erwägt, sich als Zweit- oder Dritt- oder Viertwagen einen Toyota Prius anzuschaffen. Für Moskau. Oder eher für London oder Lugano, das weiß ich jetzt nicht mehr so genau. Ich nehme aber an, in Moskau sind die verboten. Was ich übrigens gutheiße. Während meine russische Stiefmutter für Erhalt, Wartung und Ausbau ihrer Garderobe soeben einen Wardrobe Organizer angeheuert hat. Namens Melissa. Anscheinend kann in South Kensington niemand mehr leben ohne Melissa. Sie arbeitet mit einem Softwareprogramm, das sämtliche Ankleidezimmer erfasst und fotografisch katalogisiert. Auf diese Weise, und ich zitiere hier Ivana, auf diese Weise wird meine arme Stiefmutter nie wieder in die nervtötende Situation kommen, der Idiotin Encarnación am Telefon erklären zu müssen, welches der zwanzig nahezu identischen roten Valentino-Kleidchen sie ihr per Fed Ex nach Sardinien schicken soll.«

»Das klingt wie eine Erlösung«, sagte Oskar, »sonst noch was?«

»Ja«, sagte Lauren. »Was den Erbvorbezug angeht – das sieht schlecht aus.«

»Aber«, versetzte Oskar und ließ sich rücklings auf ein großes kalifornisches Sofa fallen, »aber … das sollten doch nur zweihunderttausend sein … was machen wir dann mit Barcelona?«

Lauren seufzte. Sie löschte die Zigarette in einem quadratischen Porzellan-Aschenbecher mit Kurländer Muster, der neben ihr auf einem kleinen Glastisch stand.

»Wasweißich«, sagte sie dann, »meinen Vater plagen möglicherweise wieder einmal akute Verarmungsängste. Offenbar kostet es schon so annähernd zweihunderttausend, wenn der Prius neue Reifen braucht. Was weiß ich.«

»Wir werden sparen müssen«, stellte Oskar mit Grabesmiene fest.

»Was denn«, entgegnete Lauren, und ihre Stimme wurde eine Idee heller, was, wie Oskar wusste, kein gutes Zeichen war, »wir werden sparen müssen? Darum geht es hier? Das ist das Traurige daran? Mein Vater interessiert sich nicht für mich. Und wenn ich deswegen mal Michael Douglas heirate, darf sich niemand beschweren. Aber das Einzige, was du feststellst, ist: Wir werden sparen müssen?«

»Kleines«, sagte Oskar und bemühte sich, seiner Stimme einen besänftigenden Klang zu geben, »nur mit der Ruhe.«

Aber Lauren war nicht zu beruhigen. Sie schob die Füße in den Zehn-Zentimeter-Absätzen nach vorn, pochte mit dem sorgfältig manikürten und dschungelrot lackierten Zeigefingernagel auf die Platte des Glastischchens und blickte ihren Ehemann herausfordernd an.

»Ich dachte«, fuhr sie fort, »ich dachte, die Tragik läge darin, dass ich gezwungen bin, als Anwältin für einen Pharmakonzern zu arbeiten, obschon so was wie ich eigentlich gar nicht arbeiten sollte, sondern in Harmlosigkeit und stillem Frohsinn von einem hübschen Trust Fund leben, was ich auch würde, wenn mir nicht das Schicksal vor fünfzehn Jahren eine russische Stiefmutter serviert hätte, die nicht nur aussieht wie ein Teenager, sondern auch mit Geld so um sich wirft wie einer. Wie ein arabischer Teenager, um genau zu sein. Ich will dir mal was sagen, Sweetcakes: Arbeit ist nichts für mich, denn Arbeit ist was für arme Leute. Ich hingegen – bin ein reiches Mädchen, dem das Geld fehlt! Das ist ein Riesenunterschied. Ich brauche einfach einen gewissen Standard, eine gewisse Atmosphäre; ich brauche Platz, ein paar Antiquitäten, ein bisschen Gold und Silber und meinetwegen einige Duftkerzen von Diptyque, bevor ich sterbe. Das ist wie Heroin. Und was aber ist aus mir geworden? Ein Corporate Lawyer! The world of business, logical destiny of bores! Das ist eine der niedrigsten Daseinsformen, jedenfalls in my book, if you catch my drift!«

»Kleines«, sagte Oskar besänftigend, »du musst nicht sterben.«

»Irgendwann schon.«

»Alles ist sterblich.«

»Nein.«

»Und du musst nicht Michael Douglas heiraten. Denn du bist schon verheiratet. Und zwar mit mir.«

»Ja«, erwiderte Lauren, indem sie sich den Rock glattstrich, »du bist der Erste gewesen, der nicht meines Geldes wegen mit mir geschlafen hat.«

»Das ist Unsinn.«

»Inwiefern?«

»Weil du hübsch bist.«

»Wie du meinst«, sagte Lauren und erhob sich, »du jedoch hast nicht mit mir geschlafen, weil ich reich bin, oder hübsch, sondern weil du betrunken warst.«

»Und wie war ich?«

»Fine. You did just fine. Und, da wir von Trunkenheit sprechen: Ich könnte jetzt ein Glas vertragen.«

Lauren erhob sich und ging in die Küche. Während sie dort wirtschaftete, hörte Oskar das Ticken ihrer Absätze auf dem polierten Granitfußboden, und er rief in Richtung des Tickens: »Ich meine ja nur, Chickie, bitte, könntest du vielleicht wenigstens aufhören, immer das Kleingeld wegzuwerfen? Du hast auf diese Weise letztes Jahr bestimmt dreitausend Franken vernichtet.«

»Was soll ich machen?«, rief Lauren zurück, »– Spardosen anschaffen?«

Der Korken knallte.

»Oder wie wäre es, wenn du mal richtig arbeiten würdest?«, erkundigte sich Lauren, nachdem sie, ein Tablett mit Steuben-Kristall und einem Neuosier-Schälchen mit Käsebällchen balancierend, zurück ins Zimmer gekommen war und Oskar sein Glas ausgehändigt hatte. »Du bist der Mann, den ich liebe. Deshalb will ich, dass du reich bist.«

»Wieso, ich verdiene doch prima«, erwiderte Oskar, »so gut, dass ich glücklicherweise nicht gezwungen bin, jeden Mist zu machen. Oder willst du, dass ich Hintergrundkommentare für Heimvideo-Shows schreibe? Oder Sketche mit einem stotternden Käsebällchen für die Molkereimesse? Ich meine, wir lassen immerhin schon irgendwelche Stylisten von Inneneinrichtungsmagazinen unser Zuhause umräumen. Was mich daran erinnert: Soll ich jetzt nächste Woche lieber Style Your Life für das Sonntagsblatt machen oder besser zehn Tage später Sonntagsbesuch für die Sonntagspost

»Furchtbares Dilemma«, sagte Lauren und platzierte sich wieder im Sessel, »darauf trinke ich.«

»Auf uns, Kleines!«

Und sie hoben die Gläser und tranken.

»Ich weiß nicht«, sagte Lauren nach einer kleinen Pause, »ist es sonntags bei uns nicht ein bisschen traurig? Wir liegen in Jogginghosen vor dem Fernseher und essen aus PVC-Behältern.«

»Das kann sich die Welt aber nicht vorstellen«, entgegnete Oskar. »Du wirst natürlich in ein paar Schuhe schlüpfen und mir das Alphabet ins Ohr sagen müssen, damit es so aussieht, als unterhielten wir uns.«

»Ich werde nicht da sein.«

»Das war klar.«

»Halt!«, sagte Lauren, steckte sich eine weitere Mentholzigarette in den Mund und hob anschließend den Zeigefinger der linken Hand. »Vielleicht werde ich doch da sein.«

Dies stellte eine alarmierende Wendung dar.

»Was ist los, Kleines?«, fragte Oskar besorgt und musterte seine Gattin eindringlich.

»Ich habe die Stelle nicht bekommen.«

»Das weißt du jetzt schon? Wieso hast du nichts gesagt?«

»Ich wollte dir die Reise nicht verderben«, murmelte Lauren mit einer wegwerfenden Handbewegung, »und es ist ja auch egal. Ich bin seit Ewigkeiten Deputy Vice President im Legal Department, und ich werde es wohl auch bis in alle Zeit bleiben. Das war jetzt meine dritte Chance, zur Vizepräsidentin aufzusteigen, und wieder haben sie jemand anderen genommen. Ich wusste es. Ich wusste es von Anfang an. Gott lässt mich nie erfolgreich sein. Eher würde er mich töten. Und zufrieden darf ich auch nicht sein. Was solls. Wenigstens hat mein Mann keine Glatze.«

»Kleines«, flüsterte Oskar, mit unvernünftigem Erschrecken aufsehend, »wie kannst du so was Furchtbares sagen?«

»Wieso?«, erwiderte Lauren und nahm ihre Perlen ab, die sie auf den Glastisch neben den Aschenbecher legte. »So schrecklich ist das nicht. Das ist unser Schicksal. Gott kann uns einfach nicht leiden. Aber deswegen sind wir keine schlechten Menschen.«

»Wie kannst du so was sagen?«, wiederholte Oskar entgeistert. Er starrte seine Frau an, wobei er seine Lippen auf das Entschiedenste zusammenpresste.

»Das ist meine Art, die Sache mit Humor zu bewältigen«, stellte Lauren fest und blies den Rauch ihrer Zigarette Richtung Zimmerdecke, »Sweetums, du weißt wohl, dass ich nicht an solche Sachen glaube, oder doch höchstens unverbindlich und gewissermaßen von weitem: Gott, Schicksal, Vorsehung … das ist mir alles einerlei, und der Himmel ist leer, wenn du mich fragst. Was auch ganz gut so ist. Denn wenn es Gott gäbe, hätte ich im Moment ein ziemlich fettes Hühnchen mit ihm zu rupfen!«

»Aber es gibt ihn!«, erwiderte Oskar, bebend vor Überzeugung. »Ich spreche jeden Tag mit ihm. So wie mit dir. Er trennt Inhalt und Form, Gut und Böse, Ordnung von Chaos. Und er hat seine Lieblinge, bei denen er ein Auge zudrückt.«

»Oho«, machte Lauren, »deine Religion scheint voller Wunder zu sein.«

»Ja«, erklärte Oskar, wozu er seinen Oberkörper im Sitzen stramm emporrichtete, als spreche er vor Publikum, »ja, so ist es, du kannst dich ruhig lustig machen, aber ich glaube an einen gütigen Gott, an einen Gott, der mit milder Hand Früchte austeilt, auch für die Verzweifelten, die Gnadenlosen, für die Letzten der Letzten noch.«

»Du meinst die drängenden Massen?«, erkundigte sich Lauren und betrachtete ihn interessiert. »Die Unzufriedenen, Langsamen, Hässlichen?«

»Ja … genau!«, erwiderte Oskar ein wenig überrumpelt.

»Menschen, die nicht Auto fahren können?«, fuhr Lauren fort. »Die nicht die Spur halten, die vor einem die Rolltreppe blockieren, weil sie in der Nase bohren; Menschen, die schlecht schreiben, die nicht zurückrufen, die Essensreste zwischen den Zähnen haben – verhaltensgestörte, lebensuntüchtige Tölpel? Meinst du die?«