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Peter C. Moschinski / Martin Thein

»Lebbe geht weider«

Das Leben des Dragoslav Stepanović

VERLAG DIE WERKSTATT

Trotz intensiver Recherchen konnte nicht in allen Fällen die Urheberschaft an den Fotos ermittelt werden. Der Verlag bittet um entsprechende Hinweise, um berechtigte Ansprüche abzugelten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Copyright © 2013 Verlag Die Werkstatt GmbH
Lotzestraße 22a, D-37083 Göttingen
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Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Verlag Die Werkstatt
Umschlagfotos: Heidi Marinowa (Titel und
Autorenporträts)

ISBN 978-3-7307-0024-2

Inhalt

Kapitel 1   Versprochen ist versprochen

Kapitel 2   Belgrader Tage

Kapitel 3   Eintracht – Vom Beginn einer Liebe

Kapitel 4   Einmal Worms und zurück bitte!

Kapitel 5   Lehrjahre

Kapitel 6   Der große Blonde

Kapitel 7   Holz

Kapitel 8   Rostock

Kapitel 9   Manege frei!

Kapitel 10  Am Golf von Biskaya

Kapitel 11  Die Rückkehr

Kapitel 12  Odyssee

Kapitel 13  Im Unterhaus

Kapitel 14  Rätselhaftes China

Kapitel 15  Gebetsstunden am Nil

Kapitel 16  Noch einmal zu Hause

Kapitel 17  Abschied

Kapitel 18  Ein Morgen im Januar

Anhang

Interview mit Günter Netzer

Zeittafel

Stepis Vereine

Herzlichen Dank

Die Autoren

Stepis Privates Fotoalbum

Für meine Familie

meine Eltern Zivomir und Rosa,
die im Himmel über mich wachen,

meine Kinder Ivana, Vladimir und Schwiegersohn Slobodan,
meine Sterne in der Nacht,

meine Enkel Ksenija und Emilija, Nikola und Nikola,
unsere Hoffnung für morgen,

und

Jelena,
meine Liebe, mein Freund, mein Alles

Dragoslav Stepanović

Kapitel 1

Versprochen
ist versprochen

O Pelé envia abraços e deseja boa sorte.

(Empfange Umarmungen von Pelé, und viel Glück)

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Höllenlärm. Trommeln dröhnen, Trompetenstöße zerreißen die Luft. Die Luft ist feucht und dicht und getränkt vom Schweiß der Menschen. 182.000 Zuschauer drängen sich an diesem 18. Juli 1971 im Maracanã-Stadion in Rio de Janeiro, unter ihnen ist auch der Staatspräsident Brasiliens. Überall tanzen fröhliche Menschen, Gruppen von Frauen und Männern. Die Stimmung ist ausgelassen, wie beim Karneval. Transparente mit dem Konterfei ihres Superstars werden in die Höhe gehalten. Viele Menschen haben monatelang gespart, um sich eine Eintrittskarte leisten zu können. Reporter aus aller Welt mit ihren Kameras und Mikrofonen bevölkern den Rasen, sie alle umringen einen einzigen Mann: Pelé.

Pelé, der größte Stürmer aller Zeiten: dreifacher Weltmeister, mehr als 1.000 Tore, Weltfußballer des 20. Jahrhunderts. Er zelebriert heute sein letztes Spiel für die brasilianische Nationalmannschaft. Als Gegner hat er sich das Nationalteam Jugoslawiens gewünscht, die in seinen Augen besten Fußballer der Welt, natürlich nach den Brasilianern.

In den Reihen der Jugoslawen steht ein athletischer junger Mann mit kantigem Gesicht und entschlossenem Blick. Die Nummer 3 des Teams zupft an ihren roten Stutzen und versucht sich zu konzentrieren. Es ist Pelés Abschiedsspiel für die brasilianische Nationalmannschaft, aber für ihn ist es der Höhepunkt seiner Karriere als Fußballer: Wie oft spielt man schon gegen den größten Stürmer aller Zeiten? Der Name des jungen Jugoslawen ist Dragoslav Stepanović.

Die Blaskapelle stimmt die jugoslawische Nationalhymne an. Mit ihren blauen Trikots und weißen Hosen stehen sie eng nebeneinander aufgereiht: Radomir Vukčević, Mladen Ramljak, Blagoje Paunović, Dragan Holcer, Dragoslav Stepanović, Miroslav Pavlović, Branko Oblak, Jovan Aćimović, Ilija Petković, Zoran Filipović und Dragan Džajić.

Anpfiff. Der deutsche Schiedsrichter Kurt Tschenscher eröffnet die Gala der Superstars. Auf Seiten der Brasilianer spielen all die Helden wie Félix, Everaldo, Rivelino und Gérson, die 1970 die Weltmeisterschaft in Mexiko gewonnen haben. Ihr Coach ist weiterhin Mário Zagallo.

Die Brasilianer legen los, spielen mit großer Freude, versuchen immer wieder, Pelé in Szene zu setzen. Sie wollen den Fußball an diesem Tag zelebrieren, Pelé zu Ehren. Ihr Gegner dagegen ist verbissen. Sie fühlen sich geehrt, als „Balkan-Brasilianer“ eingeladen worden zu sein. Diesem Anspruch wollen sie gerecht werden.

Dragoslav Stepanović nimmt seine Aufgabe als Verteidiger auch in diesem Freundschaftsspiel sehr ernst. Als Rivelino auf ihn zustürmt, will er ihn stoppen – doch da ist der schon an ihm vorbei, nachdem er Stepanović den Ball lässig, fast schon arrogant durch die Beine geschoben hatte. Höchststrafe. Im weiteren Spielverlauf kommt dies nicht mehr vor, die Weltpresse wird nach dem Spiel Lobeshymnen auf den jungen Verteidiger verfassen.

Zur Halbzeit, es steht 1:1, verabschiedet sich Pelé unter tosendem Applaus der 182.000 Zuschauer endgültig von der internationalen Bühne der Nationalmannschaft. Alle wollen ihn jetzt berühren, küssen und umarmen. Sie erdrücken ihn fast. Neben Blumen und Pokalen gibt es auch Fernseher und Toaster für ihn, der schon alles hat. Dass das Spiel 2:2 endet, interessiert niemanden mehr.

73. Minute: Rivelino spielt gerade zu Gérson, da wird der Bildschirm schwarz. Stepi, der in seinem breiten Fernsehsessel sitzt, starrt überrascht auf die Mattscheibe. Er kontrolliert den DVD-Spieler und die Anschlüsse: nichts. Er startet die DVD noch einmal – wieder bricht die Übertragung in der 73. Minute ab. Nichts. Er seufzt. Da war er so lange dem Filmmaterial hinterhergejagt, und jetzt das. Nicht einmal eine vollständige Aufzeichnung vom Spiel seines Lebens hatte er bekommen. Dabei hatte Pelé nach dem Spiel in Rio de Janeiro hoch und heilig versprochen, dass alle Spieler ein Video davon erhalten würden. Nur hatte Pelé nie eines geschickt.

Also hatte Stepi sich selber darum gekümmert. Im Jahr 2005 kam Pelé wieder einmal nach Deutschland, im Rahmen des Confederations Cup. Brasilien gastierte als amtierender Weltmeister in Frankfurt. Am Vortag des Endspiels zwischen Argentinien und Brasilien kam Pelé am Frankfurter Flughafen an. Stepi hatte trotz fehlender Akkreditierung sämtliche Sicherheitsschleusen passieren können – hier in Frankfurt kannte ihn schließlich jeder.

Als Pelé eine schwarze Limousine bestieg, in der bereits Franz Beckenbauer und Joseph Blatter saßen, hechtete Stepi ans Fenster und wollte mit Pelé sprechen. Seine Bitten wurden erhört, auf Einladung von Beckenbauer sollte Stepi am selben Abend ins Frankfurter Hotel Hyatt kommen.

Wenige Stunden später hatte er Pelé dann getroffen. „Hello, my good friend, how are you?“, hatte Pelé freundlich gefragt und ihn umarmt. Stepi fragte den Brasilianer, wann er das 1971 versprochene Video bekomme. Pelé war die Verblüffung anzumerken, er versprach aber die prompte Lieferung.

Bis heute ist keine Post aus Brasilien gekommen. Doch der bei dem Gespräch anwesende HR3-Reporter Rudi Schmalz-Göbels besorgte Stepi eine Aufzeichnung aus den Archiven des SWR. Stepi hatte endlich sein Video.

Als er nun in seinem Sessel in seinem Haus in Bergen-Enkheim sitzt, werden die Erinnerungen an seine aktive Zeit als Fußballer, seine schönsten und aufregendsten Stunden geweckt, und er hört wieder den Lärm im Stadion von Rio, atmet die feuchte und stickige Luft, spürt die eigene Aufregung und den beschleunigten Herzschlag.

Schön war es gewesen, und gut gespielt hat er auch. Dann schlief er ein.

Kapitel 2

Belgrader Tage

Wem das Herz hüpft,
dem ist kein Weg zu weit.

(Serbisches Sprichwort)

Kinderträume

Belgrad, im September 1961.

Seit Wochen hängt eine Hitzeglocke über der Stadt. Die Schwüle verwandelt die Stadt in eine Dampfsauna. Ein Moloch, stickig und erdrückend.

„Hängt euch nicht aus der Straßenbahn, ihr Banditen! Das ist gefährlich, verdammt! Und du, du kriegst jetzt deine Strafe!“ Der alte Schaffner hat einen der Bengel, die im Fahren auf seine Straßenbahn aufgesprungen sind, am Hosenzipfel erwischt. Das passiert in dieser Zeit beinahe täglich. Sie kommen aus dem Nichts, verstecken sich, pirschen sich vorsichtig an und springen dann auf. Manchmal kann der alte Schaffner sie fast schon riechen. In der Bahn schreien und hüpfen die Jungs meist besessen hin und her. Jeder will den anderen mit irgendeiner Mutprobe übertrumpfen. Mit nur einer Hand halten sie sich an der Dachkante des Waggons fest, Köpfe und Hände in den milden Belgrader Fahrtwind streckend. Mit der anderen Hand halten sie einen Jutebeutel umklammert.

Es sind stets die gleichen Jungs: Petar, Zoran, Mirko und Dragoslav. Alle sind zwischen zwölf und 14 Jahre alt. Sie stammen aus dem Belgrader Stadtteil Zvezdara, einem der erbarmungslosesten Bezirke in der Donaumetropole. Für viele ist es ein Ghetto.

Auch heute waren sie wieder unterwegs. Möglichst weit vom Elternhaus entfernt haben sie Fußball gespielt. Sie sind in keinem Verein, sie bolzen da, wo sie geduldet werden, auf Hinterhöfen, in Parkanlagen oder einfach auf der Straße. Die Torpfosten bestehen aus ihren Sportbeuteln oder aus Ästen von den Bäumen. Außenlinien gibt es nicht, auch keinen Schiedsrichter. Knifflige Entscheidungen regeln sie zur Not mit den Fäusten.

Der Schaffner hat heute den 13 Jahre alten Dragoslav erwischt. Zur Strafe muss er die 25 Stationen der Linie 7 (Zvezdara – Stadtmitte) mitfahren, hin und zurück. Eine Runde dauert über zwei Stunden. Für Fußball ist es anschließend zu spät, die größte Strafe für die Jungen. Der Schaffner schimpft noch immer vor sich hin, nennt ihn einen streunenden Hund aus Zvezdara, der nichts sei, nichts könne und es im Leben niemals zu etwas bringen werde. Auf die mahnenden Monologe des Schaffners reagiert Dragoslav nicht. Mit seinen kurzen rotblonden Haaren und den reuigen, großen blauen Augen vermittelt er den Eindruck eines Sünders.

Die Bahn rattert derweil durch Belgrad, vorbei an der historischen Altstadt Stari Grad mit ihren Plätzen, Regierungsgebäuden und kleinen Restaurants. Dragoslav sieht in der Ferne die vielen Brücken der Save und hinüber nach Novi Beograd, dem neuen Belgrad. Eine sozialistische „Modellstadt“, die Ende der 1940er Jahre in einer Sumpflandschaft entstanden ist. Architektonische Sündenfälle. Plattenbauten bis zum Horizont, das hässliche Erbe des Stalinismus, entstanden in einer Zeit, als billiger Wohnraum gefragt war und schnell geschaffen werden musste. Das alte Belgrad hingegen war seit jeher eine Brücke zwischen Orient und Okzident. Osmanen, Byzantiner, Habsburger, sie alle haben der Stadt ihre Kultur, Tradition und Architektur hinterlassen. Hier treffen sich die vier Jungs gerne an der alten Zitadelle. Hier sonnen sie sich auf der alten Befestigungsmauer, essen ihre Butterbrote und genießen den Frieden und den Blick auf Donau und Save. Sie sind hier frei und ungezwungen.

Doch beinahe überall bestimmen graue Fassaden und staubige Straßen das Stadtbild. Grau. Die „weiße Stadt“, wie Belgrad übersetzt heißt, ist tatsächlich grau. Die wachsende Industrialisierung fordert ihren Tribut. Belgrad ist in den 1960er Jahren das Zentrum einer Gesellschaft im Umbruch und einer Wirtschaft im Niedergang. Die Veränderungen verschlechtern auch die Lebensbedingungen. Es gibt weniger Arbeit, und diese wird immer schlechter bezahlt. Tausende Menschen verlassen Jugoslawien und suchen anderswo ein besseres Leben – die meisten davon in Deutschland. Denn trotz des vergleichsweise liberalen Klimas steht Jugoslawien wie alle anderen sozialistischen Staaten auch unter dem Einfluss der Sowjetunion. Die vorsichtige Öffnung nach Westen bringt die Gefahr mit sich, in der Auseinandersetzung zwischen Ost und West unter die Räder zu geraten. Doch der jugoslawische „Dritte Weg“, der Versuch, zwischen Plan und Markt zu operieren, hat Nischen geschaffen.

Während die Bahn weiter durch Belgrad ruckelt, an der Endstation Pause macht, um dann wieder umzukehren, versucht sich Dragoslav mit schönen Erinnerungen abzulenken. An seinen Opa Selemir aus Sibnica, den er in den Ferien immer in seinem kleinen Dorf besucht, rund 40 Kilometer von Belgrad entfernt. Zusammen erkunden sie oft die vielen Zitadellen und Burgen der Umgebung.

Auch zu Weihnachten, nach dem julianischen Kalender der griechisch-orthodoxen Christen Anfang Januar, versammelt sich die Familie in Sibnica. Der kleine Dragoslav liebt die Weihnachtszeit. Heiligabend wird stets das brüchige Mobiliar nach draußen verfrachtet und die große Wohnstube mit Stroh ausgelegt. Der Christbaum wird mit Äpfeln, Nüssen und selbst gebackenen Plätzchen geschmückt. Bevor das Essen beginnt, gehen alle Familienangehörigen in den Stall. Für die Tiere gibt es eine Extraration Futter.

Ein gellendes Quietschen reißt Dragoslav aus seinen Gedanken. Die Bahn ist soeben über eine Unebenheit in den Gleisen gefahren. Sie haben die Save wieder überquert und nähern sich einem mächtigen, mehrstöckigen Bau, einem in grauen Beton gemeißelten Oval. Vier große Masten strecken sich in den Himmel und umrahmen das Gebäude. Dragoslav schaut immer wieder zu dem Monument und rutscht auf seinem Sitz hin und her.

Der Alte bemerkt die Neugierde des Jungen.

„Spielst du Fußball?“, fragt er interessiert.

„Nur manchmal“, schwindelt Dragoslav, ein wenig verängstigt.

„Dann weißt du auch nicht, was da drüben für ein Gebäude entsteht?“

„Das wird das neue Stadion von Roter Stern. Da passen dann über hunderttausend Menschen rein“, erwidert Dragoslav, jetzt schon etwas mutiger. Jeder Junge aus Belgrad weiß, was dort gebaut werden soll!

„Richtig, mein Junge, richtig!“, sagt der Alte begeistert. „Warum weißt du das, wenn du doch gar nicht Fußball spielst?“

„Ich würde so gerne im Verein Fußball spielen, aber meine Eltern lassen mich nicht. Meine Mutter schickt mich ins Heim, wenn sie mich beim Fußballspielen erwischt“, platzt es jetzt aus dem kleinen Fußballerherz heraus. Er schaut den Schaffner treuherzig an und hat für einen Moment das Gefühl, als sähe er eine Träne der Freude in dessen Augen.

„Wenn du da mal spielst, dann hast du es geschafft“, verspricht ihm der alte Schaffner.

Das Eis zwischen dem Bahnaufseher und dem Jungen ist gebrochen. „Junge, komm mal her zu mir! Hör mir gut zu! Ich sage dir jetzt eins: Spiele Fußball, melde dich im Verein an, und wenn du dann gut bist, verschwinde möglichst bald von hier. Geh weg aus Belgrad! Spiel Fußball und geh dahin, wo es dir besser geht als hier.“

Sie erreichen endlich die Haltestelle, an der Dragoslav aussteigen darf und wieder in die Freiheit entlassen wird. Der Junge dreht sich noch einmal um. Der Schaffner sieht ihm nach und winkt. Dragoslav hallen die Worte des Alten im Ohr. Wie oft hatte er davon geträumt, ein berühmter Fußballer zu werden und das entscheidende Tor zum Sieg zu schießen!

„Wenn du da mal spielst, dann hast du es geschafft.“ Diese Worte des Alten, den er nie wiedersehen sollte, werden Dragoslav sein Leben lang begleiten.

Teilen, das ist das Motto dieser Zeit. Eine jugoslawische Familie lebt in dieser Zeit in der Regel unter einem Dach. Drei oder vier Generationen, vom Baby bis zum Greis, wohnen in nur ein bis zwei Zimmern. Oft teilen sich mehrere Familien kleine Behausungen von wenigen Quadratmetern, ohne Wasser und Strom. Seit dem Ende der 1950er entstehen immer mehr nehigijenska naselja, also „unhygienische Siedlungen“, illegal errichtet und ohne Infrastruktur: Slums.

Auch die Familie Stepanović lebt Anfang der 1960er Jahre auf nur wenigen Quadratmetern. Zusammen mit einer anderen Familie teilen sie sich zwei Zimmer, Küche, die Toilette draußen im Hof und das heiße Wasser am Badetag, stets ein Samstag.

Dragoslavs Mutter Rosa überzeugt die Mutter der Mitbewohner schnell mit ein paar kräftigen Ohrfeigen davon, der Familie Stepanović den Vorrang beim Baden zu überlassen. Für Dragoslav ist es das Schönste, wenn die Mutter die Badewanne mit heißem Wasser füllt und er nach dem Baden Musik im Radio hören kann: Schlager auf Belgrad 1. Seine liebste Zeit in der Woche.

Unter diesen Verhältnissen sind Konflikte an der Tagesordnung. Mutter Rosa Stepanović verteidigt die Familie besonders aggressiv. Sie kämpft aus Gewohnheit, hatte sie doch weitaus schlechtere Zeiten erlebt.

Der Feuerball über Belgrad hatte den Nachthimmel erhellt. Bis weit in die Provinz hinein war er sichtbar gewesen. Jene Unglücksnächte am 6. und 7. April 1941, in denen die deutsche Luftwaffe Belgrad bombardierte, hatten sich für immer in das Gedächtnis der Überlebenden eingebrannt. Tausende waren in diesen Nächten erstickt, verbrannt, in Fetzen gebombt worden. Es waren bleierne Tage.

Rosa Stepanović war 16, als die deutsche Wehrmacht 1941 in der Stadt einmarschierte. Sofort machten die Truppen Jagd auf Juden, Roma und Partisanen. Viele verschwanden, um nie wieder aufzutauchen. In den Konzentrationslagern von Sajmište und Banjica fanden über 50.000 Menschen den Tod.

Die Alliierten befreiten die Stadt nach drei Jahren des Schreckens. Die nun 19-jährige Rosa aber war gezeichnet vom Überlebenskampf und den Schrecken des Krieges. Die Brutalitäten der Soldaten, die mit der Besatzung verbundenen Erniedrigungen und Demütigungen hatten sie hart gemacht. Für den Rest ihres Lebens sollte es ihr schwerfallen, ihre Gefühle auszudrücken. Niemand hatte sie je weinen sehen. Auch nicht auf der Beerdigung ihres Vaters; nicht auf der ihres Mannes.

Dagegen nimmt sich der Alltag der Familie in den 1960er Jahren beinahe harmlos aus: Vater Zivomir arbeitet in einer pharmazeutischen Fakultät als Haustechniker. Mutter Rosa ist vormittags Köchin in der Mensa eines Studenteninternats, nur 500 Meter von der Wohnung entfernt.

Die Jahre vergehen, die Fußballleidenschaft von Dragoslav wächst. Als er 14 Jahre alt ist, beginnt der Fußball sein Leben zu bestimmen. Rund drei Stunden hat er dafür täglich. Um so viel wie möglich spielen zu können, schwänzt er die Schule. Er isst kaum, sondern spült sein Essen in der Toilette herunter – das spart wertvolle Minuten. Sein Traum: Er will Fußballer werden. Und endlich in einem richtigen Verein spielen, mit anderen trainieren und auf einem richtigen Platz spielen statt auf der Straße. Doch es bleibt vorerst ein Traum, zu hoch sind die Hindernisse.

Dann spricht ihn ein Mann auf dem Schulweg an: Inge Olareveć hatte einen Fußballverein namens „Mladi Proleter“ (junge Arbeiter) gegründet und suchte Spieler für seine Jugendmannschaft. Ein paar Positionen hatte er bereits mit einigen seiner elf Kinder besetzen können. Dragoslav lehnt erst ab, doch als Inge ihn immer wieder abpasst und beharrlich bittet, sagt er schließlich zu. Nur durften seine Eltern nichts davon erfahren! Er läuft die sechs Kilometer zwischen Wohnung und Trainingsplatz hin und zurück zu Fuß. Wenn es mal schnell gehen muss, nimmt Dragoslav auch gelegentlich die Straßenbahn ohne Fahrschein. Für den Bus ist kein Geld da.

Als er wieder mal bei seinem Opa ein paar Ferientage verbringt, erzählt er ihm von seinem großen Geheimnis. Dragoslav hatte ab sofort einen Verbündeten, den er auch dringend brauchte. Das tat gut, richtig gut. Endlich mit jemandem offen über die große Leidenschaft sprechen können, endlich nicht mehr die ganze Last auf den kleinen Schultern tragen müssen. Auch wenn sein Großvater nichts für ihn tun konnte, so war er sich seiner Solaridität und seiner Verschwiegenheit gewiss. Das reichte schon, er war nicht mehr allein damit.

In der Schule bekommt er Probleme mit seiner Musiklehrerin. Dragoslav liebt Musik, aber er kommt nur selten zu den Proben des Schulorchesters, in dem er Akkordeon spielt. Hinzu kommt die Verpflichtung für alle Schüler, die Lehrerin bei Opernbesuchen zu begleiten. Ihr Lieblingskomponist ist Verdi. Eine Qual für Dragoslav – er muss doch Fußball spielen!

Doch zunächst probiert er sich in anderen Sportarten: In der Marija-Bursać-Schule – benannt nach einer jugoslawischen Kommunistin, die als Partisanin im Zweiten Weltkrieg im Kampf gegen die Deutschen ihr Leben verlor – wird er mit elf Jahren zum Sportler des Jahres gewählt. In allen Disziplinen sticht er hervor. In Leichtathletik und beim Handball, der wichtigsten Sportart an der Schule, wird Dragoslav in die Belgrader Stadtauswahl berufen. Fußball aber ist der hohen Verletzungsgefahr wegen verboten. Dies hängt auch mit dem Desinteresse der politischen Führung an dem Sport zusammen: Staatspräsident Josip Broz, eher bekannt als Tito, ist Eishockeyfan – und fördert diesen Sport.

Dessen ungeachtet wächst die Begeisterung des nun 15-jährigen Dragoslav für den Fußball immer weiter. Immer mehr Zeit verbringt er auf den Straßen Belgrads statt in der Schule; stets den Druck im Nacken, bestraft zu werden oder von der Schule zu fliegen, sollte man ihn erwischen. Und immer begleiten ihn die Worte des alten Schaffners: „Wenn du da mal spielst, dann hast du es geschafft.“

Erste Liebe

1963 tritt plötzlich die zweite Liebe in sein Leben – in Gestalt der Leichtathletin Jelena Jovanović. Die hübsche Sportlerin, die zweimal die Belgrader Stadtmeisterschaft über die 100 Meter gewinnt, fällt ihm erstmals bei einem gemeinsamen Cross-Lauf über drei Kilometer auf. Damals gewinnt sie den Wettbewerb der Damen souverän. Dragoslav wird neugierig.

Nach dem Lauf nimmt er all seinen Mut zusammen und spricht sie an. An seine Worte kann er sich später nicht mehr erinnern, zu aufgeregt ist er. Jelena reagiert freundlich, aber zurückhaltend. Dragoslav ist begeistert von ihrer bescheidenen Art. Es gelingt ihm, Jelena zu einem Treffen zu überreden. Weitere Verabredungen folgen, bald schon gehen beide regelmäßig miteinander aus.

Ihre Treffen müssen sie jedoch vor Jelenas Eltern geheim halten: Ihre Eltern haben ihr jeden Kontakt zu Jungs verboten, bis sie 18 Jahre alt wird. Also begleitet Dragoslav seine neue Freundin über Monate hinweg auf dem Weg vom Schulbus nach Hause. Kurz vor dem Haus der Jovanovićs muss er sich jedes Mal aus dem Staub machen. Noch drei Jahre lang können die beiden ihr Geheimnis für sich behalten.

So geht es Tag um Tag, Woche um Woche. Jelena weist jeden Annäherungsversuch zurück. Dragoslav ist ob ihrer unzugänglichen Art so frustriert, dass er eines Tages die Beziehung spontan beendet.

Jelena ist am Boden zerstört. Sie hat noch nie einen Jungen geküsst und fürchtet sich davor. Dragoslav hat sie das nie gesagt, aber sie vertraut sich einer Cousine an. Die wiederum klärt Dragoslav über Jelenas Verhalten auf. Als sich die beiden erneut treffen, gesteht ihm Jelena unter Tränen, dass sie noch nie einen Jungen geküsst habe.

Jetzt muss Dragoslav lächeln. Vorsichtig nimmt er Jelenas Gesicht in beide Hände, beugt sich zu ihr vor und drückt ihr einen ersten, sanften Kuss auf die Lippen. Damit ist das Eis gebrochen. Und doch irritiert Dragoslav Jelenas Ablehnung, wenn das Gespräch auf Familie und Kinder kommt. Er weiß nicht, dass sie sich geschworen hat, niemals im Leben zu heiraten und Kinder zu haben.

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Dragoslavs große Liebe: Jelena Jovanović mit 18 Jahren.

Jelena hasst das beengte Leben, das sie lebt. Als Älteste von drei Geschwistern hat sie das Privileg, zur Schule gehen zu dürfen. Ihre beiden jüngeren Schwestern müssen im Haushalt helfen. In der Schule gehört sie zu den Besten, sehr zur Freude ihres Vaters, der seine Tochter bereits als erfolgreiche Ärztin sieht. Nach der Schule muss sich Jelena um ihre jüngeren Geschwister kümmern. Freizeit hat sie kaum. Sie wohnt mit ihrer Großfamilie unter einem Dach. Um diesem Leben einmal entfliehen zu können, will sie unabhängig bleiben und keine eigene Familie gründen.

Dragoslav weiß nicht, was in Jelena vorgeht. Er versteht ja kaum, was in ihm selbst vorgeht. Er spürt zum ersten Mal, dass es neben seiner Liebe zum Fußball noch eine weitere Kraft gibt, die es zu entdecken gilt. Das Erwachsenwerden verwirrt ihn. Er zieht sich zurück. Die Prügel seiner Eltern, das ständige Versteckspiel für den Fußball belasten ihn mehr und mehr. Geborgenheit, Sicherheit und Freiheit findet er nur beim Fußball. Und nun ist da auch noch Jelena.

Die Schatten der Schule werden in dieser Zeit länger und länger. Dragoslav hat nachmittags Schule, schwänzt aber immer häufiger, um auch diese Stunden für Fußball nutzen zu können. Die für ihre Strenge bekannte Direktorin hat seit Langem den Verdacht, dass ihre Schüler nicht zur Schule kommen, sondern ihre Zeit mit Fußball verschwenden. Sollte sie jemanden auf frischer Tat ertappen, würde sie ihn von der Schule verweisen. Dragoslav braucht für seine Abwesenheiten in der Schule endlich eine gute Erklärung.

Die Lösung ist ein alter Stempel. Jelena findet ihn eines Tages in der Klinik, in der sie ein Praktikum absolviert, bevor sie nachmittags in die Schule geht. Der Stempel gehört einer inzwischen längst verstorbenen Ärztin. Sie füllt gleich einen ganzen Block mit Attesten für Dragoslav aus, die sie unterschreibt und stempelt. Damit kann sich Dragoslav in der Schule offiziell als krank entschuldigen. Ein hohes Risiko für Jelena, die bei Auffliegen des Schwindels für diese Urkundenfälschung von der Schule verwiesen worden wäre. Ihren Traum, Ärztin zu werden, hätte sie dann aufgeben müssen.

In Ermangelung eines besseren Planes drückt Dragoslav weiterhin die Schulbank. Er will so schnell wie möglich seinen Abschluss machen, um endlich nur noch Fußball spielen zu können. Die Prüfungen besteht er zur Überraschung seiner Lehrer mit Bravour. Seine Arbeit zum Thema „Heiztechnik“ schreibt er jedoch nicht selbst. Dies erledigt ein Fan des OFK Belgrad (Omladinski Fudbalski Klub, zu Deutsch: Jugend-Fußballklub), einem der großen Fußballvereine der Stadt, der zugleich Heizungsingenieur ist. So ist denn Dragoslav ausgebildeter „Sanitarni tehnicar“ (Sanitärtechniker) geworden, Spezialgebiet Umweltbelastungen hinsichtlich Wasserverschmutzungen. „Und so nannte man uns damals auch Gesundheitspolizei“, erinnert er sich.

Das Ende der Schulzeit kommt für Dragoslav dann trotzdem etwas plötzlich. Ihm stellt sich die Frage, wie es weitergehen soll. Eine Lehre, der Wunsch seines Vaters, kam für ihn nicht in Frage. Er steht vor der bislang größten Herausforderung seines Lebens: Wie kann er Fußballprofi werden?

Endlich Fußballer

Belgrad ist Fußball, und Fußball ist Belgrad. Trotz des Desinteresses der politischen Führung. Drei große Vereine hat die Stadt: Roter Stern, Partizan und OFK. Roter Stern ist der erfolgreichste der drei Vereine, in Sachen Popularität dicht gefolgt von Partizan. Beide Klubs befinden sich in einem dauerhaften Konkurrenzkampf, dem „večiti derbi“ (ewiges Derby), immer unterstützt von einer leidenschaftlichen Fangemeinde. Der OFK steht im Schatten von Roter Stern und Partizan, trotz seiner großen Erfolge in den 1950er und 1960er Jahren.

Dragoslav ist Fan von Partizan Belgrad, solange er denken kann. Obwohl er schon von Kindesbeinen an dem Leder hinterherjagt, bekommt er erst im Alter von 17 Jahren die Chance, ein Spiel im Stadion zu sehen. März 1966: Partizan steht im Rückspiel des Viertelfinals im Europapokal der Landesmeister gegen Sparta Prag. Das Hinspiel hatten die Jugoslawen mit 1:4 verloren. Jetzt muss ein Wunder her, um das Halbfinale noch zu erreichen.

Das Spiel ist an einem Nachmittag; statt wie sonst 100.000 Zuschauer sind diesmal nur 45.000 Menschen im Stadion von Partizan. Für Dragoslav ist das günstig: Er kann den Stadionbesuch seinen Eltern verschweigen und ein Treffen mit Freunden vorschieben.

Dem Spiel war ein einschneidendes Ereignis vorausgegangen: Eine Woche zuvor hatte er den Schritt gewagt und sich in der Jugendabteilung von Partizan Belgrad angemeldet. Die drei Tage Probetraining endeten damit, dass man Dragoslav wieder nach Hause schickte. Befund: zu wenig Talent. Der Junge ist sehr enttäuscht, dies beflügelt aber umso mehr seinen Ehrgeiz.

Einen Vorteil jedoch hatte das Training: Alle Jugendspieler von Partizan erhielten Freikarten für das große Spiel. Dragoslav hat zwar kein Anrecht mehr auf eine Karte, doch ein Ordner, der ihn beim Probetraining gesehen hat, hält ihn für einen Stammspieler der Mannschaft – und lässt ihn ins Stadion.

Die Partie gegen Sparta Prag verläuft furios: Partizan wirbelt derart durch die Reihen der Prager, dass sie am Ende mit 5:0 gewinnen. Im Halbfinale schaltet Partizan dann Manchester United aus, unterliegt aber im Endspiel im Brüsseler Heysel-Stadion den „Königlichen“ von Real Madrid mit 1:2. Der junge Dragoslav ist von dem Spiel wie berauscht. Und obwohl Partizan „sein“ Verein ist, bleibt es sein Traum, einmal im Stadion von Roter Stern zu spielen. Der alte Schaffner und seine Worte kommen ihm wieder in den Sinn: „Wenn du da mal spielst, dann hast du es geschafft.“

Fußball im Verein – für Dragoslav ist das wie Weihnachten. Das Kicken im Hinterhof ist eine Sache, bei einem Verein organisiert Fußball zu spielen eine andere. Doch damit wächst auch die Gefahr, von den Eltern entdeckt werden. Das bedeutet Stress. Also fasst Dragoslav einen Entschluss. Er ist nicht länger bereit, sich zu verstecken. Er riskiert es, er will es so sehr.

Zivomir Stepanović holt aus. Dragoslav ist darauf vorbereitet, er weicht flink aus und packt seinen Vater am Kragen. Er ist 17 Jahre alt, rund 182 cm groß und ein Athlet. Sekunden vorher hat er seinem Vater mitgeteilt, dass er in einem Fußballverein spiele und Profi werden wolle. Er hat ihm auch gesagt, dass sein Vater ihn nie mehr schlagen solle.

Dragoslav lässt keinen Zweifel aufkommen, dass es ihm ernst ist. Fest gepackt hält er seinen Vater am Kragen und mit seinen langen Armen auf Distanz. Die Schläge des Vaters können ihn nicht mehr treffen, sie gehen ins Leere. Dragoslav hält seinen Vater nur auf Distanz, schlägt nicht zurück. Plötzlich hört Zivomir Stepanović auf. Schweigend verlässt er den Raum.

Danach sollte er seine Hand gegenüber seinem Sohn nie wieder erheben. Nie wieder wurde darüber gesprochen.

Der Aufstieg

Partizan ist der Verein seines Herzens, bei Roter Stern will er einmal spielen. Im Winter 1965 aber nimmt Dragoslav auf Einladung eines Freundes an einem Probetraining bei der Jugendmannschaft des OFK Belgrad teil.

Belgrader Winter sind kalt, vor allem in diesem Jahr. Der Schnee türmt sich auf dem Platz. Die Nachwuchsfußballer spielen dennoch standesgemäß in kurzen Hosen und dünnen Trikots. Die Kälte zieht allen durch die Glieder, auch Dragoslav zittert bereits während des Spiels am ganzen Körper. Nur die Aussicht auf eine heiße Dusche nach dem Training lässt ihn durchhalten. Endlich! Es ist vorbei, Dragoslav eilt in die Kabine. Da packt ihn jemand von hinten am Ärmel.

„Heute ist kein Duschen“, sagt der Zeugwart. „Wir haben heute nur kaltes Wasser. Der OFK hat die Gasrechnung nicht bezahlt.“

„So ein berühmter Klub und nicht mal heißes Wasser. Das kann doch nicht wahr sein“, denkt Dragoslav und bittet mit einem Grinsen den verdutzten Platzwart, den Zugang zu den Duschräumen zu öffnen.

Nach der Winterpause wird das Buhlen um ihn heftiger. Der OFK bittet ihn mehrfach, wieder zum Training zu kommen. Bald ist Dragoslav offiziell Spieler der OFK-Jugend.

Bei seinem ersten Training fragt ihn sein Trainer, wie er heiße.

„Dragoslav“, antwortete dieser.

„Nein, nein, nein. Ich meine deinen Spitznamen. Dragoslav ist zu lang. Auf dem Platz brauche ich was Kürzeres. Dragi vielleicht?“

„Nein, bitte nicht. Nennen Sie mich lieber Stepa.“

„Okay, dann bist du ab sofort der Stipe.“

Der junge Dragoslav traute sich nicht, den Trainer zu korrigieren. Obwohl es eigentlich ein kroatischer Vorname war, sollte er in seiner Belgrader Zeit für die Fußballwelt immer der „Stipe“ bleiben. In der Schule nannte man ihn „Stepa“, nun „Stipe“. Für Jelana ist er derweil der „Liebling“ oder das „Schatzi“. Bis er zum „Stepi“ wird, soll es noch eine Weile andauern.

Mittlerweile ist Dragoslav 18 Jahre alt und entwickelt sich zunehmend zu einer tragenden Säule in der zweiten Mannschaft. Aufmerksam beobachtet der Verein seine Entwicklung, auch die Profiabteilung. Im Sommer 1966 lädt ihn die Belgrader Stadtauswahl zu einem Turnier nach Nürnberg ein. Zum ersten Mal in der Geschichte des jugoslawischen Fußballs nimmt ein Spieler des OFK an einem solchen Turnier teil.

Während Dragoslav in Nürnberg ist, wird in Jugoslawien der zweitmächtigste Mann im Staat, Innenminister und Polizeichef Aleksandar „Leka“ Ranković, von seinen Ämtern enthoben. Die Stimmung im autoritären Jugoslawien ist kurz vor dem Explodieren. Aufgrund dieser Spannungen wird die Mannschaft in Nürnberg unter Beobachtung des jugoslawischen Geheimdienstes gestellt, um eine Flucht der Spieler ins kapitalistische Ausland zu verhindern. Auch das Hotel durften die Spieler nicht verlassen.

Kurz nach dieser Episode ist Dragoslav so weit, und er wird in die erste Mannschaft von OFK Belgrad befördert. Im Pokalendspiel 1966 schlägt der OFK Dinamo Zagreb vernichtend mit 6:2. Unmittelbar nach dem Sieg verlassen 14 Profis den Verein und gehen ins Ausland. Damit steht der OFK mit einem Mal beinahe ohne Spieler da. Der Vorstand muss sofort handeln.

Jetzt schlägt die Stunde von Dragoslav. Wenige Tage später feiert er seine langersehnte Premiere bei den Profis. Es ist ein Vorbereitungsspiel gegen Kruševac. Stolz steigt er in den Bus der ersten Mannschaft. Auf der Fahrt kommt er erstmals dazu, die Ereignisse der letzten Tage, seinen rasanten Karrieresprung zu verarbeiten. Er nimmt sich vor, alles ihm Mögliche zu geben, seine Chance zu nutzen.

In der Gästekabine von Kruševac riecht es so muffig wie in der ganzen Stadt. Die Trikots haben einen V-Ausschnitt, der bei den jungen OFK-Spielern beinahe bis zum Bauchnabel reicht. Das Spiel findet auf einem alten Aschenplatz statt. Die Mannschaft von Kruševac besteht aus alten Haudegen, die mit allen Wassern gewaschen sind. Die frischgebackenen Profis aus Belgrad haben einen schweren Stand. Dragoslav wird gefoult und rutscht dann mit der Brust über die Aschenbahn. Er blutet, kann vor Schmerz nächtelang kein Auge zutun. Der OFK verliert das Spiel.