Du siehst, ich will viel.
Vielleicht will ich Alles:
das Dunkel jedes unendlichen Falles
und jedes Steigens lichtzitterndes Spiel.

Es leben so viele und wollen nichts,
und sind durch ihres leichten Gerichts
glatte Gefühle gefürstet. 

Aber du freust dich jedes Gesichts,
das dient und dürstet.

Du freust dich Aller, die dich gebrauchen
wie ein Gerät.

Noch bist du nicht kalt, und es ist nicht zu spät,
in deine werdenden Tiefen zu tauchen,
wo sich das Leben ruhig verrät.

Rainer Maria Rilke

ÜBER DEN AUTOR

Paul M. Zulehner, Dr. phil., Dr. theol., war von 1984 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2008 Professor für Pastoraltheologie in Wien. In zahlreichen und viel beachteten Veröffentlichungen beschäftigt er sich vor allem mit religionssoziologischen, kirchensoziologischen und pastoraltheologischen Themen.

Er gehört zu den bekanntesten Theologen Europas, der keine Angst vor der Wahrheit hat, wenn es um die Situation und Zukunft der Kirche geht. Doch ist seine Kritik immer konstruktiv und geprägt von einer großen Loyalität. Das macht ihn zu einem inspirierenden Vordenker und geschätzten Gesprächspartner.

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Inhalt

Ouvertüre

Mitgift

Mit Gift

Eine Autobiografie anderer Art

Arbeiten und Lieben

1. Satz: Presto
Arbeiten

»Er führte mich hinaus ins Weite« (Psalm 18,20)

Weltbürger

Beijing

Die Lektion chinesischer Studierender

Katholisch: nicht konfessionell, sondern universell

Licht und Salz

Praxis-Erweiterung

Orpheus und Eurydike

Wurzeln

Fromme liebevolle Eltern

Kohlstatt

Familiärer Solidaritätstrainer

Anregende Vielfalt

Musikalische Ader

Singen und Denken

Gymnasialzeit

Lehrmeister

Innsbruck

CCEE

Carlo M. Martini, Basil Hume, Miloslav Vlk

Franz Kamphaus

Pastorale Lehrjahre

Altmannsdorf

Neuausrichtung

Das Passauer Pastoralbiotop

Beirat der deutschsprachigen PastoraltheologInnen

Zurück nach Wien

Diözesansynode Rottenburg-Stuttgart

An der Universität Wien

Anfrage Roms zur Frauenordination

Frauen in die Bildungskongregation

Antrittsbesuch bei Kardinal König

Pastorales Forum

Universitätsreformen

Biblische Bilder als Inspiration meiner Pastoraltheologie

Lebe!

Erbarmen

Leibhaftig glauben

Medienarbeit

Brigitte Schwaiger

2. Satz: Menuett
Lieben

Gott lieben – meine spirituelle Lebensreise

Benedikt und Ignatius

Bin ich nicht Volk?

Spirituell in den Tag

Mein Lieblingspsalm

Menschen lieben

Priester werden

Unbeschwerte Kindheit

Männerfreundschaften

Frauenfreundschaften

Aufarbeitung

Wandlungen der Priesterliebe

Kinder

3. Satz: Lento
Wofür ich stehe und einstehe

Orientierungen für den Kirchenumbau

1. Verbuntung

2. Umbau der Kirchengestalt

3. Belonging before believing

4. Vision der Jesusbewegung

5. Wie Jesu Vision in einer Kultur wächst

6. Visionsarme Strukturen sichern nicht die Zukunft

7. Jede und jeder trägt eine Vision in sich

8. Die Last des Amtes in den Kirchen: Spurtreue sichern

9. Neuer Wein, nicht nur neue Schläuche

10. Abmilderung von ererbten Irritationen

11. Auf die Gratifikationen kommt es an

12. Von der Moral zur Mystik

13. Je mystischer desto politischer. Und umgekehrt.

14. Abendmahl und Fusswaschung

15. Das eucharistische Herz der Kirchen

16. Nicht Dienstleistungsbetrieb, sondern eine Gemeinschaft, die Dienste leistet

17. Eine arme Kirche für die Armen

18. The Great Chain of Being

19. Universell, nicht konfessionell: also wirklich katholisch

20. Erbarmen als gemeinsamer Nenner

21. The Mission of the Christian Churches

Respekt vor dem Reichtum an Lebensformen

Institution – Person

Pluralisierung

Coda:
Die Unvollendete

Fragment

Reinkarnation oder Fegfeuer


Lebenslauf

Anmerkungen

NAVIGATION

Paul M. Zulehner

Mitgift

Autobiografisches anderer Art

Patmos Verlag

Ouvertüre

Mitgift

Mitgift – ich kann dieses Wort drehen, wie ich will: Es bleibt schillernd. Als Brautgabe besitzt es Wohlklang. Es lässt an Hochzeiten des Lebens denken. Oder an das von Jesus offerierte himmlische Hochzeitsmahl. Es weckt Gefühle von überraschendem und unverdientem Beschenktsein. Als würde unerwartet ein Mensch ins Leben treten, den man als immer schon vertraut erkennt. Dieses Gefühl hat für mich eine warme Farbe und einen sanften Ton. Rainer Maria Rilke muss es gekannt haben. Wie hätte er sonst gedichtet:

Du kommst und gehst. Die Türen fallen
viel sanfter zu, fast ohne Wehn.
Du bist der Leiseste von Allen,
die durch die leisen Häuser gehn.

Man kann sich so an dich gewöhnen,
dass man nicht aus dem Buche schaut,
wenn seine Bilder sich verschönen,
von deinem Schatten überblaut;
weil dich die Dinge immer tönen,
nur einmal leis und einmal laut.

Oft wenn ich dich in Sinnen sehe,
verteilt sich deine Allgestalt:
du gehst wie lauter lichte Rehe
und ich bin dunkel und bin Wald.

Du bist ein Rad, an dem ich stehe:
von deinen vielen dunklen Achsen
wird immer wieder eine schwer
und dreht sich näher zu mir her,

und meine willigen Werke wachsen
von Wiederkehr zu Wiederkehr.
Rainer Maria Rilke

Mit Gift

Andererseits: Kaum zerlege ich das Wort in zwei Teile, verändern sich Ton und Farbe von Grund auf. »Mit Gift« signalisiert mir dann ganz anderes. Tiere wie Schlangen oder Spinnen kommen mir in den Sinn. Die Atmosphäre kann vergiftet sein, ökologisch wie zwischenmenschlich – etwa nach einer Trennung oder Scheidung. Giftige Vorgänge beschädigen auch in Organisationen, politischen Parteien, Unternehmen, Fakultäten, aber auch christlichen Kirchen das Klima. Wer wie ich jahrzehntelang in einer Kirche gedient hat, kennt solches Kirchen-Gift besser als viele, welche bisweilen die Kirche ätzend von außen kritisieren und dabei gar nicht bemerken, wie sehr sie eigene seelische Nöte der Kirche aufladen.

Ich werde mich freilich hüten, in meinen Erzählungen selbst giftig zu sein und zu vergiften. Obwohl die letzten Jahrzehnte mir wiederholt Anlass gegeben haben, mich über Ereignisse zu »giften«. In der Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils erlebte ich einen unglaublichen Aufbruch. Und litt danach unter dessen schleichendem Abbruch. In diesen dunklen Zeiten tröstete mich ein Spruch von Karl Valentin. Mitten in den grausamen Jahren des Nationalsozialismus rief er den Leuten von der Bühne herab zu: »Hoffentlich wird es nicht so schlimm, wie es schon ist.«

Dieses doch ziemlich ohnmächtige Kirchen-Gefühl hat mich in den letzten Monaten gänzlich verlassen. Der Grund hat einen Namen und ein lateinamerikanisches Gesicht: Franziskus, Bischof von Rom. Ich hätte mir nicht träumen lassen, eine solche Zeit der Kirche in meinem fortgeschrittenen Alter noch einmal zu erleben. Es fühlt sich an, als ob man sich nach Jahren eingewohnter Einsamkeit »unsterblich« in einen Menschen verliebt, der den Lebensweg unvorhergesehen kreuzt.

Eine Autobiografie anderer Art

Ob es Sinn macht, aus meinem Leben zu erzählen und die Geschichte(n) auch noch zu drucken? Dienen Memoiren nicht lediglich der Befriedung eines ungepflegten Narzissmus? Andererseits will ich nicht einfach eine Pflichtautobiografie abliefern, sondern riskiere eine »Autobiografie anderer Art«. In ihr wird mein Leben wie ein Faden sein, der größere gesellschaftliche wie kirchliche Themen zusammenhält. Viele dieser Ereignisse haben mich geprägt, andere wiederum konnte ich selbst in bescheidenen Grenzen mitgestalten. Vieles habe ich freudig erlebt, anderes dunkel durchlitten. Zwischen diesen Polen verlief der ganz normale Wahnsinn des Alltäglichen. Und all das schicke ich mich an zu erzählen und spirituell und theologisch zu bedenken. Ich stehe mit meinen Erfahrungen nicht allein da. Das ist mir in vielen Vorträgen – einmal kam ich in einem Jahr auf fast 160 – , auf zahlreichen Kursen, in langen nikodemischen Nachtgesprächen klar geworden. Es mag also durchaus sein, dass manche im Spiegel meiner spirituell wie theologisch ausgeleuchteten Geschichte sich selbst ein wenig besser verstehen. Schön wäre es für mich, wenn sie dank meiner Erzählungen mit dem, was sie zumal in der Kirche erfreut und was sie erlitten haben, gelassener zurechtkommen.

Ich werde mein Leben vom »Ende« her aufrollen. Ich erzähle zunächst, was mich jetzt bewegt und erst danach, was ich die Jahre hindurch geworden bin. Von dem, was ich heute bin, schaue ich an die Anfänge meines Lebens zurück. Ich versuche zu verstehen, was mir widerfahren ist und was ich damit zu machen trachtete. Ich habe Günter Anders im Ohr, der mahnte zu bedenken: »Ja, was tue ich denn da eigentlich? Ja, was tut man mir denn da eigentlich?«1

Ich will Sie gewinnen, mir nicht nur beim Erzählen wohlwollend zuzuhören, sondern zumal bei den Deutungen skeptisch zu begleiten. Vieles, was mir nahegegangen ist, haben andere anders erlebt. Ich kann nur von meiner Warte aus den langen verschlungenen Weg überblicken. Manches kann ich erklären, vieles wird als unerklärlich stehen bleiben. Während des autobiografischen Erzählens werde ich da und dort innehalten. Dann werde ich mich über das Erlebte »zurück-beugen«, also das Erlebte »re-flektieren«. Das kann ich als Praktischer Theologe einfach nicht lassen. Denn die erlebte Praxis ist eine der besten Erkenntnisquellen.

Wenn ich mein Smartphone einschalte, begrüßt mich der Anfang des von Johann Sebastian Bach so grandios vertonten Chorals »Wer nur den lieben Gott lässt walten«. Dieser spirituelle Text hat mich über viele Jahre begleitet. Seit Jahren habe ich mir angewöhnt, jeden Morgen um sechs Uhr zu meditieren. Jeden Montagmorgen singe ich den Choral als Lied, hoffend dass auch jemand anderer mitsingt, um die anhebende Woche unter sein Motto zu stellen. Dieser Liedtext ist mir behilflich, das viele Unerklärliche, das Helle und Dunkle, in meinem Leben auch dann anzunehmen, wenn ich es nicht begreife. Erst wenn ich auf der anderen Seite des Todesufers angekommen bin, werde ich mein Leben in Gottes Armen und mit seinem Erbarmen erklärt bekommen.

Arbeiten und Lieben

Mir ist es immer dann gut gegangen, wenn meine beiden Lebensbeine gesund waren. Diese sind »Arbeiten und Lieben«2. Beim Lieben berührt mich das Zweckfreie: die Anbetung, die Gottesliebe, die Beziehungen zu anderen Menschen, zur Mitwelt. Beim Arbeiten beschäftigt mich Zweckvolles: Da will ich schöpferisch sein, ein Werk hervorbringen, meine eigene Geschichte schreiben und mich selbst ein Leben lang »erschaffen«. Diese »Selbstverwirklichung« erlebe ich als Gottes große Zumutung. Sie weist mich als Ebenbild des schöpferischen Gottes aus. Wenn sich Lieben und Arbeiten in meinem Leben ergänzen und tragen, dann »geht« es mir buchstäblich gut.

Was aber ist, wenn eines der beiden Lebensbeine lahmt? Wie ginge es mir, wenn ich nicht mehr arbeiten könnte? Was macht es mit mir, wenn eine liebevolle Beziehung zerbricht? Immer wenn solches geschah, ging es mir nicht gut. Es macht mir bis heute zu schaffen, wenn eines der beiden Lebensbeine beeinträchtigt ist. Ich spüre, wie dann das andere überlastet ist und in Mitleidenschaft gezogen wird.

Ich beginne mein autobiografisches Erzählen mit dem »Arbeiten«. Es bildet nach dieser Ouvertüre den ersten Satz meiner autobiografischen Lebenssinfonie. Dafür entscheide ich mich schon allein deshalb, weil es mir leichter fällt, davon zu berichten. Die Arbeit war und ist zudem mein Lebensschwerpunkt. Manche sagen mir seit meiner Emeritierung: »Jetzt bist du in Pension und hast viel Zeit.« Ich erwidere: »Ich bin nicht in Pension. Ich bekomme eine.« Mich hat meine Arbeit immer fasziniert und gepackt. Ich habe gern gearbeitet und mache das noch immer. Die Emeritierung hat daran nichts geändert. Würde ich sonst dieses Buch schreiben?

Spät oder zu spät habe ich entdeckt, dass ich lange Zeiten meines Lebens hindurch in die Arbeit geflohen war. War für mich Arbeit manchmal Zuflucht, ja Flucht? Gar vor dem Lieben? War ich ein »Liebesflüchter«, ein »Beziehungsmuffel«? Darüber mehr im zweiten Satz der Sinfonie, in dem ich von meinem Lieben erzählen will.

Arbeiten und Lieben im Gleichgewicht zu halten, betrachte ich als eine der hohen Lebenskünste. Mir ist das lange nicht gelungen. Der Weg zur Balance verlief über aufkeimendes Leiden und wachsende Unruhe. Spät in der Nacht, nach einer Heimkehr aus Brixen nach Passau 1980, habe ich ein Gedicht verfasst. Ich fühlte mich damals wie ein Workaholic, der von einer Vortragsreise müde in seiner leeren Wohnung ankam.

die hände ausgestreckt

müde gerädert

dem nachtzug entstiegen

leer die wohnung

niemand der wartet

der körper ermattet

doch das herz auf reisen

es flieht aus der leere

und sucht deine nähe

vergeblich das läuten

keine verbindung

du bist selbst auf reisen

von arbeit gebunden

leer bleibt die wohnung

erschöpft auch der körper

spiegel der seele

herr, sag, wo bist du?

Allerdings verblieb ich nicht beim Klagen. Ich spürte, wie das Erlittene sich zunehmend in Widerstand wandelte. Ich wollte nicht mehr nur »Arbeitssklave« sein. Ich ahnte, dass mein Leben dabei war, in ein »Gelebtwerden« zu kippen. So machte ich mich auf die Suche nach einer besseren Balance zwischen Arbeiten und Lieben.

aufruhr

ich komme heim

auf dem tisch liegt post

ich mache sie auf

und lese bedrängt

bildungswerk bonn

einen vortrag zur buße

fortbildungskurs

jahrgang 50

in münster

eine akademie

plant zwei tage

zur scheidung

dazwischen verlangt

ein beirat die zeit

sie packen zu

besetzen mein leben

sie nehmen die zeit

als wär es die ihre

sie zwängen mein leben

hinein in termine

die wenn sie kommen

mein leben verbrauchen

mir geht blitzartig auf

ich werde gelebt

ist es wirklich mein leben?

ich plane den aufruhr

so geht es nicht weiter

ich selber will leben

mein eigenes leben

ich!

ganz unten im berg

von amtlicher post

liegt ein brief

ich öffne ihn zaghaft

in warmer erwartung

erahne befreiung

im lesen der zeilen

durchschreit’ ich ein tor

in der mauer

zur freiheit

zum leben

zu dir

aufruhr im gang

ich beginne zu leben

An diese beiden Sätze, das Presto des Arbeitens und das Menuett des Liebens, schließe ich einen beschaulichen dritten Satz an. In diesem Lento fasse ich zusammen, wofür ich heute stehe.

Viele Sinfonien enden schließlich mit einer Coda. Auch diese meine autobiografische Sinfonie. Sie bleibt als Ganzes gesehen eine Skizze, eine Unvollendete. Zu Ende komponieren werde ich Sie erst, wenn ich sterbend in die Liebe des eigentlichen Komponisten meines Lebens hineinfalle.