Robert Bouchal
Johannes Sachslehner

Unterirdisches
Österreich

Vergessene Stollen · Geheime Projekte

Die „Lehnersche Röhre“ im Zugangsbereich von „Bergkristall“.

Inhalt

Cover

Titel

Titelbild

Bilder zum Buch

VORWORT

I. KAPITEL:
DAS UNTERIRDISCHE ERBE

Ein kriminalistisches Lehrstück

Wir haben etwas, was wir nicht wollen

Die BIG, ein Mann und 290 Stollen

Kein Spielraum für Interpretationen

Das Millionengrab

Karl Lehner erhält Verstärkung

Explosive Entdeckungen am Petersberg

Ein „Pingenfall“ in Villach

Die aktuelle Aufgabe heißt befunden und betreuen

II. KAPITEL:
DIE GROSSE FLUCHT VOR DEN BOMBERN

Der SS-Rüstungsmanager: Hans Kammler

DAS UNTERIRDISCHE AMPHITHEATER

Geheimprojekt „Zement“ in Ebensee

Eine Rakete für das Reich

Die Teufelsfabrik: das Geheimobjekt „Schlier“ in Redl-Zipf

Aus „Kalk“ wird „Zement“

Bohren, Sprengen, Bohren, Sprengen

Schnecken statt Muscheln

Neue Pläne für „Zement“

Sterben wie die Ratten

Es gab weder Gnade noch Rettung

Ein Erinnerungsort: die Stollenlandschaft Ebensee heute

CODENAME „B8 BERGKRISTALL“

Das Stollenlabyrinth in St. Georgen an der Gusen

Es ist, als wenn ein Engel schiebt

Die Geschäfte der DEST und der Beginn von „Bergkristall“

Gusen II: The killing went on constantly

Karl Fiebinger, der Stollenbauer

Moder, Schweiß und Tod – der Alltag in den Stollen

In der Haft der SS: die Fiebinger-Baracke

Die ME 262 im Einsatz

Die Befreiung

Nutzen, Bewahren und Erinnern: „Bergkristall“ von 1945 bis heute

Die Sicherungsmaßnahmen

Souverän gelöst

Viel Lärm um letzte Sicherungsmaßnahmen

Atom-Gerücht und „Schatten-Gusen“

Das „Kunst- und Nutzungsprojekt“

Begegnung mit „Bergkristall“

UNTER WASSER
Das Stollensystem Langenstein

Eine „Wasserbefahrung“

DECKNAME „KIESEL“

Der Grillstollen in Hallein

ÖSTERREICHISCHE STÄDTE IM LUFTKRIEG

„Luftnot“ in Linz

Von einem Pferd , das fast versunken wäre

Beten in Bunker

III. KAPITEL:
HOTSPOTS VERSUS LOST PLACES: DIE STOLLEN HEUTE

IM STEIRISCHEN BERG DER DATEN

Vom Rüstungsprojekt „Syenit“ zu „ earthDATAsafe “

WELCOME TO HELL

In der Klagenfurter Stollenwelt

DAS FLEDERMAUSKABARETT

Ein Lokalaugenschein in Wimpassing

Die Fledermäuse sind noch nicht ausgestorben

ENDZEITSTIMMUNG IN DER KREMSER UNTERWELT

ALS WÄRE DER KRIEG HIER GERADE ERST ZU ENDE GEGANGEN

EPILOG

QUELLEN UND LITERATUR

BILDNACHWEIS

NACHWORT DER AUTOREN

DANKSAGUNG

Weitere Bücher

Impressum

Durch Sprengung zerstörter Stollenabschnitt in St. Georgen an der Gusen.

Stollenanlage A in Ebensee: faszinierende Sinterröhrchen.

Im Grillstollen in Hallein.

Im Sommerauerstollen, Hallein.

VORWORT

Dieses Buch lädt ein zu Entdeckungen in einer anderen Welt. Österreichs idyllische Landschaft, so seine Botschaft, zeigt sich verblüffend doppelbödig, ist nicht immer nur das, was sie zu sein vorgibt. Unter pittoresken Wohnsiedlungen, Äckern, Wäldern und Wiesen existieren verborgene, unterirdische Orte, die einst im Mittelpunkt des Kriegsalltags standen. Im Grauen des Bombenkrieges wurden sie zur letzten Zuflucht für viele; andere mussten miterleben und miterleiden, wie hier der Terror des NS-Regimes knapp vor Kriegsende einen letzten wahnwitzigen Höhepunkt erreichte. Im Schutze riesiger Gangsysteme konzentrierten sich verzweifelte Bemühungen zum Bau der vielfach beschworenen „Wunderwaffen“, mit deren Hilfe Adolf Hitler einen längst verlorenen Krieg doch noch gewinnen zu können glaubte. In taghell erleuchteten unterirdischen Hallen schufteten die „Sklaven“ des Dritten Reiches: KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter aus ganz Europa bauten Motoren, Gewehre und montierten Hightech-Waffen wie den ersten Düsenjäger der Luftfahrtgeschichte, den legendären „Strahljäger“ Me 262.

Lange Zeit blieb die Existenz dieser Stollenanlagen nahezu unbemerkt. Die Republik Österreich fühlte sich nicht zuständig. Erst ein Gerichtsurteil stellte das Eigentum der öffentlichen Hand an diesen unterirdischen Bauwerken fest. Nach Gründung der Bundesimmobiliengesellschaft (BIG) in ihrer heutigen Form zur Jahrtausendwende wurden sie dem noch jungen Unternehmen übereignet, das mit diesem Erbe eine große Herausforderung übernahm. Alleine die Sicherung der teilweise gesprengten und verfallenen Stollen hat bis heute mehr als 35 Millionen Euro verschlungen. Es wurden keine Mühen gescheut, um dieses Vermächtnis einer dunklen Zeit aufzuarbeiten. Nach über zehn Jahren sind nunmehr alle akut drohenden Gefahren für Menschen beseitigt. Sich auf den Erfolgen der vergangenen Jahre auszuruhen wäre aber trügerisch, denn absolute Sicherheit kann es aufgrund der Bewegungen im Gebirge niemals geben. Nach wie vor befinden sich mehr als 150 Stollen im Eigentum der BIG; alleine die laufende Instandhaltung dieser Bauwerke ist sehr aufwendig. Jährliche „Befahrungen“ geben Aufschluss über ihren Zustand, den Befunden entsprechend werden weitere Arbeiten durchgeführt. Letztendlich ist die kontinuierliche Sicherung der Stollen eine Aufgabe im Dienste aller.

Exklusiv für dieses Buch, vor allem um diese unterirdische Welt auch einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, hat uns die BIG dankenswerterweise die Tore zu diesen Stollenanlagen geöffnet; es wurde uns so möglich, an Hand exemplarischer Beispiele in Wort und Bild dieses bewegende Kapitel Zeitgeschichte, das lange Zeit verdrängt und totgeschwiegen wurde, zu dokumentieren. Wir besuchen die Schauplätze und schildern dunkle Anderswelten, in denen einst Angst und Verzweiflung regierten, aber auch die Hoffnung auf ein Überleben. Wir sprechen mit Zeitzeugen und präsentieren überraschende Funde aus den Stollen, die in ihrer Unmittelbarkeit das dramatische Geschehen von einst eindringlich vor Augen führen. Und wir stellen uns schließlich auch der Frage der Nachnutzung der Stollen und ihrer Bedeutung heute: von neu geschaffenen Lebensräumen für Fledermäuse bis zur Gestaltung als Museums-, Gedächtnis- und Erinnerungsort.

Robert Bouchal · Johannes Sachslehner
Herbst 2013

Chaos im unterirdischen Labyrinth von St. Georgen an der Gusen.

I. Kapitel:
Das unterirdische Erbe

Die Stollenanlagen der NS-Zeit sind außergewöhnliche Objekte. „Nutzlose Immobilien“, die keine Rendite bringen, ja, Geld verschlingen, „kostenintensive Löcher“. Unsichtbare Räume unter den Straßen der Städte, dunkle Röhren, einst kompromisslos vorgetrieben in den Fels der Berge und die Sande der Hügel. Nicht sichtbar, aber doch gegenwärtig, lost places der Nazi-Diktatur, eng verwoben mit der Landschaft, vielfach nur wenigen Eingeweihten bekannt. Architektur der Angst bar jeder Annehmlichkeit und des Gefühls von Geborgenheit, reduziert auf ihre Schutz- und Versteckfunktion, unterirdische Landschaften, die uns von der Zeit des „totalen Krieges“ erzählen, von einer Welt, die kaum mehr bewohnbar war, in der es notwendig wurde, sich zu verkriechen, um zu leben, in der das Abnormale zur Normalität wurde.

Was der französische Philosoph Paul Virilio in seiner Bunkerarchäologie für die gigantischen Bunkerbauten des „Westwalls“ konstatierte, gilt auch für die Stollen: Sie künden von „der großen Verschmelzung des Militärischen und des Zivilen“, die für die Endphase des Zweiten Weltkrieges so typisch wurde; sie sind „Spiegelbild der Kriegsindustrie“ und unsrer eigenen „Todesmacht“ und Destruktivität. Die „Kriegsmaschine“, sagt Paul Virilio“ mit Bezug auf die Bunkerbauten, ist der „Archetyp der industriellen Maschinen“, nirgendwo sonst manifestiere sich der „prometheische Wille so machtvoll wie hier“ – eine Feststellung, die auch für die NS-Stollenanlagen gilt: Sie sind geblieben als stumme Zeugnisse ungeheurer Versuche, unter den Bedingungen des Krieges Gegenwelten zu schaffen, in denen die natürlichen Bedingungen des Lebens in gewisser Weise überschritten werden: Hier gibt es weder Tag noch Nacht und hier hat das „unheilvolle Zauberspiel“ der Bombardements seine Macht verloren. Neben der Hoffnung existieren hier aber auch nackte Brutalität, Terror und Tod. Die SS-Leute wissen es und nützen dies mit kaltem Zynismus: Allein das Wort „Stollen“ löst bei vielen KZ-Häftlingen Angst und Schrecken aus; der Stollen wird zum Synonym für die Hölle schlechthin.

Ja, wer durch diese dunklen unterirdischen Gänge streift, gedacht einst als „Überlebensmaschinen“ (Paul Virilio) und letzte Rückzugsorte für wahnwitzige Rüstungsanstrengungen, wer innehält in der modrigfeuchten Stille, erhält tatsächlich so manche Antwort, mag etwas erspüren von der Verlorenheit und der Verzweiflung, die jene Menschen erfüllte, die hier Zuflucht vor den Bomben suchten, die hier unter den Peitschen und Tritten der Kapos für die „Wunderwaffen“ der Nazis schufteten.

Es ist wohl kein Zufall, dass die österreichische Gesellschaft lange Zeit die Begegnung mit diesen Orten scheute und selbst die Republik absolut nichts mit ihnen zu tun haben wollte – man ging dem Blick in den Spiegel, von dem Paul Virilio spricht, aus dem Weg, weil er schmerzhaft gewesen wäre. Er hätte sich nicht vertragen mit der Lüge, auf der man den neuen Staat erbaute: Der Blick auf die Stollen erinnert daran, dass Österreich keinesfalls hilfloses „Opfer“ des NS-Regimes war, sondern dessen Anhänger die Herrschaft des „Führers“ herbeisehnten und herbeibombten, die Aufnahme ins „Tausendjährige Reich“ begeistert feierten und im Gefolge der neuen Herren zu skrupellosen Mördern und Henkern wurden. Die NS-Stollenanlagen sind zu Mahnmalen dieser unbequemen Wahrheit geworden. Als Relikte des Dritten Reiches zeugen sie in Stein und Beton vom tödlichen Zynismus, mit dem die NS-Führung ihre pervertierte Ideologie bis in den Untergang verfolgte. Es waren Schicksalsorte für Zehntausende von Menschen, getränkt von Schweiß, Blut und Tränen, und sind heute zweifellos Orte der Erinnerung geworden, Plätze, die dazu beitragen können, dass sich aus dem beinahe instinktiven Impuls vieler Österreicherinnen und Österreicher zum „Nicht-Wissen“ (Wolfgang Sofsky) über die Nazi-Vergangenheit doch die Bereitschaft zum „Wissen“ herauskristallisiert. Denn das Wissen um jene ungeheuren Verbrechen ist eine Voraussetzung dafür, dass wir sie in Zukunft vermeiden können. So mag so manch Unsichtbares zu Sichtbarem werden, so manch Dunkles in das helle Licht des Nachforschens und Nacherzählens treten.

Stein und Beton zeugen vom tödlichen Zynismus des NS-Regimes: der Grillstollen in Hallein.

Ein kriminalistisches Lehrstück

Beginnen wir unsere Reise im Jahre 1945, der angeblichen „Stunde null“: Mit der Befreiung des Landes durch alliierte Truppen endet die Arbeit an den Stollen, Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge ziehen ab, unterirdische Montagestrecken werden von Amerikanern und Russen demontiert, Luftschutzräume nicht mehr genutzt. Unmittelbar nach Kriegsende zeigt die wiedererstandene Republik noch ein gewisses Interesse an den zahlreichen NS-Stollenanlagen. Noch ist die Erinnerung an das Grauen der Bombennächte frisch und an den ungeheuren Einsatz, mit dem die Nazis bis zum Untergang an diesen Flucht- und Gegenwelten arbeiten ließen. Und es geht immerhin um „Vermögenssicherung“ und um die Frage des „Deutschen Eigentums“. So sieht sich der Bund als Verwalter der Stollen, der im Rahmen von Mietverträgen Rechtstitel für Nutzungen durch Private vergibt, etwa für die Lagerung bestimmter Güter oder das Züchten von Champignons. Dringend notwendige erste Sicherungsmaßnahmen werden daher aus Bundesmitteln finanziert; die Aufwendungen sind zum Teil beträchtlich, so dokumentiert ein Schreiben des Tiroler Landesbauamtes an die Bundesgebäudeverwaltung vom 7. Juli 1948, dass allein die Kosten für „Baumaßnahmen an Luftschutzstollen und Stolleneinbrüchen“ im Raum Innsbruck für den Zeitraum Mai 1945 bis Ende Juni 1948 584.000 Schilling betragen haben.

Stand noch lange nach Kriegsende offen: der Bahnstolleneingang Nr. 5 zu „Bergkristall“.

Aufnahme um 1970, Archiv Heimatverein St. Georgen an der Gusen.

Das ändert sich 1948 grundsätzlich, ja, es erfolgt geradezu ein Paradigmenwechsel in der Behandlung der Stollenfrage: Nun stellt sich die Bundesverwaltung auf den Standpunkt, dass sie für den Zustand der Stollen keinerlei Verantwortung trage, da auch keine Rechtsnachfolge vorliege. Die spitzfindige Begründung: Bei den Stollenbauten habe es sich um „hoheitliche Eingriffe“ des Dritten Reiches gehandelt, mit dem Untergang dieses Staates seien auch die entsprechenden Rechtstitel erloschen. Und für jene Luftschutzbauten, die von Gemeinden oder Betrieben errichtet worden seien, käme eine Rechtsnachfolge sowieso nicht in Frage.

Die neue Formel lautet: Der Bund ist nicht Eigentümer der Stollen, er trägt daher keine Verantwortung für sie und kann daher auch keine Kosten für Sanierung und Sicherung übernehmen. Eine Stellungnahme des Bundesministeriums für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung vom 5. Jänner 1949, erhalten im Tiroler Landesarchiv (ATLR IX d 3591  13), lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: „Die Kosten der Erhaltung bzw. Wiederherstellung der Stollen treffen den Eigentümer. Weder das ho. Bundesministerium noch irgendeine andere österreichische Stelle ist verpflichtet, für Luftschutzstollen Aufwendungen zu machen. Mittel sind nicht vorgesehen.“ Mit dieser Antwort wird die Bitte eines Oberliegers um Sicherung eines unter seinem Grund befindlichen Stollens einfach vom Tisch gefegt.

Bleibt die Frage: Wer ist tatsächlich Eigentümer und wer muss daher zahlen?

Die Gemeinden? Die Kommunen weisen die Argumentation des Bundes mit leichter Hand zurück: Sie hätten nur die Bauführung im Auftrag des Dritten Reiches geleitet, Bauherr sei daher der NS-Staat gewesen, von einer Rechtsnachfolge könne keine Rede sein. Private Liegenschaftseigentümer? Auch sie gehen meist davon aus, dass sie für den Zustand des Stollens auf ihrem Grundstück keine Verantwortung zu tragen hätten. Bei etwaigen Problemen, wie z. B. Stolleneinbrüchen, versuchen sie diese an den Bund oder die Gemeinde zu delegieren. Das Argument: Das Grundstück sei zwar ihr Eigentum, nicht aber der Stollen darunter.

Betrachten wir dazu den Punkt „Rechtsnachfolge“ genauer: Unumstritten ist, dass das Dritte Reich der Bauherr der öffentlichen Luftschutzanlagen, aber auch der für Rüstungsbetriebe vorgesehenen Stollenanlagen war. Die Entscheidung über den Bau eines Luftschutzstollens wurde vom jeweils zuständigen „Luftgaukommando“ gefällt; das Dritte Reich finanzierte die Errichtung des Stollens und wurde zu seinem Eigentümer. Die Gemeinden sorgten vielfach für die Abwicklung: Das zuständige Bauamt projektierte die Anlage, schloss Verträge mit den Baufirmen ab und überwachte die Durchführung der Arbeiten – bezahlt wurden die Rechnungen der Firmen jedoch vom Reich, und zwar über die „Polizeikasse“, das heißt, der zuständige Polizeipräsident – er war zugleich der „Luftschutzleiter“ eines „Luftschutzortes“ – prüfte die eingehenden Forderungen und sorgte aus dem Etat der „Kriegsausgabemittel“ für die Überweisungen. Kommunale Dienststellen waren tatsächlich nur ausführende Organe. Kurios ist ein Fall aus Innsbruck: Beim Bau des Stipplerstollens (Höttinger Au – Schererschlössl, T002), einer Anlage, die immerhin 1.250 Menschen Schutz bieten sollte, speiste man die ausführende Baufirma mit einem bloßen Versprechen ab: „Bezahlung erfolgt nach dem Endsieg!“

Eine wichtige gesetzliche Grundlage für die Errichtung von Luftschutzanlagen bildete das sogenannte „Reichsleistungsgesetz“ aus dem Jahre 1939, das es im § 10 erlaubte, dass „Grundstücke und Gebäude betreten oder sonst benutzt werden“, falls es die Bekämpfung eines „Notstandes“ verlangte. Der Grundeigentümer musste also dulden, dass auf seinem Grundstück gearbeitet wurde, dass Geräte, Vorrichtungen und Anlagen angebracht oder Aushub- und Baumaterial gelagert wurden. All dies bedeutete jedoch nicht Enteignung, die nach einer Sonderregelung des Luftschutzgesetzes nur in besonderen Fällen notwendig wurde. Leistungen dieser Art – die Inanspruchnahme eines oder mehrerer fremder Grundstücke – konnten von allen staatlichen Stellen, aber auch von der Wehrmacht und der SS verlangt werden. Das Reichsleistungsgesetz definierte also eine Art von staatlichem „Nutzungsrecht“ für private Liegenschaften.

Stollen sind nun, wie jedoch erstmals der Oberste Gerichtshof in einer Erkenntnis vom 22. März 1993, der sogenannten „ersten Grillstollenentscheidung“, ausspricht, zweifellos „Bauwerke“: Sie werden unter dem Einsatz von Arbeit und unter Verwendung von Materialien hergestellt. Das Gesetz, in diesem Fall das ABGB, § 435, definiert sie aber als ganz besondere Bauwerke: Es seien sogenannte „Superädifikate“, also „Bauwerke, die auf fremdem Grund in der Absicht aufgeführt sind, dass sie nicht stets darauf bleiben sollen“, ob nun ober- oder unterirdisch, tut dabei nichts zur Sache. Die Beschränkung des Grundnutzungsrechtes, so die Meinung der Juristen, sei mit dem Ende der „Luftkriegsgefährdung“ gegeben, damit liege eindeutig der „mangelnde Belassungswille“ vor. Das gelte sowohl für Stollenanlagen zum Schutz der Öffentlichkeit als auch für unterirdische Komplexe, die im Hinblick auf Rüstungsprojekte errichtet worden seien.

Mit 8. Mai 1945 traten nun gemäß Kundmachung der Provisorischen Staatsregierung (StGBl 1945/​52) alle Gesetze und Verordnungen des Dritten Reiches zum Luftschutz außer Kraft. Für die Stollenanlagen bedeutete dies, dass sie nun ihrem Charakter nach nicht mehr Luftschutzstollen waren, sondern Bauwerke, die an diesem 8. Mai 1945 zum Finanzvermögen des Dritten Reiches zählten; die „Nutzungskategorie“ Luftschutz existierte ja nicht mehr. Noch aber war Österreich völkerrechtlich kein freies Land und besaß daher auch kein Eigentumsrecht an den Stollen: Für die alliierten Siegermächte waren die unterirdischen Anlagen Teil der „Deutschen Vermögenswerte“ bzw. „Deutsches Eigentum“, das grundsätzlich, wie im Zweiten Kontrollabkommen vom 28. Juni 1946 festgelegt, von der jeweiligen Besatzungsmacht für sich beansprucht werden konnte. Erst der Österreichische Staatsvertrag, unterzeichnet am 15. Mai 1955, brachte dann die entscheidende Änderung: Im Artikel 22, Absatz 6 und Absatz 1, verzichteten die Alliierten auf das „Deutsche Eigentum“ in Österreich und übertrugen die diesbezüglichen Vermögensrechte auf die Republik Österreich, präziser gesagt auf den Bund, da die Republik als völkerrechtliches Subjekt keine Privatrechtssubjektivität besitzt.

Folge dieses Übergangs war, dass nun die Sorgfaltspflicht beim Bund lag, er haftete gemäß § 1319 ABGB für etwaige Schäden, verursacht z. B. durch den Einsturz eines Stollens (die sogenannte Gebäudehalterhaftung). Der betreffende Passus des Schadenersatzrechtes: „Wird durch Einsturz oder Ablösung von Teilen eines Gebäudes oder eines anderen auf einem Grundstück aufgeführten Werkes jemand verletzt oder sonst ein Schaden verursacht, so ist der Besitzer des Gebäudes oder Werkes zum Ersatze verpflichtet, wenn die Ereignung die Folge der mangelhaften Beschaffenheit des Werkes ist und er nicht beweist, dass er alle zur Abwendung der Gefahr erforderliche Sorgfalt angewendet habe.“ Die Beweislast liegt also beim Besitzer – er muss beweisen, dass die gebotene Sorgfaltspflicht nicht verletzt worden ist. Im Falle der Stollenanlagen kann dieser Beweis nur in folgende zwei Richtungen gehen: Die Gefahr war nicht abzusehen oder sie wäre auch durch zumutbare Maßnahmen der Gefahrenabwehr nicht zu verhindern gewesen.

Tatsächlich war es so, dass sich der Bund auch nach 1955 über Jahrzehnte hinweg nicht um die Stollen kümmerte, konnte doch niemand ahnen, dass sie der Oberste Gerichtshof knapp vier Jahrzehnte später als ehemaliges „Deutsches Eigentum“ qualifizieren würde. Den ersten Anstoß für eine völlig neue Regelung des „Stollenproblems“ gab eine für den Bund richtungweisende Entscheidung des Obersten Gerichtshofs vom 24. November 1997 zur Rechtslage beim sogenannten „Grill-Stollen“ in Hallein, der 1944 im Auftrag und auf Rechnung der Organisation Todt von der Eugen Grill Werke GmbH errichtet worden war. Nach Kriegsende wurde das Stollensystem zunächst von den Alliierten genutzt und in weiterer Folge auf Grund sicherheitspolizeilicher Anordnung von der Gemeinde Hallein zugemauert. Ein privater Kläger, unter dessen Grundstück sich das Stollensystem befindet, hatte im „ersten Grillstollenprozess“ die Gemeinde Hallein noch auf Feststellung seines Eigentums am Stollen geklagt. Nachdem ihm jedoch der Oberste Gerichtshof im Rahmen der „ersten Grillstollenentscheidung“ 1993 beschieden hatte, dass weder die Gemeinde Hallein noch er, sondern in Wahrheit der Bund Eigentümer des Stollens ist, hatte er nun die Republik auf „Wiederherstellung des Zustandes der Liegenschaft vor Errichtung des Grill-Stollens“ geklagt; der OGH stellte ausdrücklich fest, dass dieser Stollenbau als „sonderrechtsfähiges unterirdisches Bauwerk zu qualifizieren“ sei, „an welchem das Deutsche Reich durch die Bauführung originär Eigentum erworben hat, das im Wege der Einzelrechtsnachfolge (Art. 22 des Staatsvertrages von Wien und § 3 des 1. Staatsvertragsdurchführungsgesetzes) auf die Republik übergegangen ist, ohne dass hiezu die bei derivativem Eigentumserwerb erforderliche Urkundenhinterlegung notwendig gewesen wäre“ (OGH 24. 11. 1997, 6 Ob 2164/​96w). Pikanterie am Rande: Der OGH spricht weiter aus, dass „das hier zu Zwecken des Luftschutzes eines Rüstungsindustriebetriebes während des Krieges begründete Benützungsrecht der Liegenschaft des Klägers mit der Beendigung des Krieges als erloschen anzusehen“ ist. Damit ist der Bund zwar Eigentümer der Stollen und hat die Haftung dafür, gleichzeitig aber kein Benützungsrecht an den Stollen mehr (zumindest solange er sich nicht mit dem Grundeigentümer neu darüber einigt …)

Die Schlagzeile der „Tiroler Tageszeitung“ bringt es auf den Punkt: Die Stollen aus der Kriegszeit sind Eigentum der Republik.

Gab den Anstoß für die wegweisende Entscheidung des Obersten Gerichtshofs: der Grillstollen in Hallein.

Im Bild die Reste der Installationen.

Ein Urteil also, das in der Bundesgebäudeverwaltung und dem Wirtschaftsministerium erstmals die Alarmglocken schrillen ließ.

Der zweite Anstoß ließ prompt nicht lange auf sich warten – er erfolgte 1998 durch die Stadt Innsbruck. Da durch einsturzgefährdete Luftschutzstollen bereits unmittelbare Gefahr drohte und auch hier umstritten war, wer für die Sicherungsarbeiten aufkommen müsse, gab sie beim Innsbrucker Juristen Konrad Arnold ein Rechtsgutachten in Auftrag, das dieser am 1 . Juni 1999 gemeinsam mit Vizebürgermeister Norbert Wimmer und Baupolizei-Chef Theodor Greiner, dem Koordinator der Stollenuntersuchungen in der Tiroler Hauptstadt, der Öffentlichkeit präsentierte. Arnolds exakte, 140 Seiten umfassende Ausführungen, von Wimmer aufgrund der aufwändigen Faktensuche als „kriminalistisches Lehrstück“ gewürdigt, beseitigten alle Zweifel: Die Innsbrucker Stollen waren am 8. Mai 1945 „Deutsches Eigentum“ gewesen; die Eigentümerschaft der Republik war unbestreitbar. Am nächsten Tag titelte die Tiroler Tageszeitung: „Luftschutzstollen gehören dem Bund“, und verwies darauf, dass diese Erkenntnis keinen Tag zu früh komme, auf der Hungerburg sei soeben wieder ein Stollen eingestürzt, insgesamt sei es in den vergangenen zwei Monaten zu fünf Stolleneinbrüchen gekommen. Vizebürgermeister Wimmer, so erfahren die Leser, habe versprochen, „unverzüglich“ mit dem Bund Verhandlungen aufzunehmen.

Wir haben etwas, was wir nicht wollen

Aufgrund des Drucks aus Innsbruck musste der Bund nun handeln, und zwar schnell, drohten doch weitere Sicherungs- und Haftungsprobleme. In der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage bestätigte Bundeskanzler Viktor Klima, dass die Innsbrucker Stollen im „Eigentum des Bundes stehende Bauten“ seien; eine rasche bundesweite Lösung im Rahmen der angestrebten strukturellen Maßnahmen zur Neuorganisierung der Bau- und Liegenschaftsverwaltung des Bundes wurde gesucht. „Wir haben etwas, was wir nicht wollen“, hieß es – doch wem geben? Das Bundeskanzleramt spielte den Ball ans Wirtschaftsministerium weiter und für die zuständigen Beamten am Wiener Stubenring kam eigentlich nur ein Weg in Frage: Auch die Stollenanlagen mussten in das geplante „Bundesimmobiliengesetz“ des Jahres 2000 integriert werden. Dieses sah den Verkauf beinahe aller bis zu diesem Zeitpunkt im Wirtschaftsministerium verwalteten Immobilien an die Bundesimmobiliengesellschaft (BIG) vor. Doch für eine geordnete Weitergabe der unterirdischen NS-Bauten fehlten zuverlässige Unterlagen – hektische Aktivitäten waren die Folge; eine eigene Stollen-Arbeitsgruppe wurde gegründet. Zur wichtigen Arbeitsgrundlage wurde eine Liste aus dem Jahre 1959, die 560 Luftschutzobjekte aus dem Zweiten Weltkrieg verzeichnete, darunter allerdings auch oberirdische Bauten wie Deckungs- und Splittergräben oder Ein-Mann-Bunker. In fieberhafter Eile, gestützt auf die Auskünfte der einzelnen Bezirkshauptmannschaften und Gemeinden sowie auf Grundbuchsrecherchen und Nachforschungen vor Ort durch die – damals noch existierenden – regionalen Bundesgebäudeverwaltungen, galt es jetzt, die in Frage kommenden Objekte herauszufiltern; das wesentliche Kriterium: Die Rechtsüberleitung von „Deutschem Eigentum“ 1945 zum Eigentum des Bundes sollte nachvollziehbar und gewährleistet sein. Bei allen diesen „unverbücherten“ Stollenobjekten würde der „Eigentumsübergang“ laut Bundesimmobiliengesetz ausdrücklich unter der „Rechtsvermutung, dass der Bund zum Übertragungszeitpunkt Eigentümer war“, erfolgen – eine kleine Hintertür für möglicherweise anders gelagerte Einzelfälle: Sollte jemand beweisen können, dass ein Stollen sein Eigentum – z. B. durch „Ersitzung“ – wäre, müsste die BIG diesen Stollen herausgeben. Ein Befahren und Erkunden der Stollenanlagen war in dieser kurzen Zeit – die Liste musste bis zum November 2000 stehen – ausgeschlossen, auch konnte aus Zeitgründen der historische Hintergrund nicht näher erforscht werden, in manchen Fällen hatte man nicht einmal eine zutreffende Adresse. Hellhörig wurde man nur bei einem Hinweis: Gefahr im Verzug!

Doppelriegeltür in einem Linzer Luftschutzkeller.

Die BIG, ein Mann und 290 Stollen

Am 4. Dezember 2000 passierte das „Bundesimmobiliengesetz“ mit den Stimmen der Koalitionspartner ÖVP und FPÖ das Parlament. Wirtschaftsminister Martin Bartenstein sprach euphorisch von einem „Stück mehr Markt und Kostenwahrheit“, SPÖ-Wohnbausprecherin Doris Bures kritisierte es als „bestenfalls halbherzige Reform“ und Gabriele Moser von den Grünen befürchtete weitere Privatisierungsschritte.

Beschlossen hatten die Abgeordneten ein 2,4 Milliarden Euro schweres Paket, das die bereits 1992 gegründete, bisher jedoch nur mit Fruchtgenussrechten ausgestattete Bundesimmobiliengesellschaft (BIG) zu einem wahren Immobilienriesen, dem größten Immobilieneigentümer Österreichs, wachsen ließ: Etwa 5.000 Häuser und Grundstücke, Büro- und Amtsgebäude, Schulen, Universitäten, Wohnungen und „Spezialimmobilien“ wie Kirchen, Schlösser oder eben Stollen wechselten aus dem Eigentum der Republik in jenes der BIG. Abgewickelt wurde das Geschäft in vier Tranchen, finanziert über die Begebung von Anleihen am internationalen Kapitalmarkt. Das Ziel: eine marktorientierte, erfolgreiche Bewirtschaftung dieser Immobilien, die sowohl den Verkauf nicht mehr benötigter Liegenschaften als auch die Neuerrichtung von Bundesgebäuden vorsieht, vor allem von Schulen, Universitäten und Bürogebäuden – „Raum für die Zukunft“ ist die ambitionierte Devise.

Um diese Vorgänge weiß auch BIG-Mitarbeiter Karl Lehner bestens Bescheid, als er am 8. Jänner 2001 in sein Büro in der Neulinggasse 29 im 3. Wiener Gemeindebezirk kommt. Es ist Montag, der Weihnachtsurlaub ist vorbei und der erfahrene Techniker und „Hochbauer“ ist gespannt, was da Neues auf ihn zukommt. Die Unterlagen liegen bereits auf seinem Schreibtisch – eine 35 A4-Seiten umfassende Liste mit der harmlosen Ziffer „A.1.2“ –, die Liste der Stollenanlagen, die mit Stichtag 1. Jänner 2001 als Superädifikate ins Eigentum der BIG wechselten: 290 Objekte, fein säuberlich nach Bundesländern aufgelistet, das Danaergeschenk der Kollegen aus dem Wirtschaftsministerium. Karl Lehner traut seinen Augen nicht: Von Stollen war in den Gesprächen vor Weihnachten nie die Rede gewesen, die Überraschung ist groß. Was nun? Karl Lehner, seit 1971 in der Bundesbaudirektion Wien und seit 1996 in der BIG tätig, ist klassischer „Hochbauer“, sein Spezialgebiet die Instandhaltung von Bauwerken. Und er ist ein Einzelkämpfer, der sich plötzlich 290 Stollen gegenübersieht – mysteriösen unterirdischen Objekten, die, er ahnt es noch nicht, sein Berufsleben in den nächsten zehn Jahren bestimmen werden.

Karl Lehner, Leiter, gleichzeitig aber auch einziger Mitarbeiter der „Abteilung Stollen“ in der BIG, beginnt die Liste zu studieren. Auf den ersten Blick bietet sich ihm eine bunte Palette quer über Österreich: vom Luftschutzstollen in der Mizzi-Langer-Wand in Wien-Rodaun bis zum Stollen unter dem Kloster Riedenburg in Bregenz, von einer Stollenanlage in Neusiedl/​Zaya bis zum Luftschutzraum unter der Klosterruine Arnoldstein. Es ist eine faszinierende Mischung: vom klassischen Luftschutzbau zum alten Bergwerksstollen, von der ehemaligen unterirdischen Waffenschmiede bis zum Bunker. Unter dieser großen Anzahl von Stollenanlagen befinden sich auch einige, die eindeutig nicht im Besitz des Bundes sind, wie z. B. der bei Roggendorf in der Nähe von Melk für das NS-Geheimprojekt „Quarz“ errichtete unterirdische Komplex oder der in privater Hand befindliche Wilhelm-Erb-Stollen in Schwaz.

Noch verbindet BIG-Underground-Chef Karl Lehner mit den vorliegenden dürren Daten keine konkreten Bilder und Vorstellungen, ja, die tatsächliche Dimension des Problems ist unklar, denn es fehlt an wichtigen Basis-Informationen: Wo befinden sich die Eingänge zu diesen Anlagen? Wer sind die Ansprechpartner, gibt es überhaupt welche? Und vor allem bewegt eine Frage: Wie ist der Erhaltungszustand dieser Anlagen und was gilt es zu tun? Wo ist bereits Feuer am Dach? Auch er weiß, dass nach dem Grubenunglück von Lassing am 17. Juli 1998 die Welt des österreichischen Bergwesens eine andere geworden ist. Eine neue Sensibilität hat Einzug gehalten: genauere Dokumentation, exakte Information sind notwendig geworden, vor allem aber eine zuverlässige Einschätzung des Sicherheitsrisikos – die Oberlieger wollen ruhig schlafen können.

Stollen in der Mizzi-Langer-Wand in Wien-Rodaun.

Erbaut für das Geheimprojekt „Quarz“: der Stollenkomplex bei Loosdorf.

Angesichts der gewaltigen Immobilienfülle, die es zu bewirtschaften gilt, sind die Stollen für die BIG zwangsläufig nur ein Randthema – allerdings eines, wie sich rasch zeigen wird, mit Potenzial für Ärger und hohe Kosten. Für Karl Lehner, den „Ein-Mann-Betrieb Stollen“, beginnt mit dem Jahreswechsel 2000/​2001 jedoch vorerst ein Abenteuer, eine Entdeckungsreise in unterirdische Welten, von deren Vielfalt und Ausdehnung, von deren dramatischer Geschichte und schicksalsschwerer Bedeutung für Zehntausende von Menschen er an diesem Anfangspunkt noch kaum etwas ahnt. Das Auffallende an der wie erwähnt in aller Eile erstellten Liste ist, dass sie gleichsam klinisch frei von Begleitinformation ist – da gibt es keinerlei Hinweise auf die historische Bedeutung einer Stollenanlage, ihr Status im Rahmen der NS-Luftschutzbauten bzw. der Rüstungsindustrie verbirgt sich hinter nüchternen Grundstücksnummern und Einlagezahlen und selbst diese sind nicht immer verlässlich: Da sind inzwischen Grundstücke zusammengelegt oder geteilt worden, Änderungen bei den Katastralgemeinden nicht berücksichtigt. Nicht selten wird daher die bloße Lokalisierung eines Stollens zur Herausforderung für das detektivische Gespür von Projektleiter Karl Lehner und seinen Helfern. Die Stollen sind wie erwähnt für ihn absolutes Neuland – ein Aufgabenbereich, der ihn nun auch unter Tag beschäftigen wird. Einer der ersten Schritte: sich vertraut machen mit dem traditionellen Wortschatz des Bergbaus. So nennt sich der Eingang zu einem Stollen „Mundloch“, die unterirdischen Röhren werden nicht gegraben, sondern „aufgefahren“, man begeht Stollen auch nicht, sondern „befährt“ sie, und wenn man am Ende eines Stollens angekommen ist, steht man vor seiner „Ortsbrust“; man blickt nicht zur Decke, sondern zur „Firste“; die Stollenwand nennt sich gar „Ulme“; „Überlagerung“ bezeichnet die Stärke des Gebirges über dem Stollen. Karl Lehner lernt schnell, bald ist er mit diesem Vokabular auf Du und Du.

Kein Spielraum für Interpretationen

In diesem Schwebezustand der Unklarheiten tut sich wenige Wochen später Entscheidendes: Die Unterlagen zu den Stollen – aus dem Wirtschaftsministerium ist dazu ein ansehnlicher Akt, u. a. auch mit den OGH-Urteilen, eingetroffen – stapeln sich auf den Schreibtischen der BIG-Rechtsabteilung. Nach erster Durchsicht wird rasch klar: Hier gilt es in der Sekunde zu handeln! An den beiden zum Stollenthema vorliegenden OGH-Entscheidungen werde man nicht rütteln können, um das enorme Haftungsrisiko zu senken, müsse man sofort alles tun, was das Gefahrenpotential verringern könne. Fix ist: Die Stollen sind nicht mehr im Eigentum des Bundes, die Sorgfaltspflicht als Eigentümer, das ist jetzt allen schmerzhaft klar bewusst, liegt von nun an bei der BIG, sie muss von nun an auch für die Kosten allfälliger Sicherungsmaßnahmen aufkommen. Auch tritt die BIG mit der Übernahme der Eigentümerschaft an den Stollen in die „Rechtsverhältnisse des Bundes mit Dritten“ ein, sie übernimmt also allfällige bestehende Pflichten des Bundes; nur für eventuell vor der Eigentumsübertragung angefallene Schadenersatzansprüche haften der Bund und die BIG als „Solidarschuldner“ gemeinsam.

Martin Hübner, damals verantwortlicher Jurist in der BIG: „Wir erkannten, dass es nicht den geringsten Spielraum für Interpretationen gab!“ Sensibilisiert durch Lassing und die Situation in Innsbruck, hörte man gleichsam die Zeitbombe ticken.

Erste Aufgabe: Es muss so schnell wie möglich jemand gefunden werden, der in der Lage ist, den Fragenkatalog für die dringend zu erstellenden Erstgutachten betreffend den Zustand der Stollenanlagen zu formulieren, und der dann auch noch die darauf basierenden „Über-Gutachten“ zur Bewertung des daraus entspringenden Gefahrenpotenzials erstellen kann.

Eine große Sitzung mit Berg- und Tiefbau-Fachleuten aus ganz Österreich wird anberaumt, allmählich beginnt sich eine mögliche Vorgangsweise abzuzeichnen und es wird vor allem der Mann gefunden, der die Probleme kompetent zu formulieren weiß: Der Geologe Leopold Weber von der Montanbehörde wird nach ersten Gesprächen zum Generalkonsulenten bestellt und im Mai 2001 beauftragt, die Stollen zu befahren und geologisch-geotechnische Gutachten zum Grad der Gefährdung vorzulegen. Weber, ein international anerkannter Bergbaufachmann, der Letzte, der am 17. Juli 1998 die Grube von Lassing vor der Katastrophe noch lebend verlassen konnte, kommt durch Vermittlung von Gerhard Peintinger im Wirtschaftsministerium zur BIG. Der gebürtige Wiener, Jahrgang 1948, hat 1974 mit einer Arbeit über Das Alter der Sideritvererzung im Westteil der Gollrader Bucht promoviert, ist von 1973 bis 1979 Assistent an der Universität Wien und wird danach Geologe bei der Obersten Bergbehörde im Ministerium für Handel, Gewerbe und Industrie. 1986 übernimmt er hier die Leitung der Abteilung Geowissenschaften und Geotechnik (heute Abteilung Rohstoffe). Mit einem Gutachten für die Finanzprokuratur über den Zustand der Innsbrucker Stollen sowie mit einer zweiten Expertise für die Bundesgebäudeverwaltung Salzburg betreffend den oben erwähnten Grill-Stollen in Hallein hat er sich als kenntnisreicher Spezialist für Stollenfragen einen Namen gemacht; mit Elan stürzt er sich auf die neue Aufgabe – auch für ihn eine absolute Herausforderung. Um die Situation von damals zu vergegenwärtigen, bringt Leopold Weber heute einen drastischen Vergleich: Man habe sich in Frühjahr und Sommer 2001 im Stollen-Team der BIG wie nach einem Flugzeugabsturz gefühlt. Überall sieht man sich mit zahlreichen Verletzten konfrontiert, weiß aber nicht um den Grad der Verletzung, sprich das Ausmaß des Sicherheitsrisikos. Denn Stollen ist nicht gleich Stollen: Jedes Stollensystem, so erklärt uns der erfahrene Bergmann, hat seine eigene Dynamik, seine ganz spezielle Charakteristik. Vor allem ist es der Zweck, der das Erscheinungsbild des Stollens geprägt hat: Er bestimmt die Höhe eines Vortriebs, die Art des Ausbaus mit Holz oder Beton. Als Tunnel gelten übrigens Röhren mit einem Querschnitt größer als 20 Quadratmeter, alles, was Querschnitte kleiner als 20 Quadratmeter aufweist, wird zu Recht als „Stollen“ bezeichnet. Und Leopold Weber findet wohl auch das richtige Wort, wenn es um die Art des Zugangs zu einem dieser lost places geht: Er spricht von „respektvoller“ Sicherung der Stollenanlagen.

„Lost place“ in der Unterwelt von Klagenfurt: der Miklinstollen.

In einem ersten Schritt erarbeitet er daher zunächst ein standardisiertes „Pflichtenheft“ für das anstehende Evaluierungsverfahren, das im Juni 2001 vorliegt. Darin entwickelt er insgesamt vier Kategorien zur „Prioritätenreihung“ des Gefährdungsgrades:

Priorität 1: „Die Stollenröhre ist ungenügend oder nicht gesichert, das Gebirge ist nicht standfest. Sicherungsarbeiten sind notwendig. (…) Auf Grund der individuellen Befundung ist Gefahr in Verzug nicht auszuschließen.“

Priorität 2: Stollenzustand wie bei Priorität 1, aufgrund der „individuellen Befundung des Stollensystems ist Gefahr in Verzug jedoch nicht gegeben“.

Priorität 3: „Das Gebirge ist ausreichend standfest oder durch Ausbau dauerhaft gesichert. Sicherungsarbeiten sind nur in geringem Umfang oder gar nicht notwendig. Regelmäßige (z. B. jährliche) Kontrollbefahrungen sind jedoch notwendig.“

Priorität 4: „Nicht überbaute Stollenobjekte, keine Nutzung der Geländeoberfläche, standfestes Gebirge. Mit Ausnahme der (allfälligen) Anbringung von Absperrgittern oder Gittertüren oder einer anderen geeigneten Mundlochsicherung sind keine weiteren Sicherungsarbeiten notwendig. Ausschluss von Tagbrüchen, keine erkennbaren Gefahren, keine weiteren Kontrollbefahrungen notwendig.“

„Sicherungsbedürftig“ sind, so Webers klares Resümee, „jene Stollen- oder Streckenabschnitte von Stollenobjekten“, die „mit Priorität 1 oder Priorität 2 behaftet sind“.

Aufgrund der Vielzahl der Stollenanlagen kommt man im Juli 2001 mit Leopold Weber überein, insgesamt sechs Sachverständige für diese „systematisierte Erstevaluierung“ zu benennen – zusammengefasst in Bundesländergruppen und ausgestattet mit entsprechenden Vollmachten der BIG, übernehmen diese Aufgabe sechs Zivilingenieure, allesamt Absolventen des Instituts für Markscheidewesen, Bergschadenkunde und Geophysik der Montanuniversität Leoben. Die Erhebungsergebnisse der sechs Fachleute werden, so der Plan, durch abschließende gutachterliche Stellungnahmen von Leopold Weber ergänzt, der darin auch die jeweilige Priorität benennt und eventuelle Sicherungsmaßnahmen