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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Oktober 2014

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Umschlaggestaltung yellowfarm gmbh, Stefanie Freischem

(Abbildung: Albalta, Hanka Steidle/plainpicture; Lonely/shutterstock.com; Renee Keith/iStockphoto.com)

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ISBN Printausgabe 978-3-499-24355-4 (1. Auflage 2014)

ISBN E-Book 978-3-644-51281-8

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-51281-8

Donnerstag, 7. August, 20:54 Uhr

In der Ferne bellte ein Hund. Es klang gedämpft, unwirklich. Jonathan Geissler öffnete die Augen. Grobe Bretter, in den Fugen klebten Lehm und Stroh. Er drehte den Kopf, hielt jedoch mitten in der Bewegung inne, gelähmt von einem heftigen Schmerz hinter seiner Stirn.

Verflucht! Wo bin ich? Wo kommt dieses höllische Schädelbrummen her?

Jonathan schloss die Augen und wartete, bis der Schmerz abebbte. Dann versuchte er es erneut. Nur eine winzige Bewegung. Das Hämmern in seinem Schädel setzte sogleich wieder ein, doch er biss die Zähne zusammen. Als er seinen Oberkörper bewegte, durchflutete ihn eine Welle stechenden Schmerzes, wie tausend Nägel, die sich in sein Fleisch bohrten. Er stöhnte, schaute ungläubig an sich herunter. Er war nackt, vollkommen verdreckt, und seine Haut war mit blauen Flecken und merkwürdigen kleinen Wunden übersät. Als Jonathan seine linke Hand sah, kehrte schlagartig die Erinnerung zurück.

Nein!

Panik überfiel ihn. Hektisch blickte er sich um, ohne auf die Qualen zu achten, die jede Bewegung seinem geschundenen Körper bereitete. Er war noch immer in dem Holzschuppen, lag auf einem Gestell aus Brettern, einer Art selbstgezimmerter Bank. Rechts an der Wand waren Holzscheite akkurat aufgestapelt und verströmten den Duft nach frischgeschlagener Buche. Davor stand ein Korb mit kleineren Stücken Anzündholz. Über einer Werkbank hingen altertümliche Gerätschaften, eine riesige eiserne Zange, ein abgegriffener Hammer, einige Schraubenzieher und eine Rolle rostiger Draht. Auf der Arbeitsfläche stapelten sich vergilbte Zeitungen. Neben der Hakenleiste mit den Werkzeugen ließ ein altes Sprossenfenster spärliches Licht hinein. Die Scheiben waren blind vor Staub, und die tiefstehende Sonne ließ das Netz, das eine Spinne vor dem Fenster gewebt hatte, goldgelb schimmern.

In der Mitte des Schuppens stand ein Eichenbalken, der das marode Dach trug und mit einer rotbraunen Schmiere besudelt war. Ebenso wie der Hauklotz in der Ecke und die Klinge des Beils, das darin steckte.

Jonathans Hände begannen heftig zu zittern, er fror plötzlich, Tränen schossen ihm in die Augen.

Lieber Gott, hol mich hier raus!

Er drehte sich auf die Seite, presste die Knie ans Kinn und schlang die Arme um die angewinkelten Beine. Jede Bewegung löste nahezu unerträgliche Schmerzen aus, doch es tröstete ihn, so zu liegen. Er weinte leise. Draußen war es wieder still, der Hund bellte nicht mehr. Außer seinen eigenen leisen Klagelauten war nichts zu hören.

Plötzlich stockte er. Ungläubig löste er die Arme, streckte die Beine aus. Vorsichtig hob er die rechte Hand. Keine Fesseln! Er bewegte die Beine. Auch sie waren frei. Warum war ihm das nicht sofort aufgefallen? Was war geschehen? Hatte sein Peiniger etwa beschlossen, ihn laufen zu lassen? War er frei?

Jonathans Herz raste. Abrupt setzte er sich auf, ließ den Schmerz verklingen und versuchte, auf die Beine zu kommen. Er brauchte mehrere Versuche. Als er endlich stand, wurde ihm schwindelig. Er stützte sich an dem Balken ab. Vom Anblick seines eigenen Blutes wurde ihm übel, doch er zwang sich, stehen zu bleiben und ruhig ein- und auszuatmen.

Als der Schwindel nachließ, ging er langsam auf die Schuppentür zu. Mit jedem Schritt wuchs seine Kraft. Und seine Zuversicht. Er drückte die Klinke, und zu seiner Überraschung sprang die Tür tatsächlich auf.

So lautlos wie möglich trat Jonathan ins Freie. Der Hof wirkte verlassen. Die Sonne berührte bereits die Baumwipfel am Horizont.

Welcher Tag mochte heute sein? Wie viel Zeit hatte er in dem Schuppen verbracht? In seiner Erinnerung teilte sich die Zeit in Gefangenschaft nicht in Tag und Nacht, sondern in Qual und Erlösung. Er hätte nicht sagen können, ob er Wochen oder lediglich einige Stunden an diesem grauenvollen Ort verbracht hatte.

Jonathan versuchte, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren. Er spürte trockenen Lehmboden unter seinen nackten Füßen. Es hatte lange nicht geregnet. Die Erde gierte nach Wasser. Die Luft war warm, kein Wind ging. Die Stille war absolut. Kein Rascheln im Gebüsch, kein Vogelzwitschern, kein entferntes Motorengeräusch. Er blickte nach rechts. Hinter dem Hoftor erstreckte sich ein schmaler Feldweg, nicht viel mehr als eine Fahrspur im verdorrten Gras. Behutsam machte Jonathan einige Schritte.

Etwas knirschte hinter ihm, und er hielt erschrocken inne. Horchte.

Nichts.

Bestimmt hatten ihm seine Sinne einen Streich gespielt. Er durfte sich nicht verrückt machen! Noch wenige Schritte, dann wäre er am Tor.

Plötzlich bimmelte eine Glocke, hell und erschreckend laut zerriss sie die Abendstille. Entsetzt blieb Jonathan stehen. Was war das? Eine Türglocke? Ein Handy?

Jonathan blickte nach unten und entdeckte eine dünne Nylonschnur, die knapp über dem Boden gespannt war. Sein Herzschlag setzte aus.

«Du hast doch nicht etwa geglaubt, dass ich dich einfach so gehen lasse?»

Jonathan begann zu zittern.

Nein! Bitte nicht!

Wieder knirschte es hinter ihm. Die Schritte kamen näher. Er blickte zum Hoftor.

«Denk nicht einmal daran», sagte sein Peiniger. «Du weißt doch, was passiert, wenn du ungehorsam bist.»

Freitag, 8. August, 10:23 Uhr

Ihr Name ist Elisabeth Montario?» Der Richter fixierte Liz mit seinen wässrig blauen Augen. Die Hakennase, die rote Robe und die Perücke ließen ihn wie eine Figur aus einem Hitchcock-Film wirken. Die ganze Szenerie, der Gerichtssaal mit dem altmodischen Mobiliar, die Bank mit den Geschworenen, der Angeklagte, der mit gleichgültigem Blick die gegenüberliegende Wand anstarrte, all das war Liz so fremd, dass es ihr wie eine Kulisse vorkam. Dennoch war sie sich bewusst, dass dies kein Spiel, sondern bitterer Ernst war.

«Ja», antwortete sie mit fester Stimme.

«Sie wohnen in Burton in Cheshire?»

«Ja.»

«Was machen Sie beruflich, Frau Montario?»

«Ich arbeite als Psychologin in der Forschung an der University of Liverpool.»

Der Richter nickte dem Verteidiger zu, um ihm zu signalisieren, dass er übernehmen durfte. Gerald Faydon erhob sich ächzend. Sein Übergewicht machte ihm sichtlich zu schaffen, auf der Stirn glänzten Schweißperlen, die Robe spannte um seinen Bauch. Doch Liz wusste, dass es ein Fehler wäre, Faydon zu unterschätzen. Unter der weißen Perücke lauerte ein wacher Verstand.

Der Verteidiger räusperte sich. «Frau Montario, können Sie uns kurz erläutern, was genau Ihr Aufgabenbereich an der Universität ist?»

«Ich leite ein Forschungsprojekt, das Botschaften von Verbrechern untersucht. Dazu gehören Bekennerschreiben, aber auch die unterschiedlichsten Formen von Nachrichten, die ein Täter am Tatort hinterlässt. Worte, die er an die Wand schmiert, symbolische Gegenstände, die er zu seinen Opfern legt. Wir arbeiten an einem Katalog von Kriterien, der es der Polizei erleichtern soll, echte Bekennerschreiben von falschen zu unterscheiden und Hinweise korrekt zu deuten.»

«Danke, Frau Montario.» Faydon warf einen Blick in seine Unterlagen, bevor er weitersprach. «In Deutschland haben Sie eine gewisse Berühmtheit erlangt. Erzählen Sie uns, wie es dazu kam.»

Liz schluckte. Sie hatte keine Lust, vor all diesen Leuten ihre Vergangenheit auszubreiten, aber sie verstand, worauf Faydon hinauswollte. Sie war seine wichtigste Zeugin, er musste den Geschworenen demonstrieren, wie gut sie auf ihrem Gebiet war.

Gerade, als Liz zu einer Antwort ansetzen wollte, erhob sich der Staatsanwalt. «My Lord», wandte er sich an den Richter. «Wir sind nicht hier zusammengekommen, um uns die Lebensgeschichte von Frau Montario anzuhören. So spannend sie auch sein mag.»

Der Richter hob die Brauen und blickte zu Faydon. «Das sehe ich genauso.»

Der Verteidiger ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. «Frau Montario hat ein Gutachten erstellt, von dem viel für meinen Mandanten abhängt. Ich möchte, dass die Geschworenen die Kompetenz von Frau Montario angemessen einschätzen können.»

«Meinetwegen», lenkte der Richter ein. «Aber fassen Sie sich kurz.»

Derek McGee, der Angeklagte, saß völlig teilnahmslos da, in einem schlechtsitzenden Anzug, das strähnige, zu lange Haar mit Gel zurückgekämmt, und blickte ins Leere. Entweder vertraute er seinem Verteidiger blind, oder es war ihm egal, ob er den Rest seines Lebens im Gefängnis verbringen musste.

Faydon wandte sich wieder an Liz. «Stimmt es, dass Sie in Deutschland zwei Serienmörder überführt haben? Einen davon sogar im Alleingang?»

Liz registrierte beklommen, dass einige Zuhörer sie jetzt anstarrten. «Das kann man so sagen. Ich habe in meiner Doktorarbeit einen Serientäter entlarvt, den die Polizei bis dahin gar nicht suchte, weil sie den Zusammenhang zwischen den Taten nicht erkannt hatte. Und im letzten Herbst –», Liz stockte bei der Erinnerung, «und im letzten Herbst habe ich der Polizei geholfen, einen Mann aufzuspüren, der insgesamt neun Menschen umgebracht hat.»

«Danke, Frau Montario. Lassen Sie uns über das Bekennerschreiben sprechen, das der Angeklagte an die Polizei geschickt hat und in dem er angeblich den Mord gesteht. Sie haben es untersucht. Können Sie uns bitte schildern, was Sie herausgefunden haben?»

Liz schluckte. Jetzt wurde es ernst. Sie war sich darüber im Klaren, dass sie sich mit ihrem Gutachten keine Freunde machen würde. Mehr noch, man würde sie für ihre Aussage hassen. Doch das war manchmal der Preis der Wahrheit.

«Mein Team und ich haben sämtliche Akten zur Ermordung von Eileen Simmons durchgearbeitet», begann sie. «Wir haben den Tathergang rekonstruiert und auf dieser Basis ein Täterprofil erstellt.» Liz vermied es, Carolyn Simmons anzusehen, die Mutter des Opfers, die im Publikum in der ersten Reihe saß. Sie vermied es, irgendjemanden anzusehen, außer den Verteidiger. Eileen Simmons war ein blonder Sonnenschein gewesen, ein lebensfrohes, allseits beliebtes siebenjähriges Mädchen, das im vergangenen Winter missbraucht und ermordet worden war. Die Tat hatte einen Aufschrei des Entsetzens in Großbritannien ausgelöst. Wochenlang geisterte das Foto des Mädchens mit dem breiten Lächeln und den zauberhaften kleinen Grübchen durch die Presse. Als endlich ein Verdächtiger festgenommen wurde, hatte das ganze Land aufgeatmet. Und nun würde Liz diesen Mann mit ihrer Aussage entlasten.

«Und wir haben das Bekennerschreiben analysiert, das einige Wochen nach der Tat bei der Polizei einging und das nachweislich vom Angeklagten verfasst wurde. Auch hierzu haben wir ein Täterprofil erstellt.» Liz holte Luft. «Die beiden Profile sind grundverschieden.»

Ein Raunen ging durch den Gerichtssaal, verebbte jedoch sofort wieder.

«Wer auch immer Eileen Simmons tötete», sprach Liz weiter, «tat dies äußerst –» Liz zögerte. Sie sprach zwar fließend Englisch, doch wenn es auf jedes einzelne Wort ankam, war sie unsicher, hatte sie Angst, durch eine falsche Wendung ein katastrophales Missverständnis auszulösen. «Er tat dies äußerst behutsam, beinahe liebevoll.»

In der ersten Reihe stöhnte jemand. Auch ohne hinzusehen, wusste Liz, dass es Carolyn Simmons war. Die Frau tat ihr leid. Drei Jahre nachdem ihr Mann durch einen Unfall gestorben war, hatte jemand ihr Kind geraubt und ermordet. Nun war Liz im Begriff, den Menschen, dem alle Welt die Verantwortung für diese Tat gab, für unschuldig zu erklären.

«Eileen wurde mit einem Kissen erstickt», fuhr Liz fort, bemüht, sich nicht aus dem Konzept bringen zu lassen. «Ihr Mörder brachte es nicht fertig, ihr bei der Tat in die Augen zu sehen. Danach wurde sie in ein weißes Nachthemd gekleidet und auf eine Decke gebettet. Sogar einen Strauß Maiglöckchen legte der Täter ihr auf die Brust, im Januar schwer zu beschaffende Blumen. Der Verfasser des Bekennerschreibens hingegen hat von Sadismus geprägte Gewaltphantasien. Er besitzt keinerlei Achtung vor anderen Menschen. Sie sind für ihn nur Mittel zur Befriedigung seiner Triebe. Derek McGee hat zweifelsohne eine schwer gestörte Persönlichkeit, doch nach unserem Erkenntnisstand ist er nicht der Mörder von Eileen Simmons.»

«Ist das Ihr definitives Urteil?», hakte der Verteidiger nach.

Liz warf einen Blick auf die Anklagebank, wo Derek McGee noch immer mit ausdruckslosem Gesicht saß. Der Mann war eine tickende Zeitbombe, früher oder später würde er seine Phantasien in die Tat umsetzen, aber es war heute nicht ihre Aufgabe, das zu verhindern. Schon gar nicht mit einem gefälschten Gutachten. Wenn McGee verurteilt würde, würde der wahre Täter nicht länger gesucht werden und vielleicht eines Tages ein weiteres Mädchen töten. Das musste sie verhindern.

«Ja», sagte Liz. «Nach dem derzeitigen Stand und allem, was ich über Täterprofile weiß, hat Derek McGee die kleine Eileen nicht getötet.»

Freitag, 8. August, 13:45 Uhr

Kriminalhauptkommissar Georg Stadler lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Es fiel ihm schwer, sich auf die Akte zu konzentrieren, die vor ihm auf dem Tisch lag. Seit einigen Monaten hatte er ein kleines Büro ganz für sich allein. Sein Chef, Siegfried Sobotta, Leiter des Kriminalkommissariats 11 im Düsseldorfer Polizeipräsidium, hatte es sich in den Kopf gesetzt, die Abteilung umzustrukturieren. Offizieller Grund war der Neuzugang Florian Schenk, ein junger, engagierter Kollege, der von der Vermisstenstelle zu ihnen gewechselt war. In Wirklichkeit hatte Sobotta frischen Wind ins KK 11 bringen wollen. Nach dem Ripper-Fall im letzten Herbst, bei dem so viel schiefgelaufen war, dass die Ermittlungen beinahe in einer Katastrophe geendet hätten, hatte Sobotta ein Zeichen setzen wollen. Dass er dafür eingespielte Teams auseinanderriss, schien ihn nicht zu stören.

So hatte Stadler im vergangenen Winter seine langjährige Partnerin Birgit Clarenberg gegen ein eigenes Büro getauscht. Einerseits hatte er sich darüber gefreut, einen Raum ganz für sich zu haben. Andererseits war ihm schnell klar geworden, dass er den Austausch mit Birgit vermisste. Er war wohl doch nicht der einsame Wolf, für den er sich immer gehalten hatte.

Auf dem Korridor knallte eine Tür, und Stadler sah auf die Uhr. Kurz vor zwei. Eine gute Zeit, um in die Kantine zu gehen. Freitags war dann fast nichts mehr los. Er schnappte sich seine Brieftasche und sein Handy.

In der Kantine saßen tatsächlich nur noch einige wenige Kollegen aus den verschiedenen Abteilungen. Stadler entschied sich für Erbsensuppe und ein alkoholfreies Bier und suchte sich einen Tisch am Fenster. Er aß schweigend und stellte sich dabei vor, wie sein Feierabend aussehen würde. Vermutlich erwartete ihn das Standardprogramm: erst einige Alt in seiner Stammkneipe in Derendorf und dann ein paar härtere Drinks in einem Club in der Innenstadt oder im Hafen. Die Frauen, die er bei solchen Gelegenheiten kennenlernte, waren meist jünger und hatten ähnlich unkomplizierte Ansichten zu One-Night-Stands wie er. Anders als die Frauen in seinem Alter, die immer gleich an eine Beziehung dachten. Oder sogar an Familiengründung.

Manchmal hatte er das Gefühl, dass er langsam zu alt wurde für solche Abenteuer, doch sie taten ihm gut, ließen ihn den Frust des Polizeialltags vorübergehend vergessen. Und solange die Frauen ihn nicht zu alt fanden, war er es auch nicht. Ganz im Gegenteil: Regelmäßig versicherten sie ihm, dass er eine gewisse Ähnlichkeit mit George Clooney besitze, und der war schließlich auch alterslos attraktiv.

In den letzten Jahren hatte es nur eine einzige Frau geschafft, ihm unter die Haut zu gehen: Liz Montario. Im vergangenen Herbst hatte er sie als psychologische Beraterin zu den Ripper-Morden angefordert, und im Laufe der Ermittlungen wären sie beinahe zusammen draufgegangen. Er hatte sich nicht verliebt, Gott bewahre, aber sie hatte verwirrende Gefühle in ihm ausgelöst. Gefühle, die er längst überwunden glaubte. Deshalb hatte er sich auch nicht mehr bei ihr gemeldet, nachdem sie nach England gegangen war, obwohl er versprochen hatte, sie dort zu besuchen. Er wusste nicht einmal, wo sie nun lebte.

Stadler schreckte aus seinen Überlegungen hoch, als zwei Kollegen von der KTU mit ihren Tabletts auftauchten und ihn fragten, ob sie sich zu ihm setzen dürften. Stadler hatte nichts dagegen. Er kannte die beiden flüchtig, vergaß jedoch immer wieder ihre Namen. Sie waren noch sehr jung, der große Blonde war meistens recht schweigsam, dafür redete sein Freund mit der Nerdbrille umso mehr.

«Na, Georg», fragte er, kaum dass er saß, «wie hast du den Vormittag verbracht? Gemütlich die Zeitung gelesen?»

Seit Stadler ein eigenes Büro hatte, musste er sich ständig Scherze darüber gefallen lassen, wozu er die eigenen vier Wände im Präsidium nutzte. In aller Ruhe die Zeitung zu studieren, während andere hart arbeiteten, war noch einer der harmloseren.

Er zuckte mit den Schultern. «Neidisch?»

«Aber nein, wir haben auch eine Zeitung studiert», erwiderte die Nerdbrille kauend. «Und was für eine!»

Jetzt fiel Stadler auch sein Name wieder ein. Jon Kugeler. Nicht John mit «h», sondern einfach Jon. Die Welt war voller merkwürdiger Namen. Stadler selbst kam aus einem konservativen Elternhaus in Franken. Seine Eltern hatten Wert darauf gelegt, ihrem einzigen Sohn einen gewichtigen Namen zu geben, für den ein entsprechend gewichtiger Heiliger Pate stand. Wie oft hatte sein Großvater ihn an die Heldentaten des heiligen Georg erinnert, wenn er ihm eine Strafpredigt hielt.

Stadler schüttelte die Erinnerung ab. «Ach wirklich? Ich dachte, ihr wärt ständig überarbeitet. Wie kommt es, dass ihr plötzlich Muße für die Tageszeitung habt?»

«Es war keine gewöhnliche Zeitung.» Jon zwinkerte seinem Freund zu. Dann wurde er ernst. «Die Kollegen aus Mönchengladbach haben uns einen Fetzen Zeitung geschickt, den sie im Mund eines Mordopfers gefunden haben. Die Frau wurde wahrscheinlich zunächst vergewaltigt. Und die Zeitung sollte sie wohl daran hindern, um Hilfe zu rufen.»

Stadler horchte auf. Eine ungewöhnliche Methode, um ein Opfer am Schreien zu hindern. So ungewöhnlich, dass seine Phantasie sofort anfing, Bilder abzuspulen. Überrascht registrierte er einen Stich Neid auf die Kollegen der Nachbarstadt. Er selbst hatte nur Routinefälle auf seinem Schreibtisch liegen. Dann kam ihm ein anderer Gedanke. «Warum beschäftigt ihr euch eigentlich damit? Ist für solche Fälle von außerhalb nicht das LKA zuständig?»

Jon und sein Kollege tauschten einen Blick. «Die Herrschaften sind offenbar völlig überarbeitet», verkündete er spitz.

«Verstehe», sagte Stadler. Er warf einen Blick aus dem Fenster. Bei der Hitze versuchte jeder, sein Arbeitspensum so klein wie möglich zu halten. Die Kollegen vom Landeskriminalamt waren da keine Ausnahme. «Und ihr sollt nun herausfinden, von welcher Zeitung der Fetzen stammt?»

«Genau.» Der Blonde, dessen Name ihm immer noch nicht einfiel, öffnete zum ersten Mal den Mund. «Und das ist gar nicht so einfach. Von dem Opfer war nämlich nicht mehr viel übrig außer den Knochen. Zwischen den Zähnen steckte etwas weiße Masse, die vermutlich mal Papier war. Dass das Stück, das wir untersuchen sollen, nicht ebenfalls längst verrottet war, verdanken wir der Tatsache, dass ein Streifen Klebeband daran befestigt war und es sich zudem zwischen der Kunststoffverankerung der Zahnspange und den Zähnen festgesetzt hatte. Diese beiden Dinge haben die Fäulnisflüssigkeit ferngehalten.» Er steckte sich ein Stück Fischfilet in den Mund und kaute.

Nun wurde es wirklich interessant. «Wie kommen die Kollegen denn darauf, dass das Opfer vergewaltigt wurde, wenn die Leiche bereits skelettiert war?»

Jon Kugeler hob die Hände. «Dazu kann ich nichts sagen. Wir haben nur den Klebestreifen mit dem aufgeweichten Stück Papier gekriegt. Aber warst du nicht früher mal in Gladbach beim KK 12? Frag doch deine alten Kumpel, wenn du mehr wissen willst.»

Stadler schob seinen Teller weg. «Das ist eine Ewigkeit her. Außerdem habe ich selbst genug zu tun.»

«Zocken im Internet, genau.» Kugeler lachte. «Während wir anderen schuften.»

«Hab gerade eine Glückssträhne.» Stadler erhob sich und grinste die Kollegen an. «Ich lade euch demnächst auf meine Yacht ein. Viel Spaß noch mit der Zeitung. Und ein schönes Wochenende.» Er nahm sein Tablett, lieferte es ab und winkte den Kollegen noch einmal, bevor er die Kantine verließ.

Auf dem Weg nach oben traf er die Sekretärin der Dienststelle, die ihm seine Post überreichte. Viel war es nicht. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und ging die Briefe durch. Ein Laborbericht, ein Antwortschreiben vom Katasteramt und ein wattierter Umschlag ohne Absender. Stadler zögerte, dann zog er die Schreibtischschublade auf, entnahm einem Karton ein Paar Einweghandschuhe und streifte sie über. Mit seinem Schlüssel ritzte er den Umschlag auf. Fauliger Gestank schlug ihm entgegen, und er zuckte angewidert zurück. Was war das? Ein geschmackloser Scherz seiner Kollegen?

Stadler hielt das Päckchen von sich weg und spähte hinein. Ein länglicher Gegenstand, der in einen Gefrierbeutel eingewickelt war. Mit einer Armbewegung schaffte Stadler Platz auf dem Schreibtisch, schüttete den Umschlag aus – und schnappte nach Luft.

Freitag, 8. August, 14:18 Uhr

Liz atmete auf, als sie London hinter sich ließ. Mit jedem Kilometer fiel die Last der Ereignisse von ihr ab. Sie freute sich auf ihr Cottage in dem kleinen Dorf an der walisischen Grenze, das wie ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit wirkte. Als sie den Job an der Universität von Liverpool angenommen hatte, war für sie klar gewesen, dass sie möglichst viel Abstand zwischen ihre Arbeit und ihr Privatleben bringen musste. Sie konnte sich nicht den ganzen Tag mit Schwerverbrechern beschäftigen und dann an demselben Ort nach Feierabend versuchen, auf andere Gedanken zu kommen. Sie brauchte den Kontrast. Das Gefühl, dass es noch etwas anderes gab als lärmende, schmutzige Großstädte voller sozialer Probleme und Kriminalität. Deshalb hatte sie das Cottage in Burton gekauft, einem Dorf, das nur eine halbe Stunde von Liverpool entfernt war und doch weit genug weg, um sie in eine andere Welt zu entführen.

Doch heute wollte es ihr nicht gelingen, ihre Arbeit in der Stadt zurückzulassen. Die Szenen vor Gericht ließen sie nicht los. Vor allem aber das, was sich nach der Verhandlung auf der Straße abgespielt hatte. Liz war aus dem Gerichtsgebäude getreten, in Gedanken versunken, war im Kopf noch einmal ihre Aussage durchgegangen. Noch immer hatte sie nicht glauben können, wie einfach sie davongekommen war. Sie hatte fest damit gerechnet, dass der Staatsanwalt ihre Vergangenheit aufrühren und versuchen würde, sie als Gutachterin zu demontieren: Denn der Serienmörder, den sie im vergangenen Herbst gemeinsam mit der Polizei gejagt hatte, war nicht irgendein Fremder gewesen, sondern ihr eigener Bruder. Sie war keine x-beliebige Expertin, sie war die Schwester eines sadistischen Killers. Aber der Staatsanwalt hatte sich bedeckt gehalten, genau wie Gerald Faydon prophezeit hatte.

«Keine Sorge», hatte der Verteidiger beim Vorgespräch gesagt. «Das Risiko geht er nicht ein. Ihre Geschichte könnte das Mitgefühl der Jury wecken und Sie noch glaubhafter wirken lassen.»

Er hatte recht behalten.

Liz war so sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass sie weder die Hitze noch die wartenden Reporter wahrgenommen hatte. Auch Carolyn Simmons bemerkte sie erst, als sie dicht vor ihr stand. Bevor Liz etwas sagen konnte, spuckte ihr die Mutter des toten Mädchens ins Gesicht, und die Kameras der versammelten britischen Presse klickten dazu. Liz war sekundenlang gelähmt gewesen vor Entsetzen. Dann hatte sie mit dem Ärmel ihrer Bluse ihre Wange abgewischt und war davongestürmt.

Die Sonne stand schon tief, als die ersten Häuser von Burton in Sicht kamen. Liz drosselte das Tempo und lenkte den Wagen durch die Hauptstraße des Dorfs. Ihr Cottage lag etwas abseits. Sie parkte in der Einfahrt und stellte den Motor ab. Lähmende Hitze schlug ihr entgegen, als sie aus dem klimatisierten Golf ausstieg, vermischt mit dem Duft nach frisch gemähtem Gras und dem salzigen Geschmack der nahen See. Im Cottage war es kühl. Liz nahm eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und trank, bis das Brennen in ihrer Kehle nachließ. Dann trat sie durch die Hintertür in den Garten. Ein Blumenmeer breitete sich vor ihr aus. Stockrosen, Schwertlilien, Phlox, Rittersporn und Sonnenblumen. Vom Vorbesitzer gepflanzt und liebevoll gepflegt. Darüber reiften in den Obstbäumen die Früchte. Ein kleines Paradies.

Der Umzug nach England hatte Liz gutgetan. Hier hatte man sie so genommen, wie sie war. Niemand interessierte sich für ihre Vergangenheit. In ihrer neuen Heimat war sie nicht die Schwester eines Serienkillers, sondern einfach die nette junge Frau, die das Haus von Donald Moore gekauft hatte. Sie hatte sogar eine Freundin gefunden, Judy, eine junge Künstlerin, die in Preston ein Bed & Breakfast betrieb und in jeder freien Minute an ihrer Staffelei saß. Sie malte zauberhafte Aquarelle. Zwei davon hatte sie Liz zum Einzug geschenkt, sie zierten nun die weiß getünchte Wand neben dem Kamin im Wohnzimmer.

Und dann hatte Liz vor einigen Wochen David Carlyle kennengelernt und zum ersten Mal in ihrem Leben eine ganz normale Beziehung mit einem Mann begonnen. David war GP, General Practitioner, ein Hausarzt mit einer Praxis in Chester. Er war offenherzig und fröhlich, geduldig mit seinen Patienten und auch mit ihr, wenn sie mal wieder einen ihrer düsteren Tage hatte. David war fast zu perfekt, um real zu sein, allerdings hatte Liz den Verdacht, dass er sich ungern festlegte. Er liebte seine Freiheit. Das war wohl auch der Grund, warum er geschieden war. Seine Exfrau lebte mit dem kleinen Sohn Sam in London. Sam kam alle zwei Wochen mit dem Zug, um das Wochenende mit seinem Vater zu verbringen. David unternahm viel mit dem Jungen, sie gingen schwimmen, Fußball spielen oder ins Kino, trotzdem hatte Liz ein ungutes Gefühl. Seine Zuwendung hatte etwas Professionelles, als wäre Sam einer seiner Patienten. Aber vielleicht war Liz auch nur eifersüchtig, weil es einen anderen Menschen in Davids Leben gab, der ihm wichtig war.

Liz hörte den Motor eines Wagens, eine Tür wurde zugeknallt, dann Schritte und ein Klopfen. David!

«Ich bin im Garten!», rief sie.

Kurz darauf erschien David im Türrahmen. Er war so groß, dass er den Kopf einziehen musste. Er wirkte nicht wie ein Brite, eher wie ein Skandinavier, blond, blauäugig und durchtrainiert.

«Hallo, meine Süße.» Er nahm Liz in den Arm und küsste sie. «Du hast ja heute für einen schönen Wirbel gesorgt.» Er schwenkte die Abendzeitung, dann strich er ihr über das Haar. «War es sehr schlimm?»

«Ich wusste ja, dass ich mich mit meiner Aussage nicht beliebt machen würde. Aber die Begegnung mit Carolyn Simmons war grauenvoll.» Liz sah David in die Augen. «Was, wenn ich mich irre und McGee doch der Täter ist?»

«Du hast getan, was du für richtig hältst. Nur das zählt.» David küsste sie auf den Kopf.

«Es fühlt sich trotzdem falsch an.»

«Du kannst es nicht immer allen recht machen, Liz. Nicht in deinem Beruf.»

«Ach, David.» Liz lehnte sich an ihn. «Ich wünschte, ich könnte die Dinge so sehen wie du.»

David hielt sie von sich weg. «Was hältst du davon, wenn wir übers Wochenende ans Meer fahren? Es soll so heiß bleiben.»

Liz blinzelte ihn verständnislos an. «Das Meer ist nur zehn Minuten von hier entfernt.»

«Ich meine einen Tapetenwechsel, Liz, Cornwall oder Devon. Die Sonne genießen und nicht an die Arbeit denken. Oder wir fahren für zwei Tage nach Frankreich.»

Liz musste lächeln. Für David war alles so einfach. Er fand immer eine Lösung. Gewissenskonflikte schien er nicht zu kennen.

«Also gut», sagte sie. «Lass uns nach Devon fahren, aber nicht an die Küste. Die Strände sind bestimmt alle überfüllt, es sind ja noch Sommerferien. Ich möchte ins Dartmoor. Ich habe gehört, dass dort fast immer schlechtes Wetter ist. Vielleicht erwischen wir ein paar Regentropfen.»

David grinste. «Meinetwegen. Dann also ins Dartmoor. Du packst, ich buche derweil ein Hotel.»

«Aber du musst doch auch noch packen!»

Wieder grinste er. «Die Tasche steht im Auto. Ich habe alles von langer Hand geplant.»

Liz umarmte ihn. «Danke.» Sie ging zur Hintertür, wo sie sich noch einmal umdrehte. «Und wenn wir zurückkommen, hat sich der Trubel hoffentlich wieder gelegt.»

Davids Miene wurde ernst. «Ich fürchte, das war erst der Anfang, Liz. Falls Derek McGee nächste Woche freigesprochen wird, wirst du den Wölfen zum Fraß vorgeworfen.»

Montag, 11. August, 09:11 Uhr

Birgit Clarenberg drehte die Klimaanlage auf die höchste Stufe und hielt ihre Hände in den Luftzug. «Puh, das ist ja unerträglich.»

Ihr Kollege Miguel Rodríguez, der am Steuer saß, grinste. «Da ist mal ein bisschen Sommer in Deutschland, und schon stöhnen alle. Hättest du lieber fünfzehn Grad und Regen?»

Birgit sah ihn an. «Ehrlich? Jetzt gerade in diesem brütend heißen Dienstwagen auf dem Weg zu einer Leiche? Ja, da wäre mir kühler Regen sehr willkommen.»

Miguel schüttelte den Kopf. «Regen an einem Tatort ist die Hölle. Innerhalb von fünf Minuten ist man völlig durchnässt, und alle Spuren sind auf Nimmerwiedersehen weggespült.» Er setzte den Blinker und bog von der Landstraße in eine kleine Ortschaft ab.

Birgit seufzte. «Du bist immer so furchtbar vernünftig.»

«Ach wirklich?» Miguel lachte auf. «Glaub mir, ich kann auch anders.»

Das glaubte Birgit ihm aufs Wort. Doch sie kam nicht mehr dazu, etwas zu erwidern. Miguel parkte vor einer notdürftigen Absperrung aus Flatterband, das zwischen zwei Pkws gespannt war. Zwei Kollegen in Uniform hielten eine Handvoll Schaulustige auf Abstand, sonst war offenbar noch niemand vor Ort.

Birgit stieg aus und blickte sich um. Eine Art Dorfplatz, flankiert von einigen mehr oder weniger hässlichen Häusern, einer Bushaltestelle, einem Zigarettenautomaten und einer mit Graffiti besprühten Bank. Dahinter erstreckten sich Felder, über denen die Hitze flirrte.

Birgit ging auf einen der Streifenbeamten zu. «Clarenberg, Kripo Düsseldorf. Das ist mein Kollege Rodríguez. Was haben wir hier?»

Der Uniformierte deutete hinter sich. «Anwohner haben vor gut zwanzig Minuten den Toten da gefunden. Wir haben nur einen Blick drauf geworfen und wussten, dass die Sache für uns hier eine Nummer zu groß ist.»

Birgit reckte den Hals. Sie konnte nicht mehr erkennen als einen Telefonmast am Rand des Dorfplatzes, vor dem eine Gestalt reglos am Boden saß. «War der Notarzt schon da?», fragte sie.

«Der braucht keinen Notarzt mehr», erwiderte der Uniformierte. «Das können Sie mir glauben.»

«Ach ja?», fragte Birgit spitz. «Und wer stellt den Totenschein aus? Sie? Sie kennen doch die Vorschriften, oder?»

«Der Rechtsmediziner ist auf dem Weg», verteidigte sich der Beamte.

Birgit warf einen raschen Blick zu Miguel, der stumm die Schultern hob. Sie wünschte, Georg Stadler wäre hier. Sieben Jahre hatte sie an seiner Seite ermittelt, die besten sieben Jahre ihrer Laufbahn, bis Sobotta sie im Winter plötzlich auseinandergerissen hatte. Sie vermisste Stadler. Sie vermisste seine Kompetenz, seine Souveränität, seine Erfahrung. Nicht, dass sie nicht gern mit Miguel zusammenarbeitete. Er war ein zuverlässiger Kollege und zudem ein ausgesprochen attraktiver Mann. Genau das war jedoch auch das Problem. Aus der kleinen Schwärmerei, die Birgit bisher ganz gut im Griff gehabt hatte, war mehr geworden, seit sie sich Tag für Tag im Büro gegenübersaßen. Und das gefiel ihr gar nicht. Sie war keine Frau, nach der die Männer sich umdrehten, eher eine graue Maus. Miguel würde ihre Gefühle niemals erwidern. Damit kam sie klar, sie kannte es nicht anders. Dennoch zog die Zusammenarbeit mit ihm unnötige Komplikationen nach sich: Mit einem Mal war es ihr nicht mehr egal, was sie morgens anzog, und manchmal legte sie sogar ein wenig Make-up auf.

Miguel fasste sie sanft am Arm und zog sie zur Seite. «Schauen wir uns den Toten mal an», sagte er. «Bevor die Spusi uns nicht mehr in die Nähe lässt.»

«Gute Idee.»

Sie stiegen über die Absperrung und gingen auf den Telefonmast zu. Birgit hatte das Gefühl, dass ihre Riemchensandalen an dem glühenden Asphalt festklebten. Sandalen, enger Rock und luftige weiße Rüschenbluse. Kein Outfit für einen Außeneinsatz, egal bei welchem Wetter, aber was sonst sollte sie bei dieser Hitze anziehen? Zoe, die Praktikantin, die seit einigen Tagen in ihrer Abteilung war, lief in abgeschnittenen Jeans, Tanktop und Flipflops herum. Aber Zoe war auch noch keine dreißig.

Der Tote war jung, vermutlich nicht einmal zwanzig. Er saß nackt in einer Lache aus Blut, ein Seil um seinen Bauch hielt ihn in einer aufrechten Position. Sein ganzer Körper war mit Blutergüssen und punktförmigen rotbraunen Wunden übersät. Striemen an Hand- und Fußgelenken verrieten, dass er über einen längeren Zeitraum gefesselt gewesen sein musste. Der Mann war nicht nur misshandelt, sondern auch verstümmelt worden. Wo die Ohren gewesen waren, klafften blutige Löcher, an der linken Hand fehlte der Zeigefinger.

Blut bedeckte eine Hälfte des Oberkörpers und den Hals, wo eine tiefe Schnittwunde zu sehen war. Vermutlich war der Mann verblutet.

«Was ist hier bloß geschehen?», fragte Birgit leise. Das Brummen eines Motors ließ sie aufblicken. «Die Kollegen von der KTU sind da.»

«Na, dann mal los.» Miguel wandte sich ab. «Ich habe ohnehin mehr als genug gesehen.»

«Dito.» Birgit folgte ihm. Während sie über den glühend heißen Parkplatz stakste, ertappte sie sich erneut bei dem Wunsch, Stadler wäre da.

Montag, 11. August, 11:17 Uhr

Georg Stadler scrollte bis zum Ende der Seite und stieß einen unwilligen Laut aus. Wieder nichts. Seit Stunden malträtierte er die Suchmaske von ViCLAS, der internationalen Verbrechensdatenbank, auf der Suche nach Todesfällen in Deutschland, bei denen abgetrennte Finger eine Rolle spielten. Ohne Erfolg. Wenn man von einem einzigen ungelösten Mordfall absah, der allerdings schon Jahre zurücklag. Er kam eher nicht in Betracht. Denn aus welchem Grund sollte ein Täter einen Finger seines Opfers aufbewahren, um ihn Jahre nach der Tat an die Polizei zu schicken?

Kein Ergebnis also. Was allerdings nichts heißen musste. Es gab andere Möglichkeiten, woher der Finger, den er am Freitag per Post erhalten hatte, stammen könnte. Ein Unfall, bei dem jemand verletzt, aber nicht getötet wurde. Ein Toter, der noch gar nicht aufgefunden wurde. Oder er wurde aus einem Leichenschauhaus oder einem Grab geraubt. Viel zu viele Möglichkeiten. Hinzu kam, dass bei ViCLAS nur Fälle eingetragen wurden, bei denen ein Wiederholungstäter am Werk war oder dies zumindest angenommen wurde.

So oder so blieb die Frage, wer ihm den Finger geschickt haben könnte. Der Täter? Aus welchem Grund? Und warum ausgerechnet ihm persönlich und nicht dem KK 11?

Stadler kratzte sich am Kopf. Er hatte am Freitag zuerst mit seinem Chef und dann mit dem Staatsanwalt gesprochen, der ein Verfahren eingeleitet und Stadler mit den Ermittlungen beauftragt hatte.

Sobotta, sein Chef, hatte ihn gebeten, sich erst einmal allein um die Sache zu kümmern. Wie Stadler selbst hatte er den Verdacht, dass es sich um einen dummen Scherz handeln könnte. Also hatte Stadler den Rest des Freitagnachmittags am Telefon gehangen, nach Unfällen geforscht, bei den Gliedmaßen abgetrennt wurden, und in Krankenhäusern und Beerdigungsinstituten nachgefragt, ob Leichenteile entwendet wurden. Ohne Ergebnis. War es möglich, dass jemand den Finger gefunden hatte, etwa am Straßenrand nach einem Verkehrsunfall, und sich einfach nicht anders zu helfen gewusst hatte, als seinen Fund an die Polizei zu schicken?

Stadler legte die Hand auf den Telefonhörer. Er wollte in der Rechtsmedizin nachfragen, ob der Finger inzwischen untersucht worden war.

Es klingelte lange. «Ja, Schreiner?» Ein junger Arzt, mit dem Stadler bisher wenig zu tun gehabt hatte.

«Georg Stadler hier, KK 11. Ich hatte Ihnen am Freitag einen Finger geschickt.»

«Einen Finger? Davon weiß ich nichts.» Der Mann klang genervt.

«Ich muss dringend wissen, wann und wie er vom Körper abgetrennt wurde und ob die Person noch lebte, als das geschah», erklärte Stadler unbeirrt.

«Ich höre mal nach», sagte Schreiner. «Aber ich kann nichts versprechen. Hier ist die Hölle los. Es könnte ein paar Tage dauern.»

«Ein paar Tage?», fragte Stadler entsetzt.

«Es ist Urlaubszeit», erklärte der Mediziner. «Wir sind unterbesetzt.»

Stadler bedankte sich frustriert und legte auf. Also zurück zu den ungeklärten Todesfällen. Er beugte sich über seine Notizen. Noch einmal studierte er die Informationen zu dem einzigen Fall, den ViCLAS ausgespuckt hatte: dem Mord an einem Jugendlichen, dessen sterbliche Überreste vor rund fünf Jahren in der Nähe von Erkelenz entdeckt wurden. Die Tat wurde nie aufgeklärt. Die Leiche war vollständig skelettiert gewesen. Einige Gliedmaßen fehlten, darunter zwei Finger der linken Hand. Vermutlich Tierfraß. Das galt jedoch nicht für die fehlende rechte Hand. Trotz des schlechten Zustands der Knochen konnte die Rechtsmedizin nachweisen, dass sie nicht von Tieren abgerissen worden war, sondern abgehackt wurde, als das Opfer noch lebte.

Montag, 11. August, 11:28 Uhr

Die Tür zu Professor Burntislands Büro stand offen. Liz blieb kurz stehen, betrachtete das Namensschild. Prof. William H. Burntisland, Head of Department. Sie hatte keine Ahnung, wofür das ‹H› stand. Hugh? Herbert? Jedenfalls wirkte der Buchstabe enorm wichtig.

Liz zögerte. Was auch immer ihr Vorgesetzter von ihr wollte, sie war sicher, dass es nichts Angenehmes war. Dabei war sie voller Elan aus dem Wochenende heimgekehrt. David und sie hatten zwei wunderbare Tage im Dartmoor verbracht. Zwar hatte es auch dort nicht geregnet, doch immerhin hatten schwere Wolken verheißungsvoll über dem Moor gehangen, und ein kühler Wind hatte sie erfrischt. Sie hatten an einem Bach gepicknickt und Scrabble gespielt. Liz hatte den Liebesroman ausgelesen, in dem sie seit Wochen nicht vorangekommen war, und David hatte seine heißgeliebten Fachzeitschriften durchgeackert. Als es bereits dämmerte, hatten sie sich unter den gleichgültigen Blicken einiger Wildponys leidenschaftlich geliebt. Sie hatten sich nicht im Geringsten darum geschert, wer sie sonst noch dabei beobachten konnte, etwa mit einem Fernglas von einem der Hügel, die im Abendlicht golden leuchteten.

Hier und jetzt, im kühlen Korridor des Institute of Psychology, Health and Society der University of Liverpool, erschien ihr Devon weiter entfernt als der Mond.

Liz seufzte, klopfte an den Türrahmen und trat ein. «Hallo William.»

«Ah, Liz.» Ihr Chef hob den Blick und lächelte sie an. «Machen Sie die Tür zu und setzen Sie sich.»

Das war kein gutes Zeichen. Sie tat wie ihr geheißen und sah ihn erwartungsvoll an.

«Sie haben sich gut geschlagen am Freitag», sagte Burntisland ohne Einleitung.

«Na ja.» Liz rieb nervös die Handflächen gegeneinander. «Die Begegnung mit der Mutter war keine Glanzleistung.»

«Das konnten Sie nicht ahnen», sagte Burntisland, doch seine Augen verrieten, dass er etwas anderes dachte. Sie hätte nach der Aussage sofort verschwinden müssen.

Liz überlegte, was Burntisland von ihr wollte, aber sie wagte es nicht, ihn direkt zu fragen. Eher hätte sie sich die Zunge abgebissen. Sie hatte sich nichts vorzuwerfen. Ihre Aussage war mit dem Team abgestimmt gewesen, sie hatte das Ergebnis der gemeinsamen Analysen vorgetragen, nicht ihre persönlichen Theorien.

«Sie haben sich ziemlich weit aus dem Fenster gelehnt, Liz», sagte Burntisland schließlich.

«Das Resultat unserer Untersuchungen war eindeutig.»

Burntisland legte die Fingerspitzen aneinander. «Auch eindeutige Ergebnisse kann man auf verschiedene Arten darstellen. Sie waren sehr – sehr deutlich. Sehr deutsch, könnte man sagen.»

Liz schluckte hart. «Wenn ich meine Aussage vorsichtiger hätte formulieren sollen, hätten Sie mir das besser vorher gesagt», erwiderte sie mit fester Stimme.

«Missverstehen Sie mich nicht, Liz.» Er sah kurz aus dem Fenster, dann wieder zu ihr. «Ich schätze es, wenn meine Mitarbeiter sich engagieren und vorbehaltlos zu ihren Studien stehen. Deshalb habe ich Sie ja eingestellt. Aber Fingerspitzengefühl ist ebenfalls wichtig.» Er beugte sich vor. «Sie wissen, dass ein Großteil unserer Mittel von privaten Förderern kommt? Unter anderem von Wohltätigkeitsorganisationen? Sie können sich vorstellen, dass diese Spender ungern Geld lockermachen, wenn auch nur der geringste Verdacht besteht, dass damit Studien finanziert werden, die Kindermördern einen Freispruch bescheren.»

Daher wehte also der Wind. Fragte sich nur, ob das hier eine Standpauke war oder das Vorgeplänkel einer Kündigung. «William, ich –»

Burntisland hob abwehrend die Hände. «Sie brauchen sich nicht zu verteidigen, Liz. Sie haben gute Arbeit geleistet. Ich muss aber auch an das Wohl des Instituts denken.» Er senkte den Blick, schob einige Papiere auf dem Schreibtisch hin und her. «Ich habe eine Anfrage von einer großen Tageszeitung bekommen. Ein Interview und eine Reportage über unsere Forschungsprojekte. Eine wichtige Sache. Ich hoffe, Sie haben Verständnis dafür, dass ich in diesem Zusammenhang ein wenig auf Distanz gehe.»

«Auf Distanz zu mir?» Liz sah ihn verständnislos an.

«Ich werde betonen, dass jeder wissenschaftlichen Untersuchung ein Interpretationsspielraum innewohnt. Und dass ich im Fall Derek McGee zu einer etwas vorsichtigeren Einschätzung gekommen wäre als Sie.»

Liz erhob sich abrupt. «Ist das alles?»

«Für den Augenblick ja», antwortete Burntisland und stand ebenfalls auf.

Liz erwiderte nichts und reichte ihm wortlos die Hand zum Abschied.

Sie war schon bei der Tür, als er nachschob: «Es wäre gut, wenn Sie sich in der nächsten Zeit in der Öffentlichkeit etwas rarmachen würden. Je weniger man von Ihnen sieht oder hört, desto besser für uns alle.»

Montag, 11. August, 12:47 Uhr

Birgit Clarenberg und Miguel Rodríguez warteten schon, als Stadler das Restaurant betrat. Sie saßen an dem üblichen Ecktisch, ein wenig abgeschirmt von den anderen Gästen, und sprachen leise miteinander. Die Art, wie sie die Köpfe zusammensteckten, hatte etwas Vertrautes, das Stadler einen Stich versetzte. Sieben Jahre lang war Birgit seine Partnerin gewesen. Sie hatten sich blind vertraut, waren ein hervorragendes Team gewesen. Es kränkte ihn, dass er so einfach zu ersetzen war.

Stadler signalisierte dem Kellner, dass er ihm ein alkoholfreies Alt bringen sollte, und ging auf den Tisch zu. Seit einigen Monaten trafen sie sich etwa alle zwei Wochen hier zum Mittagessen. Was als konspiratives Treffen während der Ripper-Ermittlungen begonnen hatte, hatte sich zu einem regelmäßigen Austausch entwickelt. Damals war auch Liz Montario dabei gewesen. Inzwischen gab es nichts Konspiratives mehr an ihren Treffen außer der Tatsache, dass sie vor Mithörern auf der Hut sein mussten, wenn sie über Ermittlungsinterna sprachen.

Birgit blickte auf. «Georg, schön dich zu sehen.» Sie erhob sich und hauchte ihm zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange.

Miguel drückte ihm die Hand. «Wir haben schon bestellt, wir sind total ausgehungert.» Er lächelte entschuldigend. «Wegen des Toten in Neuss ist für uns das Frühstück ausgefallen.»

«Muss ein ziemlich unangenehmer Anblick gewesen sein.» Stadler setzte sich. «Zu blöd, dass ich mir nicht selbst ein Bild machen konnte. Als man mich informierte, war die Leiche schon abtransportiert. Was habe ich verpasst?»

Birgit und Miguel tauschten einen Blick.

«Leider ist direkt einiges schiefgelaufen», sagte Birgit. «Ich freue mich jedenfalls, dass du die Leitung der Mordkommission übernimmst.»

«Ich mich auch.» Stadler beugte sich vor. «Bis vor einer halben Stunde habe ich übrigens in einem anderen interessanten Fall ermittelt, den ich jetzt leider abgeben muss.» Sein Bier kam, er nahm einen Schluck. «Ich hatte nämlich vor dem Wochenende ganz spezielle Post.» Er berichtete in wenigen Sätzen von dem Finger und seinen Nachforschungen.

Birgit und Miguel sahen sich wieder schweigend an. Doch diesmal lag noch etwas in ihrem Blick, eine Art stummer Wortwechsel.

Stadler beobachtete die beiden fasziniert. Ihm fiel auf, dass Birgit Make-up trug. Sehr dezent, aber dennoch nicht zu übersehen. Es stand ihr gut, genau wie die neue, etwas peppigere Frisur. Sie schien ja regelrecht aufzublühen in seiner Abwesenheit.

«Was ist so spannend?», fragte er schließlich. «Kommt schon, ihr seid doch sonst nicht so verschwiegen.»

Miguel räusperte sich. «Hast du den Finger in die Rechtsmedizin geschickt?», fragte er.

«Natürlich», antwortete Stadler. «Aber es dauert noch ein paar Tage, bis ich die Resultate bekomme. Die haben im Augenblick ziemlich viel zu tun dort.»

«Weißt du, welcher Finger es war?», fragte Birgit.

Stadler sah sie irritiert an. «Welcher Finger?»

«Zeigefinger? Ringfinger? Daumen?»

«Spielt das eine Rolle?»

Birgit beugte sich vor. «Bitte!»

Stadler schloss die Augen und rief sich den Anblick ins Gedächtnis. «Ich bin nicht sicher. Kein Daumen. Auch kein kleiner Finger, würde ich sagen.» Er fixierte sie. «Warum willst du das wissen?»