Stefan Hammel

Handbuch des therapeutischen Erzählens

Geschichten und Metaphern in Psychotherapie, Kinder- und Familientherapie, Heilkunde, Coaching und Supervision

Leben Lernen

Impressum

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Klett-Cotta

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Printausgabe: ISBN 978-3-608-89245-1

E-Book: ISBN 978-3-608-10513-1

PDF-Book: ISBN 978-3-608-10393-9

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

EINLEITUNG

1. Was Geschichten hervorrufen

1.1Zugang

1.2Tradition

1.3Einsatz

1.4Nutzen

1.5Trance, Rapport und Suggestionen

1.6Die Welt der Träume

1.7Struktur und Inhalt

1.8Therapeutische Grundsätze

1.9Philosophische Verortung

1.10Gebrauchshinweise

ERSTER HAUPTTEIL: DIE GESCHICHTEN

2. Verstehen hervorrufen

2.1Sinngebung

2.2Wahrnehmung und Deutung

2.3Verstehen und Missverstehen

3. Gesundheit hervorrufen

3.1Herz, Kreislauf, Blutungen und Durchblutung

3.2Infekte, Allergien, Autoimmunerkrankungen

3.3Haut und Haare

3.4Muskelspannung und -entspannung

3.5Körpergefühl und Schmerzempfinden

3.6Gesichtssinn

3.7Gehör

3.8Gleichgewichtssinn

3.9Sprechen

3.10Gedächtnis und Zugriff auf Fähigkeiten

3.11Ausscheidung

3.12Schlaf

3.13Sexualität

3.14Essverhalten und Sucht

4. Wohlbefinden hervorrufen

4.1Ressourcenorientierung und positives Denken

4.2Angriff und Verteidigung

4.3Angst

4.4Zwang

4.5Depression

4.6Manie

4.7Traumwelt, Wahn und Halluzination

4.8Suizidalität

4.9Verlust und Abschied

5. Gelingende Beziehungen hervorrufen

5.1Partnerschaft

5.2Familie

5.3Erziehung und Ablösung vom Elternhaus

5.4Die mittlere und ältere Generation

5.5Freunde

6. Entwicklung hervorrufen

6.1Entwicklung und Reife

6.2Lernen

6.3Wunsch, Wille und Vision

6.4Ökonomie, Ordnung, Effizienz und Qualität

ZWEITER HAUPTTEIL: DIE METHODEN

7. Therapeutische Geschichten auffinden

7.1Die Intuition nutzen

7.2Schriftliche Quellen nutzen

7.3Mündliche Quellen nutzen

7.4Das eigene Leben als Quelle nutzen

7.5Filme und andere Medien als Quellen nutzen

7.6Andere Quellen der Kommunikation nutzen

8. Therapeutische Geschichten dialogisch entwickeln

8.1Mit systemischen Fragen Geschichten entwickeln

8.2Problemmetaphern in Lösungsmetaphern umwandeln

8.2.1Regellogik: Der Regel der Metapher folgen

8.2.2Ausnahmelogik: Die Ausnahme der Metapher finden

8.2.3Trickfilmlogik: Die Metapher flexibel gestalten

8.2.4Gestaltungsvarianten

8.3Gemeinsam mit Kindern Geschichten entwickeln

9. Therapeutische Geschichten erfinden

9.1Erzähltypen therapeutischer Geschichten

9.1.1Beispiel- und Metapherngeschichten

9.1.2Positivmodelle, Negativmodelle und Suchmodelle

9.1.3Klassifizierungsmodell therapeutischer Erzähltypen

9.2Grundformen der Suggestion

9.2.1Suggestion per Deklaration

9.2.2Suggestion per Direktive

9.2.3Suggestion per Implikation

9.2.4Suggestion per Frage

9.3Grundinterventionen des therapeutischen Erzählens

9.3.1Reales und irreales Reframing

9.3.2Destabilisieren und Stabilisieren

9.3.3Aufmerksamkeitsfokus umkehren oder verschieben

9.3.4Trennen und Neukonditionieren

9.3.5Lebensgeschichten neu interpunktieren

9.3.6Erhöhen und Reduzieren von Komplexität

9.3.7Utilisation

9.3.8Externalisieren und Visualisieren

9.3.9Intervention durch Positiv- und Negativmodelle

9.3.10Erzeugen von Erwartungs-, Such- und Lernhaltungen

9.3.11Rapportbasierte Interventionen

9.3.12Interventionen auf Basis von Lohn und Strafe

9.4Erzählstrukturen

9.4.1Der klassische Aufbau

9.4.2Regel-, Ausnahme-, Trickfilm- und paradoxe Logik

9.4.3Kompetente und inkompetente Berufsausübung

9.4.4Die Zeiten des Gelingens

9.4.5Die Orte des Gelingens

9.4.6Das innere Parlament und der Teetisch

9.4.7Die Ambivalenz externalisieren als Dialog

9.4.8Die Ambivalenz externalisieren als zwei Orte

9.4.9Die Ambivalenz externalisieren als zwei Bewegungsarten

9.5Genres

9.5.1Biografische Erzählungen und Anekdoten

9.5.2Fallbeispiele

9.5.3Fabeln, Märchen, Schwänke und Legenden

9.5.4Novellen und Abenteuergenres

9.5.5Naturkundliche Berichte und Studienergebnisse

9.5.6Aufzählungen und Beschreibungen

9.5.7Zitate und Aphorismen

9.5.8Poesie

10. Therapeutische Geschichten erzählen

10.1Vor dem Erzählen

10.2Mit dem Erzählen beginnen

10.3Der Kraft der Geschichte vertrauen

10.3.1Reduktion auf Wesentliches

10.3.2Reduktion auf Anschauliches

10.4Trance und Trancephänomene

10.4.1Trance nutzen

10.4.2Trance fördernde Inhalte

10.4.3Trance fördernde Sprachmuster

10.4.4Trance fördernde Sprechweise und Bewegung

10.4.5Trancephänomene nutzen

10.5Therapeutische Detailinterventionen

10.5.1Zielklärung und Auftragsklärung

10.5.2Anamnesefragen

10.5.3Themen vorbereiten und nachbereiten

10.5.4Erzählinhalte individualisieren

10.5.5Erzählinhalte priorisieren

10.5.6Themen einstreuen

10.5.7Mehrdeutigkeit und Konnotationen nutzen

10.5.8Anklänge nutzen

10.5.9Widerstand vermeiden

10.6Geschichten aneinanderreihen und ineinanderfügen

10.7Nach dem Erzählen

11. Therapeutische Geschichten wortlos erleben

11.1Gemalte und geformte Geschichten

11.2Pantomimische Geschichten

11.3Gegenständliche und vollzogene Geschichten

ANHANG

12. Verzeichnisse

12.1Geschichtenverzeichnis

12.2Stichwortverzeichnis

12.3Literaturverzeichnis

Vorwort

Als wir Kinder waren, hatten meine Schwester und ich eine bestimmte Gewohnheit. Wenn wir bei Großelternbesuchen morgens erwachten, meistens zwischen fünf und sechs Uhr, stiegen wir zu meinem Großvater ins Bett und drückten mit dem Finger auf einen Knopf seines Schlafanzugs. Dort befand sich nämlich der Schalter für die Geschichten. Einige dieser Geschichten hatte er gehört und einige gelesen, manche waren selbst erlebt und andere frisch erfunden. Eine Erzählung gab es, die ich wieder und wieder von ihm hören wollte. Das war die Geschichte vom verlorenen und wiedergefundenen Schaf aus dem fünfzehnten Kapitel des Lukasevangeliums. Mein Großvater mochte sich fragen, warum er mir diese Geschichte so oft erzählen musste, aber er tat es immer wieder für mich. Ich brauchte diese Geschichte. Es war meine Geschichte. Zwei wichtige Passagen gab es in seiner Erzählung, die jedes Mal wiederkehrten: Wie der Hirte nach langem Suchen und Rufen die erste Antwort seines Schafs erhielt und sich das Rufen des Hirten und das »Mäh« des Schafes abwechselten, bis er sein Schaf gefunden hatte – und wie er es fand: Das Schaf war tief in einen Dornbusch verstrickt. Es konnte nicht mehr vorwärts und nicht mehr rückwärts gehen. Vorsichtig befreite der Hirte das Tier …

Diese Geschichte hat mich durch die Kindheit begleitet. Als ich erwachsen war, hat sie mir als Erste deutlich gemacht, dass Geschichten eine therapeutische Kraft haben, in einem Maß, das wir vermutlich noch oft unterschätzen. Diese Geschichte ist zweitausend Jahre alt. Sie wurde aufgeschrieben, weil sie ihren Zuhörern geholfen hat, und beeinflusst noch heute das Denken und Erleben von Menschen.

Geschichten schaffen Wirklichkeit. Die verändernde Kraft der Geschichten freizusetzen und die Therapie für eine lebendige Sprache zu gewinnen, ist das Anliegen dieses Buches.

Ich danke euch, die ihr eure Geschichte mit der Geschichte dieses Buches verflochten habt. Ihr wisst, wer ihr seid.

EINLEITUNG

1. Was Geschichten hervorrufen

1.1 Zugang

Es müsste doch gehen … Nach diesem Motto begann ich, meinem Körper Geschichten zu erzählen – den Hautzellen, dem Immunsystem und auch dem Heuschnupfen, der mich plagte. Ich erzählte ihnen Metaphern für das, was ich mir von ihnen wünschte. Ich lobte die Immunabwehr und verhandelte mit ihr. Schon nach kurzer Zeit ließen die allergischen Symptome nach, und schließlich verschwanden sie ganz. Einer befreundeten Ärztin erzählte ich von meinem Heilungserfolg. Sie lachte. »Es werden gerade keine Pollen fliegen! Bei Heuschnupfen musst du langfristig denken. Da gibt es Schwankungen über Jahre hinweg.« Am nächsten Tag hatte ich meinen Heuschnupfen wieder. Sehr ärgerlich! »Lieber Heuschnupfen«, sagte ich. »Geh zur Kollegin nach Mainz, die kann dich brauchen. Bei mir wirst du nicht benötigt.« Die Symptome verschwanden in Sekunden. Andere haben mich für das Vorgehen gerügt – indes sagte die Kollegin, der Heuschnupfen sei dort nie angekommen …

Solche Botschaften an andere und an sich selbst haben ihre Wirkung – ob sie nun gezielt oder absichtslos verwendet werden. Freilich wird bei Weitem nicht alles, was ein Mensch in seinem Leben zu hören bekommt, vom Unbewussten tatsächlich umgesetzt. Es gibt Kriterien, nach denen das Unbewusste die auf uns einströmende Flut suggestiver Äußerungen ordnet. Das Unbewusste unterscheidet zwischen vor- und nachrangigen Anweisungen und setzt die einen um, während es andere weitgehend ignoriert.

Im oben geschilderten Fall wurde eine Botschaft offenbar als vorrangig umgesetzt, weil sie von einer Person mit fachlicher Autorität stammte. Die Nachricht »Deine Heilung ist ein Irrtum« wird aus dem Mund einer Ärztin anders aufgenommen, als wenn ein fachlicher Laie dasselbe sagte. Ein weiteres Kriterium dafür, ob eine solche Botschaft umgesetzt wird, ist, ob sie beim Gegenüber Annahme oder Widerstand provoziert. Wenn ich einem frustrierten Menschen Ratschläge erteile, dann werde ich ihn womöglich noch mehr frustrieren. Erzähle ich derselben Person von einem Menschen, vor dem das Glück sich stets verborgen hielt und der sich darum auf eine Suche machte nach dem Glück und der viel erlebte, bis ihn das Glück schließlich fand – dann ist die Chance, dass die Suggestion ihr Ziel erreicht, schon größer.

Geschichten haben die Tendenz, die »Ja-aber«-Struktur kognitiv operierender Beratungsgespräche zu umgehen. Auf eine Erzählung lässt sich weitaus schwerer antworten: »Das hab ich alles schon versucht«, als auf einen Ratschlag oder auf die Frage nach möglichen Lösungen. Suggestive Geschichten wenden sich an unbewusste Lösungsinstanzen unter Umgehung des bewussten Denkens mit seiner Tendenz, sich vom Gewohnten und Befürchteten lähmen zu lassen. Erzählungen geben der Beratung daher eine Leichtigkeit, die in kognitiv orientierten Gesprächen oft fehlt. Die Lösung wird dem Unbewussten überlassen, dessen Suchmöglichkeiten reicher sind als die des rationalen Denkens. Humor, Neugier und Optimismus finden so ihren Platz in der Beratung – weil die Aufmerksamkeit der Gesprächspartner vordergründig mit etwas weitaus Angenehmerem beschäftigt ist als mit den Lasten unbewältigter Probleme. Tatsächlich werden die Probleme beim Zuhören oft unbemerkt und nebenbei gelöst. Zu ersehen ist dies zunächst aus den erleichterten Kommentaren der Klienten nach der Therapie, aus dem häufigen Fehlen weiterer Nachfragen zur Lösung des »eigentlichen« Problems und vor allem aus rasch veränderten Denk- und Verhaltensweisen in der Folge der Beratung.

Aus dem Gesagten wird deutlich, dass die inhaltlichen Botschaften therapeutischer Geschichten oft einen offenen Charakter haben: Angeboten wird nicht eine klar definierte Antwort, sondern eine Lösungsrichtung oder eine Suchhaltung, die zu verschiedenen Lösungen führen kann. Konkrete Vorschläge werden etwa als Informationen über die Erfahrung anderer Menschen angeboten, die als Modell für das eigene Experimentieren geprüft werden. Grundsätzlich soll die Beratung offen bleiben für vielfältige Lösungen und vor allem für die Lösungen der Beratenen selbst.

1.2 Tradition

Der hier geschilderten Arbeitsweise liegen unter anderem Erkenntnisse aus der systemischen Beratung zugrunde. Hier greife ich zurück auf die Heidelberger Tradition, auf die Arbeiten der Mailänder Gruppe um Mara Selvini Palazzoli und auf den Kommunikationsforscher Paul Watzlawick.

Noch stärker sind die Vorgehensweisen geprägt von der Methodik des amerikanischen Psychiaters Milton Erickson. Er gilt als der Pionier der modernen Hypnotherapie. Erstaunlicherweise hat er in seinen späteren Jahren nur noch selten formale Hypnosestrategien angewendet, sondern für seine Klienten und Seminarteilnehmer vor allem Geschichten erzählt und inszeniert.

Des Weiteren ist in das hier beschriebene Vorgehen die jüdischchristliche und altorientalische Tradition des Erzählens eingeflossen. Die Prophetentexte des Alten Testamentes, die Gleichnisse Jesu und die Geschichten der Rabbiner verknüpfen Unterhaltung mit spirituellen, pädagogischen und sozialtherapeutischen Anliegen. Durch die gesamte christliche, jüdische und muslimische Geschichte hinweg wurden Metaphern zielgerichtet verwendet, um effektive Impulse zum Lösen von Problemen zu geben.

Für eine Zeit lang schienen die Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten das Erzählen von Geschichten fast vergessen zu haben, mit Ausnahme biografischer Erlebnisse der Klienten. Das ist überraschend, da die Methodik sich seit Jahrtausenden über die Kulturgrenzen hinweg bewährt hat: In Zeiten, als es noch keine Therapeuten gab, gab es Weise, die um Rat gebeten wurden. Rabbiner und Propheten, Pfarrer und Einsiedler konnten befragt werden. Hodschas, Gurus, Zenmeister, heilkundige Frauen, Seherinnen, Lehrer und Philosophen, Medizinmänner, Schamanen und Druiden wurden zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlichen Kulturen befragt. Heute haben vielfach Therapeuten und Sozialarbeiterinnen, Ärztinnen und Heilpraktiker diese Funktion übernommen.

»Ratschläge sind Schläge«, sagt nun ein Sprichwort, und so haben sich schon früher viele Berater dem Wunsch nach einer eindeutigen Antwort versagt. Sie antworteten mit Gegenfragen, mit Rätselsprüchen oder mit einer Geschichte. Erzählt wird etwa, wie jemand einen jüdischen Gelehrten fragte: »Warum antwortet ihr auf jede Frage mit einer Gegenfrage?«, und er erwiderte: »Warum nicht?«1 Ein junger Mönch fragte: »Was ist das Geheimnis der Erleuchtung?« Der Meister antwortete: »Wenn du hungrig bist, iss, wenn du müde bist, schlafe.«2 Einer, der gehört hat, man solle seinen Nächsten lieben, fragte Jesus: »Wer ist denn mein Nächster?«, und Jesus antwortete: »Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber, die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen …« Und er erzählte, wie zwei angesehene Leute an dem Verletzten vorübergingen und ein Verachteter den Mann fand, seine Wunden versorgte und ihn an einen sicheren Ort brachte3.

So ist es von den Propheten des Alten Testamentes, von jüdischen Rabbinern, von den Weisen des alten Orients wie auch des antiken Griechenland überliefert. Das Anliegen, reale Probleme anhand erdachter Geschichten zu lösen, verfolgen die Märchen- und Weisheitstraditionen des Orients wie auch die entsprechenden Überlieferungen der westlichen Welt. Geschichten sind Therapeutika. Psychotherapie und Heilkunst werden durch sie bereichert und manches Mal vollendet. Einiges von der Kunst, Geschichten in Therapie und Heilkunde einzusetzen, ist allerdings in Vergessenheit geraten und bedarf der Wiederentdeckung.

1.3 Einsatz

Die Einsatzmöglichkeiten therapeutischer Geschichten sind weit gefächert: In der Hypnotherapie werden sie etwa eingesetzt zur Schmerzreduzierung, zur Stillung von Blutungen, zur Reduktion von Neurodermitis und gegen Warzen, zur Überwindung von Autoimmunerkrankungen, bei Tinnitus, zur Regulierung des Blutdrucks und zur Behandlung zahlloser anderer Störungen. Mit Geschichten kann auf Angst- und Zwangsprobleme, auf Tics und Stottern Einfluss genommen werden. Metapherngeschichten können bei der Arbeit mit süchtigen Menschen hilfreich sein, in der Paartherapie und im Gespräch mit Jugendlichen an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Sie können in Coaching- und Teamgespräche eingestreut werden, und schließlich können sie in Ausbildung und Supervision zur Illustration von Haltungen und Techniken und zur Anregung kreativer neuer Ideen eingesetzt werden. Viele Interventionen sind in der Pädagogik mit Kindern und Erwachsenen, in der Seelsorge sowie zum Selbstcoaching verwendbar.

Ein Wort zum Einsatz von Geschichten in medizinischen und pflegerischen Handlungsfeldern: Bei somatischen Beschwerden besteht zuweilen die Schwierigkeit, dass der Körper seine Selbstheilung nicht bestmöglich vorantreibt, etwa aufgrund von Überzeugungen, die die Heilung behindern, durch eine ungünstige Prioritätensetzung (also eine zweitbeste Verteilung von Aufmerksamkeit, Energie und anderen Ressourcen) und durch die stets unvollständige Entdeckung der Möglichkeiten von Selbstheilung. Die Optimierung der Selbstheilungsmöglichkeiten mit Mitteln aus Mentaltraining und Psychotherapie kann die Möglichkeiten der Heilung mit spezifisch medizinischen Mitteln hier ergänzen.

Ein Kollege äußerte, das Buch könne den Eindruck erwecken, als ob eine Geschichte von drei Zeilen Probleme beheben könne, an denen sich die Schulmedizin die Zähne ausbeiße oder für deren Behandlung Psychotherapeuten andernorts dreihundert Stunden ansetzten. Die Möglichkeiten therapeutischer Arbeit mit Geschichten müssen differenziert gesehen werden. Bei bestimmten Problemstellungen können solche Wirkungen erreicht werden, allerdings meist mit einem Geflecht von Geschichten, für das sich Therapeut und Klient einige Stunden Zeit nehmen sollten.

An mehreren Stellen des Buches sind vollständige Kurztherapien skizziert. Die drei Geschichten »Die Verfolgte I«, »Die Verfolgte II« und »Das Zölibat« dokumentieren zusammen eine Therapie von vier Stunden. »Problemlose Therapie« und »Wenn einer ›Stefan Hammel‹ ruft« geben eine zweistündige Therapie wieder, ebenso die Geschichten »Annas U-Boot« und »Fräulein Gehirn« oder auch die Erzählung »Der Blasenwecker«.

Nach meiner Erfahrung ist das zielorientierte Arbeiten mit Geschichten ebenso effektiv wie das Verwenden formaler Hypnosetechniken. Die Mehrzahl der Therapien dauert bei beiden Vorgehensweisen zwischen zwei und acht Stunden. Ein naheliegender Grund ist, dass es sich bei beiden Verfahren im Kern um dasselbe handelt, nämlich um eine kombinierte Nutzung von Trance, Rapport und Suggestionen. Ein Hauptunterschied besteht darin, dass beim Geschichtenerzählen eine informelle (nach allgemeinem Verständnis nicht als »Hypnose« betrachtete) Tranceinduktion stattfindet. So können auch Menschen erreicht werden, die gegenüber Hypnose und anderen geläufigen Psychotherapieverfahren skeptisch eingestellt sind. Wichtig ist es, Suggestivverfahren und erzählende Interventionen jeder Art nicht alternativ, sondern komplementär zu anderen Behandlungsformen zu sehen und sie mit diesen zu kombinieren.

Im Hintergrund der Geschichten steht das Konzept einer hypnosystemischen Kurzzeittherapiearbeit. Ziel dieser Arbeit ist die Veränderung des Geflechts von Wirkungen, das die jeweiligen Symptome und Probleme hervorgebracht hat. Dies geschieht an exemplarischen Stellen unter der Annahme, dass das Unbewusste das, was sich bewährt, beibehält und in angrenzenden Lebensbereichen reproduziert. Unter der Maßgabe eines solchermaßen exemplarischen Arbeitens dauern die meisten Therapien etwa zwei bis sechs Wochen. Die Therapie verfolgt von Anbeginn das Ziel, mit dem Klienten auf möglichst sichere, nachhaltige Weise in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Veränderung hervorzubringen, die Leid vermindert, Glück vermehrt und den Klienten darin unterstützt, notwendige Lasten zu tragen. Der Beginn der Therapie besteht darin, Ziel und Auftrag der therapeutischen Arbeit sowie den biografischen und aktuellen Hintergrund der geschilderten Anliegen abzuklären. Aus dem Gespräch entwickelt der Therapeut mit dem Klienten ein Geflecht von Interventionen, die die Zielrichtung des genannten Auftrags verfolgen. Erfragt und überprüft wird, ob die Auftragserfüllung mit unerwünschten Nebenwirkungen verbunden sein kann und wie diese vermieden werden. Der Therapeut nimmt sich das Recht, Ziele, die in seinen Augen unerreichbar, unethisch oder für den Klienten schädlich sind, nicht zu verfolgen. Er ist interventionsfreudig und zugleich wachsam im Hinblick auf eine fortlaufende Qualitätskontrolle bei den erreichten Ergebnissen.

1.4 Nutzen

Erzählen hilft, Blockaden zu überwinden. Das Reden über Probleme holt oftmals die Lähmung und Verstrickung, die dort erlebt wird, mit ins Gespräch. Das Befassen mit Problemen und traumatischen Erlebnissen wird hier ersetzt durch die Beschäftigung mit einer stellvertretenden Geschichte, innerhalb der eine Lösung leichter zu finden ist, weil hier ein unbelastetes Gespräch möglich ist. Das Reden in Geschichten, die die reale Situation stellvertreten, bewahrt dem therapeutischen Gespräch Leichtigkeit und Humor. Das Reden über Metaphern, Beispielgeschichten und Beschreibungen von Lösungsstrukturen in anderen als den belastenden Bereichen verleiht der Kreativität der Gesprächspartner Flügel. Die belastenden Situationen können oft lange außen vor gelassen werden. Manchmal werden sie erst am Ende, wenn bereits wirksame Lösungen gefunden sind, wieder ins therapeutische Gespräch mit einbezogen, und manchmal versinken die realen Probleme in einem gelösten Schweigen. Viele Klienten beenden die Therapie nach einer metaphorischen Problembehandlung zügig und zufrieden, nur ohne sich so recht erklären zu können, wie es denn zur Auflösung ihrer Probleme kam.

Ein solches narratives Vorgehen bedeutet natürlich mehr Annehmlichkeit für die Klienten, denen die Therapie häufig Spaß macht und die sich auf die jeweils nächste Stunde freuen – was insbesondere bei Kindern und Jugendlichen, die von den Eltern in die Therapie geschleppt werden, entscheidend für den Therapieerfolg sein kann.

Wenn wir davon ausgehen, dass Geschichtenerzählen sich unterscheidet von dem, was andere Berater vor uns den Klienten angeboten haben, steht zudem von Anbeginn das Argument auf unserer Seite: Wer etwas anderes tut als seine Vorgänger, eröffnet auch andere Möglichkeiten als diese.

Ein empathischer Therapeut wird sich wahrscheinlich oft mit dem Erleben der Klienten von Ohnmacht, Angst, Wut und Leere identifizieren und dabei die entsprechenden Erfahrungen in sich selbst in Resonanz bringen. Neben Gefahren für den therapeutischen Prozess besteht für den Berater dabei das Risiko eines emotional bedingten Burnout durch langfristige Identifikation mit belastendem Erleben. Das Arbeiten mit Geschichten ist für die Therapeuten eine wirksame Burnout-Prävention. Sie befassen und identifizieren sich vergleichsweise wenig mit dem Leiden der Klienten, sondern wenden sich Inhalten zu, die im Hinblick auf ihren Energiehaushalt unkritisch sind oder sich auch für sie stärkend auswirken. Tatsächlich ist es häufig so, dass der Therapeut bei einer vom Geschichtenerzählen geprägten Therapiestunde häufig an Energie und Arbeitsmotivation gewinnt und unwillkürlich beim Arbeiten nebenher eigene Fragen löst.

1.5 Trance, Rapport und Suggestionen

Die in diesem Handbuch dargestellten Interventionen sind entstanden aus dem Bemühen um die Optimierung therapeutischer Arbeit. Mich beschäftigt die Frage, wie die Ergebnisse der Hypnotherapie ohne formale Hypnose erreicht werden können. Trance, Rapport und Suggestionen sind ja nicht nur Merkmale der hypnotischen Arbeit, sondern stellen alltägliche, allgegenwärtige Phänomene dar. Also sollten auch die Früchte der Hypnotherapie ohne das Ritual einer Hypnoseinduktion zu gewinnen sein. Die Geschichten aus diesem Buch integrieren hypnotherapeutisch entwickelte Methoden ohne Hypnose in vielfältige therapeutische Situationen. Für Hypnotherapeuten lassen sich die meisten Geschichten abgewandelt auch als Trancegeschichten in hypnotischen Settings einsetzen.

Wenn wir von einer Übertragung hypnotherapeutischer Erkenntnisse in eine Therapie ohne Hypnose sprechen, ist es sinnvoll, uns zu vergegenwärtigen, welche Rolle die Grundkoordinaten der Hypnose, Trance, Rapport und suggestive Kommunikation, im normalen therapeutischen Dialog spielen.

Mit Trance bezeichne ich körperlich-seelische Zustände, die gekennzeichnet sind durch die Fokussierung der Aufmerksamkeit auf wenige Reizquellen unter weitgehender Ausblendung aller anderen Reize. Von Trance ist insbesondere die Rede bei einer weitgehenden Aufmerksamkeitsfokussierung nach innen, das heißt auf erinnerte oder imaginativ konstruierte Wahrnehmungen. Trance ist alltäglich zu beobachten beim Autofahren, Spielen, Arbeiten, Fernsehen, beim konzentrierten Zuhören oder Zusehen. In der Therapie tritt Trance ganz natürlich auf in verschiedenen Formen und Intensitäten. Tatsächlich handelt es sich um eine Vielzahl von Zuständen mit veränderter Wachheit und Aufmerksamkeit gegenüber dem persönlichen oder auch dem gesellschaftlich üblichen Normalmaß. Der Begriff »Trance« ist nicht scharf definierbar, sondern ein Vergleichsbegriff. Methodisch relevant für die Therapie sind hauptsächlich Entspannungstrancen. Charakteristisch für diese Trancezustände sind eine höhere Lernbereitschaft und Lernfähigkeit, eine Verminderung von körperlichem und seelischem Stress in jeder Form, eine Herabsetzung von Hemmungen und eine Intensivierung des imaginativen Erlebens (Tagträumen). Das Erzählen von Geschichten ist in besonderem Maß Trance induzierend, da es vom Hörer eine Fokussierung auf die erzählten Inhalte und auf innere Bilder erfordert. Deutlich ist wohl auch, dass Trance einen festen Platz in jeder Therapie hat und nicht erst durch eine formale Hypnose herbeigeführt wird.

Unter Rapport verstehe ich die intensive Identifikation mit einem Gegenüber. Rapport heißt in einen Gleichklang kommen, bei dem man sich miteinander identifiziert, sodass die jeweiligen persönlichen Realitäten gewissermaßen verschmelzen und als eine gemeinsame Wirklichkeit erlebt werden. Rapport heißt miteinander eine Wellenlänge finden, verbal wie nonverbal. Zum Rapportverhalten gehören unbewusste Verhaltensweisen wie symmetrische Körperhaltungen, gleichzeitige und gleichartige Bewegungen, gleichzeitiges Atmen, Übernahme des Verhaltens eines Gegenübers (ansteckendes Gähnen), Übernahme von Vokabular, Tonfall und Redeweise des Gesprächspartners und ähnliche Phänomene. Verhaltensbiologisch hat Rapport den Sinn, in einem Rudel das Verhalten aller Mitglieder aufeinander und ggf. auf ein Leittier abzustimmen (gemeinsamer Angriff oder gemeinsame Flucht), das Paarungsverhalten zu koordinieren sowie das Verhalten von unerfahrenen Jungtieren an dasjenige der erfahrenen Mutter- bzw. Elterntiere anzupassen. Beim Erzählen von Geschichten wird ein gemeinsames Erleben geschaffen, bei dem die Identitäten von Erzähler und Zuhörer verschmelzen. Das Erzählen von Geschichten, die Übereinstimmung ausdrücken oder die emotional gemeinsam durchlebt werden, verstärkt den Rapport in besonderer Weise. Die unwillkürliche gegenseitige Angleichung von Körperverhalten und unbewusstem Sprechverhalten (z. B. symmetrische Körperhaltungen, gleiche Wortwahl) stellt einen Vorgang dar, der alltäglich zwischen Klienten und Therapeuten abläuft.

Unter suggestiver Kommunikation verstehe ich die Umfokussierung der Aufmerksamkeit eines Gesprächspartners mit dem Potenzial veränderten Denkens und Verhaltens. Dazu gehört insbesondere die Veränderung von Überzeugungen. Eine Suggestion ist demnach eine verbale oder nonverbale Botschaft, die darauf abzielt, Sicht- und Verhaltensweisen zu verändern. Suggestionen können verbal oder nonverbal, bewusst oder unbewusst geäußert werden. Ihrer Form nach können sie behauptend (Suggestion per Deklaration), befehlend (Suggestion per Direktive) oder indirekt (Suggestion per Implikation) ausgedrückt werden. Weithin bekannt sind das Phänomen der selbsterfüllenden Prophezeiungen (Autosuggestion) und der Placeboeffekt. Wie wir nicht nicht kommunizieren können, so können wir auch nicht nichts suggerieren. Suggestionen wirken auch ohne hypnotischen Kontext. Therapeutische Geschichten enthalten suggestive Implikationen, die sich aus dem Abgleich der erzählten Inhalte mit dem biografischen Erleben des Klienten ergeben. In der Therapie sind unbewusste Suggestionen und Autosuggestionen allgegenwärtig, auch ohne Hypnose.

Es zeigt sich, dass die Grundelemente Trance, Rapport und Suggestion auch ohne Hypnose alltägliche Phänomene sind, die im Auftrag der Klienten für deren Ziele genutzt werden können. Deutlich ist sicher auch, dass das Erzählen von Geschichten schon unwillkürlich Trance vertiefend, Rapport verstärkend und per Implikation suggestiv wirkt und dass diese Wirkungen bei Bedarf durch geeignete Erzählweisen intensiviert werden können.

Das vorliegende Konzept nutzt alltägliche Formen von Trance, wie sie beim Hören von Geschichten unwillkürlich auftreten, um therapeutische Effekte zu erzielen. Aus diesem Grund möchte ich einige Worte zu den Kennzeichen dieser Trance sagen. Charakteristisch für den Trancezustand sind vegetative Veränderungen von:

Im Verlauf einer Trance können unterschiedliche Phänomene auftreten. Diese Phänomene sind aus der Hypnosearbeit bekannt. Sie treten jedoch auch im alltäglichen Tranceerleben auf und können durch geeignete Erzähltechniken verstärkt und therapeutisch genutzt werden. Um diese Phänomene in den Dienst der Therapie zu nehmen, ist es nützlich, sie auch in ihren oft unscheinbaren alltäglichen Formen wahrzunehmen. Klassische Trancephänomene sind:

Zu unterscheiden sind eine teilweise Dissoziation, bei der das abgekoppelte körperliche bzw. geistig-seelische Erleben als fremd wahrgenommen wird, und eine völlige Dissoziation, bei der es nicht mehr wahrgenommen bzw. erinnert wird (Amnesie, Zahlenblock, Anästhesie, Induktion vorübergehender Unfähigkeit von Sehen, Hören, Sichbewegen etc.).

Alltäglich auftretende Trancephänomene werden in vielen der Geschichten therapeutisch genutzt.

1.6 Die Welt der Träume

Die Urform aller therapeutischen Geschichten ist der Traum. Träume sind älter als die Menschheit. Träume sind die urtümlichste Art, wie wir unser psychisches und soziales Erleben ordnen. Das Kino in unserem Kopf hilft uns, Eindrücke zu verarbeiten, Belastungen zu reduzieren, Ziele zu klären, mögliche Wege zu prüfen und Impulse zu setzen für den Weg, den wir dann schließlich wählen.

Dem Handbuch liegt der Gedanke zugrunde, dass unser Erleben in einer grundlegenden Weise von unseren nächtlichen und täglichen Träumen gesteuert wird und dass erzählte Geschichten nichts anderes sind als laut gewordene, gelenkte und lenkende Träume. Die Wirkungsweise therapeutischer Geschichten ist dieselbe wie die der nächtlichen und täglichen Träume. Wenn wir auf Haltungen und Regungen Einfluss nehmen möchten, die dem Unbewussten entspringen, empfiehlt es sich, dies in der Weise zu tun, wie das Unbewusste arbeitet. Therapeutische Geschichten sind gelenkte Träume mit dem Ziel, auf Körper, Geist, Spiritualität und Sozialsystem heilsam einzuwirken.

Um eine Metapher zu gebrauchen: Spreche ich einen einheimischen Kenianer auf Suaheli an, wird er mich wahrscheinlich besser verstehen, als wenn ich deutsch oder englisch mit ihm rede. Er wird mit Interesse, Sympathie und Entgegenkommen auf eine Ansprache in seiner Muttersprache reagieren. Er wird sich länger konzentrieren können, wird in einen lebendigen Dialog treten und viele eigene Ideen zum Ausdruck bringen. Wenn ich mit dem Unbewussten eines Menschen in seiner Muttersprache »Traum« spreche, wird es stärker reagieren, als wenn ich mit ihm auf »Psychologisch« spreche. Der Traum ist die Muttersprache des Unbewussten. Das Kognitive und Analytische sind für das Unbewusste Fremdsprachen. Therapeutische Geschichten sprechen das Unbewusste in seiner eigenen Sprache an und wirken dadurch so effektiv. Sie sind geeignet, das bewusste Denken mit seiner kleinen Arbeitskapazität, seiner Skepsis gegenüber Neuem, seiner Verhaftung im Gewohnten zu umgehen und direkt auf das Unbewusste mit seinen ungeheuren Gestaltungsmöglichkeiten Einfluss zu nehmen.

Die Träume der Menschen lassen sich in verschiedene Grundtypen mit verschiedenen Funktionen einteilen. Es gibt Beispielträume und Metaphernträume. Es gibt in beiden Gruppen Träume, die überwiegend einer Suchhaltung entspringen und um Lösungen ringen, dann Albträume, die vor Gefahren warnen, und schließlich Träume, die Gelungenes stärken und nach »mehr desselben« rufen. Manche Träume dienen mehr der Vorbereitung auf ein Ereignis, andere eher der Nachverarbeitung oder der Begleitung chronischer Probleme. Viele Träume lassen sich deutlich einer Kategorie zuordnen. Der Traum vieler Menschen, nackt oder in Unterwäsche in der Öffentlichkeit zu stehen, ist eine metaphorische Warnung und dient als aversive Autosuggestion gegen das Aufgeben von Schutz. Der Traum vieler Prüflinge, im Examen keine Frage beantworten zu können, ist eine beispielhafte Warnung. Der Traum, fliegen zu können, ist ein metaphorisches Positivmodell, der Traum, in einen Krieg zu geraten, ein metaphorisches Negativmodell, und der Traum, in einer fremden Stadt eine Straße zu suchen, ein metaphorisches Suchmodell. Alle realistischen Träume, ob positiv oder negativ, sind Beispiele, die die Funktion haben, Gelingendes zu unterstützen und vor einem Misserfolg zu warnen oder vergangene Misserfolge auszuwerten. Es gibt Mischformen dieser Grundtypen in allen Varianten, aber die Grundformen scheinen mir deutlich unterscheidbar.

Träume und Geschichten sind eins. So lassen sich auch Geschichten in Metaphern und Beispielgeschichten einteilen, wobei beide Gruppen sich in Positivmodelle, Negativmodelle und Suchmodelle untergliedern lassen. Diese unterschiedlichen Grundformen lassen sich in unterschiedlicher Weise therapeutisch nutzen. Sie repräsentieren die Zielrichtungen, Stärkendes zu verstärken, vor Schädlichem zu warnen und sich auf die Suche nach neuen Lebensmöglichkeiten zu begeben.

In unserer westlich geprägten Kultur mag es scheinen, als sei eine kognitiv orientierte Sprache zu unserer Grundsprache geworden und die Geschichten seien unsere Fremdsprache. So verlässt sich auch die Therapiearbeit oft auf das bewusste, wissenschaftlich-rational verantwortete Denken und fordert Reflexion und Analyse. Meine Beobachtung ist, dass nach einiger Beschäftigung mit dem Erzählen zunehmend das Unbewusste die Geschichten aussucht und therapeutisch ausgestaltet, sodass viele Methoden dem Therapeuten kaum noch bewusst werden, so wie wir uns beim Schreiben nur noch selten der Buchstaben bewusst sind, die wir verwenden. Das heilende Gespräch wird zu einer Kommunikation vom Unbewussten des Therapeuten zum Unbewussten des Klienten.

Worte sind nicht Schall und Rauch. Was sie ausrufen, rufen sie hervor – wenn keine größeren inneren und äußeren Widerstände die Umsetzung des Gesagten verhindern. Worte rufen Reaktionen hervor aus der Welt der bloßen Möglichkeit in die Welt der Handlungen. Sie rufen sie hervor aus der Tiefe der Seele, aus dem Heilungspotenzial des Körpers, aus dem unbewussten kommunikativen Geflecht einer Gruppe und, wenn im Glauben Wahrheit liegt, auch aus spirituellen Sphären.

Geschichten wiederum sind keine bloße Aneinanderreihung von Worten, sondern ein komplexes Gewebe sprachlicher (und im Erzählprozess auch nonverbaler) Elemente. Ihr Sinngeflecht erzeugt ein Geflecht von körperlich-seelischen und sozialen Reaktionen, das in seinen Implikationen für das bewusste, kognitiv orientierte Denken nicht zu überblicken ist. Geschichten schaffen in komplex ambivalenten (polyvalenten) Systemen neue Prioritäten, die das System in neue Gleichgewichte (Homöostasen) führen. Sie verändern den Aufmerksamkeitsfokus des organischen, psychischen und sozialen Systems und ermöglichen damit eine neue Balance und Ökonomie der Ressourcen. Die Geschichten, die wir erzählen, richten sich zu einem großen Teil an das Unbewusste des Klienten, dessen Muster des Wahrnehmens, Denkens und Verhaltens sie verändern. Sie entspringen aber auch zu einem großen Teil dem Unbewussten: dem Unbewussten des Therapeuten. Er wird sich in der Dichte der Kommunikation und in der Kürze der Zeit auf sein Körpergefühl und seine Intuition verlassen – die ihn wahrscheinlich besser beraten können als alle kognitiv erzeugten »Analysen«. Wie schon gesagt, ist Therapie in Geschichten zu einem großen Teil eine Kommunikation des Unbewussten mit dem Unbewussten des Gegenübers. Sie gleicht auch hierin der Kommunikation der Träume – nur geht es hier um gemeinsame Träume, die absichtsvoll in der Kommunikation zwischen Menschen eingesetzt werden, um die Wahrnehmungs-, Denk- und Verhaltensweisen von Einzelpersonen und Gruppen zu lenken.

1.7 Struktur und Inhalt

Therapeutische Arbeit versucht üblicherweise nicht, vereinzelt auftretende und täglich wechselnde Denkinhalte und Verhaltensweisen zu beeinflussen. Sie zielt darauf, regelmäßig wiederkehrende Denk-, Verhaltens- und Beziehungsstrukturen zu verändern. Gesucht sind also Geschichten, die strukturelle Analogien zum tatsächlichen Leben der Klienten haben und aufzeigen, wie eine bestimmte Struktur (das Muster) sich im Leben des Klienten auswirkt und, gegebenenfalls, wie sie sinnvoll verändert werden können. Um solche Geschichten zu finden, ist es (wie ohnehin in der therapeutischen Arbeit) wichtig, eine Grundhaltung einzunehmen, die sich hauptsächlich für die Muster im Denken, Handeln und Erleben der Klienten interessiert und den einzelnen Inhalten vergleichsweise weniger Interesse widmet.

Ich möchte den Unterschied zwischen dem Befassen mit Strukturen und mit Inhalten durch einige Beispiele verdeutlichen. Wenn etwa Jesus im Neuen Testament sagt: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«, benennt er damit ein Muster für Glück bringendes Verhalten. Würde er stattdessen sagen: »Schenke deinem Nachbarn Levi zehn Denare«, wäre das ein Inhalt. Sagt er: »Dein Glaube hat dir geholfen«, benennt er ein Muster. Würde er sagen: »Weil du eben gedacht hast: ›Jesus heilt mich vom Aussatz‹, bist du gesund geworden«, dann spräche er in Inhalten. Inhaltlich redet er, wenn er sagt: »Gehe in das Dorf Betfage. Am ersten Haus ist ein Esel angebunden. Binde ihn los und bring ihn her.« Von einem Muster spricht er dagegen, wenn er sagt: »Sie werden euch verfolgen, wie sie mich verfolgt haben.«

Während die Denk- und Verhaltensmuster eines Menschen und auch eines sozialen Systems üblicherweise sehr stabil sind und regelmäßig wiederkehren, wechseln die Inhalte immerzu: Die Konfliktstoffe sind beispielsweise täglich verschieden, aber die Konfliktstile sind immer wieder gleich. Wer seine Umgebung gestalten will, muss die Wechselwirkungen betrachten, die Beziehungen, die statischen und dynamischen Gleichgewichte, die sich überall zwischen Menschen und Dingen eingependelt haben. Er muss anstelle der wechselnden Inhalte die beständigen Muster beachten und gestalten.

Um den Blick auf Strukturen hinzuwenden, ist es nicht unbedingt notwendig, ein Thema analytisch orientiert zu betrachten und es kognitiv zu bearbeiten. Der Blick auf die Muster kann durchaus intuitiv erfolgen. Wir können uns für einen Moment in einen tagträumerischen Zustand versetzen, können erspüren, was das Feststehende und Wiederkehrende an den uns erzählten Geschichten sein mag, und schon fällt uns ein, wo im Universum sich Menschen, Dinge, Pflanzen oder Tiere merkwürdig ähnlich verhalten – mit ähnlichen oder anderen Ergebnissen. So beginnen wir, mit den Klienten in anschaulichen Bildern über die ansonsten unanschaulichen Strukturen zu plaudern, und sind bereits mit ihnen auf dem Weg zur Lösung.

1.8 Therapeutische Grundsätze

Die therapeutische Haltung hinter den Geschichten ist von mehreren Grundsätzen geprägt, die teils aus der systemischen Beratung und der Therapiearbeit nach Milton Erickson, teils aus eigener Beobachtung stammen:

  1. Die Beratung ist ressourcenorientiert. In den Vordergrund treten in aller Regel die Chancen und Möglichkeiten von Menschen. Ihre Fähigkeiten werden hervorgehoben und gestärkt. Defizite werden nicht in den Mittelpunkt gerückt. »Schwächen« werden als subjektive Wahrnehmungen angesehen, die möglicherweise vorläufigen Charakter besitzen. Sie hängen nämlich von den Deutungen und Verhaltensweisen der Gruppenmitglieder und vom Selbstbild des Einzelnen ab. Die Sicht- und Verhaltensweisen, die die Wahrnehmung von Schwächen hervorbringen, können sich jederzeit verändern, mithin auch die wahrgenommenen Schwächen.
  2. Die Beratung ist zukunfts-, ziel- und lösungsorientiert. Es geht um die Suche nach erreichbaren Zielen und Lösungen für eine größere Lebenszufriedenheit und um den Beginn einer Umsetzung von Veränderungen im gegenseitigen Wahrnehmen und Verhalten. »Zielorientierung« kann man auch als »Auftragsorientierung« beschreiben: Der Therapeut ermittelt zunächst, was durch das Gespräch erreicht werden soll und was dabei sein Auftrag ist. Dann verfolgt er diesen konsequent, bis die Gesprächspartner zu dem Ergebnis kommen, dass das gesetzte Ziel erreicht ist.
  3. Nutze alles. Die Therapie utilisiert die Eigenarten und Fähigkeiten des Klienten, seines Problems, seiner Umgebung sowie der aktuellen Situation, um die Ziele des Klienten zu erreichen.
  4. Prüfe alles. Der Therapeut legt sich auf keine therapeutische Theorie fest, der seine Praxis zu folgen hätte, sondern orientiert seine Arbeit an der konkret vorgefundenen Situation. Jeder Klient ist individuell, darum ist jede Therapie individuell.
  5. Erwarte alles. Mit Blick auf psychotherapeutische, psychosomatische und psychosoziale Theorien, die definieren, was in der Psychotherapie wirklich und was möglich sei, hält sich der Therapeut skeptisch zurück. Auch Theorien der Klienten, ihrer Umgebung und der psychotherapeutischen Literatur zum Symptom betrachtet der Therapeut skeptisch, wenn ihre Wirklichkeitskonstruktionen die Therapie eher erschweren als begünstigen. Im Hinblick auf Modelle, die vorgeben, wie die menschliche Psyche und wie Psychotherapie funktioniert, stellt sich der Therapeut die Fragen: »Wirklich?« und »Warum nicht?« In Bezug auf die Möglichkeiten der Heilung und Linderung pflegt der Therapeut eine maximale positive Erwartungshaltung. Er vermittelt diese Haltung überwiegend nonverbal und über Implikationen, ohne verbale Erfolgsversprechen zu geben. Der Therapeut hält die Möglichkeit des Scheiterns so weit im Blick, als es zur Prävention von Schaden für Klient und Therapeut notwendig ist.
  6. Alles psychische Erleben beruht auf der Imagination und Erinnerung körperlich wahrnehmbarer Prozesse. Es beruht auf dem Sehen imaginierter Bilder, auf dem Hören innerer Stimmen und auf vorgestellten Körpergefühlen. Die psychischen und körperlich-vegetativen Prozesse sind beim Imaginieren dieselben wie beim aktuellen Erleben, nur meist in abgeschwächter Form. Eine Therapie, die sich am Erzählen orientiert, simuliert imaginativ körperlich-seelische Prozesse, um gezielt neue Reaktionsmuster zu konditionieren, die dann in der Realität Gültigkeit haben.
  7. Körperliches und psychisches Erleben sind zwei Seiten derselben Sache. Psychische Veränderungen ziehen spezifische vegetative Veränderungen nach sich und umgekehrt. Wer zum Beispiel den Atem, das Schwitzen und vorgestellte innere Bilder verändert, beeinflusst alle damit verkoppelten Parameter, also beispielsweise den Puls, die Schmerzen, die Weite der Gefäße, den Muskeltonus und die Angst. Jede körperliche und seelische Reaktion kann verändert werden über eine Veränderung der damit verknüpften körperlichen und seelischen Reaktionen. Jeder vorstellbare körperliche und seelische Stress- oder Entspannungszustand lässt sich erreichen durch das Erzählen von Geschichten, die eine Veränderung einzelner solcher Parameter implizieren.
  8. »Alles menschliche Erleben ist das Ergebnis von Aufmerksamkeitsfokussierung«.4 Dieses Erleben folgt Regeln. Viele dieser Regeln gelten für körperliche und seelische Prozesse gleichermaßen. Analoge Vorgehensweisen können für die Auflösung von Schmerzen und von Angstzuständen funktionieren, für Allergien und Phobien, für Tinnitus und Zwangsgedanken, für Krämpfe und Konflikte. Grundfunktionen dieser Aufmerksamkeitsfokussierung sind Assoziation und Dissoziation. Das heißt, die Aufmerksamkeit des Klienten wird gelenkt durch das Einblenden und Verknüpfen von Inhalten sowie durch das Ausblenden und Trennen derselben. Mit Geschichten werden neue Reiz-Reaktions-Schemata geschaffen. Durch Sprache hervorgerufen werden neue Assoziationsketten, neue Deutungen, neue Verhaltensweisen, neue Körperreaktionen und natürlich auch neue emotionale Reaktionen. Sinnliche Wahrnehmungen wie auch Erinnerungen, die bisher zu kritischen Reaktionen führten, werden verknüpft mit ressourcenhaltigen Konnotationen, Deutungen und Verhaltensweisen. Kritische Reiz-Reaktions-Schemata wie belastende Assoziationen werden abgeschwächt oder getrennt. Die Konzepte von Verknüpfung und Trennung von Reaktionsmustern können daraufhin angelegt werden, vorübergehend oder dauerhaft aufzutreten oder sich, wie bei einer Konditionierung, regelmäßig zu wiederholen. Alle körperlichen und psychischen Inhalte menschlichen Erlebens können grundsätzlich miteinander verknüpft oder voneinander getrennt werden.
  9. Therapeutische Veränderungen, die von größerer Tragweite sein können, werden zunächst probeweise eingeführt. Sie werden beispielsweise verbunden mit der Aufforderung an den Klienten, alles Vorgeschlagene in praktischer Erprobung daraufhin zu überprüfen, ob es sich als nützlich erweist. Die Klienten werden aufgefordert, alles Gelernte fortzuführen, soweit es sich für das Unbewusste bewährt, und es so lange zu verstärken und zu vermehren, wie seine Ausweitung nützlich ist, dagegen alles zu verwerfen, was sich nicht bewährt. Die Therapie vermeidet durch dieses Vorgehen sowohl Widerstand aufseiten des Klienten als auch unerwünschte Nebenwirkungen. Das Sicherheits- und Autonomiebedürfnis des Klienten wird respektiert.
  10. Verhaltensweisen, bei denen sich der Vorteil der beratenen Person mit Vorteilen für andere, mitbetroffene Personen verbinden lässt, sind vorzuziehen gegenüber Verhaltensweisen, bei denen der Vorteil einer Person zu Lasten anderer betroffener Personen geht. Der zuletzt genannte Typ von Verhaltensweisen (Wettbewerb, Non-Kooperation, Nullsummenspiele) ist jeweils dann zu unterstützen, wenn Lösungen im Sinne des erstgenannten Typs (Freundschaft, Kooperation, Nicht-Nullsummenspiele) nicht erreichbar sind.
  11. Ein allgemeines Ziel der Therapie ist es, den Möglichkeitsspielraum des Klienten zu erweitern. Der Therapeut ist bestrebt, dem Wahrnehmen, Denken und Verhalten des Klienten Möglichkeiten hinzuzufügen und keine hinwegzunehmen.
  12. Mehr noch als eine positive Gestimmtheit des Klienten ist alles zu erstreben, was ihn in eine Position der Kraft versetzt. Als kraftvoll wird hier verstanden, was sich verbindet mit dem Erleben von körperlicher und sozialer Handlungsfähigkeit und von emotionaler Präsenz. Als belastend und schwächend ist zu verstehen, was sich verbindet mit einem Erleben von Lähmung, Beklemmung, Nervosität oder diffuser Aggression. Als Beleg dafür, was für den Organismus stärkend und stressend wirkt, dient für den Therapeuten der Abgleich des eigenen Körperempfindens mit den gerade besprochenen Inhalten. Zusätzlich gleicht der Therapeut optisch und akustisch ab, ob er die Mimik, Haltung, Gestik und Stimme des Klienten während des jeweiligen Gesprächsinhaltes als kraftvoll oder als gestresst erlebt, und fragt den Klienten gegebenenfalls nach seiner Einschätzung.

1.9 Philosophische Verortung