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  DORIS POVSE– Nicht mit uns | Wie ich mit meiner Tochter untertauchte– edition a

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Dino Beck

Cover und Gestaltung: Hidsch

Gesetzt in der Premiéra

1 2 3 4 5 6 – 17 16 15 14

eBook-ISBN 978-3-99001-096-9

eBook-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

Dieses Buch basiert auf tatsächlichen Begebenheiten. Teilweise wurden Namen, geografische Gegebenheiten und andere Details aus Gründen des Datenschutzes, des Schutzes beteiligter Personen sowie der leichteren Verständlichkeit verändert.

Vorwort an meine Kinder

Liebe Sofia,

wenn du diese Zeilen liest, wird die Zeit weit vorangeschritten sein, und du wirst alt genug sein, sodass du viel mehr als jetzt verstehen und wissen wirst, wahrscheinlich sogar mehr, als ich mir heute vorstellen kann. Ich hoffe und glaube fest daran, dass sich bis dahin alles zum Guten wendet, und du eine gute Beziehung zu deinem Papa aufgebaut haben wirst. Ich hoffe, dass er dir seine väterliche Liebe schenkt und dass er dein Leben mit seinen Erfahrungen und der Kultur seines Landes bereichert.

Es tut mir leid, dass wir gemeinsam so lange voll Angst leben mussten. Dein Papa und ich – was soll ich sagen, es hat nicht funktioniert zwischen uns, und irgendwann waren die Gräben zu tief und die Mauern zu dick. Du weißt es selbst, auch wenn du, als du mittendrin warst, vielleicht alles eher gefühlt als verstanden hast. Wir konnten überhaupt nicht mehr miteinander reden. Alles war dunkel. Ich hoffe, dass du niemals eine solche Erfahrung mit einem Mann machen musst. Aber was immer auch zwischen deinem Papa und mir war, soll kein Hindernis dafür sein, dass ihr beide zueinander findet.

Liebe Sofia, ich schreibe diese Nachricht an dich genau ein halbes Jahr nach dem Ende unserer Flucht. Du kannst dich vielleicht daran erinnern, wie ich manchmal ganz unerträglich war und ständig geweint habe, daran, wie wir uns gemeinsam in Wohnungen und Häusern von Freunden und Fremden versteckt haben. Ich hoffe, dass du mir und uns allen verzeihst, was du unseretwegen in dieser Zeit durchmachen musstest.

Am meisten tut es mir leid, dass wir uns an die Öffentlichkeit wenden mussten, und dass du unfreiwillig und ungefragt eine Bekanntheit erlangt hast, als gehörte unser Leben nicht mehr uns, sondern als wäre es eine Art Reality-Soap, mit vielen Produzenten und Regisseuren. Ich hoffe, du verstehst, dass dieser Schritt unvermeidlich war, dass er damals die einzige Möglichkeit war, das Schlimmste, das Allerschlimmste, unsere gewaltsame Trennung zu verhindern.

Jetzt, während sich alles zum Besseren zu wenden scheint, und dein Papa und ich endlich wieder miteinander reden können, erscheint mir unsere Flucht wie ein irreales Abenteuer. Als wäre es tatsächlich eine Reality-Soap gewesen. Jetzt lachst du wieder mit mir, anstatt wie damals mit mir zu weinen.

Es wäre so gesehen nicht notwendig, dieses Buch zu schreiben. Wir haben die Krise überwunden. Wir brauchen keine Strategie mehr. Es gibt niemanden, dem Schuld zuzuweisen irgendeinen Sinn ergeben würde, und wir sind niemandem eine Erklärung schuldig. Dennoch denke ich, dass es trotz aller Intimität, die die folgenden Seiten enthalten, trotz aller unmittelbaren und sehr privaten Einblicke in unser Schicksal, richtig war, dieses Buch zu schreiben, und zwar nicht nur wegen der vielen Menschen in unserem Land, die in den Zeitungen und vor den Fernsehern mit uns mitgefiebert haben und danach mehr über uns wissen wollten, wie ich vielen Briefen und E-Mails entnahm. Vor allem ist dieses Buch für mich ein Weg der Verarbeitung.

Immer nur auf der Flucht zu sein, sei es eine äußere wie die, auf der wir waren, oder eine innere vor den Abgründen, die das Erlebte hinterlassen hat, ergibt keinen Sinn. Wirklich und richtig zu leben, bedeutet, dem Leben in die Augen zu sehen. Wenn es stimmt, dass die wahre Hölle auf Erden jene Dinge sind, die wir aus Angst verpasst haben, dann ist Verdrängung das Tor dorthin.

Mein sehnlichster Wunsch ist, dass du in deinem Leben nur noch freiwillige Abenteuer auf dich nimmst. Dass dir kein Unglück mehr zustößt, und schon gar keines im Zusammenhang mit unserer Familie. Und dass du deine Fröhlichkeit und dein unbekümmertes, strahlendes Lachen für immer behältst.

Ich werde immer für dich da sein, das verspreche ich dir. Wenn du glücklich bist, werde ich mich für dich freuen, und wenn dein Weg gerade einmal schwierig sein sollte, werde ich zur Stelle sein und dir beistehen. Bedingungslos, mit aller Kraft, mit aller Liebe. Ich liebe dich so sehr. Und dein Papa liebt dich auch.

Es küsst dich

deine Mama

Lieber Philip,

dieses Buch habe ich in einer Zeit geschrieben, in der dein Papa und ich fürchten mussten, deine Schwester Sofia könnte uns mit Gewalt weggenommen werden. Wenn du groß genug bist, wirst du verstehen, warum ich es schreiben musste. Die Geschichte, die ich darin erzähle, ist auch die deine, auch wenn du darin zu deinem Glück nicht im Mittelpunkt stehst. Sie hat für eine Weile einen Schatten auch über dein Leben geworfen.

Es ist am Ende alles gut ausgegangen. Trotzdem bist du schon als kleines Kind in eine schwierige Situation geraten, an der dein Papa genauso wenig schuld war wie deine Halbschwester oder gar du selbst. Vielleicht hast du irgendwie mitbekommen, dass die Dinge eben doch auch gut gehen können für jene, die ihre Hoffnung bewahren und kämpfen. Trotzdem weiß ich, dass du ein Stück Vergangenheit mit dir herumträgst, das für dich wahrscheinlich unhandlich ist, und zu dem du erst eine Einstellung finden musst, die du dann während deines Lebens mit wachsenden Erfahrungen wohl noch ein paar Mal verändern wirst.

Ich werde jedenfalls alles dafür tun, dass du eine schöne Kindheit erlebst, dass du gesund bleibst und glücklich wirst, und dass wir immer in aller Offenheit miteinander umgehen, sodass nichts zwischen uns treten kann, weder Vergangenes noch Kommendes. Ich freue mich darauf, dass du mir einmal erzählst, wie du dich zum ersten Mal verliebt, wie du zum ersten Mal etwas Dummes angestellt oder wie du dich zum ersten Mal betrunken hast. Ich freue mich auf Tage, in denen diese Geschichte vielleicht nur noch eine Anekdote ist, eine Erfahrung, die uns eint, ohne dass sie noch schmerzen könnte.

Ich liebe dich, und dein Papa Raimund liebt dich auch.

Meine Engel.
Euer Atem ist freudiges Lächeln.
Euer Herzschlag ist heilender Balsam.
Und die Federn eurer duftenden Flügel kühlen meine glühende Stirn.

1. Angst

Es war am 14. Juli 2013 um 6.10 Uhr morgens. Der Wecker klingelte, aber ich drehte mich schlaftrunken zur Seite und vergrub mein Gesicht im Kissen. Ein paar Minuten wollte ich noch die Ruhe der endenden Nacht, die Zeit des sorglosen Schlafes genießen. Nur im traumlosen Schlaf fühlte ich mich sicher.

Sobald ich die Augen öffnete, war es mit der Ruhe vorbei. Ich musste augenblicklich aufstehen, um mit einer möglichst alltäglichen Tätigkeit meine Sorgen zu verdrängen. Raimund, mein Lebensgefährte, war bereits auf, und wir bereiteten gemeinsam das Frühstück zu. Ich konzentrierte mich auf jede Einzelheit. Tee kochen, Brot schneiden, Gläser und Teller auf den Tisch stellen, das alles war für mich wie Meditation, wie ein Ritual, ein Gebet. Ich zelebrierte Kleinigkeiten des Alltags, um nicht verrückt zu werden.

Als der Tisch gedeckt war, wollte ich Sofia aufwecken, damit sie es rechtzeitig in den Kindergarten schaffte. Die Tür zu ihrem Kinderzimmer war angelehnt. Das wunderte mich. Ich spürte in meinem Inneren einen Ruck, der mich für den Bruchteil einer Sekunde innehalten ließ. Dann drückte ich die Tür auf, und meine schlimmste Befürchtung bewahrheitete sich.

Wir lebten damals in einem Haus in Berndorf, das Teil einer Reihenhaussiedlung war. Die weißen Häuser dort hatten ein rotes Dach, ein Erdgeschoß und ein Dachgeschoß. In unserem Wohn- und Esszimmer standen Fernseher und indische Holzmöbel. Sofias Zimmer war mit hellen Kiefernholzmöbeln eingerichtet, hatte rosa Wände, die mit Postern von Katzen und Marienkäfern geschmückt waren. In dem Regal ruhten ihre Barbiepuppen und ihre Legosteine. Über ihrem Bett hingen Fotos von ihren Freundinnen und eine große Mickymausuhr.

Sofias Bett war leer. Meine Hände wurden nass, ich bekam keine Luft mehr und fühlte den Puls in meiner Stirn pochen. »Komm schnell«, schrie ich in Richtung der Küche, »Sofia ist weg!«

Im nächsten Moment war Raimund da. Mein geliebter großer Mann mit den breiten Schultern und den hellen Haaren tauchte neben mir auf, als wäre er geflogen. Gemeinsam riefen wir Sofia beim Namen und suchten sie im ganzen Haus. Ich suchte unter ihrem Bett, hinter den Möbeln, im Bad. Ich lief ins Dachgeschoß, wo wir ein Arbeits- und Gymnastikzimmer mit einer ausziehbaren Couch hatten. Nach drei Minuten griff ich mit zitternden Fingern nach meinem Handy, aber ich war mir nicht sicher, ob ich die Polizei oder meinen Anwalt anrufen sollte.

Gleichzeitig zog ich mir die Schuhe an. Vielleicht war sie einfach nur weggelaufen, und weit konnte sie ja nicht gekommen sein. Ich versuchte, bei Verstand zu bleiben, doch meine Panik war stärker. Vor meinem inneren Auge spielten sich die schlimmsten Entführungsfantasien ab. Ich war einem Nervenzusammenbruch nahe, aber mein Kopf sagte mir, dass ich stark sein musste, für Sofia.

»Das kann nicht sein«, sagte Raimund. Ich merkte, wie er sich bemühte, ruhig zu sprechen, wohl um meiner Panik keine Nahrung zu geben. »Sie wird sich ja nicht in Luft aufgelöst haben.«

Ich öffnete die Haustür und rief Sofias Namen auf die Straße hinaus. Meine Rufe verhallten über dem Parkplatz unserer Siedlung. Ich bildete mir ein, drüben beim Müllraum einen Schatten gesehen zu haben, aber da war nichts. Raimund packte mich von hinten an den Schultern. »Schau drinnen weiter«, sagte er. »Sie muss da sein.«

Hektisch lief ich noch einmal durch alle Zimmer. Philip, unser zweijähriger Sohn, wachte auf und fing zu weinen an.

»Alles ist gut«, sagte ich zu ihm, doch meine Stimme überschlug sich, und er weinte noch lauter.

Aus dem Schlafzimmer hörte ich ein leises Geräusch. Ich riss die Tür auf und war binnen Sekunden wie erlöst. Sofia kletterte kichernd unter unserem Doppelbett hervor. Ich stürzte mich auf sie, umarmte und küsste sie. Mit dem Ärmel wischte ich mir über das Gesicht. Tränen der Erleichterung waren mir aus den Augen geschossen. Sofia musste sie nicht sehen. Sie musste nicht wissen, wie groß der Druck war, unter dem ich stand, und wie sehr mich ein kleiner Streich in den Wahnsinn treiben konnte. Doch Sofia hatte ein feines Sensorium. Sie kuschelte sich an mich. »Entschuldige, Mama«, sagte sie. »Ich wollte nicht, dass du traurig bist. Ich dachte, es wäre lustig.«

»Ein anderes Mal wäre es vielleicht lustig gewesen, aber heute hast du mir einen großen Schrecken eingejagt«, sagte ich.

Raimund kam mit Philip auf dem Arm ins Zimmer, küsste mich auf die Stirn und dann Sofias goldene Haare. »Komm Sofia, zieh dich an«, sagte er, während er mir einen beruhigenden Blick zuwarf. »Du musst in den Kindergarten.«

Sofia hatte sich nichts dabei gedacht. Doch ich war einfach zu angespannt, um Spaß zu verstehen. In jeder anderen Situation hätte ich ihren Streich vielleicht witzig finden können, aber nicht in dieser. In zehn Tagen sollte der Gerichtsvollzieher Sofia abholen. Ich war nicht einmal offiziell informiert worden, wohl, damit die Behörden den Überraschungseffekt auf ihrer Seite hatten. Doch mein ehemaliger Anwalt hatte einen anonymen Anruf mit dem Hinweis bekommen, dass der Gerichtsvollzieher am 24. Juli um fünf Uhr morgens kommen würde, und er hatte mir zum Glück sofort Bescheid gesagt.

Obwohl ich davor jahrelang Zeit gehabt hatte, mich an schlimme Nachrichten zu gewöhnen, hatte mich diese in ihrer Endgültigkeit besonders erschüttert. Was der Anwalt da ausgesprochen hatte, war für mich unvorstellbar. Eine Gruppe Männer in Uniformen würde kommen und meinen blonden Engel wie eine Verbrecherin abführen. Sie würden Sofia mitnehmen. Weg von uns. Weg von ihrer Familie. Weg von ihrer Heimat. Eine schreckliche Vorstellung. Schlimmer als meine schlimmsten Albträume.

Immerhin wusste ich jetzt, dass es da draußen Menschen gab, die zu uns hielten, und ich kannte den Plan des Gerichts. Ich musste nicht mehr befürchten, dass sie Sofia heimlich in der Nacht aus ihrem Kinderzimmer oder untertags aus dem Kindergarten holen würden. Erst am 24. Juli sollten sie kommen, und bis dahin hatte ich noch zehn Tage Zeit, um an einem Plan zu arbeiten.

Raimund half mir dabei. Am nächsten Tag, dem 15. Juli, saßen wir gemeinsam an unserem Esstisch im Wohnzimmer. Der Bildschirm des Laptops warf einen blauen Schimmer auf Raimunds Gesicht. Die Fenster waren gekippt und von draußen hörten wir das Zirpen der Grillen. Raimund durchsuchte das Internet nach Sorgerechtsfällen, die mit dem unseren vergleichbar waren. Ich schwankte zwischen Euphorie und Resignation. Wir müssen uns beeilen, dachte ich, sonst ist es zu spät. Immer wieder kam der Gedanke in mir hoch, dass es einen solchen Fall im zivilisierten Europa noch nie gegeben haben konnte. Das war natürlich ein Unsinn. Die Schwierigkeiten, die wir durchmachen mussten, waren ganz alltäglich.

Raffaele und ich waren ein Liebespaar gewesen. Romantik, Amore und dann war es mehr geworden, ernster. Wir hatten uns geliebt, und dann war die Sache zwischen uns schiefgegangen. Ich hatte nie verstanden, warum genau, und irgendwann aufgehört, es verstehen zu wollen. So war das eben. Zwei Menschen fanden sich, die Beziehung zerbrach, und sie gingen wieder auseinander. Bloß war es eben nicht so einfach. Raffaele lebte im italienischen Vittorio Veneto, ich war zu ihm gezogen, und dort war auch Sofia zur Welt gekommen.

Italien war ein Teil von Europa. Das war nicht Afrika oder Asien. In Italien konnte eine Frau kommen und gehen, wie sie wollte. Sie wurde weder gefangen gehalten noch gesteinigt, wenn es zwischen ihr und einem Mann nicht so lief, wie es eigentlich geplant gewesen war. Trotzdem war wegen der Besonderheit eines Liebespaars aus zwei verschiedenen Ländern ein Albtraum Wirklichkeit geworden. Nachdem ich mit Sofia nach Österreich zurückgekehrt war, bemühte sich Raffaele mit Hilfe italienischer Justizbehörden, unsere Tochter zu sich nach Italien zurückzuholen.

Der Kampf um Sofia war ein Kampf durch alle Instanzen sämtlicher Gerichte bis zum Europäischen Gerichtshof. Doch alle Richter kamen zu dem selben Urteil: Die Rückführung Sofias von Österreich nach Italien könnte zwar ihr Wohl gefährden, trotzdem müsste laut einem EU-Gesetz ein Gericht in Sofias Geburtsland – also Italien – über das Sorgerecht und ihre Zukunft entscheiden. Deshalb sollte der Gerichtsvollzieher kommen, um sie dorthin, zu ihrem Vater, zurückzubringen.

Raimund schüttelte den Kopf, als hätte das Ergebnis seiner Internetrecherche gar nichts zu bedeuten. »Ich kann keine vergleichbaren Fälle finden«, sagte er und lächelte mit zusammengepressten Lippen. »Ihr beide seid einzigartig.«

»Es wäre ohnehin zu spät«, sagte ich. »Was sollen wir in neun Tagen noch erreichen?«

»Wir schöpfen alle Möglichkeiten aus«, sagte er.

Mit zitternder Hand goss ich mir ein Glas Wasser ein. »Es geht mir nicht darum, alle Möglichkeiten auszuschöpfen«, sagte ich. »Es geht mir darum, Sofia zu behalten. Egal unter welchen Umständen und zu welchem Preis.«

»Ich weiß.«

»Bei der Vorstellung, dass Gerichtsvollzieher Sofia wegschleppen, dass Sofia sie beißt und kratzt, und dass sie trotzdem keine Chance hat, werde ich verrückt«, sagte ich. »Verstehst du? Ich drehe durch. Wie soll ich ihr erklären, dass ich ihr nicht helfen kann? Eine Mutter muss ihre Tochter doch beschützen.«

Wir sahen einander an. Einige Sekunden lang herrschte Stille. Es war der Moment, in dem wir zum ersten Mal geistig die Grenze zwischen Legalität und Illegalität überschritten, der Moment, in dem wir uns zum ersten Mal damit auseinandersetzten, den Notfallplan zu aktivieren. Zu oft waren wir von Gerichten enttäuscht worden, zu oft hatten wir uns in einer ausweglosen Situation und machtlos gegenüber der Justiz gefühlt. Zu sehr hatten sich in den vergangenen Monaten und Wochen die schlechten Nachrichten gehäuft.

Nur ein paar Wochen zuvor, an einem Dienstag im Mai, war es so richtig losgegangen. Draußen zwitscherten die Vögel, und ich war eigentlich gut gelaunt, als ich hinaus zum Briefkasten ging. Sekunden später verdunkelte sich meine Welt. »Der Mutter wird aufgetragen, das Kind bis 7. 7. 2013, 19.00 Uhr, an den Vater zu übergeben«, stand in dem behördlichen Schriftstück, das ich aus dem Postkasten gefischt hatte. »Es bleibt der Mutter überlassen, ob sie innerhalb dieser Frist das Kind dem Vater in Italien übergibt oder ob sie dem Vater einen Termin innerhalb dieser Frist bekannt gibt, an dem er das Kind in Österreich abholt.«

Es waren nur diese vier Zeilen. Das Brutale war die Sprache. Dieses Amtsdeutsch, mit dem Beamte zu verdrängen schienen, dass sie mit ihren Nachrichten Glück zerstören und Hoffnung rauben konnten. Dazu diese Genauigkeit, als wäre der Staat nicht für die Menschen da, sondern die Menschen für den Staat, dafür, seine Vorschriften zu erfüllen. Sogar die Uhrzeit war angeführt, zu der ich mein denkbar schlimmstes Unglück erleben sollte. 7. 7. 2013, 19 Uhr.

Auf diesen Tag hatte sich das Gericht geeinigt, weil der in Österreich zuständige Richter in Wiener Neustadt zu dem Schluss gekommen war, Sofia solle das Schuljahr noch in Ruhe in ihrer Heimat abschließen. Dass Sofia zwar schon sechs Jahre alt war, aber noch gar nicht zur Schule ging, hatte der Richter offenbar übersehen. So viel Aufmerksamkeit schien er für die Angelegenheit nicht übrig gehabt zu haben. Eine Mutter. Eine Tochter. Was soll’s. Vielleicht ist er hungrig gewesen und wollte in die Mittagspause, dachte ich, vielleicht war Freitag gewesen, und er wollte schon ins Wochenende aufbrechen.

Nur wenige Tage danach musste ich dann den nächsten Rückschlag hinnehmen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte – bis dahin für mich unsere allerletzte Chance auf eine glückliche Zukunft mit Sofia – lehnte meinen Antrag ab. Ich war an diesem Tag körperlich und seelisch am Ende. Ich schluchzte mehrere Stunden lang ununterbrochen.

Aber das genügte nicht, es kam noch eine schlechte Nachricht. Dieses Mal trug der Absender eine italienische Adresse. Nachdem mich Raffaele wegen Kindesentführung angezeigt hatte, verurteilte mich ein italienisches Gericht nach jahrelangem juristischem Kampf zu 15 Monaten Haft. Es war wie ein Tritt in die Magengrube. 15 Monate unbedingt. Dazu sollte ich Raffaele 40 000 Euro Schmerzensgeld zahlen und seine Anwaltskosten in Höhe von 6.500 Euro ersetzen.

Die Haftstrafe sollte in eine bedingte umgewandelt werden, wenn ich dem Vater innerhalb eines Jahres nach Rechtskräftigkeit des Urteils die 40 000 Euro bezahlen würde. Wenn ich Sofia bei mir behielte, würde das als zweite Kindesentführung gelten, wofür ich dann zu bis zu drei Jahren Haft verurteilt werden könnte. Diese drei Jahre würden aber an die 15 Monate angehängt werden, weil die Straftat diesmal nicht in Italien, sondern in Österreich verortet wäre.

Wenige Minuten, nachdem ich die E-Mail aus Italien gelesen hatte, machte mein Kreislauf schlapp. Ich kippte in unserem Wohnzimmer einfach um und blieb benommen am Boden liegen. Raimund eilte zu mir und brachte mir ein Glas Wasser. »Ich rufe einen Arzt«, sagte er.

Auch Sofia kam zu mir. »Mama, was ist los?«, fragte sie. »Bist du gestürzt?«

»Alles ist gut«, sagte ich, doch der 7. Juli rückte näher und näher. Sofia kampflos Raffaele zu überlassen, hätte ich niemals mit meinem Gewissen vereinbaren können. So viel stand schon damals fest. Sofia kannte ihren leiblichen Vater gar nicht, der im Übrigen trotz des Gutachtens darüber, dass ihr Wohl von der zwangsweisen Rückführung gefährdet werden könnte, keinen Abstand davon nehmen wollte. Ich hatte auch nie den Eindruck gehabt, dass es ihm um Nähe zu seiner Tochter ging. Ich hatte ihn mehrmals eingeladen, sie in Österreich zu besuchen, aber er hatte kein nennenswertes Interesse daran gezeigt. Wenn es ihm nicht um Nähe ging, dann wohl um Besitz, vermutete ich. Dazu kam, dass sie kein Wort Italienisch sprach. Was sollte sie also in Vittorio Veneto? Die Entscheidung, sie zwangsweise dorthin zu schicken, war die dümmste, die Beamte nur fällen konnten. Was immer sich Österreich und Italien da ausgedacht hatten, diese Entscheidung widersprach jedem gesunden Menschenverstand und jeder emotionalen Logik. Ich hatte noch keinen einzigen Menschen getroffen, der sie auch nur im Ansatz verstand, es sei denn durch eine Haltung der Obrigkeitshörigkeit, die alles als gleichsam gottgegeben akzeptierte, was auf einem behördlichen Schriftstück stand.

Doch ich war nie der Typ für diese Haltung. Staaten und Bürokratien hatten schon immer schreckliche Fehler gemacht, auch wenn sie im hübschen Kleid der modernen westlichen Demokratien daherkamen. Sie machten nach wie vor Fehler und sie würden auch in Zukunft welche machen. Wenn sie das taten, dann war es nicht nur das Recht eines Staatsbürgers, sich dagegen zu wehren, es war sogar seine Pflicht. Davon war ich überzeugt.

Der 7. Juli war ein Sonntag, an dem die Hitze Österreich fest im Griff hatte. Raimund und ich waren mit den Kindern viel draußen und kühlten uns im Berndorfer Freibad ab. Nichts geschah. Die Welt drehte sich einfach weiter. Denn wir hatten eine Aufschiebung der Vollstreckung wegen akuter Kindeswohlgefährdung beantragt und damit vorerst Erfolg gehabt. Der Richter wollte dazu Raffaele hören und ihm die Möglichkeit einräumen, aufgrund der vorhersehbaren Schäden für seine Tochter von der zwangsweisen Rückführung abzusehen.

Von weiteren Befragungen war nun aber keine Rede mehr. Jetzt sollte die Sprache der Gewalt gesprochen werden. Am 24. Juli sollte Sofia von Gerichtsvollziehern und der Polizei endgültig abgeholt werden. Raimund klappte den Laptop zu. Instinktiv stand ich auf und schloss die Fenster, wie um zu verhindern, dass jemand mithören konnte, was wir gleich besprechen würden.

Raimund sah mir fest in die Augen. »Doris«, sagte er, »die einzige Chance, die wir jetzt noch haben, ist unterzutauchen.«

Als ich nach dem Wasserglas griff, war meine Hand ganz ruhig.

Meine kleinen Bären.
Eure Teddybären wissen genau bescheid, sie werden es euch flüstern.
Für euch sind mir Krallen gewachsen auf den kräftigen Pratzen.
Für euch habe ich spitze Zähne im Maul.
Wenn ich mich auf die Hinterbeine stelle,
bin ich drei Meter groß für euch.
Und in der Abendsonne ist mein Schatten zwanzig Meter lang.
Jeder Jäger fürchtet sich vor mir.

2. Plan

Wir sagten Sofia nichts von ihrer drohenden Abschiebung, doch ich bemerkte, wie auch sie zunehmend unruhig wurde. Sofia war damals schon ein kluges, sensibles Mädchen. Sie schien das Unausgesprochene mit ihren kindlichen Sinnen wahrzunehmen, ohne es aber in Worte fassen zu können. Sie spürte die Kluft zwischen dem Schein, den ich für sie aufrechterhielt, und meiner emotionalen Wirklichkeit, und das machte sie aggressiv. In Momenten, in denen sie früher diskutiert oder nachgefragt hätte, schrie sie. Auch mit ihrer Zuneigung zu ihrem kleinen Halbbruder Philip schien es in dieser Phase vorbei zu sein. Statt ihn wie sonst immer liebevoll zu umsorgen und mit ihm zu spielen, brüllte sie ihn einfach an, oder versteckte sich in ihrem Zimmer.

Mein Plan stand fest. Unterzutauchen war die einzige Lösung. Es war mir egal, dass ich dabei die Grenzen der Legalität überschreiten würde, und Raimund war es auch egal. Für uns beide waren die Kinder immer das Wichtigste gewesen. Alles andere war Nebensache. Da durfte uns auch kein Gerichtsbeschluss in die Quere kommen, schon gar nicht der eines Richters, der sich offensichtlich nur sehr oberflächlich mit dem Fall befasst hatte. Sofia musste das Recht haben, bei uns zu bleiben, bei mir, Raimund und ihrem Halbbruder Philip, den sie doch immer zärtlich geliebt hatte.

Der 24. Juli rückte immer näher. Einen Plan zu erstellen, war das eine, aber ihn auch umzusetzen, war dann doch noch einmal ein großer Schritt, besonders da der Plan aus der Verzweiflung geboren war. Ich war nervös. Wir waren alle nervös. Doch es half nichts. Wir mussten handeln.

Wieder saß ich mit Raimund an unserem Wohnzimmertisch. Die Kinder hatten wir schon zu Bett gebracht und nun grübelten wir. Wir hatten die Fenster geschlossen und die Vorhänge zugezogen, und wir sprachen instinktiv leiser als sonst, ohne uns dessen richtig bewusst zu sein.

»Wohin gehen wir?«, fragte ich.

Raimund nickte. Das war der Punkt. Eine Antwort hatte er auch nicht parat.

»In ein Hotel?«

Raimund dachte nach.

»Zu Freunden?«

»Wem können wir das zumuten, wenn uns die Polizei auf den Fersen ist?«, sagte er.

»Genau. Und wer hält dann dicht?«

»Ich nehme jedenfalls Urlaub«, sagte er.

Damit stand unversehens die Frage im Raum, wie lange unsere Flucht dauern würde. Dieser Frage wollten wir uns jetzt nicht stellen. Es ging vorerst um das Notwendigste. Hier konnten wir nicht bleiben. Wohin sollten wir gehen? Alles andere würde sich finden. Das Gefühl, das Richtige zu tun, gab uns Hoffnung, dass diese Episode bald vorbeigehen würde. Mir wäre es am liebsten gewesen, ein Versteck in der Nähe unseres Hauses zu finden, doch da gab es ein Problem. Wegen einer Unterschriftenaktion, die Freunde zu meiner Unterstützung organisiert hatten, war die Sache zuerst in die Regionalmedien gelangt, und schließlich waren auch die großen Tageszeitungen und das Fernsehen auf uns aufmerksam geworden. Nachdem der erste Beitrag einer überregionalen Tageszeitung erschienen war, meldete sich Ludwig bei mir. Er hatte mich einfach im Telefonbuch gesucht, war auf meine Tante gestoßen und über sie zu mir vorgedrungen. Ludwig betrieb eine kleine Presseagentur, die sich auf Boulevardthemen spezialisiert hatte und laut ihrer Homepage Medien wie »Bild«, den Schweizer »Blick«, die britische »Sun« und »Österreich« mit Recherchen und Beiträgen versorgte.