Stefan Rahmstorf
Wie bedroht sind die Ozeane?
Biologische und physikalische Aspekte
Sachbuch
Deutsch von Birgit Brandau
Fischer e-books
Herausgegeben von Klaus Wiegandt
Katherine Richardson ist Professorin für Biologische Ozeanographie an der University of Aarhus (DK) und Vize-Präsidentin des Scientific Committee of the European Environment Agency.
Stefan Rahmstorf ist Professor für Physik der Ozeane in Potsdam und Leiter der Abteilung Klimasystem am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. Schwerpunkt: Rolle der Meeresströmungen bei Klimaänderungen.
Covergestaltung: Stefan Gelberg
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 2009
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-400069-5
Handeln – aus Einsicht und Verantwortung
»Wir waren im Begriff, Götter zu werden, mächtige Wesen, die eine zweite Welt erschaffen konnten, wobei uns die Natur nur die Bausteine für unsere neue Schöpfung zu liefern brauchte.«
Dieser mahnende Satz des Psychoanalytikers und Sozialphilosophen Erich Fromm findet sich in Haben oder Sein – die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft (1976). Das Zitat drückt treffend aus, in welches Dilemma wir durch unsere wissenschaftlich-technische Orientierung geraten sind.
Aus dem ursprünglichen Vorhaben, sich der Natur zu unterwerfen, um sie nutzen zu können (»Wissen ist Macht«), erwuchs die Möglichkeit, die Natur zu unterwerfen, um sie auszubeuten. Wir sind vom frühen Weg des Erfolges mit vielen Fortschritten abgekommen und befinden uns auf einem Irrweg der Gefährdung mit unübersehbaren Risiken. Die größte Gefahr geht dabei von dem unerschütterlichen Glauben der überwiegenden Mehrheit der Politiker und Wirtschaftsführer an ein unbegrenztes Wirtschaftswachstum aus, das im Zusammenspiel mit grenzenlosen technologischen Innovationen Antworten auf alle Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft geben werde.
Schon seit Jahrzehnten werden die Menschen aus Kreisen der Wissenschaft vor diesem Kollisionskurs mit der Natur gewarnt. Bereits 1983 gründeten die Vereinten Nationen eine Weltkommission für Umwelt und Entwicklung, die sich 1987 mit dem sogenannten Brundtland-Bericht zu Wort meldete. Unter dem Titel »Our Common Future« wurde ein Konzept vorgestellt, das die Menschen vor Katastrophen bewahren will und zu einem verantwortbaren Leben zurückfinden lassen soll. Gemeint ist das Konzept einer »langfristig umweltverträglichen Ressourcennutzung« – in der deutschen Sprache als Nachhaltigkeit bezeichnet. Nachhaltigkeit meint – im Sinne des Brundtland-Berichts – »eine Entwicklung, die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstandard zu wählen«.
Leider ist dieses Leitbild für ökologisch, ökonomisch und sozial nachhaltiges Handeln trotz zahlreicher Bemühungen noch nicht zu der Realität geworden, zu der es werden kann, ja werden muss. Dies liegt meines Erachtens darin begründet, dass die Zivilgesellschaften bisher nicht ausreichend informiert und mobilisiert wurden.
Vor diesem Hintergrund und mit Blick auf zunehmend warnende Stimmen und wissenschaftliche Ergebnisse habe ich mich entschlossen, mit meiner Stiftung gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Ich möchte zur Verbreitung und Vertiefung des öffentlichen Diskurses über die unabdingbar notwendige nachhaltige Entwicklung beitragen. Mein Anliegen ist es, mit dieser Initiative einer großen Zahl von Menschen Sach- und Orientierungswissen zum Thema Nachhaltigkeit zu vermitteln sowie alternative Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen.
Denn das Leitbild »nachhaltige Entwicklung« allein reicht nicht aus, um die derzeitigen Lebens- und Wirtschaftsweisen zu verändern. Es bietet zwar eine Orientierungshilfe, muss jedoch in der Gesellschaft konkret ausgehandelt und dann in Handlungsmuster umgesetzt werden. Eine demokratische Gesellschaft, die sich ernsthaft in Richtung Zukunftsfähigkeit umorientieren will, ist auf kritische, kreative, diskussionsund handlungsfähige Individuen als gesellschaftliche Akteure angewiesen. Daher ist lebenslanges Lernen, vom Kindesalter bis ins hohe Alter, an unterschiedlichen Lernorten und unter Einbezug verschiedener Lernformen (formelles und informelles Lernen), eine unerlässliche Voraussetzung für die Realisierung einer nachhaltigen gesellschaftlichen Entwicklung. Die praktische Umsetzung ökologischer, ökonomischer und sozialer Ziele einer wirtschaftspolitischen Nachhaltigkeitsstrategie verlangt nach reflexions- und innovationsfähigen Menschen, die in der Lage sind, im Strukturwandel Potenziale zu erkennen und diese für die Gesellschaft nutzen zu lernen.
Es reicht für den Einzelnen nicht aus, lediglich »betroffen« zu sein. Vielmehr ist es notwendig, die wissenschaftlichen Hintergründe und Zusammenhänge zu verstehen, um sie für sich verfügbar zu machen und mit anderen in einer zielführenden Diskussion vertiefen zu können. Nur so entsteht Urteilsfähigkeit, und Urteilsfähigkeit ist die Voraussetzung für verantwortungsvolles Handeln.
Die unablässige Bedingung hierfür ist eine zugleich sachgerechte und verständliche Aufbereitung sowohl der Fakten als auch der Denkmodelle, in deren Rahmen sich mögliche Handlungsalternativen aufzeigen lassen und an denen sich jeder orientieren und sein persönliches Verhalten ausrichten kann.
Um diesem Ziel näher zu kommen, habe ich ausgewiesene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gebeten, in der Reihe »Forum für Verantwortung« zu zwölf wichtigen Themen aus dem Bereich der nachhaltigen Entwicklung den Stand der Forschung und die möglichen Optionen allgemeinverständlich darzustellen. Die ersten acht Bände zu folgenden Themen sind erschienen:
Was verträgt unsere Erde noch? Wege in die Nachhaltigkeit (Jill Jäger)
Kann unsere Erde die Menschen noch ernähren? Bevölkerungsexplosion – Umwelt – Gentechnik (Klaus Hahlbrock)
Nutzen wir die Erde richtig? Die Leistungen der Natur und die Arbeit des Menschen (Friedrich Schmidt-Bleek)
Bringen wir das Klima aus dem Takt? Hintergründe und Prognosen (Mojib Latif)
Wie schnell wächst die Zahl der Menschen? Weltbevölkerung und weltweite Migration (Rainer Münz/Albert F. Reiterer)
Wie lange reicht die Ressource Wasser? Der Umgang mit dem blauen Gold (Wolfram Mauser)
Was sind die Energien des 21. Jahrhunderts? Der Wettlauf um die Lagerstätten (Hermann-Josef Wagner)
Wie bedroht sind die Ozeane? Biologische und physikalische Aspekte (Stefan Rahmstorf/Katherine Richardson)
Die letzten vier Bände der Reihe werden Ende 2007 erscheinen. Sie stellen Fragen nach dem möglichen Umbau der Wirtschaft (Bernd Meyer), nach der Bedrohung durch Infektionskrankheiten (Stefan H. E. Kaufmann), nach der Gefährdung der Artenvielfalt (Josef H. Reichholf) und nach einem möglichen Weg zu einer neuen Weltordnung im Zeichen der Nachhaltigkeit (Harald Müller).
Zwölf Bände – es wird niemanden überraschen, wenn im Hinblick auf die Bedeutung von wissenschaftlichen Methoden oder die Interpretationsbreite aktueller Messdaten unterschiedliche Auffassungen vertreten werden. Unabhängig davon sind sich aber alle an diesem Projekt Beteiligten darüber einig, dass es keine Alternative zu einem Weg aller Gesellschaften in die Nachhaltigkeit gibt.
Was verleiht mir den Mut zu diesem Projekt und was die Zuversicht, mit ihm die deutschsprachigen Zivilgesellschaften zu erreichen und vielleicht einen Anstoß zu bewirken?
Zum einen sehe ich, dass die Menschen durch die Häufung und das Ausmaß der Naturkatastrophen der letzten Jahre sensibler für Fragen unseres Umgangs mit der Erde geworden sind. Zum anderen gibt es im deutschsprachigen Raum bisher nur wenige allgemeinverständliche Veröffentlichungen wie Die neuen Grenzen des Wachstums (Donella und Dennis Meadows), Erdpolitik (Ernst-Ulrich von Weizsäcker), Balance oder Zerstörung (Franz Josef Radermacher), Fair Future (Wuppertal Institut) und Kollaps (Jared Diamond). Insbesondere liegen keine Schriften vor, die zusammenhängend das breite Spektrum einer umfassend nachhaltigen Entwicklung abdecken.
Das vierte Kolloquium meiner Stiftung, das im März 2005 in der Europäischen Akademie Otzenhausen (Saarland) zu dem Thema »Die Zukunft der Erde – was verträgt unser Planet noch?«, stattfand, zeigte deutlich, wie nachdenklich eine sachgerechte und allgemeinverständliche Darstellung der Thematik die große Mehrheit der Teilnehmer machte.
Darüber hinaus stimmt mich persönlich zuversichtlich, dass die mir eng verbundene ASKO EUROPA-STIFTUNG alle zwölf Bände vom Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie didaktisieren lässt, um qualifizierten Lehrstoff für langfristige Bildungsprogramme zum Thema Nachhaltigkeit sowohl im Rahmen der Stiftungsarbeit als auch im Rahmen der Bildungsangebote der Europäischen Akademie Otzenhausen zu erhalten. Das Thema Nachhaltigkeit wird in den nächsten Jahren zu dem zentralen Thema der ASKO EUROPA-STIFTUNG und der Europäischen Akademie Otzenhausen.
Schließlich gibt es ermutigende Zeichen in unserer Zivilgesellschaft, dass die Bedeutung der Nachhaltigkeit erkannt und auf breiter Basis diskutiert wird. So zum Beispiel auf dem 96. Deutschen Katholikentag 2006 in Saarbrücken unter dem Motto »Gerechtigkeit vor Gottes Angesicht«. Die Bedeutung einer zukunftsfähigen Entwicklung wird inzwischen durch mehrere Institutionen der Wirtschaft und der Politik auch in Deutschland anerkannt und gefordert, beispielsweise durch den Rat für Nachhaltige Entwicklung, die Bund-Länder-Kommission, durch Stiftungen, Nicht-Regierungs-Organisationen und Kirchen.
Auf globaler Ebene mehren sich die Aktivitäten, die den Menschen die Bedeutung und die Notwendigkeit einer nachhaltigen Entwicklung ins Bewusstsein rufen wollen: Ich möchte an dieser Stelle unter anderem auf den »Marrakesch-Prozess« (eine Initiative der UN zur Förderung nachhaltigen Produzierens und Konsumierens), auf die UN-Weltdekade »Bildung für nachhaltige Entwicklung« 2005–2014 sowie auf den Film des ehemaligen US-Vizepräsidenten Al Gore An Inconvenient Truth (2006) verweisen.
Eine wesentliche Aufgabe unserer auf zwölf Bände angelegten Reihe bestand für die Autorinnen und Autoren darin, in dem jeweils beschriebenen Bereich die geeigneten Schritte zu benennen, die in eine nachhaltige Entwicklung führen können. Dabei müssen wir uns immer vergegenwärtigen, dass der erfolgreiche Übergang zu einer derartigen ökonomischen, ökologischen und sozialen Entwicklung auf unserem Planeten nicht sofort gelingen kann, sondern viele Jahrzehnte dauern wird. Es gibt heute noch keine Patentrezepte für den langfristig erfolgreichsten Weg. Sehr viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und noch mehr innovationsfreudige Unternehmerinnen und Unternehmer sowie Managerinnen und Manager werden weltweit ihre Kreativität und Dynamik zur Lösung der großen Herausforderungen aufbieten müssen. Dennoch sind bereits heute erste klare Ziele erkennbar, die wir erreichen müssen, um eine sich abzeichnende Katastrophe abzuwenden. Dabei können weltweit Milliarden Konsumenten mit ihren täglichen Entscheidungen beim Einkauf helfen, der Wirtschaft den Übergang in eine nachhaltige Entwicklung zu erleichtern und ganz erheblich zu beschleunigen – wenn die politischen Rahmenbedingungen dafür geschaffen sind. Global gesehen haben zudem Milliarden von Bürgern die Möglichkeit, in demokratischer Art und Weise über ihre Parlamente die politischen »Leitplanken« zu setzen.
Die wichtigste Erkenntnis, die von Wissenschaft, Politik und Wirtschaft gegenwärtig geteilt wird, lautet, dass unser ressourcenschweres westliches Wohlstandsmodell (heute gültig für eine Milliarde Menschen) nicht auf weitere fünf oder bis zum Jahr 2050 sogar auf acht Milliarden Menschen übertragbar ist. Das würde alle biophysikalischen Grenzen unseres Systems Erde sprengen. Diese Erkenntnis ist unbestritten. Strittig sind jedoch die Konsequenzen, die daraus zu ziehen sind.
Wenn wir ernsthafte Konflikte zwischen den Völkern vermeiden wollen, müssen die Industrieländer ihren Ressourcenverbrauch stärker reduzieren als die Entwicklungs- und Schwellenländer ihren Verbrauch erhöhen. In Zukunft müssen sich alle Länder auf gleichem Ressourcenverbrauchsniveau treffen. Nur so lässt sich der notwendige ökologische Spielraum schaffen, um den Entwicklungs- und Schwellenländern einen angemessenen Wohlstand zu sichern.
Um in diesem langfristigen Anpassungsprozess einen dramatischen Wohlstandsverlust des Westens zu vermeiden, muss der Übergang von einer ressourcenschweren zu einer ressourcenleichten und ökologischen Marktwirtschaft zügig in Angriff genommen werden.
Die Europäische Union als stärkste Wirtschaftskraft der Welt bringt alle Voraussetzungen mit, in diesem Innovationsprozess die Führungsrolle zu übernehmen. Sie kann einen entscheidenden Beitrag leisten, Entwicklungsspielräume für die Schwellen- und Entwicklungsländer im Sinn der Nachhaltigkeit zu schaffen. Gleichzeitig bieten sich der europäischen Wirtschaft auf Jahrzehnte Felder für qualitatives Wachstum mit zusätzlichen Arbeitsplätzen. Wichtig wäre in diesem Zusammenhang auch die Rückgewinnung von Tausenden von begabten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die Europa nicht nur aus materiellen Gründen, sondern oft auch wegen fehlender Arbeitsmöglichkeiten oder unsicheren -bedingungen verlassen haben.
Auf der anderen Seite müssen die Schwellen- und Entwicklungsländer sich verpflichten, ihre Bevölkerungsentwicklung in überschaubarer Zeit in den Griff zu bekommen. Mit stärkerer Unterstützung der Industrienationen muss das von der Weltbevölkerungskonferenz der UNO 1994 in Kairo verabschiedete 20-Jahres-Aktionsprogramm umgesetzt werden.
Wenn es der Menschheit nicht gelingt, die Ressourcen- und Energieeffizienz drastisch zu steigern und die Bevölkerungsentwicklung nachhaltig einzudämmen – man denke nur an die Prognose der UNO, nach der die Bevölkerungsentwicklung erst bei elf bis zwölf Milliarden Menschen am Ende dieses Jahrhunderts zum Stillstand kommt –, dann laufen wir ganz konkret Gefahr, Ökodiktaturen auszubilden. In den Worten von Ernst Ulrich von Weizsäcker: »Die Versuchung für den Staat wird groß sein, die begrenzten Ressourcen zu rationieren, das Wirtschaftsgeschehen im Detail zu lenken und von oben festzulegen, was Bürger um der Umwelt willen tun und lassen müssen. Experten für ›Lebensqualität‹ könnten von oben definieren, was für Bedürfnisse befriedigt werden dürften« (Erdpolitik, 1989).
Es ist an der Zeit, dass wir zu einer grundsätzlichen, kritischen Bestandsaufnahme in unseren Köpfen bereit sind. Wir – die Zivilgesellschaften – müssen entscheiden, welche Zukunft wir wollen. Fortschritt und Lebensqualität sind nicht allein abhängig vom jährlichen Zuwachs des Pro-Kopf-Einkommens. Zur Befriedigung unserer Bedürfnisse brauchen wir auch keineswegs unaufhaltsam wachsende Gütermengen. Die kurzfristigen Zielsetzungen in unserer Wirtschaft wie Gewinnmaximierung und Kapitalakkumulierung sind eines der Haupthindernisse für eine nachhaltige Entwicklung. Wir sollten unsere Wirtschaft wieder stärker dezentralisieren und den Welthandel im Hinblick auf die mit ihm verbundene Energieverschwendung gezielt zurückfahren. Wenn Ressourcen und Energie die »wahren« Preise widerspiegeln, wird der weltweite Prozess der Rationalisierung und Freisetzung von Arbeitskräften sich umkehren, weil der Kostendruck sich auf die Bereiche Material und Energie verlagert.
Der Weg in die Nachhaltigkeit erfordert gewaltige technologische Innovationen. Aber nicht alles, was technologisch machbar ist, muss auch verwirklicht werden. Die totale Ökonomisierung unserer gesamten Lebensbereiche ist nicht erstrebenswert. Die Verwirklichung von Gerechtigkeit und Fairness für alle Menschen auf unserer Erde ist nicht nur aus moralisch-ethischen Prinzipien erforderlich, sondern auch der wichtigste Beitrag zur langfristigen Friedenssicherung. Daher ist es auch unvermeidlich, das politische Verhältnis zwischen Staaten und Völkern der Erde auf eine neue Basis zu stellen, in der sich alle, nicht nur die Mächtigsten, wiederfinden können. Ohne einvernehmliche Grundsätze »globalen Regierens« lässt sich Nachhaltigkeit in keinem einzigen der in dieser Reihe diskutierten Themenbereiche verwirklichen.
Und letztendlich müssen wir die Frage stellen, ob wir Menschen das Recht haben, uns so stark zu vermehren, dass wir zum Ende dieses Jahrhunderts womöglich eine Bevölkerung von 11 bis 12 Milliarden Menschen erreichen, jeden Quadratzentimeter unserer Erde in Beschlag nehmen und den Lebensraum und die Lebensmöglichkeiten aller übrigen Arten immer mehr einengen und zerstören.
Unsere Zukunft ist nicht determiniert. Wir selbst gestalten sie durch unser Handeln und Tun: Wir können so weitermachen wie bisher, doch dann begeben wir uns schon Mitte dieses Jahrhunderts in die biophysikalische Zwangsjacke der Natur mit möglicherweise katastrophalen politischen Verwicklungen. Wir haben aber auch die Chance, eine gerechtere und lebenswerte Zukunft für uns und die zukünftigen Generationen zu gestalten. Dies erfordert das Engagement aller Menschen auf unserem Planeten.
Mein ganz besonderer Dank gilt den Autorinnen und Autoren dieser zwölfbändigen Reihe, die sich neben ihrer hauptberuflichen Tätigkeit der Mühe unterzogen haben, nicht für wissenschaftliche Kreise, sondern für eine interessierte Zivilgesellschaft das Thema Nachhaltigkeit allgemeinverständlich aufzubereiten. Für meine Hartnäckigkeit, an dieser Vorgabe weitestgehend festzuhalten, bitte ich an dieser Stelle nochmals um Nachsicht. Dankbar bin ich für die vielfältigen und anregenden Diskussionen über Wege in die Nachhaltigkeit.
Bei der umfangreichen Koordinationsarbeit hat mich von Anfang an ganz maßgeblich Ernst Peter Fischer unterstützt – dafür meinen ganz herzlichen Dank, ebenso Wolfram Huncke, der mich in Sachen Öffentlichkeitsarbeit beraten hat. Für die umfangreichen organisatorischen Arbeiten möchte ich mich ganz herzlich bei Annette Maas bedanken, ebenso bei Ulrike Holler vom S.Fischer Verlag für die nicht einfache Lektoratsarbeit.
Auch den finanziellen Förderern dieses Großprojektes gebührt mein Dank: allen voran der ASKO EUROPA-STIFTUNG (Saarbrücken) und meiner Familie sowie der Stiftung Europrofession (Saarbrücken), Erwin V. Conradi, Wolfgang Hirsch, Wolf-Dietrich und Sabine Loose.
Seeheim-Jugenheim | Stiftung Forum für Verantwortung |
Sommer 2006 | Klaus Wiegandt |
Betrachtet man die Erde vom Weltraum aus, sieht man sofort, dass es sich um einen Wasserplaneten handelt. Sie zieht als blaue Perle durchs All und ist unter den Planeten unseres Sonnensystems einzigartig. Von allen bekannten Planeten weist nur die Erde Meere auf, und diese bedecken 71 % ihrer Oberfläche. Deshalb wurde auch schon vorgeschlagen, »Ozean« sei für unseren Planeten ein viel angemessenerer Name als »Erde«.
Die vorherrschende Theorie zur Herkunft all diesen Wassers besagt, dass beständig Dampf aus dem Innern der jungen, heißen Erde aufstieg. Als sich die Oberfläche unter den Siedepunkt abkühlte, fiel unablässig Regen, und das viele Wasser sammelte sich an den tiefergelegenen Stellen. Diese Wasserfülle hat viele bedeutende Auswirkungen – vor allem aber ist sie der Grund, warum es Leben auf der Erde gibt.
Vergegenwärtigen wir uns zu Anfang dieses Buches ein paar grundlegende Fakten zum Weltmeer (siehe auch Abb. I im Farbteil): Es hat eine Fläche von 361 Millionen Quadratkilometern und ist im Schnitt 3800 Meter tief. Das ergibt ein Volumen von 1370 Millionen Kubikkilometern. Über 97 % des Wassers auf unserem Planeten befinden sich im Ozean, 2 % sind in Eisschilden gebunden (hauptsächlich auf Grönland und in der Antarktis); Seen, Stauseen und Flüsse enthalten weltweit 0,02 %, und 0,001 % ist ständig in der Atmosphäre.
Etwa die Hälfte des Meeresbodens besteht aus den riesigen, relativ flachen Tiefseeebenen, die typischerweise zwischen 3000 und 5000 Metern unter der Oberfläche liegen. Sie sind mit Sedimenten bedeckt, in denen sich alles ansammelt, was aus der Wassersäule darüber herabsinkt – meist Produkte biologischer Aktivität. Der Tiefseeboden ist daher eine Art planetarischer Müllhalde, wo unter dem Einfluss der Schwerkraft schließlich die meisten beweglichen Partikel der Erde landen. Die Tiefseeebenen werden von den Kontinentalabhängen begrenzt, wo der Meeresboden zu den flachen Schelfmeeren wie der Nordsee ansteigt, die die meisten Kontinente umgeben. Diese Schelfmeere sind im Allgemeinen 100 bis 200 Meter tief.
Aus der Tiefsee ragen die riesigen Gebirgszüge der Mittelozeanischen Rücken sowie große Unterwasservulkane empor. Manche – etwa die Hawaiiinseln – erheben sich bis über den Meeresspiegel. Außerdem gibt es tief eingeschnittene Gräben, die beispielsweise im nordpazifischen Marianengraben bis zu 10 923 Metern hinabreichen.
Diese Grundzüge der Meerestopographie sind durch die Plattentektonik bedingt: die Bewegung der Ozean- und Kontinentalplatten der Erdkruste. Das Material der kontinentalen ist leichter als das der ozeanischen Platten, deshalb sinken Erstere nicht so tief in die weiche Substanz darunter und ragen höher auf. Flache Schelfmeere gibt es überall dort, wo das Meerwasser über die Ränder der Kontinentalplatten reicht. (Auf dem Höhepunkt der letzten Eiszeit gab es viele dieser Schelfmeere nicht, weil wesentlich mehr Wasser in den Eisschilden auf dem Land gebunden war und der Meeresspiegel deshalb um 120 Meter tiefer lag.) Die steilen Kontinentalabhänge bilden die Ränder der Kontinentalplatten, während die Tiefseeebenen die Oberflächen der ozeanischen Platten sind. Da alles auf dem weichen Erdmantel schwimmt, bestimmt sich die relative Höhe der Kontinental- und Ozeanplatten durch ihre unterschiedliche Dichte und das Gewicht des Wassers, das auf den Meeresboden drückt. Das hat zur Folge, dass das Meerwasser gerade das Niveau der Kontinentalplatten erreicht.
An den Mittelozeanischen Rücken entsteht neuer Meeresboden: Dort treiben die Ozeanplatten auseinander, sodass neues Material aus dem Erdinneren aufsteigen kann. Tiefe Gräben bilden sich an Stellen, wo ein Teil einer Ozeanplatte unter eine Kontinentalplatte gedrückt wird, beispielsweise vor der japanischen Küste.
Von besonderem Interesse sind nahezu abgeschlossene Randmeere wie das Mittelmeer, die Nord- und Ostsee oder das Japanische Meer. Hier entwickelten sich schon früh Seefahrt und Handel, und an ihren Küsten lebten von jeher viele Menschen. Heute bereitet in diesen Meeren die zunehmende Verschmutzung einige besondere Probleme, weil nur ein beschränkter Wasseraustausch mit dem offenen Meer stattfindet.
Für Meeresforscher ist der Ozean nicht einfach bloß mit Wasser gefüllt, sondern mit einer Reihe ganz bestimmter Wassermassen, von denen eine jede – wie ein guter Wein – ihren spezifischen »Geschmack« und Jahrgang aufweist. Diese Wassermassen tragen Namen und Abkürzungen wie Nordatlantisches Tiefenwasser (NADW), Sargasso-See-Wasser, Antarktisches Bodenwasser (AABW) oder Nordpazifisches Zwischenwasser. Es gibt sogar Bezeichnungen für Wassermassen, von denen man annimmt, dass sie vor Zehntausenden von Jahren existierten, zum Beispiel das Glaziale Nordatlantische Zwischenwasser (GNAIW): eine Wassermasse, die während der letzten Eiszeit den größten Teil des nördlichen Nordatlantiks ausfüllte.
Die beiden wichtigsten Unterscheidungskriterien für Wassermassen sind Temperatur und Salzgehalt; auf diese gehen wir unten näher ein. Aber auch Merkmale wie Sauerstoff-, Nährstoff- und Säuregehalt sowie die Sättigung mit Calciumcarbonaten sind für das Leben im Meer von großer Bedeutung. Die Meeresforscher untersuchen zudem das Alter von Wassermassen – damit meinen sie die Zeit, die vergangen ist, seit dieses bestimmte Wasser unter die Oberfläche gesunken ist und keinen Kontakt mehr zur Atmosphäre hatte. Das ist wichtig, weil sich die Wasserzusammensetzung ändert, wenn es mit Luft in Berührung kommt: Der Sauerstoffgehalt wird höher, und der Anteil instabiler Kohlenstoffisotope gleicht sich dem in der Atmosphäre an, wo permanent das radioaktive Kohlenstoffisotop 14C aufgrund der kosmischen Strahlung entsteht. Wenn das Wasser von der Oberfläche in die Tiefe sinkt, nimmt der 14C-Anteil aufgrund des radioaktiven Zerfalls dieses Isotops langsam ab, und das wird zur Altersbestimmung genutzt. Das älteste Wasser findet man tief unten im Nordpazifik – es ist etwa 2000 Jahre alt. Man kann also eine »Umwälzzeit« des Ozeans schätzen: Im Durchschnitt sinken 0,04 Kubikkilometer Wasser pro Sekunde ab, sodass das obengenannte Gesamtvolumen rund einmal in 1000 Jahren ausgetauscht wird.
Es ist klar, dass die Meerestemperaturen in erster Linie von der ungleichen Sonnenscheinverteilung auf unserem Planeten abhängen: In tropischen Breiten ist das Oberflächenwasser warm – rund 30 ° C –, während seine Temperatur an den Polen in der Nähe des Gefrierpunkts liegt (der bei Salzwasser circa -2 ° C beträgt). Das wärmste Wasser im offenen Meer findet sich an der Oberfläche des westlichen tropischen Pazifiks, dem sogenannten warm pool. Seine Temperatur beträgt im Jahresmittel 30 ° C. Noch wärmeres Wasser gibt es im Sommer in einigen flachen Küstenbereichen.
Die Sonne beherrscht aber nur die Oberflächen der Weltmeere, nicht ihre unendlichen dunklen Tiefen. Der größte Teil des Meerwassers ist sogar sehr kalt – mehr als 80 % sind kälter als 5 ° C. Der Grund dafür ist einfach: In den polaren Breiten sinkt Oberflächenwasser ab, und dieses kalte Wasser füllt weltweit die Tiefsee (Näheres dazu folgt im Abschnitt über die Meeresströmungen). Das warme Wasser der Tropen und Subtropen ist hingegen leicht und bildet nur eine relativ dünne Oberflächenschicht von wenigen hundert Metern, die auf dem kalten Tiefseewasser schwimmt. Dies hat Henry Ellis, der Kapitän eines englischen Sklavenhandelsschiffs, 1751 als Erster beobachtet: Er holte im subtropischen Atlantik Tiefenwasser mit Hilfe einer langen Leine und einer »Meeressonde« in Form eines Eimers herauf, den ihm ein britischer Geistlicher, Reverend Stephen Hales, zur Verfügung gestellt hatte. Ellis stellte fest, dass das Wasser, das er aus etwa einer Meile Tiefe herauszog, kalt war: Die Temperatur, die man an Deck maß, betrug nur 12 ° C. Der Brief, den Ellis an Hales schrieb, legt den Schluss nahe, dass er keine Ahnung von den weitreichenden Konsequenzen seiner Entdeckung hatte: »Dieses Experiment, das anfangs zu nichts weiter als der Befriedigung der Neugier zu dienen schien, hat sich mittlerweile als sehr nützlich für uns herausgestellt. Mit seiner Hilfe können wir unser kaltes Bad haben und unseren Wein und das Trinkwasser nach Belieben kühlen, und das ist uns in diesem brennend heißen Klima höchst willkommen.«
Karte der Meeresoberflächentemperaturen (ºC) im Mai 2006 nach Satellitenmessungen.
Der Wasserkreislauf schwemmt ständig Partikel vom Land ins Meer. Der Regen fällt auf Felsen und andere Oberflächen und löst Mineralien. Die Flüsse der Erde transportieren daher schätzungsweise vier Milliarden Tonnen Salze pro Jahr ins Meer. Wenn das Wasser an der Oberfläche wieder verdunstet, bleiben die Salze zurück. Im Meer sammeln sie sich, deshalb ist die Salzkonzentration hier wesentlich höher als im Flusswasser – sie steigt bis auf ein Niveau, wo genauso viel Salz ausfällt wie ständig nachkommt, sodass sich ein Gleichgewicht einstellen kann. Die meisten Substanzen, die aus dem Wasser ausfallen, landen in den Sedimenten des Meeresbodens und wandern schließlich in die Erdkruste, wenn jener Teil des Meeresbodens unter Kontinentalplatten gedrückt wird. Genau wie das Weltmeer fungieren auch alle anderen Gewässer ohne Abfluss als Sammelbecken für gelöste Partikel und sind daher salzig, so beispielsweise der Great Salt Lake in Utah oder das Kaspische Meer.
Die verschiedenen gelösten Partikel werden auch unterschiedlich wieder aus dem Wasser entfernt. Bei manchen wird einfach der Sättigungsgrad erreicht, sodass keine weiteren mehr gelöst werden können und der Überschuss ausgefällt wird. Andere unterlaufen eine chemische Reaktion. Und einige, wie Silizium und Kalzium, werden eifrig von Organismen zum Aufbau kleiner und großer Schalen genutzt. Das Absinken dieser Schalen in die Sedimente bildet für diese Substanzen den Hauptausscheidungsprozess, und an vielen Stellen besteht das Sediment überwiegend aus diesen Schalen.
Bis zu 85 % der gelösten Substanzen im Meerwasser sind Chlorid und Natrium (die Bestandteile des gewöhnlichen Kochsalzes). Der Grund für diesen hohen Anteil ist ihre gute Löslichkeit in Wasser sowie der Umstand, dass sie nicht durch biologische Mechanismen entnommen werden. Der durchschnittliche Salzgehalt des Meerwassers beträgt 35 Gramm pro Kilo Wasser. Das sind 3,5 %, aber traditionellerweise geben Meeresforscher ihn in Promille an – sie sagen also 35 ‰. Angesichts des oben genannten Gesamtvolumens der Ozeane können wir folgern, dass sich rund 5 × 1016 Tonnen Salz darin befinden. Bei einem Eintrag von 4 × 10 9 Tonnen pro Jahr erhalten wir eine durchschnittliche Verweildauer von etwa 10 7 oder zehn Millionen Jahren. Diese Dauer ist um Größenordnungen länger als die der Vermischung des Meerwassers durch Strömungen und Turbulenzen. Daher können wir erwarten, dass die wichtigsten Salze im Weltmeer außerordentlich gut vermischt sind. In der Tat ist die Zusammensetzung des Meersalzes nahezu überall gleich – das war eine der vielen Entdeckungen der berühmten Challenger-Expedition Ende des 19. Jahrhunderts, der ersten globalen ozeanographischen Forschungsreise.
Dieser Umstand erleichtert den Meeresforschern einiges: Statt eine Unzahl verschiedener Salze messen zu müssen, brauchen sie nur die Salzkonzentration insgesamt festzuhalten – die sie als Salinität bezeichnen –, und die können sie über die elektrische Leitfähigkeit des Wassers bestimmen. Die Salinität ist von großer dynamischer Bedeutung, weil sie zusammen mit der Temperatur und dem Druck (der mit der Tiefe zunimmt) die Dichte des Wassers bestimmt und daher die Druckverteilung im Meer und die Strömungen beeinflusst.
Unterschiede in der Salinität im Meer resultieren aus den Quellen und Senken von Süßwasser, nicht aus den Quellen und Senken von Salzen, weil Erstere um Größenordnungen größer sind. Jedes Jahr verdunsten mehr als 4 × 1014 Kubikmeter Meerwasser, das entspricht über einem Meter in der Vertikalen. Somit wird das gesamte Meerwasser etwa alle 3000 Jahre ausgetauscht – das ist nichts gegen die 10 Millionen Jahre, die das Salz dafür braucht. Hohe Salinität finden wir daher dort, wo die Verdunstung die Niederschläge übersteigt – vor allem in den warmen und trockenen Subtropen –, und niedrige in den höheren Breiten oder in kleineren Maßstäben bei Flussmündungen. In der Nähe des Äquators führen die großen Wolken- und Regenmengen der intertropischen Konvergenzzone (dem berühmten tropischen Regengürtel) zu relativ niedrigen Salinitäten.
Abseits von den Küsten liegt der Salzgehalt der Ozeane meist zwischen 33 und 38 ‰. Teilweise abgeschlossene Meere können jedoch ganz andere Werte aufweisen. Die Ostsee, in die Regenfälle und Flüsse weit mehr Süßwasser einbringen als verdunstet, hat Salinitäten zwischen 5 ‰ bei Finnland und 15 ‰ im Skagerrak, ihrer flachen Verbindung mit der Nordsee und dem Weltmeer. Das andere Extrem bilden das Rote Meer und der Persische Golf mit Salinitäten von fast 40 ‰, weil hier die Verdunstung so hoch ist. Das Mittelmeer ist gleichfalls ein Meeresbecken, das mehr Süßwasser verliert als hinzukommt (etwa einen Meter pro Jahr). Zwei kräftige Strömungen in entgegengesetzten Richtungen durch die Straße von Gibraltar sind erforderlich, um den Ausgleich der Wasser- und Salzbilanz zu schaffen: Eine Oberflächenströmung, die relativ frisches Wasser ins Mittelmeer bringt, und ein salzhaltiger Ausfluss darunter.
Die Ozeane sind unablässig in Bewegung. Verursacht wird dies durch drei verschiedene Antriebskräfte.
Die erste sind die Gezeiten, also die Anziehungskräfte von Mond und Sonne. Sie bewirken Ebbe und Flut. Im Wesentlichen zieht der Mond eine große Menge Wasser an, sodass der Wasserspiegel an der Stelle steigt, über der der Mond am Himmel steht. Die Erde dreht sich unter diesem Flutberg. Weniger offensichtlich ist, warum die Flut an den meisten Stellen zweimal täglich kommt und nicht nur einmal. Der Grund ist eine zweite »Wasserbeule« auf der entgegengesetzten Seite der Erde, die von den Zentrifugalkräften bewirkt wird. Da sich die Erde »im freien Fall« durch das Gravitationsfeld des Mondes bewegt, sind Fliehkraft und Anziehung genau in der Erdmitte ausbalanciert. An der Oberfläche ist auf der dem Mond zugewandten Seite dessen Anziehungskraft stärker und hebt den Wasserstand an. Auf der gegenüberliegenden Seite ist die Mondanziehung schwächer, und das Wasser strebt vom Mond weg – was aus irdischer Sicht wiederum zu einer Anhebung des Wasserstands führt. Diese beiden »Beulen« bewirken, dass es zweimal täglich Flut gibt.
Die Überlagerung mit der ähnlichen, aber schwächeren Auswirkung der Sonnenanziehungskraft bewirkt den sogenannten Spring- und Nipptiden-Zyklus. Springtiden (die nicht mit Sturmfluten zu verwechseln sind) treten alle zwei Wochen auf, wenn Sonne und Mond in einer Linie stehen, sodass sich der durch sie bewirkte Tidenhub verstärkt, denn der Mond benötigt 29 Tage für eine Erdumrundung.
Dieses einfache Bild würde die Gleichgewichtstiden korrekt beschreiben, wenn unser Planet vollständig mit Wasser bedeckt wäre. Aber die Dinge liegen komplizierter, was zum einen an den Küstenlinien liegt und zum anderen an dem Umstand, dass so viel Wasser sich nicht schnell genug bewegen kann, um mit dem Mond darüber Schritt zu halten (wie aus der Luftfahrt bekannt ist, muss man mit Überschallgeschwindigkeit fliegen, um mit der Erdrotation Schritt zu halten). Die Ablenkung der Wasserbewegungen durch die Erdumdrehung (siehe unten) spielt auch noch eine Rolle. In Wahrheit kreisen die »Tidenbeulen« daher durch die großen Meeresbecken und interagieren mit den Küsten. An manchen Stellen führt die Form der Küste zu einer Resonanz, und das bewirkt einen besonders starken Tidenhub. Diese Orte sind besonders gut für Gezeitenkraftwerke geeignet. Die westkanadische Bay of Fundy ist berühmt für den höchsten Tidenhub der Welt, nämlich über 15 Meter am Kopf der Bucht.
Die zweite Kraft, die das Wasser in Bewegung versetzt, ist der Wind. Aufgrund ihrer Reibungskraft auf dem Wasser verursachen Winde Oberflächenwellen und -strömungen. Während die Gezeitenströme viermal täglich ihre Richtung um 180 ° ändern und das Wasser daher nur »hin und her schwappen« lassen, können andere Strömungen das Wasser über weite Distanzen transportieren. Wie sich diese großen Strömungen bewegen, widerspricht der Vorstellungskraft der meisten Menschen. Das liegt daran, dass die Erde eine rotierende Kugel ist und Strömungen durch die Corioliskraft abgelenkt werden (Letztere ist genau genommen gar keine Kraft, sondern eine Illusion, die sich bei einem Betrachter auf einem rotierenden System einstellt). Ein stetiger Wind aus Ost beispielsweise bewegt Wasser auf der nördlichen Halbkugel insgesamt nach Norden (allgemein gesagt, in einem Winkel von 90 ° nach rechts von der Windrichtung) und auf der südlichen Hemisphäre nach Süden (um 90 ° nach links). Deshalb drücken die östlichen Passatwinde in den tropischen Breiten auf beiden Hemisphären Wasser vom Äquator weg. Dieses Wasser muss durch Wasser ersetzt werden, das in Äquatornähe aus der Tiefe aufsteigt – ein bedeutendes Meeresphänomen, das als »äquatoriales Aufsteigen« (upwelling) bekannt ist und das Oberflächenwasser im Äquatorbereich mit Nährstoffen versorgt.
Hauptkennzeichen der vom Wind getriebenen Meereszirkulation sind die großen Subtropenwirbel, die in jedem Meeresbecken etwa zwischen dem 15. und dem 50. Breitengrad auftreten. Sie sind so etwas wie gigantische Wasserräder, die sich horizontal in den obersten paar hundert Metern des Meeres drehen. Jeweils an ihren Westseiten transportieren diese Wirbel Wasser als schmale, schnelle Randströmung polwärts: der Golfstrom im Nordatlantik, der Kuroshio im Nordpazifik, der Brasilstrom im Südatlantik oder der Ostaustralstrom im Südpazifik. Der Rückstrom Richtung Äquator ist dagegen breit und träge, er verteilt sich über nahezu die gesamte Breite des jeweiligen Meeresbeckens. Für die Meereskunde war es ein entscheidender Durchbruch, als Henry Stommel in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts die theoretische Erklärung für diese »westliche Intensivierung« fand: Der Grund ist das Erhaltungsgesetz des Drehimpulses auf der rotierenden Erde.
Im Innern jedes Subtropenwirbels befindet sich eine riesige, nahezu gleichförmige Wassermasse, wo Oberflächenwasser zusammenströmt und langsam mehrere hundert Meter absinkt. Im Nordatlantik ist diese Wassermasse die Sargassosee mit ihren berühmten Anhäufungen dicker Tangwiesen, die Alexander von Humboldt in Ansichten der Natur (1807) so plastisch beschrieben hat. Nach Auswertung von Logbüchern seit Kolumbus’ Sichtungen der Tangwiesen war Humboldt vor allem fasziniert, dass das Seegras über Jahrhunderte am gleichen Ort zu finden war: »Solche Beweise der Beständigkeit großer Naturphänomene fesseln zwiefach die Aufmerksamkeit des Physikers, wenn wir dieselbe in dem allbewegten oceanischen Elemente wiederfinden« (Über die Steppen und Wüsten, Anmerkung 7).
Kommen wir nach den Gezeiten und dem Wind nun zur dritten Hauptkraftquelle der Meeresströmungen: dem »thermohalinen Antrieb«. Darunter versteht man den Wärme- und Süßwasseraustausch an der Meeresoberfläche, wodurch das Wasser wärmer oder kälter und salziger oder süßer wird. »Thermo« steht für die Temperaturänderung, »halin«, das vom griechischen Wort für Salz abgeleitet ist, für die Änderung der Salinität. Wie bereits erwähnt, beeinflussen Temperatur- und Salinitätsänderungen die Dichte des Wassers. Dichteunterschiede aber bewirken in Flüssigkeiten Druckunterschiede, und diese lösen natürlich Strömungen aus.
Die wichtigste Eigenschaft des thermohalinen Antriebs ist, dass er bestimmt, wo Wasser von der Oberfläche in die Tiefsee absinken kann: nämlich nur dort, wo die Dichte am höchsten ist. Nur in drei Bereichen des Weltmeers wird eine Oberflächendichte von fast 1028 kg / m 3 erreicht: im Nordatlantik (vor allem in der Labradorsee und im Europäischen Nordmeer), um die Antarktis herum (im Ross- und Weddellmeer) und im Mittelmeer. In den beiden ersteren Bereichen sind die niedrigen Temperaturen für die hohe Dichte verantwortlich, im Mittelmeer ist es, bei relativ hohen Temperaturen, die hohe Salinität. Da es nur durch die flache Straße von Gibraltar mit dem Atlantik verbunden ist, hat das Mittelmeer wenig Einfluss auf das Weltmeer. Die beiden genannten Polarregionen wirken sich hingegen tiefgreifend auf das gesamte Ozeansystem aus.
Hier sinkt Wasser ab – ein Prozess, der als »Tiefenwasserbildung« bezeichnet wird –, um sich dann in der Tiefe rund um die Welt zu verbreiten. Die Tiefen- und Bodenwasser der Weltmeere stammen von hier. Rückflüsse nahe der Oberfläche bringen Wasser zu diesen »Abflusslöchern«, wo sie das abgesunkene Wasser ersetzen. Das Ergebnis ist eine gewaltige Umwälzbewegung der Meere (Abb. III im Farbteil), die eine Stärke von rund 30 Sv hat. (Sv ist die Abkürzung für Sverdrup, eine alte Maßeinheit für die Strömung, benannt nach dem schwedischen Meeresforscher Harald Ulrik Sverdrup. 1 Sv = 1 Million Kubikmeter pro Sekunde.)
Die wichtigsten Oberflächenströme der Weltmeere. Hell hervorgehoben sind die großen Subtropenwirbel, die sich in allen großen Meeresbecken finden.
Wenn die Tiefsee mit diesem Wasser von hoher Dichte angefüllt ist, kann natürlich kein Wasser mit geringerer Dichte aus anderen Bereichen mehr absinken – solche Wassermassen müssen oben auf dem dichteren Wasser schwimmen. Aufmerksame Leser dürften hier ein Paradoxon entdecken: Wieso kann überhaupt weiterhin Wasser absinken, wenn der Ozean einmal mit Wasser höchster Dichte gefüllt ist? Warum kommt die große Umwälzung des Meeres nicht einfach zum Erliegen? Der Hauptgrund ist, dass die Turbulenzen im Ozean langsam Wärme von den warmen Oberflächenschichten in die Tiefe hinuntermischen und so im Lauf der Zeit dort die Dichte verringern. Dieser beständige Verlust an Dichte ermöglicht den fortgesetzten Austausch von Tiefenwasser durch »junges« Wasser aus den Polargebieten.
Im 19. Jahrhundert debattierten Wissenschaftler ausgiebig darüber, was die wesentlichen Meeresströmungen wie den Golfstrom bewirkt: Wind oder thermohaline Kräfte? Wurden diese Meeresbewegungen vom Wind angetrieben, oder handelte es sich um »Konvektionströme«, wie man damals sagte?
In gewisser Hinsicht ist diese Frage auch heute noch nicht völlig beantwortet. Wir wissen jetzt, dass viele Strömungen, darunter der Golfstrom, auf eine Mischung aus beiden Antriebskräften zurückzuführen sind: Sowohl die Wind- als auch die thermohalinen Kräfte spielen eine entscheidende Rolle, aber es ist schwierig, den jeweiligen Anteil zu bestimmen.
Der Golfstrom ist die westliche Randströmung des Subtropenwirbels im Nordatlantik, und weiter oben wurde sie als vom Wind verursacht dargestellt. Aber hinzu kommt eine nach Norden gerichtete Oberflächenströmung, die Teil der gerade beschriebenen thermohalinen Umwälzung ist – und die ebenfalls zum Golfstrom beiträgt. In den mittleren Breiten des Atlantiks wird das Ausmaß dieser Umwälzung auf 15 bis 20 Sv geschätzt. Der Golfstrom hat insgesamt etwa 70 Sv (wenn man lokale Gegenströmungen mit berücksichtigt). Also könnte man für den Golfstrom sagen, dass etwa ein Viertel davon thermohalin bedingt ist und drei Viertel windgetrieben sind. Aber das ist nur eine grobe Schätzung, denn bei windgetriebenen und thermohalinen Meeresströmungen kommt es zu nichtlinearen Wechselwirkungen, und es gibt keine Möglichkeit, sie eindeutig voneinander zu trennen.
Die stärkste Meeresströmung der Erde kreist um den antarktischen Kontinent: der Antarktische Zirkumpolarstrom. Er hat 120 bis 1405663