WESTEND

Ebook Edition

WERNER SCHNEYDER

Von einem,
der auszog,
politisch
zu werden

WESTEND

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Publisher

ISBN 978-3-86489-554-8
© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2014
Satz: Publikations Atelier, Dreieich
Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany

Inhalt

Das Ende des Krieges

Schule, Lehrzeit, Studium

Das Kabarett-Duo

Talk täglich

Lametta & Co.

Wie abgerissen

Keine Fragen mehr

Ende der Spielzeit (1)

Dieter Hildebrandt

Ende der Spielzeit (2)

Die Soloprogramme (1)

Solo mit Quartett

Satz für Satz

Die DDR, das Duo-Gastspiel

Zwischentöne

Die Solo-Programme (2)

Doppelt besetzt

Schon wieder nüchtern

Bruno Kreisky

Absage

Jörg Haider

Abschiedsabend

Der Bodensatz

Politik und Kabarett

Sozialdemokratie

Wiedervereinigung

Krieg

Das Comeback

Ich bin konservativ

Personenregister

Das Ende des Krieges

Satire ist artistische Kritik.

Diese Kritik gespielt, ist Kabarett.

Es war einmal ein Zweiter Weltkrieg. Ich erwähne es, weil man nicht sicher sein kann, ob jüngere Menschen das noch hinreichend oder überhaupt wissen. Da saß ein etwa Fünfjähriger in der Nähe seiner Eltern, unweit eines Radios, oder, wie man damals zu sagen gehabt hätte, Rundfunkgeräts. In einer sehr nationalen Ausführung hießen diese Geräte auch »Volksempfänger«. Den hatten wir nicht. Unser Radio war noch Vorkriegsqualität und hieß »Minerva«. Das habe ich mir gut gemerkt, weil mein Vater noch nach dem Kriegsende, also als es schon ordentliche Radios zu kaufen gab, erklärte, eines mit so einem guten Klang würde man heutzutage gar nicht mehr produzieren.

Ich schweife ab. Das Volk, so auch meine Eltern und ich, empfingen an diesem Nachmittag Nachrichten. Da war von der V2 die Rede. Meine Mutter äußerte die Hoffnung, diese Waffe könnte dem Kriegsverlauf noch eine Wendung geben. Beide Eltern zweifelten. Wahrscheinlich, weil die der V2 logischerweise vorangegangene V1 die Feinde Großdeutschlands (das war ein Zusammenschluss, ein gemeinsames Reich von Deutschland und Österreich, das in dieser Verbindung Ostmark hieß) auch nicht zur Aufgabe hatte zwingen können. Ob ich damals schon wusste, dass das V für Vergeltungswaffe stand, kann ich nicht beschwören, glaube aber eher ja. Ich war ein sehr informiertes Kind. Ich hatte mir von der Mutter sagen lassen, ein General Paulus hätte unser Hitlerdeutschland an die Russen »verraten«, als er vor, in oder rund um Stalingrad eine entscheidende Schlacht verloren gab. Auch war mir das Versagen des Generals (oder Admirals?) Rommel im Afrikakrieg nicht verborgen geblieben.

Ich hatte für meine Beteiligung am Endsieg die handliche Panzerfaust in Betracht gezogen. Ich wusste nicht genau, wie die aussah, aber mir war klar, dass ich sie tragen und wehrlose Panzer abknallen konnte. Der Krieg und das Darübergerede hatten das gesamte Potenzial eines Buben, Indianer zu spielen, parallel verschoben. Ich weiß nicht, wie oft ich in meinen Tagträumereien Familien und vor allem deren Töchter aus brennenden Häusern gerettet habe. Ganz naiv war ich nicht mehr. Denn ungefähr ein Jahr davor war ich eines Morgens durch schrilles Weibergekreisch geweckt worden. Dieses hielt einen ganzen Tag lang an. Es waren die Großmutter und die Mutter, die um Sohn und Bruder trauerten. Ein Vordruck hatte sie informiert, dass mein Onkel im Kampfe für das Vaterland den »Heldentod« gestorben war. Ich hatte ihn gekannt, weil ich ihn einmal im heimatlichen Lazarett besuchen konnte, wo er wegen schwerer Erfrierungen an den Füßen lag, bevor er dann wieder an die Front geholt wurde.

Ich muss noch einfügen, dass die Mutter erzählte, er wäre beinahe vor das Kriegsgericht gekommen und erschossen worden, weil er wegen der Erfrierungen eine Wache verlassen hatte. Sie war sogar mit dem Zug von Klagenfurt nach Berlin gefahren und hatte irgendeine Stelle gefunden, die zur Kenntnis nahm, dass mit ihrem Bruder nicht so zu verfahren war. Das klingt unglaubwürdig, war aber so. Wer meine Mutter sehr gut kannte, konnte es auch glauben.

Ein anderes Ereignis, das im Unterbewusstsein meinen vaterländischen Heroismus ganz sicher irritierte, war der erste Bombenabwurf über Klagenfurt, der Stadt meiner Kindheit und Jugend. Meine fünfeinhalb Jahre ältere Schwester hatte mich in das Kino, also in die Lichtspiele mitgenommen. Kurz nach Beginn eines Kulturfilms – ich meine, es war später Vormittag – gab es Fliegeralarm. Man musste aus dem Kino raus. Nichts wie nach Hause, so rasch wie möglich. Während wir dahinhasteten, stießen wir auf einen Mann mit Armbinde, der uns in den nächsten Luftschutzkeller der Polizei einwies. Meine Schwester tat, als würde sie gehorchen, nahm mich aber dann an der Hand und zog mich weiter. Als es dann krachte, flohen wir in den Luftschutzkeller der Ursulinen. Die spätere Information, alle Insassen des ersten verschmähten Luftschutzkellers hätten nicht überlebt, muss mir zu denken gegeben haben. Sicherlich nicht zu genau. Denn es zählt zu den lebenslänglichen Infantilismen der Spezies Mensch, dass die Dramaturgie des Wildwestfilms, nach der die Guten von den Bösen nie oder jedenfalls nie folgenreich getroffen werden, ohne Kotzen hingenommen wird.

Ich habe noch so Bilder im Kopf, eine nach Ende des Bombardements heimeilende Schwester, da und dort ein rauchendes Haus und einen kleinen, sich über so viel Abenteuerliches beinahe freuenden Bruder.

Wir wurden von in Tränen aufgelöster Mutter und Großmutter empfangen. Sehr bald war das Hauptgesprächsthema deren ausgestandene Angst.

Diese Angst sollte bald nicht mehr nötig sein. In zwei Tagen packten Mutter, Großmutter und Hausgehilfin unsere Sachen. In alte Koffer und Pappschachteln. In Duppau, nahe Karlsbad – heute Karlovy Vary –, gab es die Schwester der Großmutter. Auch deren Mann, einen Militär i.R. Mag sein, ein Oberst. Die waren bereit, uns aufzunehmen. Dort gab es keine Bomben, folglich keinen Krieg. Die Sudetendeutschen, so hießen sie, waren sich sicher, ihnen könne nichts passieren. Das machte sie stolz. Uns – gleichsam Heimatvertriebenen – gegenüber.

Bevor ich erzähle, welche Prägungen ich durch die Begegnung mit dem Sudetendeutschland erfuhr, habe ich das Gefühl, eine Frage beantworten zu müssen: Waren die Eltern des Buben Werner Schneyder Nazis? Meine Mutter nicht, mein Vater nach Bedarf.

Wenn ich sage, meine Mutter nicht, mag das nach den vorhergegangenen Informationen verwundern. Aber es stimmt. Keineswegs aus politischen oder ethischen Motiven, sondern aus Hass auf Uniformen. Dieser Hass wiederum gründete sich nicht auf der politischen Bedeutung der Uniform, sondern auf der Tatsache, dass sie Symbol der Männlichkeit, des Mannestums, war. Das machte die Nazis in den Augen meiner Mutter verächtlich. Sie hatte wohl einen Mann, meinen Vater, aber sie »liebte« ihn in der Weise, in der man Besitz liebt und fanatisch verteidigt und dies aus einem einzigen Grund: Besitz. Männer, im Sinne der Nazis begriffen, hasste sie.

Nun, so ein Mann war mein Vater nicht. Er besaß eine Uniform, denn er war beim NSKK. Wofür NS steht, wissen die Lesenden, das erste K steht für Kraftfahr – das zweite kann ich nicht sicher erklären. Vielleicht bedeutete es Kompagnie oder Kraftfahrkorps. Kurz: Mein Vater, wegen eines Meniskusschadens nicht sonderlich tauglich, war in der Kaserne des Hinterlandes für Lkw zuständig.

Ging das Gespräch um Gesinnungstreue, verwies mein Vater mit Stolz auf diese Mitgliedschaft und die dazugehörende Uniform, ging das Gespräch – in der Nähe des Kriegsendes immer häufiger – in die Kritik am Nationalsozialismus über, verwies mein Vater stolz auf seine vorsätzlich unpolitische Tätigkeit und seine schon immer bestehende Antihaltung. Ich schicke voraus: Das war ein Leben lang die Haltung eines unemanzipierten, also keiner Haltung außer einem kontrollierten Opportunismus fähigen Mannes. Drehte sich das Gespräch in einer Erwachsenenrunde von Antisemiten um das Fehlverhalten der Juden, um deren Selbstverschuldung ihres Schicksals bis zur rassistischen Totaldiskriminierung, nickte mein Vater gedankenvoll bejahend. Kamen die Naziverbrechen zur Sprache, konnte er sich flammend darüber empören, was man diesem so bedeutenden Volk der Juden Unverzeihliches angetan hatte.

Um die Sache abzurunden: Es lag nach dem Krieg in der Wohnung ein Bildband Oh Buchenwald herum. Ich konnte darin lesen. Es gab auch lobende Worte für Bücher oder Filme, die mit der Vergangenheit abrechneten. Aber ich kann mich nicht erinnern, dass je der Einwand »tendenziös« gefehlt hätte. Subkutan war er allzeit da. Es schmerzt eigentlich immer wieder, wenn man dieses Paradoxon zur Kenntnis nehmen muss: Man ist erlebter Charakterlosigkeit auch bei den sogenannten Nächsten dankbar. Sie haben einen das Sehen und Begreifen gelehrt. Später aber doch wurde mir klar, wie politisches Fehlverhalten auf sexuellem Chaos beruhen kann.

Noch einmal: Meine Mutter hasste nicht die Nazis, sondern den Mann im Nazi. Die Überlegenheit der weißen Rasse und die rassische Fragwürdigkeit der Slawen, ganz abgesehen von der »Degeneration« der Franzosen, waren aber Teil ihrer Bildung.

Wenn ich mich jetzt an eine Episode erinnere, vermute ich, Enkel könnten es schwer haben, sie zu glauben. Dennoch, sie stimmt. Eines Tages war meinen Eltern ein Buch in die Hände gekommen, in dem die Rassen beschrieben und bewertet waren. Zeichnungen der Schädelformen mit Zentimeterangaben sollten da eine nützliche Stütze sein. So setzten also Vater und Mutter den etwa fünfjährigen Sohn vor den großen Spiegel und vermaßen mit dem Messband aus dem Nähkästchen dessen Kopf. Breite, Höhe, Ohrengröße, Augenstellung, Kurvenverlauf.

Die Untersuchung ergab: Mein Schädel war zum Glück überwiegend, zum Bedauern aber nicht ganz ideal, der dinarischen Rasse zuzuordnen. Es muss wohl, denke ich mir heute, etwas Hinterkopf gefehlt haben.

Meinen Eltern war aber in zyklischen Abständen auch das Deutschtum der jeweiligen Vorfahren ein Thema. Hatte sich mein Vater gegen das Faktum zu verteidigen, dass seine Mutter eine geborene Maly war, also fraglos tschechenstämmig, musste meine Mutter immer versichern, der Name eines Urururahnen Blumauer, hätte nichts zu besagen. Es ist vorstellbar, dass diese Spielarten des Irrsinns für jüngere Leser nicht mehr fassbar sind. Ich meine, deshalb muss ich sie notieren.

Also Duppau, etwa ein Jahr bei den Verwandten. Die Bilder, die ich noch habe, sind nicht sehr präzise. Aber ich meine, das Sudetendeutschtum nicht falsch zu beurteilen, wenn ich sage, sie hielten sich für was Besseres. Nicht nur den Tschechen gegenüber, die es in dieser sehr heilen Spießerwelt so gut wie nicht gab. Nicht geben durfte. Die nicht einmal Gesprächsgegenstand waren. Sie waren zu verachtet, um überhaupt in gesellschaftliche Überlegungen einbezogen zu werden. Eine Mesalliance in dieser Richtung hatte den Stellenwert einer Kinderschändung.

Es flossen Mich, Honig und dunkles Bier. »Unser Führer« war keine wichtige Figur. Es war eine sich selbst genügende, an nichts zweifelnde Welt. Hier erfuhr ich, woher die Großmutter und die Mutter den meist verwendeten Satz ihres Lebens hatten: »Was werden die Leute sagen?« Das war das Wichtigste, das Entscheidende.

Um nicht unangenehm aufzufallen, besuchten wir sogar einmal die Sonntagsmesse.

Der Ort war richtig schön. Das muss gesagt werden, weil es ihn nicht mehr gibt. Gleich nach Kriegsende erfuhr meine Mutter brieflich, er sei für Manöverzwecke der tschechoslowakischen Armee völlig platt gewalzt worden. Ein Großteil der Verwandten wurde liquidiert, Großonkel und Großtante konnten sich auf Pferdewagen in die spätere DDR retten. Der Schuldirektor des Gymnasiums, in dem meine Schwester wohl schon die zweite Stufe erreicht haben dürfte, sei lebend eingemauert worden, wurde auch erzählt.

Die Frage, wie dieser Hass entstehen konnte, hat mich lange beschäftigt. Sie beantwortet sich am ehesten durch eine Episode, die meine Mutter – wohl versehentlich – einmal von sich gab. Sie hatte in der Bürgerschule, so hieß die den vier Klassen Volksschule folgende, den Freigegenstand Tschechisch belegen wollen, weil sie in kindlicher Naivität gemeint hatte, das wäre zur Verständigung zweckmäßig. Als ihr Vater das erfuhr, ohrfeigte er sie.

Ich weiß noch genau, dass in diesem Sudeten-Winter der Schnee sehr hoch lag und ich – allein herumstreunend – hinter hohen Schneemauern den Sichtschutz erkannte, der es mir ermöglichte, mit meiner geträumten Panzerfaust die russischen Panzer zum Stehen zu bringen.

Ein Kind erlebt Geschichte praktisch. Der Vater meldete sich aus Klagenfurt mit der Aufforderung, sofort nach Hause zurückzukehren, die Front käme unserer Bleibe immer näher. Die Verwandten erklärten meinen Vater für verrückt. Bis er gezwungen war, uns mit Gewalt zu holen. Wie die Sache für die Ansässigen ausgegangen ist, habe ich schon erwähnt.

Noch war des Fliehens kein Ende. Wegen der Gefahr der neuerlichen Bombardierung der Stadt Klagenfurt wurden die Schulen evakuiert. So auch das von meiner Schwester besuchte Mädchenrealgymnasium. Ort der Verlagerung war ein Paradies, der Badekurort Millstatt am See. Der Schulunterricht wurde in zur Zeit sinnlosen Hotels und Pensionen abgehalten, die Schülerinnen und Schüler in Heime gesteckt. Das war nach Ansicht meiner Mutter für ihr weibliches Kind zu gefährlich. Daher musste die Familie unter abermaliger Zurücklassung des Vaters übersiedeln. Wir fanden ein Quartier über der Hauptstraße. Was nicht unwichtig ist, denn dort spielten sich die für den Verstand eines Sieben- oder Achtjährigen entscheidenden Dinge ab.

Zunächst war generell der Eindruck der Verlassenheit da. Denn die paar Menschen, die noch Zeit und Lust hatten, das große Strandbad zu nützen, machten nur dessen Sinnlosigkeit sichtbar. Ähnliches galt für den Bootsverleih. Und die Terrassen und Gastgärten. Noch war Krieg.

Wir waren arm. Ich konnte das nicht als Nachteil empfinden. Denn die Nahrungsbeschaffung, z.B. Angeln oder mit der Schwester Löwenzahnsalat ausstechen, machte großen Spaß. Im Herbst 1944 begann für mich die 3. Klasse der Volksschule, in der noch mit hellem »Heil Hitler!« gegrüßt wurde.

Zwischenbemerkung: Es wird mir bis zu meinem Ableben unerklärbar sein, wie man ein Volk, also so gut wie alle, dazu bringen kann, so einen Gruß zu akzeptieren und zu verwenden. War das Fehlen des Widerstandes durch die Zweisilbigkeit und den guten Klang dieses Namens verschuldet? Was hätte man gemacht, wäre der Führer doch »Schicklgruber« gewesen? Diese Gefahr bestand ja, wenn man den Biografien glauben darf. Diese Schande ist unauslöschlich.

Noch wurde das Vaterland verteidigt. Ein Mitschüler zeigte einen handbeschriebenen Zettel mit einem mächtigen Stempel her und behauptete, vom Gauleiter mit der Verteidigung Millstatts betraut worden zu sein. Ich neidete ihm den Zettel und wollte auch so eine wichtige Aufgabe haben.

Im Frühjahr 1945 wurde die Schule geschlossen. Meine Mutter sagte zu mir, ich solle mir langsam wieder angewöhnen »Grüß Gott!« zu sagen. Der Erste, den ich mit »Grüß Gott!« grüßte, war ein den Endsieg nicht anzweifelnder Obernazi. Er wurde bei meiner Mutter vorstellig.

Schule und Hotels wurden Lazarette. Gegenüber von unserem Quartier war ein Hotel namens »Lindenhof«. Aus dem kamen gellende Hilfeschreie. Unaufhörlich. Unerträglich. Tag und Nacht. »Sani! Sani!« Ein Bauchsteckschuss, erklärte mir ein Mann. Aber es gäbe keine Narkosemittel.

Immer wieder einmal rannten wir bei Fliegeralarm in den Luftschutzkeller im Kloster. Ich hatte keine Angst. Einmal erzählte mir einer, in der Schule läge ein erschossener Deserteur. Den könne man sich ansehen. Ich ging in Richtung Schule und drehte auf halber Strecke um. Ich wollte ihn nicht sehen.

Ein anderes Mal, ich hatte mit der selbstgefertigten Angel gerade einen kleinen Barsch gefangen, tauchte hinter mir ein Soldat in abgerissener Uniform auf. Ob ich ihm den Barsch schenken würde. Er hätte so einen wahnsinnigen Hunger. Später erzählte ich, er hätte ihn roh gegessen. Das war natürlich gelogen. Aber ich wollte beweisen, wie elend es ihm gegangen war.

Dann kamen die Flüchtlingstrecks. Stundenlang starrte ich aus dem Fenster auf die Hauptstraße, weil ich dachte, irgendwann einmal müsste diese Karawane doch zu Ende sein. Pferdewagen, Menschen mit leeren Gesichtern, schlafende Kinder, Kisten, Hausrat, Decken. Irgendwoher aus dem Osten kämen die alle, wurde mir gesagt. Der Anblick der Flüchtlinge pflanzte sich wie die Schreie der Verwundeten in die Seele, oder wo auch immer, eines Buben ein. Und mit ihnen die nicht mehr beantwortbare Frage nach dem Sinn eines Krieges. Aber die Bewusstseinsspaltung war noch wirksam. Immerhin war ich ein groß gewachsener, blonder, deutscher Junge. Einmal empfand ich das noch. Als es hieß, die Hitlerjungen und die Pimpfe (das waren deren Nachwuchs) und überhaupt alle Jugendlichen sollten in den Klosterhof kommen. Der Führer sei im heldenhaften Kampf um Berlin gefallen.

Da kam ich nun drauf, dass viele der mir bekannten Buben Pimpfenuniformen hatten und Seitengewehre. Ich hatte nicht einmal eine Anstecknadel mit Hakenkreuz. Die wurde mir noch besorgt, damit ich mich an Ort und Stelle nicht schämen musste. Der Redner erklärte uns das Heldenhafte am Tod des Führers und versicherte, ein Admiral Dönitz würde im Sinne des Führers den Endsieg herbeiführen. Danach hatten wir das Deutschlandlied zu singen. Das konnte ich. Ich reagierte auch auf die Aufforderung, es mit ausgestrecktem Arm zu singen. Nicht begriff ich aber, warum ein mir gegenüber stehender Mann während des Gesanges ununterbrochen gestisch bedeutete, dass ich etwas falsch machte. Ich war verlegen, weil ich nicht begriff, was. Im Nachhinein wurde ich belehrt. Ich hatte den falschen Arm ausgestreckt.

Der Krieg sei aus, wurde mir gesagt. Es sei Frieden. Die Engländer würden kommen und uns »besetzen«. Da wurde ich Augenzeuge einer Aktion, von der ich heute weiß, sie hat mich geprägt wie Weniges. Die Großmutter trennte die Hakenkreuzfahne auf und nähte sie zur rotweiß-roten österreichischen zusammen. Durch die geschossene Farbe und die nicht geschossene, wo das Weiß und Schwarz, also die Fläche des Hakenkreuzes, das Rot abgedeckt hatten, war das ehemalige Rund des Hakenkreuzes noch wahrnehmbar. Ich nahm die neue Fahne, hielt sie aus dem Fenster und wackelte wie verrückt. »Die können es wohl nicht mehr erwarten«, soll eine Nachbarin angemerkt haben.

Dann waren die Engländer da. Hinter dem alten Holzbad war deren tägliche Essensausgabe. Ich sah, wie die Soldaten vom gekochten Rindfleisch immer den Fettrand wegschnitten und in den See warfen. Ich ging nach Hause, holte mir eine große Schüssel und bedeutete den Soldaten, ich hätte an diesen Fetträndern großes Interesse. Das begriffen die und gaben mir reichlich. Auch ein paar trockene alte Weißbrotscheiben. Ich wurde von der Großmutter sehr gelobt.

Großen Unterhaltungswert hatte für mich dann noch die Sorge des Vaters, ob die Entnazifizierung folgenlos zu erledigen sei, seine Einschätzung des zuständigen englischen und natürlich jüdischen Offiziers. Da der keine Schwierigkeiten machte, war er ein »feiner Mann«.

Mit genau neuneinhalb Jahren trat der Schüler Schneyder – wieder in Klagenfurt – in das Realgymnasium ein. So früh, weil er von einer halben ersten Klasse in Klagenfurt in die zweite Hälfte der zweiten Klasse in Duppau gehievt worden war. Ich war ein sehr nervöses Kind, auf österreichisch: ziemlich spinnert – nach meinen heutigen Kriterien »nicht ganz dicht«. Was mich aber angesichts meiner ersten weltpolitischen Teilhabe nicht wundert.

Ich ahnte damals: Diese sich selbst so gerne »bürgerlich« nennende Gesellschaft ist eine sehr anzuzweifelnde. Da stehen Fassade und Realität in – für ein Kind mit Beobachtungsgabe – geradezu groteskem Widerspruch. Das ist der Grund, warum ich Jahrzehnte danach die Frage: »Wie wird man Satiriker?« immer mit »In der Familie« beantwortet habe.

Ich wusste damals: Krieg ist Scheiße, Waffen sind Scheiße, Nazis sind Scheiße.

Ich wusste nicht, dass ich es wusste. Aber ich wusste es.

Schule, Lehrzeit, Studium

Da sich dieses Wissen im Laufe der acht Jahre am Realgymnasium immer häufiger artikulierte, stand sehr bald fest: Ich war ein »Linker«.

Im Rahmen der trostlosen Vermittlung des überwiegend unsinnigen Lehrstoffes gab es drei Punkte, die für meine politische Entwicklung von Bedeutung waren. Der erste ist nichts als eine kleine Anekdote, aber von außerordentlicher Sprengkraft. Wir hatten einen Professor in Geschichte und Geografie, der einen gewissen Hang zum Zynismus gegenüber Autoritäten durchschimmern ließ. Er verhöhnte zum Beispiel die Hervorbringungen der lokalen Presse und forderte uns auf, die Süddeutsche Zeitung zu lesen, wenn wir über Österreich etwas Sinnvolles erfahren wollten. Gleichzeitig ermahnte er uns, keinesfalls weiterzuerzählen, was er da eben gesagt hatte.

Es könnte in der 3. Klasse gewesen sein, als er lustlos von den Kriegen zwischen Persern und Griechen vortrug. Als er zu einer sehr bedeutenden Schlacht kam, sagte er: »Laut Geschichtsbuch sind in dieser Schlacht soundso viele Perser und soundso viele Griechen gefallen.« (Anm.: Er nannte natürlich die Schlacht beim Namen und die Zahl der Opfer.) Dann aber bemerkte er nach einer kleinen Pause: »Meiner Meinung nach haben so viele gar nicht gekämpft.« Dieser Satz drang in mich ein wie ein feuriges Schwert. Zum ersten Mal erfuhr ich, was mein Leben mitprägen sollte: Man muss es nicht glauben! Die Geschichtsschreibung hatte ihre Autorität verloren, war verdächtig, angreif- und auslachbar geworden. Welch eine Befreiung! Bei einer Jahre späteren Zufallsbegegnung in der Stadt meiner Jugend sah ich den längst pensionierten Mann. Ich schoss auf ihn zu und sagte: »Herr Professor, Sie ahnen nicht, was ich Ihnen verdanke.« Er ließ es sich erklären und blieb sichtlich geschmeichelt zurück.

Die zweite Lehrsensation war die: Wir hatten so ab der Mittelstufe einen Philosophieprofessor, der sich als Privatmann aber weit mehr den schönen Künsten, vor allem der Literatur widmete. Im Besonderen der zeitgenössischen Lyrik. Daher verachtete er die der Germanistik entstammenden Kollegen, die »Deutsch« unterrichteten und seiner – völlig berechtigten – Meinung nach nichts wussten und nichts konnten. Daher pflegte er seinen Philosophie- und Psychologiestoff etwa zehn bis fünfzehn Minuten vor dem Läuten mit diesem Satz zu beenden: »Da ich weiß, dass ihr in Literatur nichts lernt, lese ich euch ein paar Gedichte vor.« Das nahm ich sehr dankbar hin, wenngleich mir die vom Professor bewunderte Poetenschule nicht viel sagte. Ich habe sie später für mich mit dem Etikett »Orakelunker« qualifiziert. Bei Gottfried Benn geriet ich zwar ins Wanken, wehrte mich aber dann doch gegen diese Absage an die Welt. Eines Tages las der Philosophieprofessor politische Gedichte des mir als Jugendbuchautor durchaus bekannten Erich Kästner vor. Auch das war ein Einschlag. Und zwar in zweifacher Hinsicht.

Zum ersten Mal hatte ich einen literarischen Zeugen, eine Bestätigung für das, was ich mir als weltanschauliche Position zusammengefühlt und zusammengedacht hatte. Dazu kam die brillante, liedhafte Form, diese so selbstverständliche Virtuosität des Reimes, der die Gedanken ausstellt. »Kennst du das Land, wo die Kanonen blühn? …«, »… mit diesen Leuten war kein Staat zu machen«. Das war die Sprache, auf die ich gewartet hatte wie ein Verdurstender auf einen Krug Wasser. Sofort ging ich in die Leihbibliothek und besorgte mir die Sammlung Bei Durchsicht meiner Bücher. Der einleitende Text berichtete von der Bücherverbrennung durch die Nazis und nannte Namen anderer Autoren. Ab jetzt wusste ich, was ich zu lesen hatte. Abenteuer- und Kriminalromane waren passé, ich grub mich ein in Tucholsky & Co. Wenn man mir heute, gegen Beendigung meiner Laufbahn, nachsagt, viel von mir zu meinen Thematiken Geschriebenes wäre epigonal, bestätige ich das mit Stolz.

Literatur bekam für mich einen neuen Stellenwert. Ich durchstöberte die Bibliothek meiner Eltern und fand unter unfasslichem Dreck doch auch Boston von Upton Sinclair.

Endlich begriff ich, was für ein grandioses Theaterstück Kabale und Liebe von Friedrich Schiller ist, plötzlich wusste ich um die Wichtigkeit von Gerhart Hauptmanns Die Weber. Literatur ohne Meinung, Lesefutter, hatte für mich jeden Reiz verloren.

Die dritte wichtige Erinnerung ist die an einen Mitschüler, an den Klassenbesten. Der war eines von drei oder vier Kindern einer Flüchtlingsfamilie aus Siebenbürgen. Die Familie lebte unter sehr dürftigen Umständen, der Vater hatte irgendeine Anstellung in der Umgebung des Bischofs, wahrscheinlich unter seiner Qualifikation.

Dieser Klassenbeste war ein sympathischer, sportlicher, überaus kameradschaftlicher Geselle. Heute noch habe ich ihm für seine unter der Klobrille deponierte Übersetzung anlässlich der Lateinmatura (so heißt das Abitur in Österreich) zu danken. Dieser Klassenbeste, zu dem ich mich persönlich stark hingezogen fühlte, war, wie das Schicht für Schicht immer transparenter wurde, ein katholischer Nazi. Das war nun eine Verbindung, die mir nicht eingehen wollte. Daher suchte ich das Gespräch, und der Schulfreund teilte sich mit. Natürlich – das wird man ihm wohl zu Hause aufgetragen haben – nicht vor Zeugen. Da war die weiße Rasse die von Gott auserwählte, da war die jüdische Weltverschwörung ein bewiesenes Faktum, da »stanken« die »Neger«, da war der deutsche Mensch die Spitze auf der Pyramide der Weißen, gottgewollt, da war die historische Wahrheit, dass die Nationalsozialisten nie einen Krieg hatten führen wollen. Noch einmal: Der Junge war kein Idiot. Er musste so gut wie nicht lernen und schrieb dennoch »sehr gut« auf »sehr gut«. Er konnte bei mündlichen Prüfungen alle Fragen beantworten, in Geschichte sichtlich einige mit zusammengekniffenen Lippen. Er wusste um die Gefahr, seine Weltanschauung öffentlich zu machen. Ich genoss sein Vertrauen. Möglich, dass er mich missionieren wollte. Das wollte ich ja auch. Manchmal beherrschten wir uns nicht. In Großen Pausen kam es zu Schreiduellen. Wir trafen uns öfter auch auf dem Sportplatz. Er war Mehrkämpfer, ich kickte. Einmal sagte ich ihm, um ihn zu irritieren, von mir mittlerweile auswendig gekonnte Kästner-Gedichte auf. Er sagte: »Das kann nur ein Jude geschrieben haben.« Mit der Zeit erstarb der Dialog. Wir resignierten beide.

Warum ich diese Begegnung so wichtig finde? Sie bewies mir früh und für alle Zeit: Sogenannte Intelligenz, sogar extreme, von den Naturwissenschaften bis zu toten und lebenden Sprachen, schützt überhaupt nicht vor Idiotie. Der Mann studierte später Medizin. Seine weltanschauliche Position hinderte ihn nicht an einer erstklassigen Karriere. Er muss sich immer sehr beherrscht oder Kreise gefunden haben, in die er eingebettet war.

Bei einem Maturatreffen nach über vierzig Jahren sahen wir uns wieder. Er kam in dunklem Anzug mit dem ausgezehrten Gesicht eines Wanderpredigers. Ich suchte das Gespräch. Es war alles wie einst. Ich erfuhr, dass der polnische Papst Wojtyla keineswegs ein Konservativer sei, sondern ein von den Zerstörern des Glaubens eingesetzter Agent. Um diese und ähnliche Erkenntnisse zu vertiefen, empfahl mir mein Schulfreund Stellen im Internet. Ich ließ mir auch sagen, es gäbe für einen wahren Christen nur mehr eine Autorität auf Erden: Lefebvre. Das ist der schon verstorbene, in seinen Pius-Brüdern weiterlebende Gegenpapst, dessen Apostel den Holocaust schlicht nicht wahrnehmen. (Anm.: Diese und ähnliche Erläuterungen mögen mir mit der Zeitgeschichte ein wenig vertraute Lesende nachsehen. Aber ich denke immer auch an Gymnasiasten.)

Der Schulfreund, der das Maturatreffen organisiert hatte, ist tot. Es gibt keinen mehr, der sich die Mühe machen will, ein letztes zustande zu bringen. Das tut mir wegen des eben beschriebenen Mannes sehr leid. Immer noch ist er mir unbegreiflich. Immer noch möchte ich mich nicht mit seinen Haltungen abfinden. Ich weiß, jedes Wort wäre für immer müßig. Aber ich will es nicht einsehen.

Meine Lehr- und Lernzeit erhielt ihren entscheidenden Impuls, als ich – noch nicht 16 Jahre alt – quer durch die Stadt ging, zu einem Haus in der Bahnhofstraße in den 1. Stock und an eine Tür klopfte. Es war die zu einer vor kurzer Zeit gegründeten, lächerlich kleinen Regionalredaktion einer in Graz gedruckten Tageszeitung. (Heute ist das die zweitgrößte Tageszeitung Österreichs und für viele die politisch relevanteste.) Ich erklärte einem hier offenbar das Sagen habenden Herrn, dass ich Journalist werden möchte. Warum ich getestet und tatsächlich gebraucht wurde, tut hier nichts zur Sache. Zu berichten habe ich über die Figur meines Gesprächspartners, des Chefredakteurs. Das war – ich fälle dieses Urteil natürlich aus späterer Erkenntnis – ein erstklassiger Journalist. Technisch und sprachlich perfekt. Mit allen Wassern gewaschen. Er war eine große Nummer im Wiener Asphaltjournalismus gewesen, glühender Militarist und eingefleischter Antisemit. Durch Zufall bekam ich Jahre später einmal einen flammenden Durchhalteartikel dieses Mannes in die Hände. Wahrscheinlich war er nach dem Krieg aus dem Verkehr gezogen werden und hatte jetzt – in der Provinz – eine neue Chance bekommen. Wohl weil Leute seine handwerkliche Qualität kannten und meinten, seine Nazivergangenheit sei lange her.

Er schätzte mich. Er befasste sich mit mir, mit meiner Art zu schreiben. Er belehrte mich. Im besten Sinne des Wortes. Je mehr mir seine politische Grundhaltung bewusst wurde – so etwas ist durch Nebenbemerkungen, kleine private Reflexionen, natürlich auch Witze unvermeidlich –, desto bewusster wurde mir, meine Sympathie für ihn war auf Opportunismus begründet. Erstens genoss ich das Ernstgenommenwerden und die redaktionelle Belehrung, zweitens das erste selbst verdiente Geld. Er hatte sich politisch natürlich unter Kontrolle, er ließ seine Gesinnung nur indirekt wirksam werden. Z.B. als ein sich sicher sehr überschätzender Schauspieler des Klagenfurter Stadttheaters wagte, ein großes Solo mit Stellen aus Die letzten Tage der Menschheit von Karl Kraus zu gestalten. Da schrieb mein Chefredakteur eine vernichtende Rezension, die sich aber weniger mit dem Mimen beschäftigte als vielmehr mit der Unverschämtheit, die für das Vaterland gekämpft habenden und gefallenen Helden derart zu beleidigen. Der Entschluss des Schauspielers, diesen antipatriotischen Text über das Soldatentum (Anm. aus schon genannten Gründen: Es handelt sich hier um den Ersten Weltkrieg) aufzuführen, war der Grund für die journalistische Vernichtung. Ich hatte damals das dringende Bedürfnis, meinem Chefredakteur zu sagen, ich hätte Die letzten Tage der Menschheit von vorn nach hinten gelesen und hielte sie für ein Werk von ungeheuerlicher, unübertrefflicher Qualität. Ich tat es nicht. Es handelte sich um Abhängigkeit. Ich kann mich für mein Schweigen auch heute nicht verurteilen. Bin mir aber nicht sicher.

Eine zweite Sache bereute ich am Tag der Konsequenz. Mein Vater hatte sich in seinem Bemühen, beruflich Fuß zu fassen, mit einem jüdischen Handelsvertreter eingelassen. Es gab auch private Kontakte. Nun zog dieser Handelsvertreter meinen Vater über den Tisch. Mit sehr viel komischen Details, vor allem Aussprüchen. Die erzählte ich in einer Plauderpause dem Chefredakteur. Daraufhin schrieb der eine böse Glosse, in der er durch Sprachspielerei mit dem Eigennamen des Gauners dem Leser klarmachte, es handele sich um eine typisch jüdische Verhaltensweise. Als das gedruckt da stand, hätte ich mich ohrfeigen können.

Der Mann schaufelte sich selbst sein journalistisches Grab. In Kärnten gab es zu Ende des Zweiten Weltkrieges kriegerische Auseinandersetzungen zwischen – man muss wohl sagen – den Resten des deutschen Heeres und jugoslawischen Partisanen. In den letzten Jahren wurde das Ausmaß des sinnlosen Mordens von Zeitgeschichtlern der Universität Klagenfurt gültig aufgearbeitet. Revanchisten da und dort mögen damit nicht einverstanden sein. Aber zu Beginn der 50er Jahre waren die Ressentiments der Deutschkärntner noch glühend. Das erfasste der Wiener Asphaltjournalist und ließ eine total einseitige, spekulative Serie schreiben: »Die blutige Grenze«. Was ihm in seinem antislawischen Furor sträflicherweise entging, war die Schlampigkeit der Recherchen seines Sensationsreporters. Ergebnis war, dass über lange Zeit die Seiten des Regionalteils mit gerichtlich erzwungenen Entgegnungen tapeziert waren. Das war wohl der Karriereknick.

Aber noch genoss ich bis zum Schulende am Realgymnasium die journalistische Nebentätigkeit. Die Schule war dadurch nicht einfacher, aber erträglicher geworden. Der Chefredakteur war – mit einem zweiten Mann an der Seite – noch da, als ich später, während der Sommerferien, als Urlaubsvertretung für Abwesende einsprang. Eines Sommers erfuhr ich, er hätte zur Wochenzeitung der Kärntner Bauern wechseln müssen. Erst Jahre danach traf ich ihn wieder einmal an einer Theke. Er hatte über mich als Autor wohl etwas Positives gelesen gehabt und teilte mir seine Freude mit, dass aus mir »etwas geworden« wäre. Er bot mir das »Du« an. Ich sagte, ich hätte ihm viel zu verdanken.

Also, die Schule war vorbei. Gab es während dieser Zeit relevante politische Beobachtungen? Nun, ich registrierte vergnügt, dass ein Mal im Monat ein Rentner zu meinem Vater kam und ihm für ein lächerliches Geld eine kleine Marke in den Mitgliedsausweis der SPÖ klebte. Als der alte Mann dann durch die Zusendung eines Zahlscheines ersetzt wurde, hatte mein Vater den Mut, »diesen Schweinen kein Geld mehr in den Rachen zu schmeißen«.

Die privaten Vorkommnisse in meinem Elternhaus während der Schuljahre haben hier nichts zu suchen. Nur die bilanzierende Feststellung, die Diskrepanz der inneren Realität und Außendarstellung wurde immer extremer. Zur politischen Meinungsbildung über das Bürgertum gehört noch die Beobachtung, wonach dringliche Anschaffungen für einen Heranwachsenden nicht möglich waren, wohl aber das erfolgreiche Ansparen eines Kristalllüsters bzw. eines in der Folge zu Tode gereinigten Perserteppichs.

Nicht zu vergessen sind zwei immer wiederkehrende Formulierungen, deren Trotzreaktion bis heute anhält. Die Großmutter pflegte nach Kenntnisnahme meiner Noten in »Betragen« zu sagen: »Wenn du dich nicht änderst, wirst du dich schön anschauen.« Das scheint mir eine sudetendeutsche Redensart gewesen zu sein. Was sie bedeutet, ist logisch: Du wirst schon sehen, wohin das führt. Sie und bald nur mehr die Mutter haben diesen Satz zu oft gesagt. Meine Mutter auch einen zweiten, während der Schulzeit und, solange sie noch bei Verstand war, auch danach: »Meinst du nicht, dass du dir damit schadest?« Es war ihnen nicht gegeben zu begreifen, wie kontraproduktiv das war.

Auch nicht die Ultimo Ratio: »Du endest noch im Kriminal.«

Ich wollte eigentlich nicht studieren. Mir hätte die journalistische Laufbahn genügt. Wie ich heute weiß: nur zunächst. Aber meine Eltern wollten einen Akademiker. Also erkundigte ich mich nach dem leichtesten Studium. Als das wurde mir Publizistik genannt, die damals in Wien noch Zeitungswissenschaft hieß und in jeder Hinsicht absolut lächerlich war. Das sollte sich danach mit einer neuen Institutsleitung ändern, aber da war ich schon dahin. Dennoch waren die neun Semester Studium für mich wichtig. Wegen der Existenz als Student, die wiederum vom Wohnsitz bestimmt war. An ein eigenes Untermietzimmer war aus finanziellen Gründen nicht zu denken, so etwas wie eine Wohngemeinschaft war mir auch nicht bekannt, es musste ein Studentenheim sein. Meine Eltern strebten ein schwarzes Heim an, also eines des Kartellverbandes, ein christdemokratisches, wegen des besseren Umganges. Ich wäre dort nicht kompatibel gewesen, musste das aber nicht erleben, denn sie nahmen mich nicht. Trotz des Versuches einer Protektion aus Klagenfurt, die aber wiederum einer Empfehlung des zuständigen Pfarrers bedurfte. Der anständige Mann gab die aber nicht. Er erklärte wahrheitsgemäß, weder meine Familie noch mich zu kennen und mich daher auch nie auch nur in der Nähe der Kirche gesehen zu haben. Also blieb nur eine rote Adresse, das Studentenheim des Verbandes der Sozialistischen Studenten Österreichs, VSStÖ. Das kann in mehrfacher Hinsicht eine Art von Lebensrettung gewesen sein. Hier waren Damenbesuche erlaubt, jedenfalls bis um … aber das wurde, wenn es keine Exzesse gab, nicht ernsthaft kontrolliert.

Eine meiner ersten Initiativen war der Kirchenaustritt. Begründung: die Existenz der Militärseelsorger an Stelle der Exkommunikation der Offiziere.

Da waren Kollegen, die schon als sozialistische Mittelschüler organisiert gewesen waren oder schon vorher als Rote Falken. Die studierten Medizin, Architektur, Jura und oft auch Welthandel (heute: Wirtschaftswissenschaften) und reflektierten das politische Geschehen intensiv. Ich war geborgen.

Zumal ich in meinem ersten Zimmergenossen einen Typ kennenlernte, den ich flüchtig schon aus Klagenfurt kannte und der mein langjähriger bester Freund werden sollte, Thomas Pluch. Der studierte das Gleiche wie ich, war mir aber zwei Jahre voraus. Auch er war kein Parteisoldat, sondern einer, der, wie ich, sich von der Achse Olof Palme, Willy Brandt, Bruno Kreisky etwas versprach. Er machte Karriere als Journalist, schrieb hervorragende politische Kommentare und Essays, gründete in der Wiener Zeitung eine nicht dem feuilletonistischen Mainstream verpflichtete Literaturbeilage und verstarb – viel zu früh – als preisgekrönter Fernsehdramatiker. Im Nachruf eines sozialistischen Kanzlers war zu lesen: »ein oft schwieriger Freund«. Das war eine erstklassige Definition. So wollten wir sein. Die geschwollenere Formulierung für diese Haltung heißt »kritische Solidarität«. Die reicht oft auch zu Bertolt Brechts Feststellung: »In mir habt ihr Einen, auf den könnt ihr nicht bauen.«

Manchmal ging ich zu Veranstaltungen des VSStÖ, etwa auch zu internen Vorwahldiskussionen. Da wurde mir erstmals ein wesentliches Elend der Linken bewusst gemacht: das Sektierertum, der ideologische Kantönligeist. Da bestand der eine darauf, Trotzkist zu sein, da hatte der andere Differenzen zwischen Liebknecht, Engels und Marx herausgearbeitet, da wurde zwischen völlig schwammigen linken und rechten »Flügeln« hin- und hergequatscht – es war schwer erträglich. Noch war ich nicht so weit, laut zu sagen, was ich mir dachte: Und sonst habt ihr keine Sorgen? Heute ist mir diese Frage längst zu leise.

Mein politisches Weltbild war simpler. Ich war im Elternhaus belehrt worden, »Proleten« sind minderwertigere Menschen. Das hatte ich eines Tages nicht mehr geglaubt und für mich Beweise gesammelt, dass das nicht so ist. Ich hatte in meinem Elternhaus erfahren, dass jeder Finanzminister, von welcher Partei auch immer, ein »Schwein« und ein »Verbrecher« ist. Dies, weil er die Einkünfte meines Vaters besteuerte. Ich hatte aber mir auch immer gleichzeitig sagen lassen, welche Aufgaben der Staat nicht oder unzureichend erfüllt. Weil er »restlos pleite« war. Meine Versuche, die Unvereinbarkeit mancher Standpunkte zur Sprache zu bringen, scheiterten. Meine Ambitionen, anhand von Zitaten aus von mir geliebten Büchern Meinungen aufzuweichen, hatten in der Entlarvung der Autoren als »links« oder »kommunistisch« geendet. Es war kein Gespräch mehr möglich.

So war meine politische Zielsetzung diese: Ich würde den Dritten Weltkrieg verhindern, für soziale Balance sorgen und die Vorstellung eines schönen Lebens (»Lebensqualität«) nicht an ewige Steigerung koppeln.

Ich schicke voraus, ich habe mich schon zu Beginn meines Kabarettistenlebens und bis zum heutigen Tag als Gescheiterter betrachtet. Das verzeihe ich mir nicht und schon gar nicht jenen, die Schuld daran sind.

Mit Thomas Pluch machte ich eine elementare Erfahrung. Die sozialistischen Studenten hatten eine in unregelmäßigen Abständen erscheinende Zeitung Die neue Generation. Pluch wurde deren Chefredakteur, machte mich zum Mitarbeiter. Es bahnte sich ein Kuhhandel zwischen SPÖ und ÖVP (die österreichische CDU) an. Die Schwarzen bewilligten den Roten ein Allgemeines Sozialversicherungsgesetz, dafür schenkten die Roten den Schwarzen die Einwilligung für ein Bundesheer mit allgemeiner Wehrpflicht. Das trieb uns auf die Palme. Wir stampften eine Sondernummer »Sag nie wieder: Jawohl!« aus dem Boden. Am Tag nach dem Erscheinen klingelte des Telefon. Der wohl auch für die Subvention dieser Studentenzeitung zuständige Minister fragte an, ob wir wahnsinnig geworden wären. Ergebnis des Einspruches war die Absetzung des Chefredakteurs und so auch mein Ausscheiden. Ich muss damals wohl beschlossen haben, nie einer Partei beizutreten, in der Meinungen so niedergebügelt werden. Also bin ich bis heute in keiner.

Während der Studienzeit verdiente ich mir u.a. als freier Journalist hie und da etwas für das ausgeprägte Konsumverhalten. Einmal absolvierte ich sogar eine einmonatige Probezeit als Volontär einer großbürgerlichen Tageszeitung. Ich scheiterte kläglich, was wohl auch an meinem optischen Erscheinungsbild am Morgen gelegen haben mag.

Studentenjobs waren gegen Jahresende wichtig, da man zum weihnachtlichen Schenkfest nicht mit leeren Händen dastehen wollte. Da erfuhr ich von einem Dozenten, die Steyr-Daimler-Puch A.G. suche einen Werbetexter, dreimonatige Probezeit. Wunderbar, dachte ich, Oktober, November, Dezember und dann adieu. Das wär’s. Es wurden drei Jahre. Drei wichtige Lehrjahre, nicht nur weil es komisch ist, wenn man werbliche Texte für Waren schreibt, die man nicht mag. Ich als erklärter Nichtautofahrer, lebenslänglich ohne Führerschein, warb für Fiat-Autos. Ich warb auch für Puch-Motorroller, hätte mich aber nie auf so ein Ding draufgesetzt. Wichtig und lehrreich war vor allem die Teilnahme an Gesprächsrunden über Verkaufsstrategie. Ich lernte die Gedankengänge von Verkaufsdirektoren kennen und danke dieser Zeit meine Fähigkeit, aus noch so intelligenten Argumentationen den guten alten Viehmarkt herauszuhören.

Nachfolgende Stationen erwähne ich nur kurz, weil sie nichts Wesentliches zur politischen Bildung beigetragen haben. Ich hatte nach drei Jahren ein tolles Angebot einer internationalen Werbeagentur, gleichzeitig die Chance, als Dramaturg an das Theater zu gehen, das ein Stück von mir zur Uraufführung angenommen hatte. Ich tat diesen Schritt, ohne zu bedauern, dass sich meine Einkünfte um drei Viertel verringerten. Das sei erwähnt, weil später von den Grenzen des Wachstums und der Relation zur Lebensqualität die Rede sein wird.

(Anm.: Mein fester Vorsatz, in diesem Buch Privates, das nicht eng zum Thema gehört, auszusparen, sei für einen Satz ungültig. Ich hatte eine Frau, die diese Entscheidung mit Vergnügen mittrug.)

Mein drittes Theaterjahr war ein unerfreuliches, zugleich ermunterten mich zwei Fernsehprojekte, es in freier Existenz zu versuchen. Ich wurde freier Autor mit Wohnsitz Salzburg. Wir schreiben das Jahr 1965. Die besten Verdienstchancen ergaben sich beim Fernsehen, im Speziellen bei einer Produktionsfirma in München. Ich wurde versierter Drehbuchautor.

Möglicherweise wäre meine Produktion von Literatur, vor allem von frei rhythmisierten Gedichten zum politischen Leben abgestorben, hätte mich nicht bei einer Lesung in Wien ein Mitglied der Redaktion eines neugegründeten oder wiederbelebten Boulevardblattes gehört und danach angesprochen. Ob ich mich in der Lage sähe, derartige literarisch geformte Kurzkommentare, wie eben vorgelesen, täglich für diese Zeitung zu schreiben. Ich sah mich in der Lage. Das war eine spannende Tätigkeit, auch eine stressige. Die Zeitung ging ein. Ein wirklich guter, konservativer Journalist, Ernst Trost, heute noch außenpolitischer Kolumnist der bedauerlicherweise größten Zeitung Österreichs, scheiterte mit dem Versuch, Niveau mit der Aufmachung von Massenblättern zu verbinden. Er kehrte zu seinem Stammblatt zurück, durfte dort zunächst eine Literaturbeilage gestalten, in der ich meinen Platz hatte. Dann war die dem Verleger doch zu kostspielig, sie wurde erst ausgedünnt, dann eingestellt. Meine mittlerweile wöchentlich erscheinenden Tagesgedichte blieben aber im Blatt, bis sich der große Herausgeber Hans Dichand dieses linke Alibi nicht mehr leisten wollte. Im Privatgespräch mit Dritten erkannte er in mir einen »Kommunisten«. Auch das fand ich komisch. Ich erinnerte mich eines Gespräches, das wir kurz nach Beginn der täglichen Kolumne hatten, in dem er mich bat zu interpunktieren. Er wollte die ohne Satzzeichen dastehenden Zeilen seinen Lesern (zu Recht) nicht zumuten. In diesem Gespräch, in dem er seiner Begeisterung über das Engagement meiner Person Ausdruck verlieh, sagte er: »Sie können alles schreiben. Im Grunde sind wir ja alle links, wie wir da sitzen. Sie dürfen nur eines nicht: unserem Geld schaden.«

Das legendäre Jahr 1968 und dessen Folgen erlebte ich passiv. Zumal es in Österreich nur in kleinen Dosen stattfand. Ich war zu sehr mit medialem Broterwerb beschäftigt. Aber einmal gab es in Salzburg ein vom Zukunftsforscher Robert Jungk initiiertes Meeting, eine große Diskussion. Da ging ich hin. Da sprach ich mit. Nach der Veranstaltung sagte mir Jungk, wie er mich gesehen hätte, hätte er gedacht, ich wäre eine Gegenstimme. Von meinen Meinungen sei er sehr überrascht gewesen. Mein blauer Blazer könnte ihn verwirrt haben, dachte ich mir.

In späteren Jahren, als ich schon einen Namen hatte, tauchte ich bei Friedensveranstaltungen, Anti-Atom-Kongressen u.Ä. auf. Nicht zu häufig. Hätte man in gewissen Zeiten alle einschlägigen Einladungen angenommen, wäre an eine Berufsausübung nicht mehr zu denken gewesen.

Das Kabarett-Duo

Ich hatte eine Menge Material. Es entstand ein kleines Paperback in einem österreichischen Verlag: Die Empfehlung der einfachen Schläge