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Der Autor

Veit Hitziger ist Heilerziehungspfleger, Fachkraft für Hilfen zur Erziehung sowie Sozialarbeiter/Sozialpädagoge.

Veit Hitziger

 

Teilhabe praktizieren in der Eingliederungshilfe

Herausforderung für die Heilerziehungspflege

Verlag W. Kohlhammer

Ich danke meiner Frau,

die mir immer auch eine fachliche Partnerin ist.

Und ich danke meinem Sohn, der mir zeigt,

dass es auch noch Wichtigeres als Arbeit gibt.

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1. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-040780-0

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-040781-7

epub:     ISBN 978-3-17-040782-4

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorwort
  2. Ein Tag im Heim
  3. Fazit der Geschichte
  4. Gedankenexperiment
  5. Selbstreflexion
  6. Rechtliche Gedanken
  7. Leitideen
  8. Machtmissbrauch und Stigmatisierung
  9. Sich selbst bewusst sein
  10. Stress und Alltag
  11. Akzeptanz von Behinderung
  12. Der Weg zur Veränderung
  13. Fazit
  14. Literatur
  15. Register

Vorwort

Sarkasmus und Ironie haben in fachlichen bzw. wissenschaftlichen Arbeiten nichts verloren. Soweit zur Theorie. Erlaubt ist, was gefällt, wäre die zweite Variante, die hier in Ihren Händen (bzw. Lap-Top, E-Book, Smartphone) liegt. Es geht in diesem Buch nicht darum, es nach möglichst kurzer Zeit wieder in die Ecke zu legen, weil es dann doch spannender ist, einen dreistündigen Vortrag im frontalen Stil zu lauschen. Es ist viel mehr für die gedacht, die sich (aus welchem Grund auch immer) für den Beruf der Heilerziehungspflege im Rahmen der Eingliederungshilfe interessieren. Es ist an die gerichtet, die in irgendeiner Art mit behinderten Menschen beschäftigt sind. Ob nun als Angehöriger, gesetzlicher Betreuer, (angehende) Fachkraft oder als Ungelernter oder direkt als der Mensch, dem die gesamten Hilfen zukommen und der einfach mal hinter die Kulissen schauen will.

Es geht darum, vom Groben zum Kleineren die fachlichen Hintergründe zu verstehen, die in dieser Sparte der Sozialen Arbeit wichtig sind. Und auch wenn hier teilweise sehr ausführlich auf bestimmte Dinge eingegangen wird, so bleibt es doch auch wieder nur ein Teil der Dinge, die man in diesem riesigen Berufszweig wissen kann. Denn so kann man als Heilerziehungspfleger (oder kurz: HEP) in vielen Bereichen arbeiten. Das kann in einer Wohngruppe bzw. einer besonderen Wohnform sein (früher hat man dazu Heim gesagt), man kann behinderte Menschen in ihrer eigenen Wohnung begleiten, in der Werkstatt, oder oder oder … den Rest weiß Google besser als ich. Und ganz egal, wo man mit dieser Ausbildung überall seine Brötchen verdienen kann, ist es wichtig, bestimmte Dinge einfach mal richtig zu machen. Es geht nicht nur um Wissen, es geht vorwiegend um eine Haltung. Also, wie man sich als HEP im Alltag verhalten sollte. Schön, dass Haltung und Verhalten so nah beieinander liegen.

Aber ganz ohne jegliches Wissen geht es dann leider doch nicht. Deswegen werden in den nächsten Abschnitten einige wichtige Haltungsweisen und alltägliche Probleme beschrieben.

Es sind weiß Gott nicht alle. Ich bin schließlich nicht der Gott der Eingliederungshilfe. Aber es sind einige sehr wichtige. Und für diejenigen, die es genauer wissen wollen, wurden sehr wichtige Begriffe mit einem »#« (Hashtag) versehen. Diese Worte bitte immer merken, denn damit kann man richtig Eindruck schinden. Wer es am Ende dann doch vergessen hat, kann im Wörterverzeichnis (Register) nochmal nachschauen, was das besagte Wort bedeutet.

Es wird viel darum gehen, dass bestimmte Sachverhalte einen zum Nachdenken anregen sollen. Und im Verlauf wird deutlich, dass es sehr häufig um Selbstreflexion gehen wird. Wer mag, kann ja mal zählen, wie oft darauf eingegangen wird. Und keine Angst, das mit der Selbstreflexion wird alles noch genauer erklärt, wenn es so weit ist. Das Meiste ist wie gesagt, nur ein Abriss, also ein kleiner Teil und recht komprimiert. Für die meisten der Begriffe wurden mehrere Bücher geschrieben, spezielle Kurse oder gar Studiengänge entworfen. Deshalb gehe ich auch davon aus, dass man sich hier quasi nur einen Vorgeschmack holen kann, um bei Interesse tiefer in die Materie reintauchen zu können, wenn einem danach ist, oder es die nächste Hausaufgabe verlangt. Man lernt kein Halbwissen, man lernt einen Ausgangspunkt, an dem man weiter machen kann. Es ist sozusagen wie ein YouTube-Video, wo man als erstes reinschauen kann, bevor man in einen komplizierten Sachverhalt einsteigt. Aber hier halt in Buchform. Wer also mehr wissen will (oder muss), soll sich nicht scheuen, weiter zu suchen, es sich beibringen zu lassen oder zu fragen.

Und in der Hoffnung, dass mich meine ehemaligen Professorinnen und Professoren mit dieser Art der Lektüre nicht nur mit kleinen Brocken steinigen, will ich nochmal auf die Sache mit den kleinen Zahlen am Ende eines Wortes eingehen. Diese sogenannten Fußnoten zeigen an, dass ich mir den letzten Satz nicht selber ausgedacht habe. Das hat dann schon mal jemand vor mir gesagt. Zumeist jemand weitaus Schlaueres. Und auf diese Person verweise ich dann am Ende des Buches, wo das schon mal geschrieben wurde. An sich sind so gut wie alle Dinge, die hier beschrieben werden, eh nicht meine Ideen. Ich verweise nur auf vieles, das bereits geschrieben, erklärt und erdacht wurde und ergänze es dann hier und da mit Ideen oder beruflichen Erfahrungen. So könnte man in Kurzform beschreiben, was #wissenschaftliches Arbeiten1 ist. Oh … da war sie ja eben, die erste Fußnote. Schauen Sie ruhig mal rein, wie das am Ende der Seite aussieht. Dann reden wir mal nicht weiter um den heißen Brei herum und reiten los.

1      War nur ein Test. Bitte weiterlesen!

Ein Tag im Heim

Ich wache auf. Mein Blick geht Richtung Fenster, und es ist noch dunkel. Wird wohl noch Nacht sein. Keine Ahnung, wie spät es ist. Bestimmt noch ganz früh. Allerdings ist auf dem Flur schon wieder eine ganze Menge Lärm zu hören. Und da diese eine Stimme … Na klasse. Die eine da ist wieder da. Zwischendurch schreit wieder mein Nachbar von links nebenan, weil er nicht aufstehen will. Mal schauen, wie lange es heute wieder dauern wird. Je nachdem kann ich dann noch ein bisschen länger schlafen. Auf einmal geht meine Tür auf und das helle Licht vom Flur scheint herein und direkt in mein Gesicht. Die Frau ist wieder da, und jetzt bin ich an der Reihe. Sie nimmt die Decke hoch, öffnet meine Windel, macht diesen komischen Schaum drauf und wischt ihn ab. Danach gibts eine neue Windel und diese engen Strümpfe an, wo sie immer richtig ins Schwitzen kommt, und dann zieht sie mich Stück für Stück an. Zwischendurch schaut sie hoch und lächelt mich an. Als sie aus meinem Zimmer geht, ruft sie noch »Frühstück« in den Flur und geht. Da sitze ich nun und schaue mich nochmal um. Naja, was solls … Hunger habe ich eh ein bisschen. Also gehe ich los und laufe durch den Flur. Man kann von hier aus irgendwie das ganze Haus sehen, so lang ist der Flur. Und ich sehe offene Zimmertüren, Leute, die teilweise nackt und teilweise mit Unterwäsche bekleidet über den Flur von einer Tür in die nächste laufen. Ich stehe ein bisschen rum und schaue mir die Bilder an der Wand an. Was wollte ich nochmal machen? Ach ja, was essen. Also weiter. Ich schaue auf dem Weg durch den Flur in jede Tür, weil ich nicht mehr so richtig weiß, wo der Essenraum war. Sieht sich alles sehr ähnlich hier. Da ist er ja, der rote Türrahmen, wo es rein geht. Da sitzt ja schon jemand auf meinem Platz. Ich gebe ihm einen kleinen Knuff, als ich vorbeilaufe, und setze mich an den Platz schräg gegenüber. Durch das laute »Eyy« von ihm weiß ich, dass meine Botschaft angekommen ist. Der Tisch ist schon gedeckt. Wie jeden Morgen liegt auf jedem Teller bereits eine Scheibe Toastbrot. Eine Schale Marmelade und eine kleine Schüssel Butter stehen auch auf dem Tisch. Der Kaffee ist auch schon da. Ich versuche, mir eine Tasse einzugießen. Das ist durch das Zittern mittlerweile echt schwierig geworden. Meine Tasse ist voll mit Kaffee und der Tisch auch. Ich nehme den ersten Schluck. Der Geschmack macht es aber gleich schon viel besser. Ich nehme mir eine Scheibe Brot, tauche sie in die Marmelade und beiße ab. Das schmeckt zusammen richtig gut. So kann man es sich doch gut gehen lassen. Vom Flur höre ich nebenbei noch irgendwas. » … Bus ist da«. Toll, denke ich mir und esse weiter. Plötzlich höre ich die laute Stimme wieder neben mir, lauter als sonst, da sie ziemlich nah ist. »Ohh nee«, höre ich rufen und merke, wie ich am Arm gegriffen und hochgezogen werde, um aufzustehen.

»Guck mal, alles nass.« Ich schaue an mir runter und sehe tatsächlich, dass neben dem Tisch auch meine Hose vom Kaffee komplett nass geworden ist. Die Frau bringt mich in den Flur und dann bis in mein Zimmer, wo ich mich auf mein Bett setze. Ich warte. Sie schließt meinen Schrank auf, holt eine neue Hose raus, zieht mir die Hose aus und die neue wieder an. Die ist schon echt schnell, muss ich sagen. Ich glaube schneller könnte ich das auch nicht. Ich denke noch: »Nein, nicht diese Hose, die ist doch viel zu weit.« Aber ich sage nichts. Sie geht, ruft noch: »Los jetzt, die Arbeit wartet« und verschwindet im Flur. Ich stehe auf, gehe hinterher und schaue etwas ratlos in den Flur. Da hat sie mir ja glatt auch noch die Straßenschuhe angezogen. Naja … Auch gut. Was soll ich jetzt hier? Vorne steht ein Mann in der Mitte des Flures mit einer roten Jacke, schaut in meine Richtung und kommt näher. Sein Gesicht sieht ganz nett aus, und ich freue mich darüber. »Na Uwe, auf gehts zur Arbeit, wa?!« spricht er zu mir. Ach ja, Arbeit. Mit dem fahre ich ja immer dort hin. Er nimmt mich an der Hand mit nach draußen, wo schon der Bulli steht. Tolles Auto, denk ich mir. So einen hatte ich früher auch mal, als ich noch zu Hause gewohnt habe. Aber dieses Mal sitze ich nicht hinter dem Lenkrad, sondern hinten mit den Anderen. Der Mann hilft mir in den Wagen einzusteigen und schnallt mich an. Ich sitze in der Mitte auf der zweiten Bank. Genau auf demselben Platz wie jeden Tag. Neben mir sitzt dasselbe Gesicht wie jeden Tag und rechts neben mir steigt auch wieder der andere aus dem Haus ein, den ich nicht so leiden kann. Die Fahrt geht los. Es dauert eine ganz Weile, denke ich jedenfalls. Die Uhr kann ich von meinem Platz aus nicht erkennen. Ist ja auch nicht so wichtig, ich muss ja nicht auf die Zeit achten. Während der Fahrt erzählt der eine links von mir wieder dieselben Sachen wie jeden Tag. Es ist zwar nur Gemurmel, aber man hört halt raus, dass es sich ständig wiederholt. Ich fange an, den Typen auch nicht leiden zu können. Der Andere, rechts von mir, sitzt nur da. Ich weiß nicht, ob er wach ist. Ich mag ihn nicht und schaue auch nicht rüber. Mir eigentlich egal, was er macht. Also schaue ich mit nach vorne auf die Straße und höre dem Fahrer zu, der seinem Beifahrer was erzählt. Genau jetzt dreht sich der Beifahrer um und wünscht mir einen guten Morgen. Beide habe dieselbe rote Jacke an. Ich kann nur Fetzen des Gespräches verstehen, weil die übrigen Mitfahrer so laut sind. Ich weiß nicht wirklich, worum es geht, aber der Fahrer zeigt ständig mit dem Finger nach hinten, macht Bewegungen mit seinen Händen und erzählt eine ganze Menge. Er hat anscheinend viel zu sagen. Die Fahrt wird langsamer, und wir halten an. Das Haus kenne ich doch. Wir halten genau vor der Tür eines großen Gebäudes an, wo wir nacheinander aussteigen. Am Eingang wartet schon eine junge Dame. Ich kenne sie zwar nicht, aber sie sieht nett aus. Die junge Dame sagt höflich »Guten Morgen« zu uns, nimmt mich und einen anderen an der Hand und führt uns ins Haus. Ich muss mir beim Laufen ständig die Hose hochziehen, weil sie immer rutscht. Also halte ich sie einfach hinten fest. Nach einem längeren Gang durch den langen Flur setzt mich die junge Frau an einem Tisch mit vielen Plastikteilen ab. Da sitze ich nun und schaue mich um. Überall stehen Tische, an denen manchmal einzelne und manchmal mehrere Leute sitzen. Ein paar wirken, als wenn sie was zu tun hätten. Andere schauen sich genauso um wie ich. Nach einer Weile kommt ein junger Mann, begrüßt mich freundlich und setzt sich neben mich. Er greift nach meiner Hand und führt mit mir einzelne Bewegungen durch. Ich muss immer mit der einen Hand runde Plastikteile nehmen und sie in ein anderes Plastikteil drücken. Das machen wir eine Weile zusammen. Irgendwann geht der Mann dann und lässt mich allein weiter machen. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich hier nun schon sitze, aber ich mache einfach weiter. Nach einer Weile tun mir dann schon ganz schön die Hände weh. Vor allem die, mit der ich die ganz Zeit auf diese Plastikteile drücke. Ich mache mal kurz Pause und schaue mich um. Überall sitzen Leute an solchen Tischen wie ich. Manchmal einzelne, manchmal mehrere Menschen am selben Tisch. Einige wirken beschäftigt, andere schauen sich um. So sitze ich noch eine ganze Weile, bis wieder der Mann kommt, meine Hand nimmt, mit ihr ein Plastikteil greift und in ein anderes hineindrückt. So geht das eine ganze Weile, bis er wieder geht. Ich weiß nicht, wie lange ich nun schon hier sitze.

Doch dann kommt wieder eine junge Frau zu mir, hilft mir hoch und wir gehen aus dem Raum. Wir sind anscheinend am Eingang des Hauses angekommen, wo ein Mann mit roter Jacke steht. Er hakt mich unterm Arm ein, hilft mir, in das wartende Auto einzusteigen, und schließt die Tür. Ich sitze allein im Auto, außer mir nur der Fahrer. Während der Fahrt telefoniert er recht laut und schimpft ziemlich viel. Er erzählt irgendwas von seinem Chef. Anscheinend hat der wohl was angestellt. Nach einer Weile sind wir wieder bei mir zu Hause. Der Mann hilft mir aus dem Wagen und bringt mich ins Haus. Als er sich verabschiedet, stehe ich im Flur und schaue mich um. Ganz schön ruhig hier. Das bin ich eigentlich anderes gewohnt. Sonst ist es immer lauter hier. Von hinten spüre ich einen Arm, der meinen Rücken berührt und mich mit in die Küche nimmt. Der Arm bringt mich zu meinem Stuhl, und ich setze mich. Als ich sitze, sehe ich den Menschen, der zu dem Arm gehört. »Ach, dich kenn ich doch«, sage ich zu ihm. Das ist doch der Herr, der immer abends hier ist. An meinem Platz ist bereit der Tisch gedeckt. Es ist Mittagszeit wie ich sehe. Ich nehme mir das Besteck und fange an zu essen. Ganz schön kalt, aber schmeckt gut. Gegenüber am Tisch sitzen drei Mitarbeiter und unterhalten sich. Ich höre zwar, dass sie was sagen, aber verstehe nicht wirklich, um was es ihnen geht. Ab und an verstehe ich ein paar Namen, die mir bekannt vorkommen, auch mein Name kommt vor. Als ich fertig bin, warte ich am Tisch, bis ein Mann mir aufhilft und mich in mein Zimmer bringt.

Er hilft mir, mich auf meinen Sessel zu setzen, und macht mir den Fernseher an. Ich schaue eine Weile fern und sehe mich in meinem Zimmer um. Irgendwann geht die Tür auf. Durch mein Fenster sehe ich, dass es draußen schon etwas dunkel geworden ist. Ich muss wohl eingeschlafen sein. Eine Frau begrüßt mich und hilft mir hoch. Wir laufen zusammen in die Küche. Ich kann sehen, dass bereits die Tische gedeckt sind. Ich werde an meinen Platz gebracht, setze mich hin und warte. Zwischendurch sehe ich die Frau von Tisch zu Tisch gehen. Sie hilft den Leuten beim Schmieren ihrer Brote. Irgendwann kommt sie dann zu mir und fragt, was ich auf mein Brot haben möchte. »Käse«, sage ich. Ich esse gern Käse. Sie legt eine Scheibe Käse von einem Teller mit Aufschnitt aufs Brot und geht weiter. »Guten Appetit«, höre ich noch und fange an zu essen. Als ich fertig bin, stehe ich auf und gehe in den Flur. Die Frau läuft mir hinterher, nimmt mich am Arm und führt mich wieder an den Tisch, wo ich mich setze. Ich schaue mich noch eine Weile um, dann kommt die Frau wieder, hilft mir am Arm hoch und führt mich ins Bad. Sie öffnet den Toilettendeckel, stellt mich mit dem Rücken vor die Toilette, zieht mir die Hose runter, macht die Windel ab und schmeißt sie in einen Eimer, der danebensteht. Dann geht sie wieder raus. Beim Rausgehen lässt sie noch Wasser in die Badewanne ein. Ich bleibe weiter sitzen. Kurz darauf kommt sie wieder ins Bad, mit einem anderen Mann, den sie unterm Arm hält. Sie zieht ihn aus und hilft ihm in die Wanne. Das Wasser in der Wanne läuft noch. Sie holt einen Trockenrasierer und fängt an, den anderen Mann in der Wanne zu rasieren. Danach wäscht sie ihn, macht zwischendurch das Wasser aus, hilft ihm aus der Wanne, trocknet ihn ab, hilft ihm beim Anziehen und bringt ihn ans Waschbecken. Dort macht sie ihm eine Zahnbürste fertig, gibt sie ihm in die Hand und kommt zu mir. Ich bücke mich nach vorn und sie wischt mir den Hintern ab. Danach spült sie alles das Klo runter, hilft mir hoch und setzt mich auf einen Stuhl, der neben der Toilette steht. Sie hilft mir beim Ausziehen. Ich schaue ihr dabei zu. Das macht sie wirklich toll. Zwischendurch sehe ich den Mann am Waschbecken, der auf seiner Zahnbürste kaut und sich im Spiegel anguckt. Die Frau führt mich zur Wanne und hilft mir einzusteigen. Sie geht an einen Schrank, holt einen Trockenrasierer raus und rasiert mich. Es ist schön warm in der Wanne. Als sie mit der Rasur fertig ist, seift sie mich ein und wäscht mir das Shampoo wieder ab. Danach hilft sie mir wieder aus der Wanne und trocknet mich ab. Ich stehe vor ihr, während sie mit dem Handtuch von oben nach unten geht. Dann zieht sie mir eine neue Windel und einen Schlafanzug an. Sie bringt mich in mein Zimmer. Mein Fernseher ist an. Sie setzt mich auf mein Bett, hilft mir, mich hinzulegen, und deckt mich zu. »Gute Nacht«, sagt sie, als sie mein Zimmer verlässt. Ich schaue mich noch ein bisschen im Zimmer um. Ab und an höre ich Stimmen vom Flur, manchmal schreit jemand und manchmal höre ich Schritte, die an meinem Zimmer vorbei gehen. Irgendwann werden meine Augen immer schwerer und ich schlafe ein.

Fazit der Geschichte

So und nun? So viele Seiten, wie der Alltag eines Menschen laufen kann, der in einer besonderen Wohnform lebt? Wofür das Ganze? Machen wir doch einfach ein Quiz draus. Der Gewinner bekommt die staatliche Anerkennung als aufmerksamer Beobachter. Wer zwanzig Situationen findet, die irgendwie schräg sind, bekommt ein Bachelor Diplom, wer zehn Situationen findet, geht als Heilerziehungspfleger aus dem Raum, bei fünf gibts den Sozialassistenten als Titel und wer weniger als fünf findet, verlässt bitte sofort den Raum, gibt dieses Buch weiter und sucht sich was anderes, wofür er sich interessiert.

Nun könnte man sagen: »Das ist ja alles erfunden« oder »So ist das gar nicht«. Richtig. So ist es auch nicht. Es ist anders. Mal besser, mal schlechter, mal ganz genauso. Wer nie einen solchen Bereich erlebt hat, ob nun als Mitarbeiter, als Besucher, Angehöriger oder sogar als Bewohner, der kann auch nur Mutmaßungen anstellen, wie es sein kann und wie es sich anfühlt. Ich will definitiv nicht alle Kollegen über einen Kamm scheren. Es gibt wirklich richtig tolle, die für den Beruf brennen, wo man das deutlich merkt und das jeden Tag aufs Neue. Aber von einem Fakt kann ausgegangen werden: Es gibt immer auch schwarze Schafe. Die, die Menschen mit einer Behinderung herabstufen, indem sie sie mit »Du« ansprechen, obwohl es unangebracht ist, die nicht darüber nachdenken, etwas anders zu machen, die, die bei der Körperhygiene die Badtür offen stehen lassen, oder die, die jegliche Entscheidung abnehmen und somit Entscheidungsfähigkeit und Selbstständigkeit überflüssig machen. Und das sind ja noch ziemlich aktive Möglichkeiten, wie man mit Menschen besser nicht umgehen sollte. Die aktiven Methoden kann man in irgendeiner Art und Weise nachweisen, sie benennen, sie handhabbar machen, drüber sprechen, sie lösen. Komplizierter wird es dann bei den passiven Formen von Gewalt. Sozusagen Gewalt durch Unterlassung. Indem man in bestimmten Situationen einfach was auslässt und dies Schmerz verursachen kann. Am Ende bleibt dann für den Beobachter einfach nur ein unschönes oder seltsames Gefühl. Ein Gefühl, dass irgendwas nicht so richtig stimmig ist. Und das dann zu benennen, wobei man nicht mal richtig sagen kann, worum es sich handelt, das ist dann wirklich schwierig.

Hinzu kommt, dass ein Mensch mit irgendeiner Form von geistiger Behinderung oftmals sicherlich nicht in der Lage ist, abstrakte Dinge zu benennen. Und wenn es für Menschen ohne offizielle Diagnose schon schwierig ist, so etwas zu benennen, wie soll das dann erst gehen, wenn man nicht die kognitiven Möglichkeiten dazu hat?! Wovon man aber ausgehen kann, ist das unangenehme Gefühl, das manche Handlungen bzw. Nicht-Handlungen nach sich ziehen. Und man kann davon ausgehen, dass dies bei jedem Menschen ankommt. Die Auswirkungen werden dann gern häufig als Impulsausbrüche benannt, wenn dann mal eine Tasse durch den Essbereich fliegt. Damit will ich nicht sagen, dass das die Erklärung für sogenannte herausfordernde Verhaltensweisen darstellt. Aber was klar sein muss ist, dass Frust solche Verhaltensweisen verstärken kann. Gewalt erzeugt Gegengewalt haben die Ärzte dazu doch mal gesagt.

Als allgemeiner Punkt sollte noch eines genannt sein. Die gähnende Langeweile, die die Klienten oftmals haben müssen. Manche Leute können sicherlich gut damit umgehen. Aber es wäre schon sehr seltsam, wenn all diese Menschen zufälligerweise immer in einer Einrichtung für Menschen mit einer Behinderung leben. Ich will an dieser Stelle gar nicht den großen Moralapostel spielen. Das kommt bestimmt noch später. So viel kann ich aber vorwegnehmen. Es spielt eine extrem wichtige Rolle, sich, sein Handeln und seine eigene Wirkung zu reflektieren. Nehmen Sie also diese Geschichte für die Hausarbeit, zum Gespräch am Stammtisch oder als Diskussion in Social Media. Drüber reden ist der erste, zweite und dritte Schritt. Und als Tipp für alle lehrenden Personen: die Bearbeitung dieses Fallbeispiels lässt sich locker auf zweimal 45 Minuten strecken.

Gedankenexperiment

Ich will gar nicht leugnen, dass es im Laufe der Arbeit gewissermaßen verlockend sein kann, mal nur seinen eigenen Stiefel zu fahren. Wir sind ja auch eigenständig denkende Wesen und wissen sowieso immer alles besser. Verständlich menschliches Verhalten, denke ich mal. Und mal ganz im Ernst, es geht ja auch meist schneller, wenn man eine Sache selber macht. Im Rahmen einer Handlung, die eigentlich einen förderlichen Charakter haben sollte, kann man da schonmal schnell jemanden das Zepter der Entscheidung aus der Hand nehmen oder in einem Beratungsgespräch »den einen richtigen Vorschlag« geben, der das Leben einer Person komplett ins Positive wandelt. Aber in 99 % aller Fälle ist das komplett überflüssig und dient nur dem eigenen Ego. Um dieser Falle nicht erst tiefenpsychologisch auf den Grund gehen zu müssen, hilft mal wieder der gute alte Freund #Selbstreflexion. Darüber nachzudenken, was man macht und so weiter. Nun ist das ohne konkrete Methoden aber meist auch leichter gesagt als getan.

Ich habe dafür gern folgenden Gedanken im Kopf, der mir in Bezug auf die eigene Reflexion öfter mal gute Ansätze möglich gemacht hat. Achtung: Jetzt wird’s vielleicht etwas absurd: Was wäre, wenn mein Gegenüber plötzlich klar wäre? Wenn also der Mensch, der scheinbar nie reagiert, wenn man ihn anspricht, plötzlich ein Gespräch anfängt. Nach dem Motto: »Tadaa, war alles nur ein Scherz.« Was wäre, wenn die Behinderung plötzlich quasi Urlaub macht und sozusagen auch mal Feierabend hat? Wie würden wir dann reagieren? Was würden wir sagen? Und gemäß dem Fall, dass die betreffende Person sich sogar noch daran erinnern kann, wenn wir mal was nicht so toll gemacht haben, wie würden wir uns rausreden? Wie würden wir das begründen? Und wie sehr dabei ins Stottern kommen? Ich will gar nicht großartig vorheucheln, dass ich nicht selbst auch Probleme gehabt hätte, wenn ein solcher Fall eingetreten wäre. Und natürlich ist es recht unwahrscheinlich, dass sowas passiert. Aber mal wirklich so gedacht und das im täglichen Handeln. Es würden einige solcher schrägen und un-fachlichen Situationen im Vorfeld gar nicht erst entstehen. So absurd diese »Methode« auch erscheinen mag, einfach mal sacken lassen, wenn es schon Erfahrungen gibt oder bei der nächstbesten Möglichkeit ausprobieren. Allein der Versuch lohnt sich. Wenn man dabei versucht, seine Gedanken zu beobachten, wird man sicherlich zwischendurch so ein Gefühl haben wie: »Ohh … das meinte der Typ.« Und das ist dann eine echte und situative Selbstreflexion und nicht nur eine Pseudo-Eigenschaft, von der man gern erzählt und dass man ja ach so reflektiert ist.

Selbstreflexion

Da sind wir nun beim großen Thema. Selbstreflexion ist eigentlich die Kernkompetenz, die ein jeder Mensch im beruflichen Kontext der Sozialen Arbeit haben sollte2. Und damit meine ich nicht nur die Kollegen vor Ort, sondern wirklich alle. Selbst die Buchhalterinnen, Geschäftsführer, Fuhrparkleiter, Pförtner usw. Ist man im sozialen Bereich unterwegs, trifft man unweigerlich auf Menschen. Ob man es nun will oder nicht. Und da wo Menschen aufeinandertreffen, gegenseitig etwas voneinander wollen oder aus sonst einem Grund miteinander in Interaktion treten, ist neben dem bloßen Austausch von Fakten auch immer Menschlichkeit gefragt. Meiner Meinung nach sollten alle Akteure im sozialen Bereich regelmäßig irgendetwas verpflichtend dafür tun müssen, um ihr Handeln zu reflektieren. Und da ist ja schon wieder Druck, etwas machen zu müssen. Warum Arbeit auch immer was mit Arbeit zu tun haben muss?! Nebengedanke am Rande: Arbeit ist die Erfüllung von bestimmten Aufgaben, für die man bezahlt wird. Warum dann nicht auch verpflichtende Aufgaben wie Reflexion? Könnte man drüber nachdenken. Irgendwie hat sich ja (nahezu) jeder Mensch mal für eine Arbeit entschieden. Und dazu gehören auch die Menschen im sozialen Bereich. Irgendwas muss sie geritten haben, sich für diesen Beruf zu entscheiden, zu bewerben oder da halt reinzurutschen. Die Lust am Helfen stellt sozusagen die Top-Antwort in den meisten Fällen dar. Dass zwar weitaus tiefergehende Gründe dahinterstehen3, kann man sich bestimmt auch fürs Psychologie-Studium aufheben. Das Geld wird’s wahrscheinlich eher nicht gewesen sein. Es kann natürlich auch die Ausübung von Macht sein, die ein Grund ist4