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Umschlaggestaltung: © Rainer F. Uhlmann

Impressum

© Erste Auflage 2022, Rainer F. Uhlmann

Herstellung und Verlag: BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 9783756262731

Dieses Buch widme ich meiner
lieben Frau Ingeborg,
die zu seiner Abfassung
mit Rat und Tat beigetragen hat.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Liebe Leserinnen und Leser,

nach tagelangem Hoffen und Bangen hat der russische Präsident am 24. Februar 2022 grausame Tatsachen geschaffen und die Ukraine überfallen. Eine erschlagende Nachricht, unbegreiflich und lähmend. Wie ist eine solche Barbarei möglich, und das heute? Und dass es für sinnlose Gräueltaten auch noch Gründe geben soll, ist vollends unverständlich.

Ganz vehement meldet sie sich wieder zu Wort, die Frage, die wie ein tragisches Geheimnis die Geschichte durchzieht, zwar immer wieder unten gehalten, doch dann tritt sie ungehalten hervor. Warum wendet sich der Mensch gegen seinesgleichen? Warum kann er den anderen nicht annehmen? Warum kein dauerhaftes Miteinander finden?

Dass die Weltgeschichte nicht dem gesunden Menschenverstand folgt, wird nicht erst an den großen Kriegen deutlich. Dennoch lässt mich die Frage nicht los: Was soll dieser Krieg? Was steckt dahinter? Was wird aus der Ukraine? Wird sie der Kreml-Herrscher wie angekündigt vernichten? Warum dieses verruchte Morden, die fürchterlichen Misshandlungen von Zivilisten? Wieviel abgebrochene oder auf Dauer zerstörte Lebensbiografien, zerbrochene Familien, verlorene Liebe, bleibende Trauer, tiefsitzende Traumata. Alles nur, weil ein einziger Mann das beschlossen hat und sich Tausende unter ihn beugen?! Andere Tausende sind von ihm zum Tode verurteilt worden, ohne zu wissen warum. Morden aus grundlosem Menschenhass, getarnt mit einer aussichtslosen Vision.

Eine Welt, die die Katastrophe verhindern will, ist machtlos. Es gelingt ihr nicht, einen einzigen Menschen zu begrenzen und ihm seine tödliche Befehlsgewalt zu nehmen, - ein unglaubliches Missverhältnis: einer ist mächtiger als Milliarden Menschen zusammen. Wie kann das sein? Wie schwach ist die Welt, wie ausgeliefert, wie erbärmlich hilflos? Opfer eines einzigen.

Das Bild vom aufgeklärten Menschen, der selbstbewusst und selbstbestimmt sein Leben gestaltet, beginnt, nicht zum ersten Mal, zu verblassen. Oder sind wir schon immer einer Illusion aufgesessen? Sind nur an einer langen Leine gelaufen?

Das Wort eines einzigen würde genügen, den Krieg zu beenden. Aber offenbar will er es nicht aussprechen. Warum nicht? Ist es so schwer, ein Wort des Friedens über die Lippen gehen zu lassen? Ist der Krieg ein solcher Zwang? Etwas Unausweichliches, das ihm den Mund verbietet. Er muss wollen, was er tut, und er will es: Zerbrechen und Tod, Zerstörung und Trauer. Nichts entschuldigt ihn. Er muss und wird bestraft werden.

"Meine Harfe ist eine Klage geworden und meine Flöte ein Weinen." Es ist ein Weinen in der Welt1, und es ist auch ein Töten in der Welt. Mit Worten und Waffen. "Warum toben die Völker und murren die Nationen so vergeblich?" (Psalm 2,1).

Schon seit längerer Zeit bin ich mit Menschen im Gespräch, die in der Sowjetunion aufgewachsen sind bzw. die längste Zeit ihre Lebens dort verbracht haben. Immer wieder war das Thema: Putin. Kurz vor dem Krieg habe ich angefangen, vermehrt Zeitungen im Internet zu lesen. Ich wollte mir mehr Klarheit über die politischen und geschichtlichen Zusammenhänge in der Ukraine verschaffen. Sprungartig stieg die Bildschirmzeit auf durchschnittlich 13 Stunden pro Tag. Es war so spannend und aufschlussreich, dass ich immer häufiger die links zu den Quellen anklickte und daselbst wieder in die Hintergrundinformationen ging - bis ich bei Texten in kyrillischen Lettern endete, an denen mein Latein in Gestalt lateinischer Schrift am Ende war. Vieles, was mir an dieser Recherche aufging, wollte ich nicht sogleich meinem schlechten Gedächtnis anheim stellen, machte mir deshalb Notizen und fing an, meine Gedanken dazu als Kommentare aufzuschreiben.

Daraus entstand eine chronologische Sammlung, eine Art Kriegs-Tagebuch, das meine Wahrnehmung des Konflikts, mein Mitgehen mit dem ukrainischen Volk, aber ebenso meine analytischen und strategischen Überlegungen widerspiegelt. Unterdessen konnte ich mir satirische Zwischentöne nicht ganz verkneifen, um nicht gar vom Ernst der Lage überrollt zu werden. Wäre das alles nicht so unfassbar erschreckend real, sondern nur eine fiktive Tragikkomödie, könnte der größte aller Diktatoren als mittelmäßiger Politclown durchgehen. Aber so ist es leider nicht.

Möge die Lektüre interessant, erinnernd und erhellend sein. Wichtiger: mögen Recht und Freiheit siegen!

Rainer Uhlmann


1 vgl. Else Lasker-Schüler, Weltende

Russische Mentalität

Der Westen sie viel zu oberflächlich und würde die russische Mentalität nicht verstehen, war im Zusammenhang des Ukraine-Konflikts mehrfach zu hören. Die Diskussionen um eine Nato-Osterweiterung und Europäisierung von Ländern der ehemaligen Sowjetunion machen den Eindruck, nicht nur politische, sondern auch weltanschauliche Züge zu tragen. Daran wird zugleich deutlich, dass die russische Sicht von "Demokratie" nicht primär eine Staatsform meint, sondern westliche, soll heißen eine dekadente Moral. Verdorbene und dazuhin auch noch ansteckende Sitten, die konservativen russischen Gefühlen ein Dorn im Auge sind und der russischen Mentalität grundlegend widersprechen. Allein schon ihre Existenz wird als Bedrohung empfunden, die die russische Zukunft gefährde. Der westliche Virus birgt in sich eine hochinfektiöse Krankheit, vor der das russische Volk in Quarantäne gebracht, die abgewehrt und abgewendet werden muss.

Symptomatisch dafür ist ein Ereignis auf kirchlicher Ebene, das zwar schon ein paar Jahre zurückliegt, aber seine offenbar unauslöschlichen semantischen Spuren hinterlassen hat: 2009 beendete die Russisch-Orthodoxe Kirche die Zusammenarbeit mit der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Grund war die Wahl einer geschiedenen Frau zur Kirchenführerin. Die Ernennung Margot Käßmanns zur Ratsvorsitzenden und somit obersten Führungsinstanz der EKD habe die Russisch-Orthodoxe Kirche dazu veranlasst, ihre Kontakte mit den Lutheranern in Deutschland zu beenden, war in der "Zeit" zu lesen. Die für Ende November angesetzten Feierlichkeiten zum 50. Jubiläum des Dialogs zwischen Orthodoxer Kirche und EKD seien zugleich das Ende der Gespräche, kündigte der Leiter des kirchlichen Außenamtes, Erzbischof Ilarion von Wolokolamsk, laut der Zeitung Kommersant an. Bemerkenswert: die evangelischen Christen in Russland unterstützen die Entscheidung der Orthodoxen Kirche. Der Chefsekretär der Evangelisch-Lutherischen Kirche Russlands, Priester Alexander Priluzki, nannte die Wahl Käßmanns gar ein "Krisenzeichen in der westlichen Gesellschaft". Dazu gehöre die Anerkennung von homosexuellen Partnerschaften oder Pfarrern. Eine viel diskutierte offene Frage zwischen Ost und West, die auf nahezu allen kirchlichen Ebenen bis heute anzutreffen ist und das Verhältnis schwer belastet. Jahre nach der spontanen Trennung wurden die Gespräche zwar wieder aufgenommen, jedoch zu anderen, eher unverfänglichen Themen wie "Frieden" - unter Beibehaltung der Differenzen im ethischen Verständnis.

Die "Krisenzeichen in der westlichen Gesellschaft" sind für russisches Empfinden nicht nur temporäre Randerscheinungen, sondern Ausdruck eines Trends, der das Potential zum Untergang hat. Konservative Werte sind für sie konservierende, erhaltende, und damit zukunftssichere Kräfte. Sie sehen sich als, vermutlich letzte Repräsentanten einer Welt, die, nicht wie im Westen zuerst auf Erhaltung der Natur, sondern auf Erhaltung der Seele setzt. Entsprechend liegt das Grundproblem nicht in der Umweltverschmutzung, sondern in der Seelenverschmutzung. Das Sensorium dafür habe der Westen verloren, weshalb er ersatzweise Zuflucht auf die äußeren Dinge nehme und sich auf deren Verbesserung konzentriere.

Taucht sie hier auf, die geheimnisvolle russische Seele? - "„Die russische Seele?“ Iwan lacht laut und blickt belustigt durch den Raum. „Russland ist sehr beseelt und seelenlos zugleich, das ist das Dilemma“. … Es freut Iwan immer wieder, dass Russland seinen Standpunkt verteidigt, dass es, wie er sagt, „Europa und den USA klarmacht, dass wir stark sind“. Der Provinzpolizist wirkt aufgebracht und ernüchtert zugleich. „Selbst, wenn wir nichts zu zeigen haben und voller Schwäche darniederliegen, wirtschaftlich, moralisch, wohl auch politisch. Das ist das Selbstmörderische an uns Russen. Vielleicht ist das auch die russische Seele: sich selbst zu belügen.“ In Iwans warme Küche kehrt Schwermut ein."2

Inna Hartwich beschreibt die Neigung vieler Russen zur Fügsamkeit, von manchen „Sklavenseele“ genannt. Das Ertragen von Widrigkeiten erzeuge irgendwann so etwas wie Sinn: im Erdulden von Qualen entstehe ein Gefühl moralischer Überlegenheit. Ganz in der Spur von Fjodor Dostojewski, der 1873 in seinem „Tagebuch eines Schriftstellers“ schrieb: „Das wesentlichste geistige Bedürfnis des russischen Volkes ist das Bedürfnis, immer und unaufhörlich, überall und in allem zu leiden.“3 Wäre die Rede von einem ausgesprochenen Kult des Leidens auch zu weit gegriffen, vermittelt die Fähigkeit, Drangsal ertragen zu können und ihr stand zu halten, doch eine gewisse Genugtuung.

Passiv, leidend, gefühlsbetont - das könnten auch Zuschreibungen aus der Literatur sein, die den Kontrast zum zielgerichteten, willensstarken, verantwortungsbewussten Westmenschen herausstellen will, meint der Soziologe Lew Gudkow, Direktor am Moskauer Meinungsforschungszentrum „Lewada“4. Er sagt: "„Die Formel ist einfach:

Man ist zwar arm, lebt schlecht und leidet an der Willkür der Staatsmacht, aber man ist ja so besonders, schätzt die menschliche Wärme, ist gastfreundlich, hilft sich gegenseitig. Daran klammern sich die Menschen, auch wenn sie wissen, dass sie sich etwas vormachen.“"5

Nicht zu fassen ist die russische Seele. Jeder baue sich seine eigene zusammen, meint Polizist Iwan. Eine seiner Mitbürgerinnen holt ein bisschen weiter aus: "„Wir wollen immer, dass uns jemand führt, sagt, wo es lang geht. Doch wir verstehen oft zu spät, dass es die falsche Richtung ist, in die wir geführt werden. Wir sagen aber nichts, wir leiden, obwohl wir sehen, wie unheimlich und unvorhersehbar die Zukunft sich gestaltet.“"6


2 Inna Hartwich, Die russische Seele: Was hat es auf sich mit Russlands viel besungenem wie nebulösem Gemüt?, in: Südkurier 9.7.2018

3 Ebd.

4 Vgl. ebd.

Ukraine goes West - ein no go

"Wie schon zuvor in Ostdeutschland (1953) und in Ungarn (1956) hatte die Niederschlagung des „Prager Frühlings“ 1968 gezeigt, dass die Sowjetunion bereit war, ihre Einflusszone in Osteuropa mit Gewalt zu verteidigen." (Andreas Rüesch Neue Zürcher Zeitung 11.02.2022)

Durch das Ende der Sowjetherrschaft gerieten die neuen Länder am Rande Russlands in ein bipolares Kräftefeld. Auf der einen Seite beanspruchte Russland ihre traditionelle Zugehörigkeit, andererseits fühlten sich die Menschen nach über 70 Jahren Sozialismus zu einem Leben in Freiheit, wie es im Westen möglich war, mehr hingezogen. Nicht anders in der Ukraine, in deren Verwestlichung der russische Präsident eine Gefährdung Russlands sieht. Die Ukraine müsse durch einen Kriegsschock, der durch Massaker in der Zivilbevölkerung noch an Wirkung gewinne, zur Besinnung - und in seine alte Heimat zurückgebracht werden. Eine harte, aber notwendige erzieherische Maßnahme für die Ungebührlichkeit, mit dem westlichen Erzfeind zu flirten. Solches Fehlverhalten muss mit drastischen Mitteln bewusst gemacht und in seinen schmerzhaften Auswirkungen klargestellt werden. Als empfindsamste und edelste von allen, darf die russische Seele nicht ungestraft verletzt werden.


5 Ebd.

6 Ebd.

Сделаем Россию снова великой
(Sdelayem Rossiyu snova velikoy) - Make Russia great again

„Sobald ich Präsident bin, wird Großrussland wieder aufleben. All diese Missgebilde wie die Ukraine oder Moldawien sind künstlich geschaffen worden – ich liquidiere sie. Die Finnen haben sich 1917 von uns abgesondert, widerrechtlich. Ich werde Finnland heim ins russische Reich holen. Und die Amerikaner müssen uns Alaska zurückgeben, sonst kommt es zum Krieg. Ich werde nicht lange fackeln.“7 Das sagt Wladimir Schirinowski, Gründer und Vorsitzender der Liberal-Demokratischen Partei Russlands8. Solche Sätze entlocken der allzeit frostigen Miene des russischen Präsidenten ein halbseitiges Schmunzeln ob der unverhohlenen Freimütigkeit bzw. Dreistigkeit, mit der der umstrittene Duma-Abgeordnete Putins Gedanken ausspricht.

Der russische Präsident ist dazu angetreten, Geschichte zu schreiben. Als einer der ganz großen und hoffentlich unvergesslichen Akteure der Weltbühne sieht er sich als Visionär und Gründer eines Imperiums. Geschichte liegt ihm ohnehin, hat er sich doch bereits als Historiker betätigt und mit einer Abhandlung über die ukrainischrussische Geschichte auf sich aufmerksam gemacht. In der Tat scheint er das Geschichtsbuch eines Kiewer Mönchs in den für ihn relevanten Teilen nicht nur gelesen, sondern inhaliert zu haben, so dass er freiweg daraus zitieren kann. Nicht ohne nachhaltige Spuren zu hinterlassen: Die daraus erwachsene Vision beflügelt ihn zu einer außenpolitischen Agenda, die auf Rückgewinnung des Großmachtstatus Russlands und die weitestgehende Wiederherstellung des sowjetischen Imperiums zielt. Sowohl für den Machterhalt wie für die Großmachtambition des Systems spielt die Ukraine als unverzichtbarer, in gewisser Hinsicht sogar zentraler Bestandteil eine Schlüsselrolle.

Die politische Anamnese ist ihm bekannt, soll aber nicht bekannt werden: Russland ist groß und klein zugleich, - so weit so gut und so schlecht, wobei Letzteres vom Ersteren absorbiert werden soll. Der osteuropäisch-nordasiatische Staat hat vor Kanada, USA und China die weltweit größte Landfläche, die größte Zahl an Atomsprengköpfen und annähernd eine Million Menschen unter Waffen. Andererseits kann er den großen Industrienationen wirtschaftlich nicht das Wasser reichen: sein Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2020 betrug 1,48 Billionen Dollar, weniger als die Hälfte des deutschen (3,8 Billionen) und ein Achtel des chinesischen BIP (12 Billionen). "Wirtschaftliche Erfolge kann der Kreml zu seiner Legitimation schon lange nicht mehr vorweisen" (Neue Zürcher Zeitung) und beweist sich stattdessen mit dem exzessiven Muskelspiel eines militärischen »Mr. Olympia«.

Nicht zuletzt braucht das gegenwärtige Russland den Westen viel stärker als die damalige Sowjetunion. Ob als sicherer Finanzplatz für russisches Fluchtkapital, Abnehmer von Rohstoffen, Lieferant von Technologie und Maschinen oder als Spielplatz der russischen Luxusjugend: das heutige Russland ist tief mit Europa verflochten. Hunderttausende russischer Bürger leben dauerhaft oder zeitweilig in Westeuropa, und jährlich werden es mehr. Während Moskau alles daran setzt, das demokratische Europa zu destabilisieren, ist es zugleich auf die ökonomische Verflechtung mit Europa angewiesen, um sein Regime an der Macht zu halten. Würde Russland eine fortgesetzte Offensive nach Westen starten, wie von Analysten angenommen, um sich am Ende Westeuropa einzuverleiben, könnte es sein BIP aufbessern und zu einem auch als Wirtschaftsmacht ernst zu nehmenden globalen Wettbewerber aufsteigen. Ein von Portugal bis zum Ural vereintes Europa unter russischer Ägide ist sicherlich keine zu weit hergeholte Vorstellung, als dass sie in der Fantasiewelt des russischen Machthabers keine Rolle spielen würde. Auch außenpolitisch brächte die Annexion Westeuropas Russland enorm nach vorne und würde es zur Hegemonialmacht gegenüber den USA aufsteigen lassen. Ob auch gegenüber China ist die Frage, denn hier existiert eine einigermaßen tragfähige Achse der Autokraten, die nicht auf Konfrontation ausgerichtet ist. Jedoch hätte Russland den Kopf nun auch auf wirtschaftlichem Gebiet ein Stück weiter oben und könnte China auf Augenhöhe begegnen, - eine neosozialistisch-wirtschaftsliberale win-win Situation.

Mag es in der gegenwärtigen Situation auch schwer vorstellbar erscheinen, könnte die dauerhafte Bedrohung in einem erneuten Kalten Krieg und die damit einhergehenden Ängste vor einem Nuklearschlag im Lauf der Jahre zu politischen Stimmungsschwankungen in Europa führen. Die momentan harte Frontstellung gegenüber Russland könnte aufweichen. Friedensbewegungen würden zu einem Einlenken raten, um das alles beherrschende Dauerthema "Krieg" von der Tagesordnung zu bekommen und die Zukunft für andere und wichtigere Themen frei zu machen. Heroische Einstellungen wie die Bereitschaft, für die Freiheit zu sterben, lassen sich nicht langfristig wach halten und zeigen Ermüdungserscheinungen. Statt über 6000 Atomsprengköpfe auf sich gerichtet zu sehen, würde der Druck der Dauerdrohung weichen, sie zum eigenen Schutz hinter sich zu haben. Der Begriff der Entspannungspolitik fände eine Neuinterpretation in Gestalt eines diktierten Arrangements mit den autokratischen Ansprüchen Russlands.

Dass Russland seit Jahren mit Desinformation, Störmanövern, Manipulation der öffentlichen Meinung, Nord Stream 2 u.ä. einen Keil zwischen Europa und die USA zu treiben versucht hat, spricht für diese in Etappen verfolgte Strategie der Vereinnahmung. Sollte in Europa, auch aufgrund innenpolitischer Verunsicherungen, ein Gesinnungsumschwung in Richtung rechtsnationaler Parteien um sich greifen, würde das einer russischen Expansionspolitik in die Hände spielen. Das Ergebnis der Präsidentschaftswahl in Frankreich 2022 liegt davon nicht mehr weit entfernt. - Könnte das russische Staatswappen, der doppelköpfige Adler, der nach Westen und nach Osten zugleich blickt, zum Programm werden oder längst Programm sein?


7 Adrian Geiges in Welt 10.4.2022, https://www.welt.de/politik/ausland/plus238088001/Russland-Atomkrieger-Schirinowski-Der-geistige-Wegbereiter-Putins.html

8 Bei der Beerdigung Schirinowskis Anfang April hatte Putin seinen Atomkoffer im Auto, um selbst bei einer Trauerzeremonie - die Mafia lässt grüßen - auf den roten Knopf drücken zu können. Der »Pate« ist allezeit zur tödlichen »Vendetta« bereit.

Neuverteilung der Welt?

Ein Freund schrieb mir: "Besonders das Treffen von Xi Jinping mit dem russischen Präsidenten vor der Olympiade hat mich stark an den Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 erinnert, bei dem sie gegenseitige Freiheiten in Bezug auf die geplante Ausdehnung ihrer Machtbereiche vereinbart haben9. Könnte gut sein, dass man das China-Treffen mal daneben stellt, jedenfalls solange China auf Machtausübung in Europa verzichtet und sich mit Asien und Afrika begnügt – was ja auch nicht gerade wenig ist. Ob es auf eine globale Dreiteilung hinausläuft? Russland erhält Europa und Skandinavien, China Asien und Afrika, die USA ihren eigenen Kontinent von Alaska bis Feuerland samt Teilen des Pazifik?"

Russische Geschlossenheit wankt?

Ist Russland eine Gesellschaft? Oder ein Volk von Untertanen? Der Begriff "Gesellschaft" beschreibt eine Menschengruppe, die bei akzeptierten Unterschieden miteinander verbunden lebt, einen Interessenausgleich sucht und nach innen und außen gemeinsam handlungsfähig ist.

Dass ein solches Gesellschaftsverständnis in Russland allenfalls in Ansätzen, jedoch im »Untergrund« ausgeprägt vorhanden ist, dürfte Konsens sein. Indes auch das Volk von Untertanen gerät ins Wanken. Vor einem Jahr noch berichtete der MDR von hoffnungsvollen Initiativen, wenn nicht gar Aufbrüchen, die inzwischen Makulatur sein dürften. Dennoch, auch wenn wir die Brille längst wechseln mussten: es gab ein Russland vor dem Krieg, ein vielleicht schon vergessenes, aber real existierendes, eines mit Hoffnungspotential. Da ist am 5. April 2021 - sinngemäß zusammengefasst - beim MDR zu lesen: So haben bei den Gouverneurswahlen im Herbst 2018 in vier Regionen die Kandidaten des Kremls verloren. Meinungsforscher sagen, dass die kostspielige Außenpolitik von den Bürgern immer mehr als Bürde gesehen wird. Bürgerproteste gegen soziale oder ökologische Missstände werden als Zeichen einer aktiven Zivilgesellschaft gedeutet. In der jüngeren Generation bahnt sich ein Wertewandel an – trotz aller Propaganda vom „eigenen Weg Russlands“ versteht sich die Mehrheit der jungen Leute in den größeren Städten als Europäer und sucht Anschluss an einen liberalen Lebensstil. Ein wirksamer Hebel könnte die Finanzierung eines russischsprachigen Fernsehprogramms durch die EU sein, das eine Alternative zur Kreml-Politik bietet.

Dennoch: Ein baldiges Ende des Systems wagt niemand vorherzusagen. "Rund fünf Wochen nach dem Beginn des Krieges gegen die Ukraine, scheint die russische Bevölkerung zu einem Großteil hinter dem Einmarsch und dem Präsidenten Wladimir Putin zu stehen. "Das Levada-Zentrum, das einzige unabhängige Meinungsforschungsinstitut Russlands, veröffentlichte jüngst eine repräsentative Umfrage, wonach 81 Prozent der Befragten hinter dem Krieg in der Ukraine und dem russischen Vorgehen stehen."10 Die im Westen vielfach als Indiz für das bröckelnde System herangezogenen Antikriegsdemonstranten sind für die Gesamtheit der russischen Bevölkerung nicht repräsentativ und können deshalb schwerlich einen gesellschaftlichen Trend belegen. Ohnehin ist eine öffentliche Meinung, insofern man davon überhaupt reden kann, für Russland nicht in dem Maße politisch ausschlaggebend, wie das in westlichen Demokratien der Fall ist.

Durch eine Verfassungsänderung hat Putin eine Amtszeitregelung eingefädelt, die ihm erlaubt, bis 2036 im Amt zu bleiben, also bis zu seinem 84. Lebensjahr. Angesichts der Wolke von Ärzten und medizinischem Personal, das ihn umgibt, ist das selbst bei angeschlagener Gesundheit nicht undenkbar. Er würde damit einen Rekord als ältester russischer Präsident aufstellen, eine Herausforderung, die ihn durchaus reizt. Russische Geschlossenheit? Die ist für Putin in seiner Person begründet, die viel eher Kontinuität gewährleistet als stimmungsdemokratische Schwankungen.


9 Übrigens: "Der Überfall auf Polen im September 1939 war zudem ein deutsch-russisches Gemeinschaftswerk. Wir kennen den 1. September als Datum. Aber wem sagt hier der 17. September etwas, als die Sowjets nach Ostpolen einrückten, so wie das zwischen Hitler und Stalin vereinbart worden war? Polen wurde dreimal aufgeteilt, verschwand als Staat von der Landkarte." (Marieluise Beck). Der Historiker Nikita "Petrow vertritt die Ansicht, dass die Sowjetunion wegen ihres Bündnisses mit dem Dritten Reich, das im Ribbentrop-Molotow-Pakt besiegelt wurde, in gleicher Weise Mitschuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs trägt." (Ellen Ivits im Stern, 23.02.2022)

Weg vom russischen Tropf

Durch den Atomausstieg im Fukushima- Schock schuf Deutschland eine weitgehende Abhängigkeit von russischer Energie und russischer Politik. Nord Stream 2 und eine tiefe Entfremdung zwischen Amerika und Deutschland/Europa waren die Folge. Der russische Präsident wurde in historisch kaum vergleichbarer Weise hofiert, aufgebaut und gegenüber den Amerikanern hochgehalten.

"Bei einem Wegfall des Exports nach Europa würde Russland bis zu einer Milliarde Euro an täglichen Einnahmen entgehen. Zwischen 40 und 60 Prozent der russischen Staatseinnahmen kommen aus dem Export dieser Rohstoffe. Insofern ist Europa für Russland kaum ersetzbar. … „Das Exportsystem der russischen Rohstoffe ist zu über 90 Prozent nach Westen ausgerichtet“, benennt Marcus Keupp, Ökonom an der ETH Zürich, das Hauptproblem." (Welt 8.4.2022).

Es sei angemerkt, dass im Geschäftsleben der Kunde normalerweise König ist. Von solchermaßen üblichem Geschäftsgebaren ist Putin weit entfernt. Bei ihm sind Kunden Bittsteller und Abhängige, denen er bei Bedarf mit Vernichtung droht. Dass sich ein Geschäftsmann schon einmal über das Verhalten von Kunden ärgert, kommt vor, dass er sich aber wegen einer fixen ideologischen Idee einen deal entgehen lässt, der jeden Tag bis zu einer Milliarde Euro einbringt, ist völlig unbegreiflich.

Russlands Bedeutung als Öl- und Gaslieferant ist neben seiner Position als Atommacht die Grundlage für seinen Anspruch, als Weltmacht anerkannt zu werden. Diese beiden Voraussetzungen der Macht werden nun zum schlagkräftigen Instrumentarium der Kriegführung. "Russland nutzt schon lange Gas als politische Waffe, hat mehrfach den Gashahn zugedreht." (Claudie Kemfert in Frankfurter Rundschau 1.3.2022). Wenn die momentane Gaskrise dazu beiträgt, umso schneller die durch Sonnenenergie betriebene Wasserstoffgewinnung voranzubringen, wäre das sogar ein positiver Nebeneffekt.


10 https://www.levada.ru/en/

Ominöse Fernsehansprache

In seiner Fernsehansprache am 21.2.2022 stellte der russische Präsident die Staatlichkeit der Ukraine insgesamt infrage. Er bezeichnete sie als einen „untrennbaren Teil der russischen Geschichte“. Seine Rede leitete er mit einem historischen Rückblick zur Entstehung der Ukraine und ihrer Rolle in der Sowjetunion ein. Der Kremlchef bezeichnete die Ukraine als einen durch Russland unter dem kommunistischen Revolutionsführer Lenin geschaffenen Staat. Die Denkmäler Lenins seien dort zerstört worden als Zeichen der „Dekommunisierung“, sagte der russische Präsident mit Blick auf die Abschaffung der Überreste des Kommunismus. „Wir sind bereit, der Ukraine zu zeigen, was eine echte Dekommunisierung ist.“

In der Historie seien zudem Teile russischer Gebiete ohne Erlaubnis übernommen worden. Dazu gehöre auch die Donbass-Region. Dann wurde der Diktator deutlich und sagte: „Die Donbass-Region in der Ostukraine gehört zu Russland.“ Die Gebiete seien in die Ukraine „gezwungen“ worden.

Der Regierung in Kiew warf der russische Primus vor, den Bau von Atomwaffen zu forcieren. „Die Ukraine verfügt tatsächlich immer noch über sowjetische Nukleartechnologien und Trägersysteme für solche Waffen.“ Der Westen, der eine „antirussische“ Ausrichtung hätte, würde die Ukraine bei dem Vorhaben unterstützen, so etwa die USA mit Milliarden Dollars. Der Kremlchef warf der Nato überdies vor, mit einer „unverschämten Aneignung“ der Ukraine begonnen zu haben. Die Ukraine solle als „Theater möglicher Kampfhandlungen“ erschlossen werden.

Tatsächlich verfügte die Ukraine in der Zeit der Sowjetunion über das weltweit drittgrößte Nuklearwaffenarsenal, trat dieses aber unter diplomatischer Mithilfe der USA an Russland ab, um im Gegenzug territoriale Integrität garantiert zu bekommen. So festgehalten im Budapester Memorandum11 vom 5. Dezember 1994, damals unterzeichnet von den Garantiemächten USA, Großbritannien und Russland gegenüber den ihre Nuklearwaffen aufgebenden Staaten Ukraine, Belarus und Kasachstan. (vgl. Joschka Fischer in DerStandard 27.02.2022)

Wo steckt der Feind?

"Der Kreml muss der Bevölkerung einen Feind präsentieren. Damit die Bevölkerung denkt, dass der Feind von außen kommt, und nicht im Kreml sitzt. Für die aktuelle Regierung ist das der einzige Weg, an der Macht zu bleiben." Ihre "Darstellung der Geschichte ist nicht mehr bloß obskur. Sie folgt einer verbrecherischen Logik, bestimmt von dem Durst nach Vergeltung und der Idee von imperialer Größe. … "man muss der Bevölkerung einbläuen: Wir werden von allen gekränkt, beleidigt, erniedrigt. Alle wollen uns berauben, erobern oder klein halten, damit wir nicht zu unserer wahren Größe aufsteigen können. Wer einen Blick in die Vergangenheit wirft, wird sehen: So eine Taktik hat bereits ein anderer Mann verwendet. Hitler." (Nikita Pawlow, Stern 23.02.2022)

"Diese Rede in seinem Büro – das ist er. Es hatte Züge von Hatespeech, von Obsession, von Rache, von Gequältsein. Er hat immer wieder geseufzt und gestöhnt, so als hätte er die ganze Last des zusammenbrechenden Imperiums auf seinen Schultern. Das will er den Russen einreden." (Karl Schlögel in Welt 26.02.2022)

»Getroffene Hunde bellen«. In seiner geopolitischen als auch pandemischen Einsamkeit muss sich in der Vorstellungswelt Putins einiges zusammengebraut haben. Er ist der Gekränkte und Geschlagene, der jetzt endlich um sich schlägt und der Welt zeigt, wie ernst er genommen werden möchte.


11 Im Memorandum verpflichteten sich Russland, die Vereinigten Staaten von Amerika und Großbritannien in drei getrennten Erklärungen jeweils gegenüber Kasachstan, Belarus und der Ukraine, als Gegenleistung für einen Nuklearwaffenverzicht die Souveränität und die bestehenden Grenzen der Länder (Art. 1) zu achten. Dabei wird auf die Schlussakte von Helsinki 1975 verwiesen (Unverletzlichkeit der Grenzen, friedliche Regelung von Streitfällen, Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten sowie Wahrung der Menschenrechte und Grundfreiheiten). Die drei unterzeichnenden Staaten waren im Zuge der Auflösung der UdSSR in den Besitz von Nuklearwaffen gekommen, die Ukraine besaß zu dem Zeitpunkt das drittgrößte Atomwaffenarsenal der Welt. Das Budapester Memorandum war Vorbedingung der Unterzeichnung und Ratifizierung des Atomwaffensperrvertrags und des Atomteststoppvertrags. Bis 1996 wurden alle Kernwaffen der früheren Sowjetunion nach Russland gebracht, das als „Fortsetzerstaat“ der UdSSR das Recht auf den Besitz von Atomwaffen hat.

Und willst Du nicht mein Bruder sein, so schlag' ich Dir den Schädel ein.12

Russland schloss „Freundschaftsverträge“ mit den selbst ernannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk, die in der Nacht zum Dienstag auf der Internetseite der Staatsduma veröffentlicht wurden. Danach darf Russland eigene Militärstützpunkte in der Ostukraine errichten und betreiben. Darin ist zudem die Rede von einem gemeinsamen Grenzschutz. Die Vereinbarung solle zunächst über zehn Jahre Bestand haben, mit der Möglichkeit einer automatischen Verlängerung. „Die Ukraine ist für uns nicht nur ein Nachbarland. Sie ist ein unabdingbarer Teil unserer eigenen Geschichte und Kultur …. Das sind unsere Kameraden, unsere Nächsten.“ „Ich halte es für notwendig, eine lange gereifte Entscheidung zu treffen: unverzüglich die Unabhängigkeit und Souveränität der Donezker Volksrepublik und der Luhansker Volksrepublik anzuerkennen.“

Torsten Riecke beschreibt Putins Wutrede als "eine historische Zäsur für Europa. Der russische Präsident lässt nicht nur den Minsker Friedensprozess13 scheitern, er bringt den Kalten Krieg zurück. Es war eine wütende Rede, voller Verachtung für den Westen, voller gekränktem Stolz auf die vergangene Größe Russlands, voller unverhohlener Drohungen, sich das zurückzuholen, was Russland nach Putins Meinung historisch zusteht. So viel hatte sich angestaut, jetzt musste es raus. Man konnte Putin die Wut über die vermeintliche Ungerechtigkeit im Gesicht ablesen. Sogar Lenin bekam sein Fett weg, weil er das historische Russland nicht zusammengehalten habe. Historische Wendepunkte, die den Fluss der Geschichte in ein Davor und ein Danach unterteilen, erkennt man meist nur im Rückspiegel. Es spricht jedoch vieles dafür, dass am Montagabend eine solche Zeitenwende stattgefunden hat." (Torsten Riecke im Handelsblatt 22.2.2022)


12 Bernhard von Bülow, Reichskanzler des deutschen Reiches, während einer Reichstagsrede vom 10. Dezember 1903

13 Das Protokoll von Minsk („Minsk I“) ist die schriftliche Zusammenfassung der Ergebnisse der Beratungen der aus Ukraine, der OSZE und Russland bestehenden trilateralen Kontaktgruppe zu gemeinsamen Schritten zur Umsetzung des Friedensplanes des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko und der Initiativen des russischen Präsidenten Wladimir Putin.

Russische Sprachverwirrung

Russland definiert sich nicht durch eine starke Wirtschaft und Gesellschaft, sondern durch die Angst, die das riesige ›Land ohne Freunde‹ einflößt. Moskau wäre sogar in der Lage, durch die Stationierung neuer Überschallwaffen auf U-Booten in unmittelbarer Reichweite von Washington – es handelt sich laut Kreml dabei nur um fünf Minuten – die USA direkt zu bedrohen.

"Auf der Münchner Sicherheitskonferenz vor einigen Tagen war das Schisma des Westens zu besichtigen. Die Amerikaner waren sich einig: es wird Krieg geben. Die Europäer beschworen das Gegenteil: das wird Putin nicht tun, alles nur Taktik. Da war sie wieder: die alte Naivität Europas. Und die besonders naive Sehnsucht der Deutschen, dass sich Autokraten nach den gleichen ethischen, moralischen, rationalen und emotionalen Regeln verhalten mögen wie man selbst. Tun sie aber nicht." (Mathias Döpfner in Welt 23.2.2022).

Verschiedene westliche Spitzenpolitiker, die Putin noch vor Kriegsausbruch besuchten, um das Schlimmste zu verhindern, waren mit einem anderen Schisma konfrontiert: einer unterschiedlichen Bedeutung von Sprache. Wenn Putin spricht, meint er etwas anderes, als das, wonach es sich anhört. Z.B. die häufig benutzten Begriffe "Faschismus" und "Nazismus" haben nichts mit ihrer bisherigen Bedeutung zu tun, sie würden ja sonst auf Putin selbst zutreffen, sie bezeichnen den freiheitlichen westlichen Lebensstil, der auf eine Diktatur wie die russische verzichten kann. "Nazimus" ersetzt den von der sozialistischen Sowjetunion gebrauchten Begriff "Kapitalismus", das Joch des Westens, von dem die Unterdrückten befreit werden müssen.

Putins einstudierte Vorträge gegenüber westlichen Staatsoberhäuptern, genauso lang wie der Tisch, an dem sie vorgetragen werden, konstruieren ein fiktives Weltbild, das einer Glorifizierung des vom Rest des Globus verachteten russischen Kosmos gleichkommt. Im Ergebnis bleibt dem gequält staunenden Zuhörer die Sprache weg, muss er doch unfreiwillig zur Kenntnis nehmen, dass seine wenigen Einwürfe entweder nicht richtig verstanden oder sofort umgedeutet wurden. Dennoch hörte er die Zusicherung heraus, man wolle verhandeln. Und das war nicht gelogen. Innerlich jubelt der westliche Staatslenker, eine Botschaft vernommen zu haben, die er seinem Verhandlungsgeschick zuschreiben und der heimischen Presse als Erfolg verkaufen kann. Von dieser guten Nachricht beflügelt hat er ganz vergessen nachzufragen, was denn Russland unter dem Begriff "verhandeln" verstehe. Denn auch dieses Wort fällt in die Rubrik der sonderbaren Sprachverwandlung, was im Klartext heißt, darüber zu reden, ob die russischen Bedingungen angenommen werden oder ob der Krieg weitergeht.

Zuversichtlich und erleichtert von der Moskaumission zurückgekehrt, sind sie ganz zuversichtlich, doch kleine Fortschritte mit Diplomatie erreicht zu haben. Um nicht lange danach eines Schlechteren belehrt zu werden, nämlich dass sich der russische Präsident als Querdenker entpuppt, der sich quer zu dem verhält, was sie von ihm glaubten verstanden zu haben. Da dämmert etwas von einer Kriegsrhetorik, von der es heißt, dass im Krieg die Wahrheit zuerst stirbt. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass bei ihrem Treffen der Zeitpunkt zur wahrheitsbefreiten Sprachregelung bereits überschritten war. Doch da gehört der russische Neozar ganz der alten Schule von Diplomaten an, denen die ehrwürdige, oder auch ehrlose Regel noch etwas wert ist: Diplomatie ist die Kunst des Lügens. Stilgerecht zelebriert auf italienischen Möbeln, Antikreproduktionen, die ihre Vorbilder in der Weise interpretieren, dass sie eine vornehme Distanz zwischen den Nutzern schaffen. Eine Distanz, die nachhaltig wirkt, beruht sie doch auf einer Silisierung altbekannter Sprache, die nur Eingeweihten auf Anhieb zugänglich ist.

Jedoch nicht nur Querinterpretation, die Kunst der Diplomatie wird gleichermaßen von einem reichen nationalen Erbe getragen, dessen Wurzeln tief in die Vergangenheit reichen. "Unsere russische Kultur ist wesentlich älter und tiefer als die der Amerikaner. Wir haben unseren eigenen Stolz. Um diesen Stolz geht es. Diesen Stolz hat Amerika unter George Bush Junior, vor allem aber unter Barack Obama massiv verletzt. Den Preis für diese unnötigen Demütigungen zahlt die Welt seitdem." (Mathias Döpfner in Welt 23.2.2022).

Münchner Abkommen 1938 - Appeasement und doch kein peace

Weil derzeit immer wieder auf das Münchner Abkommen von 1938 Bezug genommen wird, rufe ich mir das nochmals in Erinnerung: Das Abkommen bestimmte, dass die Tschechoslowakei das Sudetenland an das Deutsche Reich abtreten und binnen zehn Tagen räumen musste. Der Einmarsch der Wehrmacht begann am 1. Oktober 1938. Ein internationaler Ausschuss sollte die künftigen Grenzen festlegen und Volksabstimmungen in weiteren Gebieten überwachen. Mit dem Münchner Abkommen wurde die Sudetenkrise beendet. Hitler hatte gedroht, das Sudetenland zu besetzen und die Frage der Autonomie der Sudetendeutschen gezielt zu einem internationalen Konflikt ausgeweitet, bei dem es ihm letztlich um die Zerschlagung der Tschechoslowakei ging. Das Münchner Abkommen gilt als Höhepunkt der britisch-französischen Appeasement-Politik. Eine Politik der Zugeständnisse, Zurückhaltung, Beschwichtigung und des Entgegenkommens gegenüber Aggressionen zur Vermeidung eines Krieges. Der Appeasement-Gedanke ging davon aus, dass es bei einem fremden Regime „Falken“ und „Tauben“ im politischen Establishment gebe, die miteinander im Wettbewerb stünden. Man könne nun die "Tauben" durch Zugeständnisse vor allem im wirtschaftlichen Bereich stärken und ihnen die Oberhand über die "Falken" verschaffen.

Seit dem Zweiten Weltkrieg hat der Begriff "Appeasement" eine ausschließlich negative Bedeutung erlangt. Er wurde zu einem politischen Schlagwort, mit dem eine Politik ständigen Nachgebens um des Friedens willen gegenüber Diktatoren und totalitären Staaten bezeichnet wird. Appeasement wird von Staaten betrieben, die zu keinem Krieg bereit sind, aus wirtschaftlichen, gesellschaftlichen oder militärischen Gründen. Großbritanniens Premierminister Neville Chamberlain, dessen Name für Appeasement steht, war zu weitgehenden Zugeständnissen an Hitler bereit; insbesondere wollte er hinnehmen, dass Deutschland zur Hegemonialmacht in Mitteleuropa aufstieg, allerdings unter der Bedingung, dass es sich in internationale Verträge einbinden ließ.

Russische Geschichte verlangt Eroberung

In einer Rede im Dezember 2014 rechtfertigte Russlands Präsident Wladimir Putin die Annexion der Krim mit ihrer religiösen Bedeutung für Russland. Er sagte, dass die sakrale und zivilisatorische Bedeutung der Halbinsel für Russland mit der des Tempelberges für Juden und Muslime vergleichbar sei. In der antiken griechischen Siedlung Chersones, so Putin, habe einst die Taufe des Kiewer Großfürsten Wladimir I. (ca. 960-1015) stattgefunden, welche die Grundlage für die Christianisierung der Kiewer Rus war. Für die Einführung des Christentums im Jahre 988 anlässlich seiner Vermählung mit Prinzessin Anna von Byzanz, Tochter des byzantinischen Kaisers Romanos II., erhielt er den Beinamen der Heilige und wurde nach seinem Tod in den Stand eines apostelgleichen Heiligen der Orthodoxen Kirche erhoben. Vor seiner Taufe beschreibt ihn die Heiligenlegende als Wüstling mit sieben Hauptfrauen und 800 Mätressen. Er ließ überall Götzenbilder aufstellen und war ein Verfechter heidnischer Bräuche. Zum christlichen Glauben brachte ihn, so die Überlieferung, die Vernunft. Er habe sich von allen Religionen Gelehrte schicken lassen und die beste ausgewählte.

Ein gleichsam ikonographisches Denkmal von Wladimir dem Großen wurde 2016 an der Kremlmauer in Moskau aufgestellt. Die Bronze-Skulptur, die ihn mit dem Schwert am Gürtel und dem Kreuz in der erhobenen rechten Hand zeigt, ist zwölf Meter hoch (mit dem Kreuz 16 Meter) und wurde von dem Bildhauer Salavat Scherbakow geschaffen. Eine Statue von gleich dreifacher Symbolik: der Kreml schaut zu Wladimir dem Großen auf - Kiew gehört zum Kreml - Russland schaut zu Wladimir II. auf, der beides miteinander verbindet.

Im Jahr 2008 wurde in der Ukraine und 2010 in Russland am 28. Juli ein Gedenktag eingeführt, der an den Kiewer Großfürsten erinnert, der sich am 28. Juli 988 nach byzantinischem Ritus hatte taufen lassen und das Christentum zur Staatsreligion erklärte.

Die Kiewer Rus, auch Altrussland genannt, war ein mittelalterliches altostslawisches Großreich, das als Vorläuferstaat der heutigen Länder Russland, Ukraine und Belarus angesehen wird. Kiew, an seinem Südende gelegen, bildete als Großfürstensitz das politische und kulturelle Zentrum des russischen Fürstengeschlechts der Rurikiden. Putin bezog sich auf die berühmte „Nestor-Chronik“14, der zufolge Fürst Wladimir im Jahr 988 unweit des heutigen Sewastopols das Christentum angenommen hat. Insgesamt wird die Krim von der großen Mehrheit der Bevölkerung Russlands als ein russisches Gebiet wahrgenommen, das mit den zentralrussischen Gebieten unter anderem durch Kultur und russisches Heldentum, nicht zuletzt durch die Russisch-Orthodoxe Kirche verbunden ist.