Andre Pfeifer wurde 1968 in Weimar geboren und wohnt in Thüringen. Aber sein wahres Leben findet nicht daheim statt, denn auf zahlreichen Reisen von Alaska bis Australien entdeckte er seine Liebe zu Natur und Abenteuer, die auch in seine Romane einfließt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2022 Andre Pfeifer

Gestaltung und Satz: Andre Pfeifer
Illustrationen: Annika Henne
Bilder: Andre Pfeifer

Landkarten:
Seite 12/13 Anne Rikta Grobe, www.rikta-illustrationen.de
Seite 80/81 Andre Pfeifer

Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-7562-7986-9

Traum und Wirklichkeit
Zwei Bücher Vereint

Wie ist das, wenn wir träumen?
Ob wir im Schlaf etwas versäumen?
Zwar braucht der Körper seine Ruh
und wir schließen die Augen zu,
doch unser Geist will was erleben,
will nicht des Nachts am Körper kleben.

So bereist er andere Welten.
Die sind gar nicht mal so selten.
Sie sind wie unsere Erde hier
und doch ganz anders, sodass auch wir
anders sind, mutig und weise
auf jeder nachts geträumten Reise.

Verborgen sind die Welten in Nebel und Magie.
Erreichen können wir sie nur in Traum und Fantasie.
Aber wenn wir früh erwachen und es ist nichts gewesen,
genügt es für ein Abenteuer im rechten Buch zu lesen.
Denn auch Bücher öffnen die geheimen Türen,
die in diese Welten führen …

Liebe Leser!

Dieses Buch enthält zwei Bücher: „Naterra – Die Schwerter der vier Elemente“ und „Naterra – Der Stein von Samah“. Obwohl sie in einem Abstand von dreizehn Jahren geschrieben wurden, sind beide Bücher so eng miteinander verwoben, dass sie zusammen eine einzige Geschichte bilden: „Naterra – Die Kinder der vier Elemente“

Das erste Buch „Die Schwerter der vier Elemente“ erzählt von träumenden Kindern und Zauberschwertern. Die Kinder erwachen am Ende unabhängig voneinander. Enola ist ein Mädchen aus Deutschland und erlebt nach dem Aufwachen zwei eigene Abenteuer in „Das Buch von Terr“ und in „Die Schwerter von Terr“. Geschichten der anderen aufgewachten Kinder hatte ich bis dahin nicht geplant. Aber zu Lesungen an Schulen fragten meine jungen Zuhörer immer wieder nach den aufgewachten Kindern.

Das zweite Buch „Der Stein von Samah“ entstand dreizehn Jahre nach dem ersten und erzählt endlich vom Aufwachen der Kinder in unserer Welt. Da Enola ja in ihren eigenen Geschichten unterwegs ist, schicke ich ihren Bruder Finn von Deutschland aus in dieses Abenteuer. Ken erwacht in Australien, Miriamel in einem Zelt in Jordanien und Cassandra nach einem Unfall in einer Klinik in Genf. Obwohl jedes Kind in einem anderen Land zuhause ist, sind ihre Schicksale längst miteinander verbunden, denn sie werden von den Abenteuern in ihren Träumen eingeholt und kehren nach Naterra zurück.

Andre Pfeifer

April 2022

Inhalt

Vorwort

Vor zweieinhalbtausend Jahren gehörte die Stadt Akragas auf Sizilien zu Griechenland. Damals lebte dort ein Gelehrter namens Empedokles, der die Lehre der vier Elemente vertrat.

Wasser, Feuer, Luft und Erde.

Empedokles war der Meinung, alles habe mit diesen vier Elementen zu tun und alles stehe miteinander in Zusammenhang. Aber erst durch die Wirkung von Liebe oder Hass auf die vier Elemente beginne eine Welt zu leben.

Natürlich ist unsere Welt nicht die einzige im Universum. Es gibt unzählige Welten nebeneinander und doch sind sie getrennt durch Raum und Zeit. Viele sind erfüllt von Magie und geheimnisvollen Kräften und bewohnt von manch fabelhaftem Wesen. In unseren Träumen können wir in jene Welten gelangen und haben mitunter eine besondere Verbindung zu einem der vier Elemente. Wir sind stärker, mutiger und klüger als in unserer Welt. In den Traumwelten können wir Dinge tun und Entscheidungen treffen, von denen wir nur zu träumen wagen.

Aber wenn wir aus dem Traum erwachen, sind Zauber und Abenteuer nur noch Erinnerungen und wir würden gern in jene Welten zurückkehren, durch irgendein Tor oder magisches Portal.

Dieser Wunsch ist so alt wie das Universum und wurde trotzdem noch nie erfüllt.

Bis jetzt.

Naterra

Die Schwerter der vier Elemente

Naterra

Die Mitte

Wasser

Ein Mädchen erwacht im Wald aus tiefem Schlaf. Morgentau liegt auf dem Land. Kleine Wassertropfen glitzern im Licht der aufgehenden Sonne. Aber das Mädchen ist ganz trocken. Nicht ein einziges Tröpfchen ziert seine Kleidung.

Es liegt auf dem Rücken im weichen Moos und betrachtet die goldgrünen Kronen mächtiger Bäume. Die Bäume wiegen sich im Wind und ihre Blätter rauschen, als wollten sie dem Mädchen etwas erzählen.

Aber nicht die Bäume reden mit ihm, sondern eine kleine Wespe, die um das Mädchen herumschwirrt. „Enola, komm mit!“

Enola? Ist Enola ihr Name? Sie richtet sich auf und neigt nachdenklich den Kopf zur Seite. Mit der Hand fährt sie durch ihr dunkelblondes langes Haar, während sie die Wespe anblickt. Hat tatsächlich dieses kleine Wesen zu ihr gesprochen? Oder entstehen die Worte nur in ihrem Kopf?

„Enola, komm schon. Komm mit! Du musst uns helfen.“ Schon fliegt die Wespe voraus.

Zögernd folgt ihr das Mädchen in ein Labyrinth aus dicken Stämmen und mannshohen Farnen. Überall entdeckt Enola bunte Blumen. Selbst an den Baumstämmen sprießen sie aus der groben Borke und zieren diese bis in große Höhe. Der Blütenduft lockt Schmetterlinge und ganze Scharen brummender und summender Tierchen an.

Gern möchte Enola verweilen, aber die rätselhaften Worte der Wespe haben sie neugierig gemacht. An einem Bach, dessen munteres Plätschern die Geräusche des Waldes übertönt, holt sie die Wespe ein. „Wem soll ich helfen? Und wobei? Ich …“

Die Wespe hat auf Enola gewartet. Aber nur, um ihr den Weg zu zeigen. Schon fliegt sie am Bach entlang stromaufwärts. Bald verliert Enola sie aus den Augen. Von Stein zu Stein springend folgt sie dem Bachlauf. Ab und zu streicht sie aufdringliche Farne zur Seite oder überklettert alte umgestürzte Bäume, die mit dickem Moos überzogen sind, aus dem bunte Blümchen herausschauen. Sie genießt ihren Lauf, die frische Luft des Waldes, das fröhliche Plätschern des Baches. Bis ein Rauschen alles übertönt.

Enola läuft schneller und mit einem Mal tritt das Grün des Waldes zurück. Sie findet sich am Ufer eines kleinen Sees wieder, in den sich aus großer Höhe ein Wasserfall ergießt.

Ehrfurchtsvoll gleitet ihr Blick an den tosenden Wassern nach oben. Auf halber Höhe sieht sie ein Schwert, das im Wasserfall zu schweben scheint. Kein Strudel, kein Spritzen stört den bezaubernden Anblick. Das Wasser fällt durch das Schwert hindurch, als ob dieses nur ein Traumbild wäre.

Gebannt tritt Enola näher. Das Schwert beginnt zu glühen, zu leuchten, immer heller. Als sie neben dem Wasserfall steht, strahlt es, als wäre es die Sonne selbst.

Die Wespe fliegt zu Enola hin. „Das Schwert. Du musst es holen.“

Enola kann die Worte im lauten Tosen der Wassermassen kaum verstehen. Ungläubig sucht sie die Wespe in der feuchten Luft neben sich. „Ich? Wie soll ich das Schwert holen?“

„Kennst du nicht deine Verbindung mit dem Wasser?“

Enola schaut die Wespe fragend an. „Was für eine Verbindung?“

„Wasser, Feuer, Luft und Erde. Die vier Elemente. Jeder Mensch ist mit einem dieser Elemente verbunden. Geh zum Wasser und du wirst es sehen.“

Behutsam setzt Enola einen Fuß aufs Wasser. Er geht nicht unter. Die Wasserfläche fühlt sich ganz fest an. Staunend betritt sie den See. Sie kann auf dem Wasser laufen.

Enola strahlt. Sie dreht sich im Kreis und muss lachen. Was für ein Wunder. Am Ufer entdeckt sie die Wespe, winkt ihr zu und schaut dann zum Schwert in die Höhe.

Wie kann sie es erreichen? Sollte sie den Wasserfall hinaufklettern? Ein gedämpfter Schrei entfährt ihr, als sich das Wasser um sie herum bewegt. Eine Wassersäule steigt aus dem See empor und hebt Enola in die Höhe.

Sie sieht das Schwert näherkommen, ist geblendet von seinem Strahlen und hebt die Arme schützend vor ihren Kopf. Das Schwert gleitet wie von selbst in ihre Hand. Das Strahlen erlischt und die Wassersäule fährt herab. Es scheint Enola, als falle sie und werde über dem See vom Wasser wieder aufgefangen.

Begeistert springt sie an Land und streckt das Schwert dem Himmel entgegen. Es ist leicht wie eine Feder. Enola betrachtet es genau. Unendlich viele Wassertropfen sind durch Zauberkraft in diesem Schwert vereint. Im Licht der Sonne funkeln sie wie Diamanten. Wunderschön.

Die Wespe reißt Enola aus ihrer Faszination. „Komm. Wir müssen weiter.“

Enola hat Mühe zu folgen. Immer wieder lässt sie sich ablenken und erfreut sich an Moosen, Flechten und Farnen, an den kleinen Dingen, in denen die Schönheit des Waldes zu Tage tritt. Auf einmal ist der Wald zu Ende. Enola schreitet an den letzten Bäumen vorbei und sieht sich einer trostlosen Steinwüste gegenüber. Kein Baum, kein Strauch, kein noch so kleines Tier. Nicht einmal einen Grashalm kann sie entdecken. Stattdessen Sand, Kies, Stein und Fels. Ödland. Totes Land.

Unbeirrt schwirrt die Wespe weiter.

Enola bleibt stehen. „Ich geh da nicht raus. Niemals.“ Bestürzt schüttelt sie den Kopf.

Die Wespe kommt zurück. „Aber du musst. Siehst du die Burg in der Ferne?“

Tatsächlich kann Enola im Flimmern der Hitze eine Festung erkennen. Sie steht auf einem Hügel inmitten mächtiger Felsen.

„Dort haust ein böser Dämon. Seinetwegen ist hier alles Leben erloschen.“

Fragend blickt Enola die Wespe an. „Was ist ein Dämon?“

„Ein Wesen mit Zauberkräften, stark, mächtig und oft sehr böse. Doch du kannst ihn besiegen, Enola.“

„Ich? Ein Kind? Wie sollte ich einen Dämon besiegen?“

„Du hast das Zauberschwert.“

„Das Schwert.“ Enola hebt es ehrfurchtsvoll vor ihre Augen. Es funkelt sie an, in allen Farben des Regenbogens. Sie sieht seine Schönheit und spürt seine Macht. „Ja, ich habe das Schwert.“ Aber Zweifel kommen in ihr auf. „Glaubst du, es genügt das Schwert zu besitzen?“

Die Wespe lässt sich auf Enolas Schulter nieder. „Natürlich nicht. Du musst auch wissen, was zu tun ist. Verlass dich auf dein Gefühl. Hab Vertrauen in die Natur. Auch wenn du meinst, sie hier nicht entdecken zu können. Und nun geh los, Enola!“

Kein Schatten, wie im Wald. Keine frische Luft, kein Wasser, kein Leben. Mechanisch geht Enola ihren Weg. Sie wischt sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn und schaut vom Boden auf.

Schlagartig bleibt sie stehen. Aus dem Flimmern der Luft lösen sich dunkle Gestalten und kommen auf sie zu. Enola kann im Schatten ihrer Kapuzen starre Gesichter erkennen und sieht mit Unbehagen die dunklen Schwerter, die nur teilweise von ihren Umhängen verhüllt werden.

„Geh nach Hause, kleines Mädchen.“ Die Worte klingen hart und verächtlich.

Enola senkt ihren Blick. Ihr Atem geht schnell, unregelmäßig. Sie spürt ihren Herzschlag bis zum Hals und versucht vergeblich, das Zittern ihrer Hände zu kontrollieren. Als sie zurückweicht, fliegt die Wespe von ihrer Schulter. Die dunklen Krieger beginnen, nach der Wespe zu schlagen.

Augenblicklich fällt alle Furcht von Enola ab. Sie fährt dazwischen. „Hört auf! Wieso tut ihr das? Sie hat euch nichts getan.“

„Sie lebt. Das gefällt uns nicht.“

„Aber …“ Enola ist fassungslos. „Aber das Leben ist der Sinn der Welt. Was wäre die Welt ohne Leben? Seht ihr den Wald dort hinten?“ Enola blickt über ihre Schulter zurück. „Jede noch so kleine Pflanze, jede Spinne, jeder Käfer oder Wurm hat seine Aufgabe …“

„Genug!“ Die dunkelste der Gestalten reißt ihr Schwert in die Höhe und lässt es auf Enola herabsausen.

Sie pariert den Hieb mit ihrem Zauberschwert, dann den nächsten und noch einen. Mit einem Mal findet sich Enola mitten in einem Kampf wieder. Sie weiß nicht, woher ihre Fähigkeiten kommen. Das Zauberschwert scheint sie zu führen. All ihre Bewegungen und Drehungen zur Abwehr der Hiebe der Angreifer sind fließend und schnell. Sie spürt, was sie tun muss. Rechts parieren, dann links, ab ducken, drehen. Das Knie auf dem Boden, das Schwert über ihrem Kopf.

Obwohl sie die Angreifer mit Leichtigkeit abwehren kann, ist Enola verzweifelt. Wie können diese Krieger auf ein Kind einschlagen? „Hört auf damit! Wir haben euch doch nichts getan!“

Aber sie hören nicht auf. Es werden immer mehr und Enola gibt sich in ihrer Verzweiflung dem Schwert hin, das sie dazu bewegt nicht nur abzuwehren, sondern selbst anzugreifen.

Jeder vom Zauberschwert getroffene Gegner verwandelt sich, zu ihrer Überraschung, in grauen Nebel. Nach kurzer Zeit findet sich Enola in einer riesigen Nebelwolke wieder. Alle Krieger sind verschwunden.

Entsetzt starrt Enola auf das Schwert in ihrer Hand. Sie spürt, wie es ihrem Griff entgleitet. Durch einen Tränenschleier sieht sie es zu Boden fallen. Sie will es nicht mehr. Sie will nicht mehr kämpfen. Nicht so. Dieses Schwert hat von ihr Besitz ergriffen. Es hat sie verändert und zu einer Kriegerin gemacht. Sie allein konnte alle Gegner besiegen. Aber dem trockenen Land, auf dem sie steht, hat das nichts geholfen. Still weint Enola vor sich hin.

Währenddessen verdunkelt sich der Nebel.

Enola schaut auf. Eine einzige düstere Gestalt erscheint in der Ferne. Schnell kommt sie näher.

„Der Dämon, Enola. Nimm das Schwert! Du musst es wieder aufnehmen.“ Aufgeregt kreist die Wespe über dem Zauberschwert.

Enola tritt einen Schritt zurück. Ihr Gesicht ist feucht von Tränen. Ohne etwas zu sagen, schüttelt sie heftig mit dem Kopf.

„Bitte Enola, nur mit dem Schwert kannst du den Dämon besiegen und unser Land retten. Wenn du das willst, dann nimm das Schwert wieder auf.“ Die Wespe zögert kurz. „Ich weiß, du fürchtest seine Macht. Aber du kannst ihr widerstehen. Ich fühle, dass du es kannst. Und du fühlst es auch.“

Enola blickt auf. Sie kann die Wespe kaum noch erkennen. Der Nebel ist fast schwarz, der Dämon nur einen Steinwurf entfernt.

„Du hast mir meine Armee genommen, nun stelle dich mir selbst!“ Die Gestalt hebt ein schwarzes Schwert in die Höhe. Es ist auch ein Zauberschwert. Ein Schwert, das das Licht verschluckt. Ein Schwert voller Hass. Voller Hass auf alle Menschen, Pflanzen und Tiere, voller Hass auf die ganze Welt.

Drohend kommt der Dämon auf Enola zu. Zu ihrer Verwirrung ist er kein Ungeheuer, kein Monstrum, kein geisterhaftes Wesen. Unter der Kapuze versteckt sich ein Junge.

Diese Erkenntnis lässt Enola endgültig verharren. Sie weiß nicht, was ihn zum Dämon werden ließ. Sie weiß nicht, warum er böse geworden ist und die Welt in Ödland verwandeln will. Und sie weiß nicht, wie sie ihn besiegen soll. Verzweifelt sieht sie den Dämon näher kommen.

Unverhofft beginnt das Zauberschwert zu leuchten. Verwundert blickt Enola zu Boden. Es funkelt, als spiegele sich ein blauer Sternenhimmel in diesem Schwert. Aber es sind keine Sterne, es sind Wassertropfen. Unendlich viele Wassertropfen, die im Schwert gefangen sind. Das Schwert ist aus Wasser. Wasser ist Leben. Wasser ist, was dieses Land braucht. Und Enola weiß, was sie tun muss.

Blitzschnell kniet sie nieder und ergreift das Schwert. Sie fasst es ganz fest. Während sie aufspringt, konzentriert sie all ihre Gedanken auf das Zauberschwert in ihrer Hand. Sie spürt die Kraft, die es ihr verleiht. Sie fühlt das Wasser in seinem Inneren. Kurz bevor der Dämon sie erreicht, holt sie aus und wirft. Ihr Schwert fliegt in den Himmel hinauf.

Kampf bringt nur Leid. Das Schwert aber bringt Regen. Es wird weit oben im Himmel vom Wasser in seinem Inneren förmlich auseinander gerissen. Unzählige Wassertropfen werden freigesetzt.

In diesem Moment ist der Dämon ganz nah. Enola spürt seinen Hass, seinen Zorn. Sie sieht sein Schwert auf sich zurasen, reißt die Arme schützend vor ihren Kopf und erwacht zu Hause aus einem Traum.

*

Schnell atmend sitzt Enola aufrecht im Bett. Sie ist verschwitzt und braucht etwas Zeit, um ihr Zuhause zu erkennen. Ihre Kuscheltiere, ihr Malzeug auf dem Schreibtisch, daneben ihre Flöte, ihre Bücher auf dem Regal, das Bild einer Wespe über ihrem Bett. Vor ihrem Fenster neigen sich Bäume im Morgenwind. Regen peitscht gegen das Glas.

Enola erinnert sich an ihren Traum und weiß, was in der Traumwelt geschieht.

*

Der Dämon steht inmitten des gelbgrünen Nebels, in den sich das Mädchen verwandelt hat. Er schaut zum Himmel. Unendlich viele Wassertropfen fallen auf das Ödland herab. Der Regen kitzelt den Jungen im Gesicht. Er spürt die Wassertropfen auf seiner Haut. Sein Schwert entgleitet seiner Hand. Im Regen löst es sich langsam auf. Und mit dem Schwert verschwindet der Hass, der den Jungen zum Dämon werden ließ. Verwundert blickt er sich um.

Das Wasser haucht dem trockenen Boden neues Leben ein. Und über allem entfaltet sich ein Zauber, der augenblicklich die Samen aufgehen lässt, die in der Erde schlummern.

Kleine Knospen schießen überall aus dem Boden. Sie streben nach oben, der Sonne entgegen und entfalten sich. Schnell ist das Land wieder grün und bunte Blumenwiesen breiten sich über dem Ödland aus.

Zuerst kommen winzige Tiere. Der Junge hört das Summen von Fliegen und Mücken, von Bienen, Hummeln und Wespen. Er beobachtet Schmetterlinge bei ihrem Tanz im Sonnenschein. Käfer krabbeln an Halmen auf und ab. Spinnen weben ihre Netze im Gras. Unter Steinen wohnen Asseln, Tausendfüßer und Ameisen. Regenwürmer lockern den Boden auf.

Der Junge schaut einer Wespe nach, die zum Wald hinüberfliegt. Langsam macht er sich auf den Weg ihr zu folgen …

Feuer

Der Junge bummelt durch den Wald. Er weiß nicht, wer er ist, wie er heißt und woher er kommt. Aber diese Fragen stellen sich ihm überhaupt nicht.

Er atmet tief ein und schaut nach oben. Licht kommt von dort. Die Baumkronen leuchten hellgrün. Immer wieder finden Sonnenstrahlen einen Weg durch das Blätterdach bis zum Boden. Unzählige kleine blaue Blüten schmücken die Kronen dieser Bäume. Sie verströmen einen bezaubernden Duft, der zahlreiche Schmetterlinge, Käfer, Bienen, Hummeln, Wespen und andere summende Tierchen anzieht. Auch Vögel sind dort oben. Und so lauscht der Junge ihren wunderbaren Melodien.

Er läuft ohne Ziel vor sich hin. Zwischen mächtigen Steinen hindurch, auf denen Flechten fantastische Bilder malen. Ab und zu versperren ihm riesige Farne die Sicht. Trotzdem ist der Wald so licht, dass er sich frei bewegen kann. Bis der Abend kommt.

Mit einem Mal bleibt der Junge stehen. Ihm stockt der Atem. Alles war so wunderschön, die vielen Vögel, Eichhörnchen und Käfer. Schmetterlinge tanzten im Sonnenlicht. Libellen schwebten lautlos dahin. Der Wald lag in tiefem Frieden. Jetzt ist nichts davon mehr da. Mit der Dämmerung hat sich der Wald verändert. Er ist dunkel und bedrohlich geworden. Im Sonnenlicht waren die Bäume freundlich und grün. Nun sind sie riesige graue Säulen, die sich oben in der Schwärze der Nacht verlieren. Fledermäuse kreisen in der Dunkelheit.

Der Junge kann ihrem schnellen Flug nicht einmal mit den Augen folgen. Er vernimmt nur das Flattern kleiner schwarzer Schatten, die auf der Jagd nach Insekten sind.

Dann steht er ganz still. Voller Entsetzen starrt er eine riesige Schlange an, die direkt auf ihn zukriecht. Die Schlange ist so dick, dass sie ihm über die Knie reicht. Ihr Kopf ist noch dicker. Die Länge kann der Junge kaum abschätzen, da sich die Schlange in der Dunkelheit des Waldes zwischen dem Farngras verliert.

Angst befällt ihn. Er spürt seine Beine nicht, ist wie gelähmt. Er ist unfähig auch nur einen Schritt zu tun, geschweige denn zu laufen.

Die Schlange kommt züngelnd immer näher.

Alles was er ihr entgegenbringen kann, ist eine hilflose Bewegung seiner Arme, die er vor dem Körper nach unten hält. Die Hände sind geöffnet, die Handflächen zur Schlange gekehrt, als wolle er sagen: Sieh, ich tue dir nichts.

Doch das riesige schwarze Ungetüm bleibt gefühllos. Die Augen sind schmale Schlitze, dunkel und leer. Der Junge beobachtet, wie die Schlange den Kopf hebt und züngelt. Er sieht sie näherkommen und beginnt zu zittern.

Plötzlich schwirrt eine Fledermaus um ihn herum. „Ken, komm mit! Folge mir!“

Für einen Moment schaut sich der Junge um, dann starrt er wieder auf die Schlange. Sie ist gleich bei ihm. Aber wer hat zu ihm gesprochen?

„Ken, komm schon! Schnell!“ Die Fledermaus flattert aufgeregt vor seinen Augen.

Ken? Ist das sein Name? Können Fledermäuse sprechen? Sie fliegt links an ihm vorbei. Er wendet den Kopf, folgt ihr mit den Augen.

„Ken, lauf! Lauf mir nach!“

Der Junge sieht nicht mehr, wie sich die Schlange aufrichtet. Er folgt einem Wunder. Er folgt einer sprechenden Fledermaus in den düsteren Wald hinein. Der Junge rennt zwischen Bäumen und Gestrüpp. Er schlägt Farne mit den Armen aus dem Weg und hat Mühe die Fledermaus nicht aus den Augen zu verlieren. Deshalb schaut er sich nicht nach der Schlange um. Auch nicht, als er hört, wie sie hinter ihm durch das Dickicht prescht.

Kommt die Schlange näher? Wohin führt ihn die Fledermaus? Wo ist er hier hineingeraten? Die Gedanken überschlagen sich in seinem Kopf. Er stolpert eine kleine Böschung hinab und spürt Wasser zu seinen Füßen. Er steht in einem knietiefen Bach. Augenblicklich will er das Wasser verlassen, doch in diesem Moment vernimmt er wieder die Stimme der Fledermaus.

„Bleib im Wasser, Ken. Komm, komm zur Mitte. Folge mir.“

Da erreicht auch die Schlange das Ufer. Obwohl er sich im Wasser unwohl fühlt, stolpert der Junge hastig in die Mitte des Baches. Wieder kriecht die Angst in ihm hoch. Nun hat die Schlange ihn doch gestellt.

„Keine Angst.“ Die Stimme der Fledermaus klingt ganz ruhig. „Sie meidet das Wasser. Hier bist du sicher. Folge mir. Es ist gleich ganz dunkel. Schnell.“

Voller Unbehagen watet Ken den Bach entlang. Das Wasser brennt auf seiner Haut. Es wird tiefer. Der Bach fließt in einen See. Ken muss schwimmen. Das Brennen wird schlimmer. Er sieht die Umrisse einer Insel. Endlich spürt er wieder Boden unter den Füßen und schleppt sich an Land.

Gekrümmt vor Schmerzen liegt er im weichen Gras. Wieso brennt das Wasser auf seiner Haut?

Als das Brennen nachlässt, schaut er sich nach der Schlange um. Aber es ist zu dunkel, um etwas zu erkennen. Irgendwann schläft er ein.

Am Morgen erwacht der Junge unter einem riesigen Baum. Rasch richtet er sich auf. Nebelfetzen hängen im Blätterdach des Waldes. Weiße Schwaden ziehen über der Wasserfläche des Sees dahin. Der Junge schaut sich um.

Er ist auf einer Insel inmitten eines kleinen Sees. In der Mitte der Insel steht der mächtige Baum. Es scheint, als bilde sich die Insel um den Baum. Er erinnert sich an den gestrigen Abend und sucht unruhig das Ufer des Sees ab.

„Sie ist weg, Ken.“ Die Fledermaus flattert um ihn herum. „Sie ist keine gewöhnliche Schlange. Anscheinend liegt ein Fluch auf ihr. Sie meidet Licht und Wasser und kommt erst zur Abenddämmerung wieder hervor. Es heißt, sie sei verzaubert.“

Also war es kein Traum. Die Schlange ist Wirklichkeit, die Fledermaus redet mit ihm und Ken ist sein Name. Wieso kennt eine Fledermaus seinen Namen, er selbst aber nicht? Unzählige Fragen kommen in ihm auf.

Da setzt sich die Fledermaus vor ihm in den Sand. „Du magst das Wasser nicht besonders?“

Kens Blick schweift über seine feuchten Sachen. „Es brennt auf meiner Haut. Aber … Moment! Sind Fledermäuse nicht Nachttiere?“

„Die meisten.“

„Aber du nicht?“

„Nein.“

Dann sprudeln die Fragen nur so aus Ken heraus. „Weißt du wer ich bin? Wie bin ich hierher gekommen? Woher kennst du meinen Namen? Wieso kannst du sprechen? Was war das für eine Schlange?“

„Ich weiß nicht viel. In meinem kleinen Kopf ist wenig Platz. Aber ich weiß, dass du hier bist, um die Schlange zu besiegen. Du bist ein Kind des Feuers. Du kannst das Flammenschwert holen. Damit kannst du der Schlange gegenübertreten. Die Menschen in diesem Land leben in ständiger Furcht vor dieser Schlange. Sie wohnen auf den Inseln der zahlreichen Seen und müssen diese immer zur Dämmerung erreicht haben. Wenn nicht, dann …“ Nachdenklich verstummt die Fledermaus.

„Was bedeutet das mit dem Feuer? Was ist das für ein Schwert? Ich kann doch kein Schwert …“

Die Fledermaus unterbricht ihn. Es scheint, als müsse sie ihren Gedanken aussprechen, bevor sie ihn vergessen hat. „Wasser, Feuer, Luft und Erde. Die vier Elemente. Jeder Mensch ist mit einem dieser Elemente verbunden. So unbehaglich wie du dich im Wasser fühlst, musst du mit dem Feuer verbunden sein. Komm mit, Ken. Ich führe dich zum Schwert.“

Den ganzen Morgen fliegt die Fledermaus voran. Ken versucht vergeblich sie einzuholen. Plötzlich führt der Pfad auf einer Anhöhe aus dem Wald heraus. Die Bäume treten zurück und geben den Blick frei auf den blanken Fels.

Ken kommt es vor, als hätte er eine Tür aufgestoßen in eine andere Welt. Er steht am Fuße eines riesigen Kegels aus grauem Gestein. Der Fels scheint sich bis zum Himmel zu erstrecken. Breite Spalten zeichnen ihn. Aus den Spalten steigen dünne Fahnen aus gelbem Nebel auf. Dieser Nebel zieht in Schwaden über die Landschaft.

Das ist das Ende der Welt. Ken wird schlecht. Den ganzen Tag hat er noch nichts gegessen. Er fühlt die Leere im Bauch, spürt, wie das Blut aus seinem Gesicht weicht. Bunte Sterne tanzen vor seinen Augen. Er versucht zu atmen, doch die Luft ist heiß und von einem beißenden Geruch begleitet. Die ganze Erde scheint zu glühen.

Ken atmet flach, ganz schnell. Er fühlt, wie die Luft in seiner Kehle brennt. Luft, die kaum Sauerstoff enthält. Er schwankt, versucht stehen zu bleiben. Aber er hält es nicht aus. Zurück! Er muss zurück in den Wald.

Da hört er wieder die Stimme der Fledermaus. „In diesem Vulkanberg ist das Flammenschwert verborgen. Du kannst es holen, Ken. Du musst bis ganz nach oben steigen.“

Ken kann kaum reden. Jedes Wort brennt in seiner Kehle. „Was? Dort hinauf? Ich kann das nicht. Ich bekomme keine Luft. Ich kann nicht da hinauf.“

„Aber deshalb bist du hier! Sieh mich an. Ich folge nur meinem Instinkt. Ich tue das, was mir gerade in den Sinn kommt. Handle auch du nach deinem Gefühl. Du bist nicht von dieser Welt. Aber du kannst uns helfen. Der Natur, den Menschen, der Schlange …“ Die Fledermaus ist plötzlich verstummt.

Er ist nicht von dieser Welt? Der Schlange helfen? Der Junge sieht die Fledermaus fragend an.

Dann blickt er den Berg hinauf.

Sehr lange steht er da und scheint zu träumen. Aber auf einmal geht er los. Er setzt einfach einen Fuß vor den anderen. Weiter. Immer weiter. Schritt für Schritt steigt Ken die gigantische Flanke des Vulkans hinauf. Die Luft brennt in seiner Lunge. Der Schwefelgeruch beißt in der Nase. Aber er geht weiter. Die Fledermaus hat recht. Er ist ein Kind des Feuers.

Trotzdem setzt ihm die Hitze zu. Sie kommt von überall her. Die Luft flimmert vor seinen Augen. Die Steine unter seinen Füßen scheinen zu glühen. Er blickt sich nicht um, bis er oben ist. Aber dieser Berg hat keinen Gipfel. Ken findet sich am Rande eines riesigen Trichters wieder. Er steht am Kraterrand eines Vulkans und blickt von oben in den Schlot hinein.

Eine Hitzewelle schlägt ihm entgegen. Ein riesiger See glühenden Gesteins füllt den Berg in der Tiefe aus. Die Oberfläche brodelt. Lava spritzt in die Höhe. Schwefeldämpfe verhüllen die Sicht. Ken hält stand. Er ist das Feuer. Er spürt die Hitze, aber sie macht ihm nichts aus.

Unverhofft entdeckt er das Schwert.

Es schwimmt auf dem Lavasee. Immer wieder wird es von Nebelschwaden verhüllt. Mit einem Mal durchstößt es die Nebeldecke und kommt direkt auf ihn zu. Eine Feuersäule tanzt über dem glühenden See und befördert das Schwert nach oben. Es strahlt, als wäre es die Sonne selbst.

Ken mustert es mit zusammengekniffenen Augen. Dann streckt er den Arm aus und das Schwert gleitet in seine Hand. Er umfasst den Griff und hebt es in die Höhe. Das Strahlen wird schwächer und lässt ihn das Schwert besser betrachten. Unzählige gelborange Flämmchen bilden die Klinge. Glutrot strahlt der Griff und am Ende des Griffes funkelt eine kleine Feuerkugel.

Ken ist fasziniert von diesem Wunder in seiner Hand. Erst nach einer Weile nimmt er die fantastische Aussicht wahr, die sich ihm von hier oben bietet. Ein riesiger Wald erstreckt sich bis zum Horizont. Ken kann Schluchten und Berge erkennen. Alles ist von Wald bedeckt. Nur ein Fleck nicht. Auf einem Hügel, der von bunten Wiesen umgeben ist, thront eine Burg.

Ein eigenartiges Gefühl beschleicht Ken. Er glaubt die Burg zu kennen. Aber woher? So sehr er auch nachdenkt, Ken kann sich an nichts erinnern, was geschah, bevor die Schlange kam. Wieder schaut er zur Burg am Horizont. Er muss dorthin. Er weiß nicht wieso, aber irgendetwas zieht ihn zu dieser Burg.

Der Weg ist so schön, dass Ken einige Male vergisst, wohin er eigentlich gehen will. Erst das Flattern der Fledermaus reißt ihn aus seinen Träumen und er setzt seinen Weg fort. Nun ist der Wald zu Ende. Aber kein lebloses Gestein wie am Vulkan, sondern eine grenzenlose Blumenwiese löst ihn ab.

Ken sieht die Fledermaus auf die Burg zufliegen. Doch er bleibt am Rande des rätselhaften Blumenmeeres stehen, in dessen Mitte sich die Burg erhebt. Blumen aller Farben und Formen bieten kleinen Tierchen Nahrung.

Unweit stehen vier Männer. Sie sind ebenso fasziniert wie Ken. Als sie ihn bemerken, gehen sie auf ihn zu. Beim Anblick seines Schwertes aber bleiben sie plötzlich stehen.

„Du willst zur Burg?“ Ein großer kräftiger Mann mit einer Axt sieht Ken durchdringend, aber nicht unfreundlich an.

Ken nickt. „Ja.“

„Es gibt Geschichten über Dämonen und Ungeheuer in dieser Burg. Es heißt, die dunkle Schlange verberge sich in der Burg. Geh nicht dorthin! Keiner, der es tat, kam je zurück.“

Der kleinste der Männer wendet sich von Ken ab und schaut zu dem Mann mit der Axt. „Soweit ich denken kann, war um die Burg herum nur Wüste. Aber jetzt steht sie inmitten von Blumen. Vielleicht sind die Dämonen verschwunden.“

Ein anderer Mann mischt sich ein. „Die Schlange ist nicht verschwunden! Sie wurde gestern Nacht gesehen!“

Ken schaut unsicher in die Runde. „Ich bin der Schlange gestern Abend auch begegnet. Eine Fledermaus hat mich vor ihr bewahrt und mich heute zu diesem Schwert geführt. Sie sagte, ich könne damit die Schlange besiegen. Vielleicht lebt die Schlange wirklich in der Burg. Ich muss dorthin.“

Der Große deutet nachdenklich auf Kens Schwert. „Diese Zauberwaffen … Es wird erzählt, sie wurden geschmiedet, um das Böse zu besiegen. Aber das Böse kann nicht mit Gewalt und Krieg besiegt werden. Denn im Bestreben einen Kampf zu gewinnen wächst der Hass. Und mit dem Hass kommt das Böse zurück. Vergiss das nicht, wenn du wirklich zur Burg gehen willst.“

Ken schaut zu Boden. Nach einem Augenblick hebt er den Kopf. „Ist gut. Aber ich muss jetzt weiter.“

Die Männer blicken ihm schweigend nach. Sie denken an die Schlange, an die Furcht, die sie ihnen jede Nacht bereitet. Und sie haben keine Hoffnung, dass dieser Junge etwas dagegen tun könnte.

*

Die Burg ist gewaltig. Ken fühlt sich klein und einsam. Der Weg ins Innere führt über eine mächtige Zugbrücke. Sie ist von einer dicken Schicht Sand bedeckt. Sand füllt auch das Innere der Burg aus. Angeweht in Hunderten von Jahren und aufgeschichtet zu kleinen Dünen.

Die Gebäude am Fuße der mächtigen Mauern sind zum Teil unter dem Sand verborgen. Mitunter schauen nur die oberen Stockwerke heraus. Manche der Gebäude haben drei Stockwerke. Das unterste ist am breitesten. Die Dächer der Stockwerke sehen wie die Stufen einer riesigen Treppe aus, die hinauf zu den Zinnen führt. Die Ziegel sind kaputt. An vielen Stellen klaffen große Löcher. Das Glas der Fenster ist zerbrochen. Die Rahmen hängen schief in den Nischen. Sand steht auf den Fensterbänken.

Was ist hier passiert? Ken dreht sich fragend im Kreis. Weshalb kommt ihm diese Burg bekannt vor?

Bruchstücke seiner Erinnerung blitzen in seinem Kopf auf. Sie zeigen die Burg düster und lebensfeindlich. Er erinnert sich an dunkle Gestalten, die sich um ihn scharen. Aber er kann die Bilder nicht festhalten. Sie verblassen so schnell, wie sie auftauchen.

Ken sieht sich um. Die Burg liegt bereits im Zwielicht. Bald bricht die Dämmerung herein. Und mit ihr schwindet Kens Mut. Wenn die Schlange hier ist, wird er sie nicht suchen müssen. Sie wird ihn finden. Ken fasst sein Schwert fester. Er steht inmitten des Burghofes und lauscht in die Nacht hinaus.

Wo ist die Schlange? Was gibt es hier noch für Ungeheuer, von denen die Männer gesprochen haben? Ken spürt seinen Herzschlag bis zum Hals. Es ist die Ungewissheit, die ihn aufgeregt nach rechts und links schauen lässt. Und dann dreht Ken sich um.

Es wäre fast zu spät gewesen. Die Schlange hat sich hinter ihm aufgerichtet und will auf ihn herabstoßen. Ken stolpert zurück. Ein Schrei entfährt ihm und sein Schwert glüht auf. Licht trifft die Schlange und sie weicht zurück. Ken hält ihr sein strahlendes Schwert entgegen.

Noch immer ist die Schlange in Angriffsstellung. Ihr Kopf bewegt sich drohend in der Höhe von einer Seite auf die andere. Sie züngelt. Auf diese Weise nimmt sie ihre Umgebung wahr, ihre Beute. Aber sie meidet das Licht des Schwertes.

Nun hat Ken keine Angst mehr vor ihr, doch er denkt an die Worte des Mannes mit der Axt. Er will nicht mit der Schlange kämpfen. Ken sieht sich vorsichtig um. Immer wieder schaut er zur Schlange zurück. Sie kommt nicht näher. Ken fühlt, dass noch mehr an dieser Burg sein muss, als nur die Schlange.

Das Flattern der Fledermaus reißt ihn aus seinen Gedanken. Ihre Worte scheinen sein Gefühl zu bestätigen.

„Ich habe etwas gefunden, Ken. Komm mit. Folge mir.“ Sie fliegt durch ein Fenster ins Innere der Burg.

Ken läuft ihr nach. Über eine Sanddüne erreicht er die Fensteröffnung. Er klettert hindurch. Die Schlange folgt ihm. Er schreitet dunkle Gänge entlang und steile Treppen hinab. Ken weiß, dass die Schlange ihm folgt. Ab und zu hört er, wie sich ihr schwerer Leib über den Boden schiebt. Aber er fürchtet sie nicht. Sein Feuerschwert beschützt ihn mit seinem Licht. Deshalb bemerkt er auch nicht, wie tief er schon ins Dunkel unter der Burg eingedrungen ist. Die Fledermaus ist verschwunden und suchend folgt Ken einem schmalen Gang, der in eine gewaltige Höhle führt.

Ehe er sich versieht, steht Ken einem Drachen gegenüber. Er erschrickt, als der Drache den Kopf hebt und das Maul öffnet. Schon rast das Feuer auf Ken zu.

Blitzschnell reißt er sein Schwert in die Höhe. Das Feuer des Drachen wird vom Schwert geschluckt. Ken hält es in seiner rechten über dem Kopf und streckt dem Drachen die linke Hand entgegen. Er blickt ihm in die Augen und seine Gedanken erreichen das Ungeheuer. „Kein Feuer mehr! Kein Feuer. Warte! Ich will nicht mit dir kämpfen.“

Der Drache sieht, wie der Junge sein Schwert sinken lässt und es vor sich auf den Boden legt. Der Junge steht vor ihm ohne Furcht. Die Arme nach unten ausgestreckt, die Handflächen nach vorn gekehrt. Dieser Eindringling ist nicht sein Feind.

Der Drache überlegt. Er soll diesen Ort vor Fremden beschützen. Doch dieser Knabe hat soeben sein Feuer überstanden, als ob er es ihm nie entgegengeschickt hätte. Seit ewigen Zeiten war niemand mehr hier. Nun erscheint dieser Junge. Er ist ihm fremd, aber der Drache sieht die Güte in seinen Augen, sieht Wohlwollen in seinem Tun. Er fasst Vertrauen zu diesem Jungen.

Menschen haben den Drachen vor unendlich langer Zeit in dieser Grotte unter der Burg eingesperrt. Als er klein war, führten sie ihn durch einen schmalen Gang herein. Irgendwann war er so groß geworden, dass er die Grotte durch den Gang nicht wieder verlassen konnte. Jene Menschen waren ihm nicht feindlich gesinnt. Doch sie haben ihn benutzt, um diese Grotte zu bewachen. Das Licht der Welt hat er nie wieder gesehen.

Ken ist gefesselt vom Anblick des Drachen. Sein Blick gleitet den Körper entlang. Der Drache steht auf muskulösen angewinkelten Beinen. Die Füße sind riesige Klauen. Die Haut schimmert in dunklen Rottönen. Ken sieht die kurzen Flügel und kann sich nicht vorstellen, dass sie dieses Ungeheuer in die Luft bringen könnten. Der Schwanz ist am Ende mit mächtigen übermannshohen Dornen bewehrt. Der ganze Körper ist an vielen Stellen mit diesen Dornen besetzt.

Kens Blick schweift den langen Hals hinauf zu einem riesigen Maul mit großen, spitzen Zähnen. Ihm läuft ein Schauer über den Rücken, als ihm die Größe des Ungeheuers bewusst wird. Zögernd sieht er dem Drachen in die Augen. Er spürt die Traurigkeit und die Einsamkeit. Das Gefühl, hier unten allein zu sein. Jahrelang. Er sieht aber auch einen Hauch von Erwartung und von Hoffnung.

Mit einem Mal bewegt sich der Drache zur Seite und gibt Ken den Blick frei in die Tiefe der Grotte hinein. Die Decke strahlt in warmen Tönen, als wäre sie aus Glut. Aber sie ist nicht heiß. Das Gestein hat die Fähigkeit Licht zu speichern und langsam wieder abzustrahlen. Auch die Wände und selbst der Boden dieser Grotte leuchten.

Und nun sieht Ken die Bücher.

Die gesamte Grotte ist voller Bücher! Ehrfurchtsvoll geht Ken an dem Drachen vorüber. Die Bücher stehen in Nischen, die in die Wände eingelassen sind oder in großen Stapeln auf dem Boden. Sie sind verstaubt und unzählige Spinnennetze verbinden die Stapel miteinander.

Ken bleibt vor dem ersten Stapel stehen und betrachtet das oberste Buch. Er streckt seinen Arm aus, um das Buch zu nehmen. Erschrocken zieht er seine Hand zurück.

Eine Spinne krabbelt auf den roten Leineneinband. Sie ist so groß wie Kens Hand und bleibt inmitten der goldenen Verzierungen auf dem Buch sitzen. Es sieht aus, als wolle sie das Buch beschützen.

Ken geht zum nächsten Stapel. Aber als er das oberste Buch greifen will, ist die Spinne wieder da. Auch auf dem dritten und vierten Stapel, den Ken ansteuert, erscheint die Spinne.

Ken sieht sie belustigt an. „Bitte, lass mich ein Buch nehmen. Vielleicht steht irgendwo in den Büchern, wie ich die Schlange besiegen kann, ohne mit ihr kämpfen zu müssen. Ich glaube deshalb hat mich die Fledermaus hierher geführt.“

Als hätte die Spinne verstanden, krabbelt sie auf den Nachbarstapel. Sie betrachtet von dort, wie Ken das Buch öffnet. Die Spinne sieht sein Erstaunen. Sie sieht, wie er das ganze Buch durchblättert. Er legt es ab und nimmt das nächste. Blättert es durch, legt es ab und greift wieder zu einem anderen. Wieder und wieder und wieder.

Zu Kens Enttäuschung sind alle Seiten in den Büchern leer. Das kann doch nicht wahr sein! Er will weiter in die Grotte hineingehen, um andere Bücher zu probieren. Da vernimmt er hinter sich eine leise Stimme.

„Sie sind alle leer.“

Ken fährt herum, aber niemand ist da. Niemand, außer dem Drachen und der Spinne.

„Sie sind alle leer, bis auf zwei.“

Ken starrt die Spinne an. Sie redet mit ihm, wie zuvor die Fledermaus im Wald. Ken wundert sich nicht mehr darüber. „Wieso leer? Was bedeutet das? Warum sollen all diese Bücher leer sein? Wozu wären sie dann gut? Und woher willst du das wissen? Wer bist du eigentlich? Warum ist der Drache hier unten? Was ist das für eine Burg? Wieso kommt sie mir bekannt vor?“

Ken stellt jede Frage, die ihm einfällt. Er fragt und fragt und schaut immer wieder die Spinne an. Irgendwann verstummt er.

Jetzt meldet sich die Spinne wieder. „Das sind jede Menge Fragen. Ich habe sie fast alle vergessen. Ich …“

Hastig unterbricht Ken die Spinne. „Nein warte! Beantworte mir nur eine Frage: Welche sind die Bücher, die nicht leer sind?“ Erwartungsvoll beugt sich Ken zur Spinne hinunter.

„Das weiß ich nicht.“ Es scheint Ken, als schüttle die Spinne ihren Kopf.

„Aber wie soll ich sie finden? Das sind Millionen Bücher. Ich kann sie nicht alle durchblättern. Wenn es überhaupt wahr ist, was du sagst.“ Kens Stimme wird immer leiser. Enttäuscht senkt er den Kopf. „Na gut. Aber was macht der Drache hier unten? In dieser Einsamkeit.“

„Er behütet die Bücher.“

„Kann er nie wieder nach draußen?“

„Er ist durch einen Zauber an die Bücher gebunden. Er …“

Ken wartet nicht, bis die Spinne ausgeredet hat. Er stürzt zum Drachen hinüber und schreit ihn an. „Wo sind die beiden Bücher, die nicht leer sind. Du behütest die Bücher. Du musst es wissen.“

Aber der Drache antwortet ihm nicht. Er schaut ihn nur traurig an und Ken schämt sich dafür, ihn so angeschrieen zu haben. Bedrückt schaut er zu Boden. Da sieht er die Spinne.